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Die Japaner denken sehr mutig
Marion Loher
Seit 2016 reist Sabina Misoch, Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter der FHS St.Gallen, zweimal im Jahr zu Forschungszwecken nach Japan. Die Lösungen, die die Japaner für die Probleme der Überalterung gefunden haben, sind auch für die Schweiz interessant – obwohl nicht alles 1:1 übertragen werden kann. Ein Beispiel für ein internationales Forschungsprojekt der FHS St.Gallen.
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Bei der Überalterung ist Japan der Schweiz weit voraus. Schon heute ist rund ein Drittel der Japanerinnen und Japaner 64 Jahre alt und älter. «Die japanische Gesellschaft ist bereits jetzt an einem Punkt, an dem wir erst in den Jahren 2050/2060 sein werden», sagt Sabina Misoch. Die Leiterin des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter IKOA-FHS steht seit gut zweieinhalb Jahren in regem Austausch mit japanischen Forschungskolleginnen und -kollegen. «Für uns ist es interessant zu sehen, welche Lösungen die japanische Gesellschaft für diese Herausforderung gefunden hat, zumal es einige Parallelen zur Situation hier in der Schweiz gibt.» Beide Länder sind hoch entwickelte Industrienationen, denen sowohl die Fachkräfte als auch die informellen Pflegenden je länger desto mehr fehlen – und das bei hoher und zunehmender Lebenserwartung der Menschen.
Auf Mails reagieren Japaner nicht
Im Herbst 2016 reiste Sabina Misoch, die auch das aktuell grösste nationale Forschungsprojekt «AGE-NT – Alter(n) in der Gesellschaft» leitet, zum ersten Mal für einen Forschungsaufenthalt nach Japan. Mittlerweile war sie sechs Mal dort, der siebte Besuch fand auf Einladung der Schweizer Botschaft in Tokyo in diesem Mai statt. Ziel dieser Aufenthalte ist jeweils der Austausch mit japanischen Wissenschaftlern und Unternehmern sowie der Aufbau von Kooperationen mit Forschungs- und Industriepartnern. «Auf meiner ersten Reise habe ich eine Japanerin kennengelernt, die damals noch im Ministerium arbeitete. Sie hat mir viele Türen geöffnet. Dank ihr konnte ich zahlreiche wichtige Kontakte knüpfen, die bis heute bestehen», erzählt Sabina Misoch. Persönliche Empfehlungen seien in Japan sehr wichtig. «Auf Mails reagieren Japaner praktisch nie.» Über eine solche Empfehlung kam es auch zum Treffen mit Takanori Shibata. Der 49-jährige Ingenieur hat vor über einem Jahrzehnt den Therapie-Roboter PARO entwickelt, der aussieht wie eine junge Sattelrobbe und heute weltweit in der Altenpflege zum Einsatz kommt. In Japan wird Takanori Shibata verehrt. Sabina Misoch hat diese Verehrung aus nächster Nähe miterlebt. «Wir besuchten gemeinsam eine Ausstellung in Tokyo, in der verschiedene neueste Technologien zu sehen sind. Unter anderem ist dort auch PARO ausgestellt», erzählt sie. «Als die Mitarbeiterinnen der Ausstellung Takanori Shibata sahen, flippten sie
Im Taxi erzählt der Fahrer von «Harira», der markokkanischen Suppe aus Linsen, Kichererbsen, Zwiebeln, Lammfleisch und Gewürzen. Während des Ramadans das Einzige, was er als Kind essen durfte. Er fährt den Fahrgast spontan in sein Lieblingsrestaurant «Du Maroc».
beinahe aus und liessen ihn nicht mehr aus den Augen.» Das Team der Altersforscherin arbeitet aktuell mit der flauschigen Roboter-Robbe in den Living Labs des IKOA-FHS. Die Living Labs sind ein «lebendiges Labor», also Haushalte, Appartements und Zimmer in Heimen, in denen das IKOA-FHS technische Assistenzsysteme im Lebensalltag von Seniorinnen und Senioren langfristig testet. Der Therapie-Roboter wird neu bei Einsamkeits- und Depressionssymptomen bei in Heim lebenden Seniorinnen und Senioren eingesetzt und nicht wie bislang ausschliesslich für Menschen mit Demenz. «Hier zeigen sich bislang gute Erfolge, und es wäre natürlich toll, wenn PARO neben anderen Therapien auch dafür eingesetzt werden könnte, die Lebensqualität von einsamen und depressiven Seniorinnen und Senioren nachhaltig zu verbessern», sagt Sabina Misoch.
Mit dem Roboter laufen lernen
Auf ihren Japan-Reisen sichtet die Altersforscherin auch immer die neuesten technologischen Assistenz- und Robotik-Lösungen, die für die ältere japanische Bevölkerung bereits angewendet werden oder sich noch in Entwicklung befinden. Hierfür eignet sich die Robotik-Woche, die jedes Jahr auf einem der grössten Messegelände
von Tokyo stattfindet. An der Messe werden jeweils die neuesten Roboter präsentiert. Ein Produkt hatte es Sabina Misoch bei ihrem letzten Besuch besonders angetan: ein ExoSkelett, auch Laufroboter genannt. «Dieses Exo-Skelett wird an den Beinen und/oder an der Taille festgemacht und kann sowohl im therapeutischen als auch im pflegerischen Bereich angewendet werden», sagt sie. Zum einen könne es Menschen, die im Rollstuhl sitzen, helfen, das Gehen wieder zu trainieren. Zum anderen sieht Sabina Misoch das Skelett im pflegerischen Bereich als Hilfe für die Fachpersonen beim Heben der Patientinnen und Patienten. An der Messe wurden aber auch Roboter oder roboterähnliche Objekte gezeigt, mit denen die Wissenschaftlerin wenig anfangen konnte. «Meistens waren diese Dinge zu verspielt, zu niedlich und für uns sehr befremdlich, aber anscheinend haben die Japanerinnen und Japaner Freude an diesem verspielten, für uns eher kitschigen Design», sagt sie und erzählt von einem Roboter-Arm, der die traditionelle japanische Teezeremonie übernimmt. «Das war zwar schön zum Anschauen, aber nicht wirklich brauchbar für Seniorinnen und Senioren.»
Die Sprache und das Geld
Für Sabina Misoch ist die Zusammenarbeit mit den japanischen Forschungskolleginnen und -kollegen sehr inspirierend. «Die Japaner denken sehr mutig, wenn es um die technologische Entwicklung geht.» Obwohl einiges nicht auf die Schweiz adaptiert werden könne, gebe es doch immer wieder spannende Inputs und interessante Projekte. Eine Herausforderung ist die Sprache. «Die meisten Japaner haben grosse Hemmungen, Englisch zu sprechen, und so haben wir uns auch schon mit GoogleTranslate beholfen, was zu
manch komischer Situation führte.» Einmal beispielsweise habe der elektronische Übersetzer «Sie müssen eine Melone kaufen» rausgespuckt. «Das kann doch nicht sein», hat sie sich gedacht, «wir sprechen ja über Robotik.» Sabina Misoch hat sich mittlerweile selbst geholfen und eine Mitarbeiterin eingestellt, die Japanisch spricht. Bislang ist aus der Zusammenarbeit mit den japanischen Forschern noch kein gemeinsames Projekt entstanden. Die Fördergelder fehlen, was Sabina Misoch sehr bedauert. «Zurzeit gibt es weder in der Schweiz noch in Japan ein geeignetes Fördergefäss, das die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Japan finanziell unterstützt.» Die Hoffnung hat die Altersforscherin aber noch nicht aufgegeben. Denn sie weiss, dass die Japaner und ihr technologischer Fortschritt auch für die Schweiz sehr gewinnbringend sein können.
AUF DER INSEL DER HUNDERTJÄHRIGEN
Ein Höhepunkt der bisherigen Forschungsreisen nach Japan war für Sabina Misoch der Besuch des Dorfes Ogimi auf der Insel Okinawa, wo weltweit die meisten Hundertjährigen wohnen. Dabei hatte die Altersforscherin die Möglichkeit, sich mit zwei Hochaltrigen – einer 100-Jährigen und einer 93-Jährigen – zu unterhalten, um mehr über das Geheimnis eines langen Lebens zu erfahren.
«Mich interessierte vor allem, wie die beiden Frauen sozial eingebunden sind, woher sie ihre Energie nehmen und was ihr Lebenssinn ist», sagt Sabina Misoch. Beeindruckt habe sie vor allem, wie gut die beiden Hochbetagten körperlich und psychisch «zwäg» seien und mit wie viel Energie sie ihr Leben meisterten. «Noch heute kocht die 93-Jährige für die ganze Familie, wenn grosse Feiern stattfinden.» Ihre Energiequellen seien denn auch der Kontakt mit den Menschen, das Karaoke-Singen, viel Kaffee zu trinken und anderen zu helfen. Die 100-Jährige sagte dazu, ihr seien die Gespräche mit den Verstorbenen sowie ihr Gemüseund Früchtegarten wichtig, aber vor allem das Leben im Hier und Jetzt zu geniessen. «Vereinsamen können die Menschen hier nicht, da der Zusammenhalt im Ort sehr gross ist und jeder für jeden schaut», sagt Sabina Misoch. Die alten Menschen seien gut integriert und ein unverzichtbarer Teil der Gemeinschaft. (lom)
Lesen Sie mehr zur Japan-Reise im Blog www.alter-fhs.ch
WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/alter
«Es gibt keine Formel für ein moralisch gutes Leben»
Marion Loher/Lea Müller
Mit den Klimastreiks sind Fragen rund um ein nachhaltiges Leben stark in den Mittelpunkt gerückt. Im Interview spricht Mathias Lindenau, Leiter des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS, über die Nachhaltigkeit solcher Bewegungen, die Diskussionsmüdigkeit der Menschen und die künftigen ethischen Herausforderungen.
Herr Lindenau, was bedeutet es, nachhaltig zu leben? Mathias Lindenau: Das kommt darauf an, wie man Nachhaltigkeit definiert. Wenn beispielsweise in der Wirtschaft von nachhaltiger Unternehmensführung die Rede ist, meint man eher den langfristigen Unternehmenserfolg. In der Ethik hingegen bedeutet nachhaltige Entwicklung die Suche nach Leitbildern einer anzustrebenden Lebensform und Gesellschaftsordnung, von denen wiederum auch unser individueller und kollektiver Umgang mit der Natur abhängt. Das wiederum bedeutet erstens ein Problem- bewusstsein für die Konflikte und Herausforderungen zu entwickeln, die diskutiert werden müssen. Und zweitens zu reflektieren, was daraus für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft resultiert. Denn selbstverständlich müssen den Worten auch Taten folgen. Hier stellen sich Fragen nach der Selbstbescheidung des Menschen: Unter welchen Umständen wäre ich denn bereit, auf etwas zu verzichten? Würde ich es freiwillig tun oder nur unter Zwang? Nur wenn alle darauf verzichten oder wäre ich auch bereit, den ersten Schritt zu machen?
Wie sensibilisiert sind die Menschen auf ethische Fragen? Lindenau: Pauschal lässt sich diese Frage nicht beantworten. Generell scheint es von der persönlichen Betroffenheit abzuhängen, inwieweit sich jemand für ein Thema interessiert oder nicht. Aber gerade die aktuelle FridayForFuture-Bewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie ethische Themen plötzlich für alle relevant werden können. Denn diese Bewegung zwingt uns alle dazu, über den Klimawandel nachzudenken. Ältere Menschen können eher damit rechnen, relativ unbeschadet da rauszukommen. Die nachfolgenden Generationen hingegen können das nicht, zumindest sprechen die wissenschaftlichen Ergebnisse eine eindeutige Sprache. Die Jungen sind für dieses Thema sensibilisierter, dem gegenüber sich aber auch die älteren Generationen irgendwie verhalten müssen.
Gibt es ein moralisch gutes Leben? Lindenau: In der Ethik gibt es dazu höchst unterschiedliche Auffassungen. Auch hier ist wieder die Frage, was man unter einem moralisch guten Leben verstehen will. Wenn darunter der autonome Lebensentwurf eines Menschen verstanden wird, dann glaube ich nicht, dass es eine allgemeingültige moralische Formel für ein gutes respektive gelungenes Leben gibt.
Weil das von Person zu Person unterschiedlich ist? Lindenau: Genau, unsere Lebensentwürfe sind höchst unterschiedlich und das gilt es zunächst einmal zu respektieren. Wir müssen in unserem individuellen Entwurf aber auch die legitimen Interessen und Rechte anderer Menschen berücksichtigen und uns
>> Prof. Dr. Mathias Lindenau ist Leiter des Zentrums für Ethik und Nachhaltigkeit ZEN-FHS. In Kürze erscheint die Buchpublikation Band 5 der Vadian Lectures zum Thema «Menschenrechte und Menschenwürde. Vier thematische Einblicke».
fragen, was wir ihnen als Menschen schulden. Und dann wird schnell offensichtlich, dass ein gelungenes Leben eben auch von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig ist. Wer es anstrebt, kann sich aus einer ethischen Sicht deshalb nicht der Forderung entziehen, sich moralisch anständig zu verhalten. Simpel, aber sehr hilfreich wäre es, sich in Bezug auf solche Fragen einfach einmal in die Lage des jeweils anderen zu versetzen. Wie wollen wir mit Schwächeren in unserer Gesellschaft umgehen? Wie mit denen, die erfolgreich und stark sind? Wozu wollen wir sie verpflichten und wozu verpflichten wir uns in Bezug auf das Gemeinwohl?
Fragen über Fragen. Lindenau: Oft wird über den Umgang mit solchen Herausforderungen gar nicht mehr gerungen. Entweder, weil wir das Gefühl haben, diese Fragen sowieso nicht lösen zu können, oder wir betrachten sie mit einem ideologischen Tunnelblick. Unsere Probleme sind aber derart komplex, dass wir die Diskursbereitschaft unbedingt brauchen. Wenn ich mir die momentane politische Diskurskultur anschaue, ist diese Bereitschaft nicht da – auch in der Politik und der Gesellschaft ist sie zu wenig vorhanden. Die Menschen müssen wieder mehr aufgerufen werden, mitzudenken und zu diskutieren.
Mathias Lindenau im Gespräch in der Cafeteria «Gleis 8» im Fachhochschulzentrum. (Foto: Bodo Rüedi)
Etwas, das die Jungen mit den Klimastreiks eindrücklich tun. Lindenau: Genau, sie fordern uns mit ihrem Ansinnen heraus und wir müssen uns dazu verhalten. Wir können dafür oder dagegen sein, müssen allerdings die eigene Meinung auch revidieren, wenn der eigene Standpunkt mit überzeugenden Gegenargumenten entkräftet werden kann.
Mit welchen Fragen zu gesellschaftlichen Themen befasst sich das Zentrum für Ethik und Nachhaltigkeit hauptsächlich? Lindenau: Wir organisieren zum einen Veranstaltungen für die Öffentlichkeit – wie etwa die Vadian Lectures – und bieten damit eine Plattform für den Diskurs an. Zum anderen wollen wir uns künftig verstärkt mit den Fragen der politischen Ethik in Bezug auf die sozialen Fragen und die Demokratie auseinandersetzen. Die Demokratie scheint nicht mehr das unumstrittene politische Modell zu sein. Davon bleiben auch stabile Systeme wie jenes der Schweiz nicht unberührt, da sich beispielsweise Fragen nach der Bedeutung der Mehrheitswahl oder den Schwächen der direkten Demokratie stellen.
Welche Rolle spielt die Ethik grundsätzlich in der Hochschulbildung und speziell an der FHS St.Gallen?
Lindenau: Sie ist unverzichtbar, denn sie kann die Studierenden befähigen, sich kritisch mit sich selbst und der Gesellschaft zu beschäftigen. Diese reflexive Grundkompetenz haben wir heute nötiger denn je. An der FHS St.Gallen absolvieren alle neuen Studierenden ein interdisziplinäres Kontextstudium in den Bereichen Politik sowie Ethik. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, dass sich die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen durch das gesamte Studium aller Fachbereiche zieht.
Sie beraten auch Organisationen. Wie wichtig ist die Ethik in einer verantwortungsvollen Führung? Lindenau: Auch hier ist die Ethik unabdingbar. Das beginnt schon beim Selbstverständnis der Führungsperson: Verstehe ich mich als Teil eines Teams? Welche Wertschätzung erfahren meine Mitarbeitenden? Suche ich nach gemeinsam getragenen Entscheiden? Eine gute Führungsperson würde sich zunächst der Macht ihrer Führungsposition bewusst werden, sich für ihre Mitarbeitenden engagieren, aber auch Konflikte nicht scheuen und eine Atmosphäre schaffen, die von gegenseitigem Respekt getragen ist. So kann eine Arbeitssituation entstehen, in der Führungsperson und Mitarbeitende sich akzeptieren und um die bestmöglichen Entscheidungen ringen. Die Vadian Lectures haben einen festen Platz in der FHS-Agenda. Thema dieses Jahres ist: «Schöne neue Welt? Zwischen technischen Möglichkeiten und ethischen Herausforderungen». Wie viel Technologie verträgt der Mensch? Lindenau: Wir müssen genau hinschauen und entscheiden, was wir wollen und was nicht. Weder Hysterie noch naive Technikgläubigkeit bringen uns weiter. Wenn beispielsweise sogenannte Exo-Skelette entwickelt werden, die es bis anhin querschnittgelähmten Menschen ermöglichen, ein paar Schritte zu tun, ist das super. Wenn aber algorithmisches Entscheiden zum Nonplusultra in allen Bereichen unseres Lebens stilisiert wird, kann das gefährlich sein.
Was braucht unsere Gesellschaft, um zukünftige ethische Herausforderungen zu meistern? Lindenau: Das Wichtigste wäre, wir alle – unabhängig von politischen Standpunkten und Weltanschauungen – würden die Bereitschaft entwickeln, uns irritieren zu lassen, eigene Positionen und die von anderen zu reflektieren und uns wertschätzend in die Diskussionen zu begeben, um Probleme zu lösen und nicht, um recht zu behalten.
WEITERE INFORMATIONEN: www.fhsg.ch/zen