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Ideen und Vorstellungen einer Schule der Zukunft: Sechs Akteur*innen zum Schweizer Bildungswesen

Die PH FHNW bildet Lehrpersonen aus, die für die Herausforderungen der Schule gut gerüstet sind und deren Gestaltung mitprägen. Doch wie werden der Schulalltag und entsprechend die Lehrpersonenbildung in zehn oder zwanzig Jahren aussehen? In kurzen Essays werfen Autor*innen aus dem Bildungswesen aus unterschiedlicher Perspektive Schlaglichter auf Themen, die aus ihrer Sicht für die Schule der Zukunft essenziell sind.

Ein vielfältige und vernetzte Lern- und Bildungslandschaft

Von Dagmar Rösler und Beat A. Schwendimann

In der Schule des 21. Jahrhunderts stehen vielfältige und zeitgemässe Lehr- und Lernprozesse im Zentrum. Dazu braucht es ausreichend und gut ausgebildete Lehrer*innen, welche die nötigen Ressourcen, eine zeitgemässe Infrastruktur und entsprechende Gestaltungsräume erhalten und nutzen, um professionellen Unterricht für ihre Schüler*innen zu gestalten.

Altersgerechter Lebensraum für Schüler*innen

Die Schule ist als bereichernder und altersgerechter Lebensraum aufgebaut, mit vielseitigen Tagesstrukturangeboten für alle Kinder und Jugendlichen. Die Lehrperson des 21. Jahrhunderts ist eine hochqualifizierte und gesellschaftlich angesehene Fachperson. Lehrer*in zu werden gilt als erstrebenswerter Traumberuf. Die Pädagogischen Hochschulen erhalten weit mehr Bewerbungen als Plätze zur Verfügung stehen und können sich die geeignetsten Personen aussuchen. Die angehenden Lehrer*innen werden in Theorie und Praxis vertieft ausgebildet und schliessen mit einem international anerkannten Mastertitel ab.

Gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen für Lehrpersonen

Durch zeitgemässe Arbeits- und Anstellungsbedingungen sollen Lehrpersonen in der Schweiz unterstützt werden, möglichst lange mit Zufriedenheit im Beruf zu verbleiben. Schulen haben dazu ein betriebliches Gesundheitsmanagement, das um gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen besorgt ist. Die Berufslaufbahn von Lehrpersonen wird entsprechend ganzheitlich betrachtet und gestaltet, von Entlastung und Unterstützung beim Berufseinstieg, kontinuierlicher Weiterbildung und Sabbaticals bis hin zur Altersentlastung.

In der zeitgemässen Schule steht den Lehrer*innen genügend Zeit zur Verfügung, um den vorgegebenen Stoff gründlich und vertiefend mit den Schüler*innen zu bearbeiten. Lehrpersonen erhalten genügend Gestaltungsraum, eine Auswahl von Lehrmitteln und Unterrichtsmethoden sowie analoge und digitale Infrastruktur, um den Unterricht gemäss den vielfältigen Anforderungen vorbereiten und ausführen zu können. Die Lehrpersonen arbeiten mit kleinen Klassen, in welchen sie sich in binnendifferenziertem Unterricht den verschiedenen Leistungsniveaus in der Klasse widmen können.

Ziel: Inklusive Schule

Das Ziel ist eine inklusive Schule, in der auf die Bedürfnisse und die Potenziale der Kinder und Jugendlichen eingegangen werden kann. Standardisierung und verfrühte Selektion laufen dem zuwider. Eine nationale «Politik der frühen Kindheit» stellt ausreichende Förderung und Betreuung für alle Kinder schon vor dem Schuleintritt sicher. Die zeitgemässe Schule setzt ganzheitliche Beurteilungsformen ein. In der visionären Schule besteht ein Bündnis mit den Eltern, in welchem Eltern als Partner auf Augenhöhe in die Schule miteinbezogen werden.

Die Herausforderungen für die Schule des 21. Jahrhunderts werden zunehmend komplexer. Es braucht daher engagierte und ausreichend ressourcierte Schulleitungen, die im Sinne von «distributed Leadership» gemeinsam mit «Teacher Leaders» die Schule führen und weiterentwickeln. Lehrpersonen nehmen dabei ausgewiesene, systemrelevante Spezialfunktionen ein, mit entsprechender Unterrichtsentlastung. Diese Spezialfunktionen eröffnen Lehrpersonen attraktive Laufbahnentwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Schule. Schulen können so als lernende Organisationen eigene Profile entwickeln.

Die zeitgemässe Schule des 21. Jahrhunderts ist eine vielfältige und vernetzte Lern- und Bildungslandschaft, die Lernmöglichkeiten innerhalb und ausserhalb der Schule miteinander verbindet. Dazu braucht es die enge Zusammenarbeit von Lehrpersonen, Schulleitungen, Fachstellen, Ämtern, Hochschulen und Verbänden.

Das Ziel ist eine inklusive Schule, in der auf die Bedürfnisse und die Potenziale der Kinder und Jugendlichen eingegangen werden kann.

DAGMAR RÖSLER ist Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH, BEAT A. SCHWENDIMANN dessen pädagogischer Leiter.

Eigene Projekte für Schüler*innen, breitgefächerte Weiterbildung von Lehrpersonen

Von Jürg Schoch

Die Pausen sind das Wichtigste. Das ist für Mia nicht erst so, seit sie in der 5. Klasse ist. Aber die Pausen werden ihr immer wichtiger: Mit den besten Freundinnen kichern, die Jungs beobachten, den freien Samstag planen... So oder so geht Mia gerne zur Schule. Zurzeit gefällt ihr der Unterricht im Fach «Natur, Mensch, Gesellschaft» besonders. Themenrahmen für alle: «Alltagsleben im Spätmittelalter». Mia hat sich reingekniet. Seit den Sommerferien darf sie an drei Halbtagen pro Woche selbständig zu Hause und ausserhalb der Schule ihr eigenes Projekt bearbeiten: «Gaukler – Menschen ohne Rechte?». Das hat sie mit der Lehrerin und den Eltern vereinbart. Und im nächsten Quartal wird sie zusammen mit Urtim der Frage nachgehen, warum ein Velo so schnell ist.

Mia geniesst aber auch den Fachunterricht. In Mathematik zum Beispiel kann sie mit den Vertiefungs- und Testprogrammen in ihrem eigenen Tempo arbeiten und die Lernstandserhebung dann machen, wenn sie dazu bereit ist. Der Computer hilft ihr und Frau Klaus – auch beim Bewahren des Überblicks. Am meisten schätzt Mia aber die gemeinsamen Zeiten im Klassenrat, im Sport, in den musischen Fächern – und die wöchentlichen Spiel- und Singzeiten mit allen Klassen des Schulhauses. Das Highlight für sie: Wenn sie ihr «Göttikind» Mitra aus der 2a beim Lesen und Rechnen unterstützen darf.

Seit den Sommerferien darf Mia an drei Halbtagen pro Woche selbständig zu Hause und ausserhalb der Schule ihr eigenes Projekt bearbeiten.

Die Schüler*innen-Generation lebt bis ins nächste Jahrhundert

Klassenlehrerin Sara Klaus unterrichtet seit sieben Jahren. Sie ist sich bewusst, dass sie eine Generation mitprägt, die bis ins nächste Jahrhundert leben wird. Oft fragt sie sich, wie sie neben der Erfüllung der Lehrplanziele auch erreichen kann, dass die Kinder neben der geistigen Flexibilität auch die nötigen Reserven an emotionaler Sicherheit für ein Leben in einer sich ständig wandelnden Welt mitbekommen. Entsprechend sorgfältig handelt sie, stellt hohe Erwartungen an die einzelnen Schüler*innen und an sich. In ihrem Weiterbildungsmaster zum Umgang mit Vielfalt hat sie ein breites Handlungsrepertoire erworben. Und ihr ist klar: Am Ende der entscheidenden sechsten Klasse wird sie eine prognostische Beurteilung vornehmen.

Ein bisschen beneidet sie ihre Kollegin Anna Meier, die zu 60 Prozent mit ihr zusammenarbeitet. Deren Zusatzstudium zur Erweiterung der Fächerkompetenz bis hin zu Deutsch als Zweitsprache und zu heilpädagogischen Fähigkeiten wird neu als grundständiger Master anerkannt. Zusammen können sie nun in ihrer Klasse alle Aufgaben übernehmen, alle Fächer unterrichten. Das ist die Hauptsache. Trotzdem sind beide froh, dass sie Karim Amiri als Klassenassistenten haben. Karim war in seinem Heimatland Lehrer. Nach der Flucht liess er sich in einem neu entwickelten Studiengang zum Assistenten ausbilden. Seine Mitarbeit ist Gold wert, auch als Kulturvermittler im ganzen Schulhaus. Oft ist Karim auch bei den «20 Minuten des Fortschritts» dabei, wenn Eltern, Lehrpersonen und jedes Kind sich alle fünf bis sechs Wochen kurz Zeit nehmen, um eine mündliche Standortbestimmung vorzunehmen.

Wenig Bürokratie, viel Schulkultur

Wenig Bürokratie, viel Schulkultur. Das sind die beiden Maximen von Schulleiterin Roshani Umakanthan. Die Herausforderungen des Schulalltags will sie so gemeinsam bewältigen, das Kollegium stärken, Elemente verschiedener Ansätze prüfen, erproben, evaluieren. Bewährt hat sich das Kurzmeeting aller Mitarbeitenden am Montagmorgen vor Schulbeginn – zum Informationsaustausch, Rückblick, Ausblick, Anmelden von Unterstützungsbedarf und besonderen Anliegen. Die noch kürzere Online-Version am Donnerstagmorgen früh allerdings ist noch nicht auf Begeisterung gestossen. Die Schulbehörden schliesslich, sie stützen den Kurs der Schule und der Schulleitung – mit einem Vertrauensvorschuss. Und sie sind mutig: Bis 2032 wollen sie den ersten Selektionszeitpunkt auf das Ende der 8. Klasse verlegen. Das steigere, so hört man, die Chancengerechtigkeit.

JÜRG SCHOCH ist Erziehungswissenschaftler und war bis 2020 Direktor von unterstrass. edu (Gymnasium Unterstrass und Institut Unterstrass an der PHZH). Er ist Initiant von Förderprogrammen für begabte jugendliche Migrant*innen.

Mutig sein und die Basis für das lebenslange Lernen legen

Von Matthias Nettekoven, Leiter Berufsbildung Roche Basel/Kaiseraugst

Der technologische Wandel zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollzieht sich rasant. Die Digitalisierung in der sich verändernden Welt nimmt in unserem Leben immer mehr Raum ein und bestimmt in zunehmendem Masse, wie wir uns informieren, wie wir kommunizieren, aber auch wie wir arbeiten und konsumieren, kurz: wie wir leben. Diesen Wandel müssen wir als Chance begreifen, um mehr Wissen und Innovation, mehr Wohlstand und Lebensqualität im Einklang mit unseren Grundwerten zu erschaffen.

Im Zentrum dieser Veränderung steht der Mensch und wie wir lernen, mit der sich verändernden Welt umzugehen. Hier gilt es Zugänge zu schaffen, Angst abzubauen, Mut zu fördern und «Freude am lebenslangen Lernen» zu entwickeln und zu empfinden. Das gilt für uns Erwachsene genauso, wie das für unsere Kinder gilt, denn sie werden die Zukunft gestalten! Aber die Frage steht im Raum: Wie macht man das? oder genauer: Was genau muss ich tun und welche Fähigkeiten brauche ich dazu?

Die Wichtigkeit der vier K

Schüler, Eltern, Lehrer*innen und Bildungsverantwortliche sind gleichermassen gefragt und gefordert, die Schule der Zukunft zu gestalten. Kernkompetenzfächer, wie zum Beispiel Mathematik, Englisch und Deutsch (unter anderen) werden ihre Wichtigkeit behalten oder sogar noch gestärkt werden. Hinzu kommen Kompetenzfächer, die ein selbstgesteuertes und eigenverantwortliches Lernen fördern: Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken (zusammengefasst als 4K) sind hier die wichtigsten Komponenten. Dieses bedeutet viel weniger eine Beschneidung der bisher vermittelten Kompetenzen, als viel mehr einer Ergänzung und Bereicherung der erlernbaren Kompetenzen.

Vorstellbar ist eine modulare, (fast) frei wählbare und (beinahe schon) personalisierte Ausbildung der jungen Menschen, die viel mehr ihren individuellen Interessen und Leidenschaften gerecht wird. Neugierde, Mut und Passion werden auf diese Weise stark gefördert. Das hilft den Schüler*innen, abseits von Gesellschafts- oder Genderrollen, ihr Potenzial frei und voll zu entfalten und dort in der gesellschaftlichen Wertschöpfungskette optimal beizutragen, wo sie selber ihren maximalen Input leisten wollen und können.

Lernen voneinander

Die Freude am eigenen Tun, am Forschen und Erschaffen zu erfahren, entwickelt das Potenzial talentierter junger Menschen, denn sie sind neugierig und wissbegierig. Das Mindset beziehungsweise die Einstellung der verschiedenen Generationen entwickelt sich beständig weiter. Die neuen Generationen bringen eben auch neue Denkweisen und Problemlösungen aus unterschiedlichen Perspektiven in die Schulen und folgend in die Universitäten und Unternehmen ein. Sie sind offener für Veränderungen und bereit für schnelle Innovationszyklen. So gestalten sie die Anpassung der Unternehmen an den Markt mit, direkt und auch indirekt, indem sie als Vorbilder inspirierend für Kollegen desselben Alters aber und gerade auch älterer Semester wirken können. Während sich die jungen Talente entwickeln, transformieren sich die Organisationen. Ressourcenorientiertes Coaching hilft die eigenen Stärken zu entdecken und freizusetzen, um heute die Skills zu trainieren, die als Nächstes benötigt werden. Die jungen Menschen sind die Ambassadoren der sich verändernden Welt und Kultur, wir lernen kontinuierlich. Und zunehmend voneinander!

Und wieder steht die Frage im Raum: «Was muss ich tun?» Und die Antwort gilt für uns alle gleich: für Schüler*innen, Lernende, Eltern, Lehrerpersonen, für jeden: «Bleibt neugierig und offen für Neues, begreift den Wandel als Chance und seid mutig – seid mutig in kleinen Dingen!»

MATTHIAS NETTEKOVEN ist Leiter Berufsbildung Roche Basel / Kaiseraugst.

Finanzielle Bildung 2030: Schule und Eltern sind gefragt

Von Corinne Brecher

Aus meiner Schulzeit in den 1990er-Jahren sind mir vor allem die Erfahrungen ausserhalb des Klassenzimmers wie Schulreisen, der Schwimmunterricht, die Turnstunden und Exkursionen zu Flora und Fauna in positiver Erinnerung geblieben. Seit ich eigene Kinder habe, stelle ich mir öfters die Frage, wie sie die Schule erleben werden. Im Jahr 2030 werden unsere Tochter Luisa und ihr 18 Monate jüngerer Bruder Maurice die Primarschule besuchen. Ausserhalb des Klassenzimmers dürfen sie zu diesem Zeitpunkt hoffentlich die gleichen schönen Erfahrungen sammeln, wie ich. Innerhalb des Klassenzimmers muss ein Thema unbedingt mehr in den Vordergrund rücken: die finanzielle Bildung.

Als ich in jungen Jahren erstmals von meinem Vater etwas über Aktien lernte, tat sich für mich eine neue Welt auf. Anders als bei anderen Familien durfte ich lernen, wie wichtig es ist, nicht nur für Geld zu arbeiten, sondern sein Geld auch für sich arbeiten zu lassen. Die positive Attitüde meiner Eltern gegenüber Geld, sowie mein erstes Buch über finanzielle Bildung, «Rich Dad Poor

Ich wünsche mir, dass meine Kinder in der Schule auch die Option des Unternehmer*innentums kennenlernen.

Dad» von Robert Kiyosaki, haben mich mit gerade mal 19 Jahren zu meinem ersten Aktienkauf motiviert. Ein Satz von Robert Kiyosaki ist mir besonders geblieben: «Das System sieht vor, dass wir zur Schule gehen, gute Noten schreiben und Arbeitnehmer werden».

Unternehmertum kennenlernen

Zur Schule gehen sollten wir alle, daran besteht kein Zweifel. Die Noten dürften bis zum Schuleintritt meiner Kinder gerne abgeschafft werden. Sollte das nicht der Fall sein, werde ich dies hinnehmen, aber keinesfalls überbewerten, wie es Familien in meinem Jahrgang getan haben. Ich erinnere mich nur zu gut an die dramatischen Szenen auf dem Pausenhof, weil sich meine Gspänli mit ihren Zeugnissen nicht nach Hause trauten.

Arbeitnehmer*in zu sein, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Ich wünsche mir, dass meine Kinder in der Schule auch die Option des Unternehmer*innentums kennenlernen. Sie sollen erkennen, was es heisst, sich selbstständig zu machen oder eine Firma zu gründen. Mit allen Chancen und Risiken.

Mehr Warren Buffet, weniger Pythagoras

Themen über finanzielle Bildung würden meines Erachtens das Fach Mathematik auflockern und bereichern. Ich fände es nicht sehr innovativ, wenn meine Tochter mir einen Vortrag hält über Pythagoras – bei aller Bewunderung für seinen Ansatz – oder wie viele Kilometer Rosmarie mit ihrem Fahrrad in einer Stunde fährt. Ich möchte, dass sie mir erklärt, wie es Warren Buffett geschafft hat, der erfolgreichste Investor aller Zeiten zu werden. Oder wie sich mein investiertes Kapital vervielfacht, wenn ich es zehn Jahre lang an der Börse anlege.

Nach einer gewissen Zeit sollten die Mathelehrer*innen ihre altmodischen Gleichungen einpacken und stattdessen eine Rechnung über die Lohnunterschiede zwischen Mann und Frau aufstellen. Sobald die Mädchen errechnet haben, wie hoch die Ungleichheit wirklich ist, werden sie in diesem Fach zur Höchstform auflaufen.

Finanzielle Bildung geht nicht nur die Schule und die Mathelehrer*innen etwas an. Aus meiner eigenen Kindheit weiss ich: Damit sich nachhaltig und bis 2030 etwas verändert, liegt es an uns Eltern, als gutes Vorbild voranzugehen.

CORINNE BRECHER ist Finanzexpertin und gibt ihr Wissen in Blogs, Webinaren und Kolumnen weiter.

Das Gymnasium auf dem Weg in die Zukunft: Reform, aber keine Revolution

Von Daniel Siegenthaler

Das Gymnasium sehe ich aufgrund meiner Erfahrungen aus unterschiedlichen Perspektiven. In diesem Beitrag möchte ich einige Aspekte ansprechen, die mir wichtig sind. Dabei handelt es sich um meine persönliche Meinung, auch wenn manchmal vom Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» die Rede ist.

Für den Erfolg einer Schule sind viele Elemente wichtig: Die Schüler*innen und die Lehrpersonen, die Schulleitung, die Schulkultur, die Ausbildung der Lehrpersonen, die Bildungsverwaltung, aber auch die Eltern und das weitere Umfeld. In der Auslegeordnung zur Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität von 2019 werden viele dieser Elemente ausführlicher dargestellt.

«Die Menschen stärken, die Dinge klären»

Auf das Gymnasium bezogen bedeutet der Leitsatz «Die Menschen stärken, die Dinge klären», der ursprünglich von Hartmut von Hentig stammt: Die Schüler*innen sollen in ihrer emotionalen Stabilität und Sensibilität gestärkt werden. Sie sollen die Dinge benennen und ordnen können, verstehen, erklären und beurteilen können. Das hat Folgen für das tägliche Handeln der Schüler*innen, der Lehrpersonen und der Schulleitungsmitglieder. Für die Lehrpersonen zum Beispiel bedeutet dies, dass auch

im Gymnasium sowohl das Unterrichten wie auch das Erziehen zum Berufsauftrag gehören. Die Schüler*innen werden als Persönlichkeiten ernst genommen und auf ihrem Weg zu allgmeiner Studierfähigkeit und vertiefter Gesellschaftsreife begleitet und gefördert.

Diese beiden Bildungsziele der gymnasialen Maturität verdeutlichen, dass das Gymnasium kein Selbstzweck ist. Die Maturand*innen sollen erfolgreich ein Studium beginnen können. Gleichzeitig soll das Gymnasium ein Ort des Nachdenkens, das heisst des Innehaltens und Forschens, sein. Ein Ort, an dem junge Menschen längst vergangen geglaubte Welten kennen lernen. Ein Ort, an dem sie darauf vorbereitet werden, gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen, wie zum Beispiel nachhaltige Entwicklung, gesellschaftliche Partizipation oder interkulturellen Austausch.

Breite Allgemeinbildung und individuelles Bildungsprofil

Die Unterrichtsgefässe sollten einerseits für eine breite Allgemeinbildung sorgen, damit der allgemeine Hochschulzugang gesichert ist. Andererseits sollen die Schüler*innen ein individuelles Bildungsprofil entsprechend ihren Talenten und Interessen entwickeln können. Für die Schüler*innen sollten deshalb während des Maturitätslehrgangs individuelle Vertiefungen möglich sein, mit denen sie ihren Talenten und Interessen nachgehen können.

Das Lernen in Fächern ist ein Grundpfeiler des Gymnasiums: Spannender Unterricht durch gut ausgebildete, begeisternde und ihre Arbeit reflektierende Lehrpersonen. Das Orientierungswissen sollte im Zentrum stehen, auch die fachlichen Verfahren und die Fragen nach dem Entstehen und der Grenzen von Wissen. Es braucht aber einen zweiten Pfeiler: Denjenigen der überfachlichen Kompetenzen wie vernetztes Denken und das problemorientierte Anwenden von Wissen und Können, wie das bereits heute in der Maturaarbeit möglich ist.

Klare Schulstrukturen und gute Schulleitungen

Nicht zuletzt braucht ein Gymnasium fähige Menschen in den Schulleitungen. Integre und präsente Personen, die dialogbegabt und durchsetzungsfähig sind und ihr Handeln reflektieren. Und die manchmal auch über sich selber schmunzeln können.

Das schweizerische Gymnasium leistet schon heute gute Arbeit. Es braucht keine Revolution auf dem Weg in die Zukunft. Es braucht aber eine Reform – zum Beispiel des Rahmenlehrplans – und eine stetige Weiterentwicklung mit dem Ziel einer zukunftsfähigen Vorbereitung der jungen Menschen auf das Hochschulstudium und auf die Übernahme verantwortungsvoller Aufgaben in der Gesellschaft.

Das Gymnasium soll ein Ort des Nachdenkens, das heisst des Innehaltens und Forschens, sein.

DANIEL SIEGENTHALER ist Co-Projektleiter Weiterentwicklung gymnasiale Maturität und Dozent für Geografie und Geografiedidaktik an der PH FHNW, ehemaliger Rektor der Neuen Kantonsschule Aarau und Gymnasiallehrer für Geografie und Geschichte.

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