frei– stil
53 frei geschriebene Texte
Seit längerem schon biete ich jedes Sommersemester einen Kurs im »Freien Schreiben« an. Er kommt gut an und kostet mich wenig Mühe. Ich brauche keine Vorbereitung, ich muß nur im Moment geistesgegenwärtig sein und mir alle zwei bis drei Wochen ein neues Thema ausdenken, eine Überschrift, zu der jeder Seminarteilnehmer — jeder kann kommen, am Ende fast nur Studentinnen, mehr als fünfzehn sollten es nicht sein — etwas schreiben muß. Was und wie er schreibt, ist seine Sache. Er hat alle Freiheit außer der Überschrift. Gedichte, Geschichten, Reflexionen, alles ist willkommen. Manchmal sage ich noch, man solle sich nicht anstrengen, nicht mehr als eine Stunde dafür opfern. ¶ Die Texte werden für alle fotokopiert. Jeder liest sie mit, wenn der Verfasser seinen Text vorliest. Jeder hat den gleichen Anspruch auf Analyse seines Elaborats, im Notfall in der Sprechstunde, wenn die Zeit nicht reichte. Die Reihenfolge ist zufällig. Ich studiere die abgegebenen Texte nicht im Vorhinein. Zumindest am Anfang der Textanalysen sind wertende Urteile nicht erlaubt, nur Beobachtungen und Beschreibungen. Ein analytischer Blick auf den Text soll eingeübt werden: Wie hat jemand das Thema angefaßt? Welche Mittel hat er dazu gewählt, welche ausgelassen? In welche Richtung könnte er weitergehen?
Vorwort — Hannes Böhringer
frei– stil
Am glücklichsten bin ich, wenn ich mich manchmal aus den Gesprächen zurückziehen kann. Eigent lich versuche ich nur, für eine gute Stimmung, locker, sachlich, konzentriert, zu sorgen, in der man sich traut, aus sich herauszugehen. Mutig geworden können die Studenten untereinander lernen. Am liebsten denke ich mir Titel wie »aber, aber« aus, die abstrakt, fast dadaistisch sind und den Blick auf die Grammatik ebenso wie auf die Alltagssprache lenken. ¶ Das »Freie Schreiben« ist ein Ausgleichstraining gegen den Akademismus der wissenschaftlichen Schreibweise, gegen die Verängstigung durch sie, gegen die Dürre des Ausdrucks und die Sprachnot, ein Auslauf für die unterdrückte Freude an der Freiheit des Wortes. Ich bin für die Philosophie von der Kunsthochschule angestellt und rechtfertige die Veranstaltung als eine philosophische, als Einübung in die Freiheit. Leichfüßig sollte geübt werden, die Freiheit, die uns die Sprache in ihrem Reichtum zur Verfügung stellt, auch in Gebrauch zu nehmen — wofür auch immer. Ich träume davon, daß die Studenten selbstbewußter, mutiger, genauer und persönlicher aus diesem Seminar herausgehen. ¶ Am Ende des Sommersemesters während des Rundgangs organisieren wir eine Vorlesestunde: jeder Seminarteilnehmer, der will, trägt einen, zwei oder drei seiner Texte vor. Erstaunt und hingerissen höre ich aus größerer Distanz zu, was jeder aus sich herausgeholt hat und nun vorträgt, Versuche von einer Woche auf die andere, sich in der Freiheit der Sprache selbst zurechtzufinden. Das »Freie Schreiben« funktioniert, vermute ich, nur mit kurzen Texten. Ein Glück, daß die Studenten keine Zeit haben, nebenher längere zu schreiben.
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Hannes Böringer — Vorwort 3
Inhaltsverzeichnis
Stromaufwärts treiben 4
Katharina Dörr — Den Strom aufwärts schwimmen Veronika Mayer — (Sich einfach stromaufwärts treiben lassen) 5
Linda Gerner — Sich einfach stromaufwärts treiben lassen. Eva Casper — Sich einfach stromaufwärts treiben lassen 6
Martina Leitschuh — Innerste (flussaufwärts treiben) Constanze Wicke — Stromaufwärts treiben
Aber, aber 7
Veronika Mayer — (Aber, aber) 8
Josephine Brückner — Aber, aber Vera Meier — aber, aber 9
Viktoria Hellfeier — Aber Aber Eva Casper — Aber, aber …
Genau genommen
Allerlei
10
23
Helena Davenport — Genaugenommen.
Leonie Hesse — Südfranzösische Impressionen Rosanna Baltzer — schlaumeierei
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Dörthe Wilke — Genau genommen Viktoria Hellfeier — Genau genommen 12
Klara Hellena Kayser — genaugenommen Eva Casper — Genau genommen 13
Josephine Brückner — Genau Genommen Linda Gerner — Genau genommen Kirsten Wandschneider — Genau genommen 14
Martina Leitschuh — Genau genommen Constanze Wicke — GENAU: Genommen 15
Michael Bayer — genau genommen / 8 m Vera Meier — genau genommen
Immerhin
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Michael Bayer — Wir Neandertaler Leonie Hesse 25
Bianca Muckelmann Klara Hellena Kayser — Stop – in the name of reproduction 26
Ursula Seeger — Beschreibung #1 Katharina Dörr — ab und zu Bianca Muckelmann 27
Ursula Seeger — Beschreibung #2 Katharina Dörr — unbekümmert Bianca Muckelmann — Rösalind spricht 28
Kirsten Wandschneider — The kitchen and the cat Ursula Seeger — Lass uns über Kunst reden 29
Christian Camehl — Immerhin
Christian Camehl — Punkt. Punkt. Punkt. Rosanna Baltzer — hinundher
18
30
Josephine Brückner — Immerhin Martina Leitschuh — Immerhin Linda Gerner — (immerhin)
Ursula Seeger — Beschreibung #3 Ursula Seeger — Beschreibung #4
16
19
Helene Osbahr — Immerhin Leonie Hesse — Immerhin Constanze Wicke — Immerhin
32
20
Kurzbiographien
Vera Meier — immerhin Veronika Mayer — (Immerhin)
35
21
Eva Casper — Immerhin 22
Ursula Seeger — Immerhin #1 Ursula Seeger — Immerhin #2
Ulrike Stoltz — Nachwort 34
Impressum
6 Texte von: Katharina Dörr, Veronika Mayer, Linda Gerner, Eva Casper, Martina Leitschuh, Constanze Wicke.
Stromaufwärts treiben In einer Menge essen. Schon satt und kaum mehr Gedanke an den Geschmack der Mundhöhle. Das Gemüse fällt tiefer und mein Teller kühlt. Das Kauen links verändert sich plötzlich. Ein latentes Wüten ist darin. Ich schaue auf, doch merk, ich erkenn nicht warum. Meine Augen beginnen zu fragen, doch keine Besprechung entsteht. Das Kauen ist laut. Ich kann nicht mehr aufessen. Zwischen erhabenen Mündern bröckeln Worte über den Tisch. Ich sehe, wie sie sich folgen. Ich höre Bedeutung, doch kann die Importantien nicht benennen. Nichts mehr hinzufügen auch. Denn der Pfropf ist schon zu. Ich fühl nach, und es stimmt. Der Stuhl, der hinter mir umfällt, mein ich erst, bringt mich fast um. Das Geräusch reisst im Körper. Auch am Stopfen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich hier gar nicht berührt werden will. Ich streiche die Treppe hinunter. Das Geländer fließt glatt. Die Unregelmäßigkeiten der Anstriche wölben und verlassen sanft meine Hand. Gedanken von Ewigkeit. Auch, dass es so weitergehen kann. Ich mein: Ich. Jetzt das Fenster. Die Linie im Licht ist dort warm. Wärme, Wärme. Hier und hier eine kleine Abwetzstelle. Ich kann die Spucke wieder schlucken. Nun die kühle Kurve.
Katharina Dörr Den Strom aufwärts schwimmen
In den tiefen Straßenschluchten hat sich die Masse gestaut, hat sich ein Pfropf gebildet, der den Kessel versperrt. Dicht gedrängt und kein Vorankommen. Unruhe, ein Blau-Rot-Weiß liegt in der Luft, die flimmernd zwischen den Wänden klemmt. Bis sich voller Erwartung ein erster Brocken löst und aus der graubunten Menge eine Welle losbricht. Sie schiebt sich mir durch die Kluft entgegen; ihr Vorbote ist ein kühler Luftzug, der auf meiner Stirn kleben bleibt. Ich sehe die Gischt der Flut schäumend gegen die Häuser peitschen, aber der Aufprall ist unerwartet sanft. Das Menschenmeer umspült mich. Sein Sog heftet sich an meine Beine und zieht mich gegen den Strich: Ich treibe unversehrt stromaufwärts.
Veronika Mayer (Sich einfach stromaufwärts treiben lassen)
4
Linda Gerner Sich einfach stromaufwärts treiben lassen.
Sich einfach stromaufwärts treiben lassen Wäre schön Mit und ohne alles. Nur Treiben Viel zu einfach Kein Ziel vor Augen Und trotzdem wissen Wohin. Mitgerissen werden Viel zu anstrengend Selber schwimmen auch. Treiben — in die falsche Richtung. Kein Vor. Kein Zurück. Kompliziert. Und manchmal reicht doch nur Eine Unwirklichkeit. Damit man wirklich ankommt. Egal wie. Und kein Weg ist das Ziel.
Eva Casper Sich einfach stromaufwärts treiben lassen
Auf und ab, auf und ab, Geht’s mit meinen Träumen auf- und bergab. Immer unterwegs, den Wasserfall hinab. Ich weine. Springe über alle Ritzen und durch alle Steine. Ich lache. Ständig will man mich fassen, verbaut meine Wege, führt mich in die Irre Und schlimmere Sachen. Ich bin eine Vene des Planeten. Bringe den Tod und das Leben. Mal nehm ich hier und dort etwas fort. Mal tu ich ab und zu irgendwo irgendwas dazu. Mich treibt Eine erbarmungslose Rastlosigkeit. Nur manchmal stehen meine Füße fest, Dann, wenn die Sonne mich im Stich lässt, Wenn alles friert und schläft. Und mein Inneres liegt da wach, Von Heimweh geplagt, Gefangen unter einem Dach und weiß: Das Meer ist noch so weit. Ich hab doch keine Zeit.
5
durch dich kommt das Wasser in Wallung schäumt auf — die Gischt ins Gesicht — bis zur zerstörerischen Kraft einer Flut
Martina Leitschuh Innerste (flussaufwärts treiben)
du verdunkelst den Himmel jagst Wolken bis ans Ende der Welt treibst den Regen sähst auf Feldern Unkraut und leuchtend roten Mohn Ida hatte sich im Prückel eine Melange bestellt. Am Nebentisch saßen zwei ältere Damen über ihre Mehlspeisen gebeugt. Die Jüngere trug einen eleganten Hut, über dessen Position sich Ida wunderte. Sorgfältig notierte Ida ihre Beobachtungen, die sie unauffällig aus den Augenwinkeln machte, in ihr schwarzes Heft. Das Heft im Format 20 x 10,5 cm hatte ihr Karl während einer Ausfahrt in der Josefstadt zugesteckt. Auf die letzte Seite hatte Karl mit Füllfederhalter geschrieben: »Sich einfach stromaufwärts treiben lassen.« Lange Zeit hatte Ida den Satz nicht bemerkt. (Im Hintergrund ertönte Klaviermusik. Der Pianist hatte Alban Bergs Sonate op.1 für Klavier angespielt.) Ida versuchte, sich auf den Satz von Karl zu konzentrieren. Sie lachte. Kaum lesbar war in Spiegelschrift hinzugefügt: »Versuch: Dienstag. Urania.« Heute war Dienstag. Ida riss die Seite mit der zuvor sorgfältig angefertigten Notiz aus dem Heft und legte das gefaltete Papier auf den Tisch. Der Ober kassierte. Ida überquerte die Straße. Am Museum für angewandte Kunst hielt sie kurz inne. Auf der Höhe der Urania sah sie Karl auf einer Bank sitzen. Zu seinen Füßen lag ein gelbes Schlauchboot. Karl stand auf, nahm das Boot und winkte Ida. Stromaufwärts näherte sich den beiden ein Doppelschrauben-Schnelldampfer. Sie gingen die Stufen hinab und ließen das Boot ins Wasser. Mit ihrer Tasche auf den Knien und dem Heft in der linken Hand saß Ida im Boot. Karl war ins Wasser gesprungen und hatte die Schnüre mit dem großen Magneten in der Hand. Der Schnelldampfer erreichte die beiden. Eine große Menschentraube hatte sich am Ufer gebildet. Das Boot war an dem Dampfer angedockt. Mit krakeliger Schrift notierte Ida: 12.42. Abfahrt. Urania.
Constanze Wicke Stromaufwärts treiben
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Aber, aber 5 Texte von: Veronika Mayer, Josephine Brückner, Vera Meier, Viktoria Hellfeier, Eva Casper
Veronika Mayer (Aber, aber)
»Aber — aber ...« Sie stottert und bricht ab. Man ist eben doch zu sehr Mensch und sträubt sich, zu tun, was das Bauchgefühl verlangt. Denkt ihr Gegenüber und wendet den Blick ab. Es lässt sich einfacher reden, wenn man nicht jeden Tropfen Wort von den Lippen des anderen saugt. So geht es ihm zumindest. In der Ferne flattert verloren eine kleine rote Fahne im Wind. Er stellt sich das Rauschen des zerschlissenen Stoffs vor und fragt sich, wie weit er gehen müsste, um es zu hören. Sie ist allerdings verstummt, hat die Augen niedergeschlagen. Kräuselt die Lippen. Runzelt die Stirn. Legt die Hand in den Nacken. Am Telefon könnte er jetzt das vertraute Knacken in der Leitung hören. Oder wenigstens das Tuten, nachdem sie aufgelegt hat. So kann er nicht einmal selbst entscheiden, aufzulegen. Stattdessen hat er das Flattern der Fahne im Ohr und denkt an »aber — aber«.
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Es war ihr Lieblingswort, und sie war fähig, es fast in jeder Situation einzusetzen, und mit den Jahren sah ich es ihr förmlich ins Gesicht geschrieben und wusste daher genau, was auch jetzt kommen würde. Ich ahnte es, obwohl ich diesmal hoffte, dass es anders sein würde. Wir schauten aus dem Fenster, und während sie sprach, beobachtete ich die Straße unter uns und hörte nur halb zu. Mir fiel es schwer, ihrer Stimme zu folgen und dem Schwall von Argumenten die entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen beobachtete ich einen kleinen Jungen, der nicht zu wissen schien, wo er hin sollte, und der schon seit einiger Zeit immer nur auf und ab lief. Die Frau neben mir redete und redete und mit jedem Wort, das sie sprach, entfernte ich mich mehr von ihr und ihrem ewigen Aber.
Vera Meier aber, aber
Laber, laber. »Aber, aber!«, sprach der Sabber. Kurzerhand herausgeschossen, aus des jungen Kälbchens Maul. Oder war er schon ein Gaul? Die Umgebung wird beschossen. Helfen, ekeln, drüber lachen — was bloß wird in mir erwachen?
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Josephine Brückner Aber, aber
Viktoria Hellfeier Aber Aber
Aber aber! sprach der vater. Bitte bitte! der sohn. Aber ja, aber nein Gemein! Aber aber — palaber rhabarbar Aber doch, aber nee Ohjee … Aber nee, aber doch Och! Aber aber — palaber rhabarbar Aber aber! der vater. Bitte bitte! der sohn. Aber nein, aber ja Alles klar! Aber aber — kein palaber Was soll all das Gelaber? Was man auch sagt, immer: Aber, aber … Alles lässt sich negieren, alles widerlegen, für jedes Und gibt es ein Aber, für jede These eine Antithese, wir wissen alles und doch nichts. Sie sagen, dies ist so und so, und jenes läuft so und so, und trotzdem wieder: Aber, aber … Nichts ist unendlich, aber ist nichts nicht auch schon etwas? Der Ball ist rund, aber was bedeutet überhaupt rund? Es ist die Frage aller Fragen, das ewig Ungelöste. Das Aber ist unendlich. Aber ist die grammatikalische Antwort auf die Zahl.
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Eva Casper Aber, aber …
Genau genommen
12 Texte von: Helena Davenport, Dörthe Wilke, Viktoria Hellfeier, Klara Hellena Kayser, Eva Casper, Josephine Brückner, Linda Gerner, Kirsten Wandschneider, Martina Leitschuh, Constanze Wicke, Michael Bayer, Vera Meier.
Helena Davenport Genaugenommen.
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Genaugenommen mag Katrin diese Leute nicht. Diese Leute, die alles genau nehmen. Katrin arbeitet in einem Fleischerladen. Alles rund um die Wurst. Jeder Tag ist gleich. »Genaugenommen 500 Gramm Schwein bitte.« »Nein, 500, nicht 498!« »Grobes Mett, nicht mittelgrobes.« Genaugenommen ist doch eh alles dasselbe, denkt Katrin. Sie ist Vegetarier. Was soll der Unterschied zwischen grob und mittelgrob? Sie nennt diese Leute Erbsenzähler. Genaugenommen ist doch genaugenommen eine Einleitung für eine untergeordnete Definition für etwas, dass zwar auch durch einen Überbegriff benannt werden kann, jedoch von Erbsenzählern näher beschrieben werden muss, um es noch präziser von anderen Dingen zu differenzieren. Zudem wird diese Floskel angewandt, wenn es um genaue Zeit- oder Maßangaben geht. Allerdings wird es auch keinem Erbsenzähler etwas ausmachen, wenn er zwei Gramm weniger Fleisch zur Verfügung hat. Genaugenommen brauchen Erbsenzähler also immer eine genaue Erklärung, um etwas genau erfassen zu können. Wobei sie etwas doch eigentlich nicht genau erfassen können, da Erbsenzähler, wenn sie etwas erfassen, es ja ohnehin schon genau erfassen. Genauer geht es nicht. Aber man kann, ob Erbsenzähler oder nicht, wenn man mag, dieses Wort auch in jeden Satz packen, ohne dass es jemand merkt. Das denkt Katrin, denn sie mag diese Erbsenzähler nicht. Schon gar nicht dieses Wort. Denn genaugenommen ist Fleisch Fleisch und Genaunehmen anstrengend und einschränkend.
Dörthe Wilke Genau genommen
Genaugenommen ist ein Spielverderber, der alles auf die Goldwaage legen muss. Zu seiner Rechten wohnt Frau Peinlichgenau, die sich täglich an seiner akkurat geschnittenen Hecke erfreut. Seit kurzem herrscht Unzufriedenheit in der Nachbarschaft, denn es ist eine neue Familie zugezogen, die ihm und Frau Peinlichgenau das Leben schwer macht. Familie Wasduheutekannstbesorgendasverschiebegernaufmorgen liebt die Wildwiesen, ist tierlieb und erwartet ihr fünftes Kind.
Viktoria Hellfeier Genau genommen
Pünktlich um 7.30 h hatte sein Wecker geklingelt. Er brauchte exakt sechs Minuten, um sich im Bad die Zähne zu putzen und sein Gesicht zu waschen. Danach war er in die Küche gegangen, um zu frühstücken. Ordentlich hatte er sein Butterbrot in zwei gleich große Hälften geteilt und anschließend jede mit einer Scheibe Salami belegt. Er hörte weder Radio, noch las er Zeitung, denn er hatte keinerlei Interesse für Politik. Jetzt war er auf dem Weg zum Supermarkt um die Ecke. Obwohl die Sonne schien, trug er eine blaue Mütze. Gleichmäßig setzte er einen Fuß vor den anderen und achtete dabei penibel darauf, niemals den Rand einer Gehwegplatte zu übertreten. Es waren genau 854 Schritte bis zur Tür des Supermarktes. Ohne sich um die anderen Einkäufer zu kümmern, bewegte er sich durch die Regalreihen. Zielstrebig näherte er sich dem Regal mit den Süßigkeiten und griff nach einer Schachtel Kinderriegel. Wie immer bezahlte er an der mittleren Kasse. Die Kassiererin kannte ihn schon und lächelte freundlich, während er die Schokolade mit einem Stapel abgezählter Fünf-Cent-Münzen bezahlte. Den verwunderten Blick der Mutter hinter ihm in der Schlange ignorierte er. Auf die gleiche Weise, wie er gekommen war, machte er sich auf den Heimweg. Von den dreizehn Stufen bis zu seiner Wohnung im 2. Stock betrat er nur jede zweite. In seiner Wohnung angekommen nahm er die Mütze ab und hängte sie ordentlich an den Haken. Danach machte er sich daran, die Schokoriegel in Geschenkpapier einzuwickeln. Ordentlich faltete er die Ränder des Papiers. Dann legte er das fertige Geschenk in die Mitte des Küchentisches. Es war für seinen Enkel bestimmt. Wie jeden Samstagnachmittag würde um exakt 15.30 h die Wohnungstür läuten. Bis dahin waren es noch 4 Stunden und 43 Minuten — das wusste er genau, ohne einen Blick auf die Wanduhr werfen zu müssen.
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Klara Hellena Kayser genaugenommen
mir geht es tip top trotz Lohnstop sitz’ ich im Hairshop und dort läuft Hip Hop kein Britney-egotrip-Pop und Crunchip-nonstop nieder mit dem Metal Hardcore Auferstehung dem Rap Folklore nimmermehr Slipknot und Microchip-Pop mir geht es tip top dank Lohnstop.
Eva Casper Genau genommen
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G Ich hab’s genauso gemacht, wie du’s gesagt hast. g Lass mal sehen … Nein, so wollte ich das aber nicht. G Wie jetzt?! Das hast du aber nicht gesagt. g Gesagt hab ich’s nicht, aber ich hab’s mir anders vorgestellt. G Ach?! Und wieso hast du dann nicht gleich gesagt, wie du’s wirklich wolltest? g Ich hab ja gesagt, wie ich’s wollte. Ich hab’s mir nur anders vorgestellt. G Häh? Wieso sagst du dann nicht einfach, wie du es dir vorstellst? g Für manche Gedanken reicht die Sprache eben nicht aus. G Dann SPRICH doch anders! g Wie soll das gehen? Hab ich denn die Sprache erfunden? Und spräch ich es auf Englisch, Französisch oder Deutsch, es blieb doch dasselbe Problem: Ein Ding, von dem ich weiß, die Gestalt, den Sinn, den Bestand, sprich: jede Einzelheit. Gibt mir noch immer nicht das Wissen, zu sagen, wie es heißt. G Dann DENK doch anders! g Wie soll das gehen? Hab ich denn das Denken erfunden? Und könnt ich es doch schmieden wie ein heißes Eisen, mit dem stärksten Hammer, welche Form es letztendlich hat, liegt ja doch nicht in meiner Hand. G Ok, ok! Ist ja gut, ich hab’s kapiert. Übrigens …, könntest du mir hier mal kurz helfen? g Klar, was soll ich tun? G Mach’s einfach genauso, wie ich es dir sage …
Josephine Brückner Genau Genommen
Linda Gerner Genau genommen
Kirsten Wandschneider Genau genommen
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Kleine weiße Flocken dringen durch die halb geöffneten Fenster in mein Zimmer. Es ist fast ein bisschen so, als würde es schneien. Überall haben sie sich niedergelassen, aber sie machen sich nur dann wirklich bemerkbar, wenn sie aufgewirbelt werden. Merkwürdigerweise sehe ich vor meinem Fenster auch einzelne Flocken, die nach oben fliegen. Vielleicht werden sie von wärmeren Luftschichten oder von den vorbeifahrenden Autos nach oben getrieben, so genau kenne ich die physikalischen Gesetze nicht. Aber sie sehen für mich fast so aus wie verkehrt herum fallende Schneeflocken. Genau genommen ist das Jacke wie Hose. Für den Besserwisser ist es das Gleiche in Grün. Für mich das Selbe in Gelb. Ganz und gar. Größer. Groß Artig. Geradlinig. Ins Blaue hinein. Stromlinienförmig. Wie gewonnen, so zerronnen, genau genommen. Karla kramt in der Kiste. Die Teekanne mit den kleinen braunen Blüten ist sie auf dem Flohmarkt nie losgeworden. Wenn sie aus dem Fenster sieht, sieht sie den Schneewind. Tosend. Blätter gibt es schon lange keine mehr. Dafür Eis. Eis und Schnee. Der Geruch des heißen Schwarztees erinnert sie an Ebba. Ebba, die sich erschrak und dann nach Luft schnappend loslachte, wenn man ihr überraschend und kurz über die Schulter ins Ohr pustete. Die Milch im Tee steigt in einer schwerfälligen Wolke an die Oberfläche. Die Wäscheleine zwirbelt im Wind wie ein viel zu schnell geschlagenes Springseil, in dem sich das zierliche Bein zu oft verhedderte. Aus übertriebener Höhe plumpst ein Stück Kandis in die Tasse. Es knackt wie Eis. Ebba hätte sicherlich versucht, den Schnee in ihrer Kapuze einzufangen. Der Tee ist zur Ruhe gekommen. Karla nie. Sie läuft aus dem Haus. Ihr Laufen wird immer entschiedener; auf einmal erfüllt sie Stolz. Als wäre sie ein Porzellantässchen, zerspringt ihr warmer Körper an der weißen Backsteinmauer.
Martina Leitschuh Genau genommen
ich sag’ was du sagst was ich hör’ dir nicht zu ich betrachte dich gern du hörst mir nicht zu denn du hörst dir gern zu so sind die Rollen und so läuft das und so bleibt das und so ist das so bist du so bin ich Basta!
Constanze Wicke GENAU: Genommen
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Wie benommen läuft sie am 22.4. gegen Morgen durch die Stadt. Den Brief mit den beunruhigenden Nachrichten hat sie in die Tasche gesteckt. Ein Mann sitzt auf der Parkbank. Neben ihm das Kind. Es lacht. Sie hält inne und lehnt sich an die Glasfassade des Lebensmittelgeschäftes. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt die Bank im Sonnenlicht. Das Kind flüstert dem Mann etwas ins Ohr. Der Mann greift neben sich. In dem Moment versperrt ein weißer Transporter mit der blauen Aufschrift »Robben & Wientjes« ihr die Sicht. Vor dem Lebensmittelgeschäft bleibt der Transporter stehen, und ein kleiner Mann in Kunstlederslippern stellt eine Europalette mit Zuckerpaketen vor das Geschäft. Sie läuft weiter. Der Mann und das Kind sitzen nicht mehr auf der Bank. Doch an der Ecke Auguststraße/Joachimstraße erspäht sie die beiden. Hand in Hand betreten sie die Bäckerei. Sie überlegt. Am Morgen hatte sie bereits ein Weißbrot mit Konfitüre und Butter gegessen. Dazu ein Glas Milch. Hatte sie in der Eile ihren Geldbeutel eingesteckt? Sie greift in die Tasche und spürt den Brief mit den beunruhigenden Nachrichten zwischen den Fingerspitzen. (Von der Begegnung mit dem Mann und dem Kind war sie fasziniert.) Sie hat den Brief in die Hand genommen. Genau. Sie muss weiter. In schnellen Schritten überquert sie die Kreuzung und läuft Richtung Rosenthaler Straße. Auf der Höhe der Hausnummer 7 verlangsamen sich ihre Schritte. Sie bleibt stehen. Klingelt. »Ja?« — »Ich bin es.«
Michael Bayer genau genommen / 8 m
Vera Meier genau genommen
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Der Kollege ruft zum unschätzbaren Mal: »Einmal ohne Gummi, immer ohne Gummi, gnädige Frau!« und er verkauft. »Haben sie auch Koreaner?« »Ja, Nord- oder Südkoreaner?« »Nein, nein, gemahlen!« Zur Verzweiflung am menschlichen Geist ist es noch zu früh. Nicht mal zwei. »Homs a no a gloans Diddal?« »Freilich!« »Mei, da warad I eana dankbar!« Dort wird gewunken, von seit vierzig Jahren Wurst. »Kum amal ha dow!« Ich komme und darf mich an die Sonne anlehnen. Gemeinsam rauchen und schimpfen. »Dagegen ist auch dafür und auf de gröschte Haufe is meischtens a no gschisse!« »Hast du mei Kadala scho gsahn?« Gemeint ist eine Holzsiamesin, die auf dem weißen, von einer hauchdünnen, aber resistenten Fettschicht überzogenen Tresen wie die Sphinx ruht und blickt. »Na, ho i no near!« »Ich liiiiieb fei Diere!« (Pause) »Und Katzen sind meine Lieblingsdiere!« Die Wurstfrau raucht, ich rauche mit. »Kann ich Ihnen sonst noch was Gutes tun?« »Dann einen schönen Tag noch!« Drei Wissenschaftler sitzen an einem Tisch. Der Pessimist spricht: »Nein, nein, es ist einfach nicht möglich! Die Gesetze der Physik besagen, dass die Hummel nicht fliegen kann. Mit 4,8 Gramm, einer Flügelfläche von 1,45 cm2 und einem Flächenwinkel von 6 Grad ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie stürzt. Ihr Unwissen wird sie irgendwann nicht mehr schützen.« »Alles Humbug!« wirf der Realist ein. »Mag sein, dass wir derzeit nicht erklären können, warum die Hummel fliegen kann. Aber vielleicht liegt ein Fehler in unserer Idee von der Aerodynamik vor. Immerhin dachte die Wissenschaft auch lange, dass die Erde flach sei. Nein, nein, die Hummel kann und wird fliegen. Wir sehen es doch jeden Tag auf’s Neue. Und irgendwann kommen wir auch dahinter, warum.« »Ja, genau, der Meinung bin ich auch. Die Hummel kann und wird fliegen. Und vielleicht schaffen auch wir es irgendwann, die Evolution auszutricksen und fliegen sogar selber«, träumt der Optimist vor sich her. Die drei diskutierten noch lange. Inzwischen ist geklärt, warum die Hummel fliegen kann.
Immerhin
12 Texte von: Christian Camehl, Josephine Brückner, Martina Leitschuh, Linda Gerner, Helene Osbahr, Leonie Hesse, Constanze Wicke, Vera Meier, Veronika Mayer, Eva Casper, Ursula Seeger.
Christian Camehl Immerhin
(langsam einsetzendes elektronisches Rattern)
Alle (monoton gesungen in einem leicht melancholischen Tonfall): »Ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhh« Vater (breitbeinig auf einem Stuhl sitzend, in einem dezent aggressiven Tonfall): »Wer weiß schon, was in zwanzig Jahren mit VW ist!« Mann (verschwitzt, angetrunken, raue Stimme, säuselnd): »Und, was machst du jetzt mit deinem Sambuca, Mann?« Wir kommen aus dem Klub. Die Haare kleben auf unserer Stirn. Unser Make-up, das wir vorher in einer langwierigen Prozedur auftrugen, läuft langsam, durch den Schweiß gelöst, in unsere feinen Falten, die sich durch den Schlaf- und Flüssigkeitsmangel unter unseren Augen gebildet haben. Eigentlich sind wir nur auf der Suche nach Nahrung, die den Alkohol aus unseren Körpern saugt.
Frau (zusammengekauert und mit verschränkten Armen tief versunken im Sessel sitzend): »Es sieht zwar etwas chaotisch aus, aber eigentlich hat hier alles seinen Platz!« Jugendlicher (breitbeinig, mit einer tief sitzenden Baggyhose, kurz geschorener Bushidofrisur, Bierflasche in der rechten Hand, höchstwahrscheinlich mit Migrationshintergrund): »Ey Alter, guck’ dir mal diese Schwuchtel an! Ach, nein. Nicht nur eine. Eine. Zwei. Drei. Vier. Krass, Alter.« Mutter (im Schlafanzug, ohne Make-Up, in rauer Schlafstimme): »Naja, bisher war ich eigentlich immer für die A 39 — aber im Moment bin ich mir da auch nicht mehr so sicher!«
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Die erst vor wenigen Minuten aufgegangene Sonne scheint direkt in unsere Gesichter. Der dröhnende Bass klingt noch etwas in unseren Ohren nach. Es ist kalt. Gänsehaut lässt deine feinen, dunklen Armhaare steil in die Luft ragen. Ich leihe dir meine Jacke, hoffe dadurch insgeheim, dass sie deinen Geruch annimmt und ihn für die Ewigkeit konserviert.
Mann (Anfang Vierzig, kurze graumelierte Haare, schwarze
Frau (grüne Augen, Unterlippenpiercing auf der rechten Seite,
Ray-Ban-Brille, Grafiker, markante Gesichtszüge, drei-TageBart): »Dein Freund ist irgendwie total verrückt. Der tanzt total komisch! Nimmt der irgendwelche Pillen? Außerdem hat er mir auch noch den Mittelfinger gezeigt, als ich mich mit dir unterhalten habe!« Mädchen (dunkle lange Haare, schlank, wohlproportioniert, rot lackierte Fingernägel): »Am besten lassen wir die beiden mal allein. Was möchtest du trinken? Ich gebe dir einen aus. Wie heißt du eigentlich?« Gabriel Hirsch (Sänger und Komponist aus Berlin, rotblonde Haare, trägt den Pony nach links, beschreibt seine Musik als Indie/Electro/Melodramatischer Pop-Song): »Ich bin schon wieder hier oder immer noch da. Ich weiß nicht, ob ich mich gerade totlache oder ob ich gerade ersticke. Ich glaube, ich erbreche mich gleich oder bin ich doch nur müde.«
hört gerne Alternativrock): »Oh mein Gott, ich trinke jetzt schon seit zehn Uhr morgens! Und dafür habe ich fünf Liter Bier von der Weststadt in den Prinzenpark geschleppt, damit dieser Scheißkerl Schluss macht.«
Endlich haben wir, nach einer endlos scheinenden Odyssee, den Dönerladen erreicht. Hungergefühl verspüre ich keines. Es ist einfach nur die Begierde nach einem anderen Geschmack in meinem trockenen Mund. Trinken wäre gut, aber ich esse. Der Dönermann schaut uns fragend an. Stehe ganz dicht neben dir, unsere Jacken reiben aneinander. Bei dir fühle ich mich geborgen.
ner festen Beziehung, hat den festen Willen, ihr Partyleben zu reanimieren): »Ich glaube, ich geh’ jetzt nach Hause. Meine Füße tun weh. Bin seit über zwölf Stunden auf den Beinen. Aber beim nächsten Mal bin ich bestimmt dabei!« Frau (schlendert mit einer Freundin und ihrem Sohn an den Kosmetikständen eines Drogeriemarktes vorbei, wirkt gehetzt und drängelt sich zwischen den Menschenmassen hindurch): »Nein, lass das darin. Das nehmen Jungs nicht! So was ist nur für Mädchen. Jungs schminken sich nicht.« Mann (Sunnyboy, braungebrannt, spielt gern Beach-Volleyball, hat früher in den Mönch am zugefrorenen Baggersee Böller gezündet): »Du siehst wirklich jedes Mal anders aus, wenn wir uns sehen. Eigentlich freue ich mich immer, wenn wir uns mal wieder sehen. Ich mag dich.« Alle (immer leiser werdend): »Ohhhhhhhhhhhhhhhhhhhh«
Frau (Kunststudentin, glättet sich ihre blonden, bis zum Kinn reichenden Haare jeden Tag, trinkt gerne Milchkaffee und raucht selbstgedrehte Zigaretten): »Was habt ihr denn bitte drei Stunden lang getrieben?! Etwa nur Kaffee getrunken?« Großmutter (kleine untersetzte Figur, graue kurze Locken, trägt zu besonderen Anlässen gerne ihren Aquamarin-Ring, der etwas zu groß ist und deswegen mit einem dünnen Goldring an ihrem linken Ringfinger fixiert werden muss): »Bald ist wieder der 8. Mai. Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie es hier damals aussah. Alles kaputt, und wir mussten alles mit den bloßen Händen wieder aufbauen. Seid froh, dass ihr heute lebt. Bloß nie wieder Krieg!« Cousine (mit Auszeichnung bestandenes Interieurdesign Studium, hat sich mit 17 Jahren einer Nasenscheidewand-OP unterzogen, wurde während ihrer Schulzeit ununterbrochen wegen ihrer dünnen Beine gehänselt): »Echt komisch. So’n halbes Jahr Arbeit, und dann steht man da ’ne Stunde, und dann is’ alles vorbei.«
Ich schließe meine Augen. Bin komplett: Alles, was ich liebe, ist bei mir. Es riecht nach verbranntem Fleisch und Zwiebeln. Du streichst dir deinen dunkelbraunen Pony von der Stirn. Könnte dich jahrelang anschauen. Du bist so wunderschön. Langsam ziehst du meine Jacke aus. Rosafarbene Sauce tropft durch das aufgeweichte Pita auf dein eng sitzendes T-Shirt. Mit dem Zeigefinger wische ich den Rest der Sauce von deinem Kinn. Nirgendwo ist es so schön wie hier.
Frau (Jugendfreundin aus Kindertagen, seit zwei Jahren in ei-
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die Ferne klebt an mir wie Holunderblütensirup war lange in dem Wundergarten voller Sehnsucht und hungriger Spinnenbeine
Josephine Brückner Immerhin
ich pflücke deshalb tausend winzige Wasserblumen dunkelblau fast schwarz ist die Einsamkeit dunstig die Ferne always the buddy never the lover a girl undercover
Martina Leitschuh Immerhin
Der Eine schaut den Anderen an wie immer. Wie früher. Wie damals. Jemals. Denkt der Andere. Der Eine hat den Anderen lange nicht geseh’n. Hat der Eine den Anderen jemals so geseh’n?
Linda Gerner (immerhin)
Der Eine sagt dem Anderen ins Gesicht: Ich mag dich nicht. Und nichts zerbricht. Kein Klang zerstört den Hall. Das Pathos hat heut Urlaub. Der Andere hat den Einen in seinem Wagen mitten ins Gesicht geschlagen. Kein Versehen beim Einen. Kein Verstehen beim Anderen. Und beide wissen: Zu vieles war nicht richtig. Und beide wissen: Das ist heute nicht mehr wichtig. Immerhin — Vielleicht hatte es Sinn. Denn auch wenn der Eine den Anderen heute ansieht, ohne zu erkennen, Kann der Andere den Einen immer noch beim Vornamen nennen. Und beide wissen: Vieles ist nicht richtig. Und beide wissen: Nichts ist wirklich wichtig.
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Helene Osbahr Immerhin
Eigentlich würde ich denken, dass es vielleicht besser wäre, wenn du mir wenigstens einmal zuhören würdest. Das ist überhaupt relativ belastend für mich. Schließlich ist es, genau betrachtet, gar nicht meine Absicht, dich irgendwie anzugreifen, allerdings könntest du wenigstens versuchen, dich einfach mal ein bisschen um mich zu bemühen. Immerhin bin ich deine Mutter.
Leonie Hesse Immerhin
Immerhin habe ich es soeben geschafft, durch die differenzierte Betrachtung der Dinge jeglichen Anspruch fallen zu lassen und mich in der als real wahrgenommenen Welt in einem schlafwandlerischen Modus scheinbarer Zufriedenheit einzufinden. Jetzt müsste ich eigentlich ein glücklicher Mensch sein.
Constanze Wicke Immerhin
Oswald hat Geburtstag. Schon gestern hatte er von seiner Tante ein Kinderbuch bekommen. Die Illustrationen gefielen ihm. Der Text war zu schwer. Er war ja erst vor zwei Monaten in die Kastanienbaum-Grundschule eingeschult worden. An der Hand seiner Mutter ging er jeden Morgen vorbei am Alten Europa — dort bekam er nach Schulschluss gelegentlich eine Kugel Eiscreme; Stracciatella schmeckte Oswald am besten — zu seiner Schule in der Gipsstraße. Den Straßennamen konnte sich Oswald gut merken, denn im letzten Sommer war er beim Klettern vom Kirschbaum gefallen. Er hatte sich den Arm gebrochen und vier Wochen lang einen Gipsverband tragen müssen. Heute also hatte Oswald Geburtstag. Er war jetzt alt genug, um alleine den Schulhof zu überqueren und in sein Klassenzimmer — das Zimmer der 1b — zu gehen. Ganz alleine war er nicht: die Giraffe, den Pinguin und das Segelschiff hatte er vom Gabentisch genommen und in die Schultasche gesteckt. Heimlich, wohlgemerkt. Seine Mutter hatte ihm verboten, die neuen Spielsachen mit in die Schule zu nehmen. Die Lehrerin — sie war eigentlich ganz nett und hatte auch einen kleinen Hund, den sie schon einmal mit in die Schule gebracht hatte — trug heute ein blau getupftes Kleid und sah nicht hin, als Lena die Giraffe aus Oswalds Schultasche angelte. Lena war Oswalds Banknachbarin und mochte Rosa. In ihrer Prinzessinnenfedermappe hatte Lena nicht nur einen rosafarbenen Füllfederhalter, sondern auch eine kleine Plastikschere (wie der Füllfederhalter für Linkshänder) mit einem blassrosafarbenen Griff. Die Schere in der Hand, die Giraffe auf dem Tisch. Fassungslos beobachtete Oswald Lena. Oswald mochte Lena. Sie ihre Schere. Lena schnitt der Giraffe einen kurzen Pony. Oswald war schockiert. Die Lehrerin schimpfte. Oswald weinte. Lena gefiel die Giraffe mit kurzem Pony besser. Morgen wollte Oswald sein neues Kinderbuch mitbringen und lieber nicht alleine den Schulhof überqueren. Immerhin bekam er im Alten Europa heute drei Kugeln Stracciatella.
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Vera Meier immerhin
Immerhin modern. Immerhin jung. Immerhin neu. Immerhin bewehrt. Immerhin alt. Immerhin gebraucht. Der Januskopf geht die Münze schwingend umher. Es quälen ihn Fragen. Ende oder Anfang. Gegensatz oder Harmonie. Widerspruch oder Einigkeit? Immerhin gut. Immerhin rein. Immerhin wahr. Immerhin schlecht. Immerhin trüb. Immerhin beschönigt. Er quält sich sehr. Kennt er doch kein Grau.
Veronika Mayer (Immerhin)
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Wir steigen die Weinberge hinauf und hinab. Es kommt mir vor wie der 27. dieser verdammten Berge. Der trockene Boden unterm Schuhwerk löst sich in kleinen Erdrutschen und macht den Tritt unsicher. Schweiß tropft von der Stirn und die Träume der vergangenen Nacht aus den Haaren. Zwischen der Hitze des Tages und der feuchten Kühle der Nacht sind sie noch ganz klebrig. Und irgendwann ist mir so, als gingen wir durchs Getreide. Wie eine Linie, die sich lautlos vortastet. Ähren streifen Hände, aber bleiben unfassbar im Gefühl von Ozean. Nur die Anstrengung behält den festen Griff. Und am Ende tut sich der Vorhang aus Dämmerungsgrün auf: Wir sind nicht das Meer. Sondern staubige Steine.
Immerhin kannte sie den Weg. Sie musste nur an der Wiese vorbei und dann rechts. Aber die Sonne schien so hell und warm, und ihre Füße taten ihr weh. Cosma lief auf die Wiese, zog ihre Schuhe aus und legte sich ins Gras. Sie begann zu dösen. Nach einer Weile hörte sie eine Stimme. Jemand sang ein Lied.
»Die Kürbisse sind meine ganze Freude. Sie scheinen wie die Sonne groß und rund und rot. Ich gieße sie morgen, übermorgen und auch heute. Und wenn ich Ungeziefer finde, dann schlage ich es tot.« Sie öffnete die Augen und setzte sich auf, um zu sehen, woher die Stimme kam. Nicht weit von ihr entfernt war ein Feld mit Kürbissen. Ein großer Mann mit einer Gießkanne in der Hand sang vor sich hin. Komisch. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, dass hier ein Feld gestanden hatte. Sie ging zu dem Mann hin. »Hallo!« begrüßte sie ihn. »Guten Tag, junges Fräulein« unterbrach er seinen Gesang. »Wirklich ein herrlicher Tag!« fuhr Cosma fort. »Und ein sehr schönes Lied. Aber ist die Sonne nicht eher gelb?« »Gelb!? Die Sonne!? Was für ein Unsinn!« lachte der Mann. »Mädchen, ich glaube, du solltest mal öfters in den Himmel schauen.« Cosma blickte nach oben. Tatsächlich! Die Sonne war wirklich rot. Das hatte sie nun wirklich noch nie gesehen, dass sie tagsüber rot war. Oder war es etwa schon so spät? »Entschuldigung. Können sie mir vielleicht sagen wie spät es ist?« fragte sie den Mann. »Aber natürlich! Es ist genau ein Rechteck und ein Dreieck entfernt vom großen Würfel.« »Äh, wie bitte?« »Na, ein Rechteck und ein Dreieck entfernt vom großen Würfel. Beim großen Würfel ist es Zeit, die Kürbisse zu gießen. Wogegen es beim
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Eva Casper Immerhin
Halbkreis Zeit zum Schlafengehen ist.« Cosma verstand kein Wort. Was war das für ein seltsamer Mann, dass er in Dreiecken und Würfeln die Zeit maß? »Also, ich habe gelernt, dass man die Zeit in Minuten, Stunden und Tagen misst.« »Was sagst du da? Minuten, Stunden, und was war das letzte? Taaagee?« »Äh, nein. Tage«, erwiderte sie. »Und was soll das alles sein?« »Nun, ein Tag ist von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang«, begann Cosma zu erklären. »Und ein Tag hat 24 Stunden, und eine Stunde hat 60 Minuten. Eine Minute wiederum hat 60 Sekunden.« »Herrje, wie kompliziert!« fuhr der Mann dazwischen. »Es ist viel einfacher die Zeit in Würfel, Rechtecke und Dreiecke einzuteilen. Sieh mal: Wenn ich aufstehe, dann gehe ich von meinem Haus zum Feld und dann zum Brunnen. Ein Dreieck! Mein Feld ist ein Rechteck. Wenn ich alle Kürbisse gegossen habe, ist ein Rechteck vorbei. Alle Rechtecke und Dreiecke zusammengerechnet ergeben einen Würfel. Die Sonne schwebt in einem Halbkreis über den Horizont. Also, wenn sie weg ist, ist Halbkreis und somit Zeit zum Schlafengehen. Das ist doch ganz einfach! Was soll denn das für einen Sinn haben, die Zeit in Teile zu zerlegen. Und diese Teile dann wiederum in andere Teile. Kann ich die Zeit denn greifen und mit einem Messer zerteilen? Pass auf, dass du dich nicht auch noch selbst damit zerteilst!« Der Mann lachte. Cosma war verwirrt. Sie hatte vorher nie über ihre Zeiteinteilung nachgedacht, und ob sie sinnvoll war. Sie hatte ja nicht mal gewusst, dass es Alternativen gab. Auch, wenn sie sein System doch sehr kompliziert fand. »Also, ich finde das gar nicht so einfach«, antwortete sie. »Wie soll sich die Zeit denn in einem Halbkreis anordnen? Man kann sie doch gar nicht sehen.« »Aber fühlen,« erwiderte der Mann. Cosma runzelte die Stirn. Was sollte das jetzt wieder? Konnte man etwa halbkreisförmig fühlen? Sie wusste nicht mal, ob sie überhaupt in irgendwelchen Formen fühlte. Das war alles so merkwürdig, dass ihr ganz schwindelig wurde.
Immerhin, schon mal eine gute Einleitung. Oder Überleitung. Von dem Weißraum über dieser Zeile zum Text. Zu dieser Anhäufung von Buchstaben ohne besonderen Sinn. Vielleicht ist es eine Überleitung von Unsinn zu Sinn. Oder auch andersrum. Langsam und vorsichtig schleicht sich etwas Sinn an, versucht den Buchstabenfluss in geordnete Bahnen zu lenken. Die Buchstaben tun so, als wären sie folgsam und halten sich ordentlich an den Rand von 2,5 und 3,2 Zentimetern Länge. Ein Wort gibt das andere. Aber der Schein trügt, wie immer. Das seriöse Auftreten schwarzer Buchstaben auf Papier ist nur Tarnung. Die Groß- und Kleinschreibung ebenso wie die Rechtschreibung. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Immerhin, das ist doch schon mal eine gute Einleitung. Der zweite Satz knüpft nahtlos daran an, gibt den Rest an Schwung weiter an den Nebensatz, der relativ reflektiert den Lesefluss etwas abbremst, um dann neuen Schwung zu gewinnen. Der abenteu-erliche Bericht beginnt überraschend die Richtung zu wechseln, um notwendigerweise, um nicht zu sagen, unumgänglicherweise, ein labyrinthartiges Konstrukt von einem Satz einzuleiten, der absolut unabdingbar, zwar leider nicht leicht nachvollziehbar, aber nachweisbar unersetzlich ist, um die Konzentration des Lesers auf die Probe zu stellen, und möglicherweise, aber nicht beweisbar, auch um die Spannung zu erhöhen, die von Zeile zu Zeile weiter steigt, um letztendlich, unglücklicherweise, im Nichts zu verpuffen.
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Ursula Seeger Immerhin #1
Ursula Seeger Immerhin #2
Allerlei
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Langsam perlt der Regentropfen am Leonie Hesse verrosteten Wellblechdach herunter. Südfranzösische Impressionen Das Wetter ist besser geworden. Nun ist es hellgrau und feucht. Die Autos verdichten sich zu einer schlafenden Masse, die auf dem Betongrund friedlich zu ruhen scheint. Nur die wenigen, auf die gleiche Größe gezüchteten Bäume stören die Idylle naturfreier Ästhetikverachtung. Schön, dass ich extra früh aufgestanden bin, um diese südfranzösischen Impressionen einfangen zu können.
Rosanna Baltzer schlaumeierei
wir sind konservativ laden trümmer mit bedeutung auf respektieren die akzeptanz des schnees von gestern konservieren zeichenhaftigkeit wir sind die erinnernden unsere erinnerung sind die neandertaler im film ist die gleichzeitigkeit von erinnerung und erinnerndem möglich der film ist unsere mythologie der mythos ist ursprungslehre kontinuitätsbasiert mit brückenschlag zum primitivismus die vermeintliche linearität ist brüchig wir sind nicht affig sondern weise bruch heißt vom neandertaler zum schlauberger der talentierte neander schuf das werkzeug der schlaue berger nutzte die waffen waffen sind werkzeuge für greueltaten greueltat heißt die wiederholung von geschichte alles schlaumeierei
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Leonie Hesse, Rosanna Baltzer, Michael Bayer, Bianca Muckelmann, Klara Hellena Kayser, Ursula Seeger, Katharina Dörr, Kirsten Wandschneider, Christian Camehl
Michael Bayer Wir Neandertaler Leonie Hesse
Mobiltelefon mit Weckfunktion; eine Zahnbürste mit Batteriebetrieb und Silberionenschicht für die Zunge; die Zahnpasta original mit sehr gut bewertet und ohne Konservierungsstoffe; das Handy mit WLAN und Internet Flatrate; ein Shampoo für das Geschlecht; ein Duschgel für den Rest; ein Mikrofaserhandtuch; das extra dry 24 zu 2 Stunden Deodorant; ein Parfüm für einen Stundenlohn von 67 Euro ohne Mehrwertsteuer; das Mobiltelefon mit 8 Gigabyte Speicherkarte; eine Nagelschere; eine Nagelfeile; ein Nasenhaarentferner von einer Marke mit Tradition; eine Pinzette für Augenbrauen und gegen Blutvergiftungen; eine Body Lotion für anspruchsvolle Haut; das Handy mit MP3 Player und Surround Sound, Taschentücher mit Balsam; Toilettenpapier mit Tierapplikationen und Wiesenduft; Waschmittel mit Frühling; das Handy mit Touchscreen; ein Glätteisen für die Haare mit gummiertem Griff und Keramik-Platten; das Handy mit Global Positioning System; ein Körperhaartrimmer für Sex; eine Sonnencreme mit Vitamin E und extrem hohem LSF; eine Après Sun Lotion zum Kühlen und Beruhigen der sonnenstrapazierten Haut; das Handy mit mindestens 5 Mega Pixel Kamera für die schönsten Momente des Lebens; einen Putendöner ohne Scharf und einen Ayran zum Mitnehmen, bitte.
Muss ich schreiben, wenn ich denken kann?
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Schickt mir keine Flaschenpost, ist eh nichts Neues drin. Wir dümpeln rum und sind nicht schön, und nehmen’s einfach hin. Ich bin voller Sternenhagel, du bald am Ertrinken. Halt dich an meiner Plauze fest, dann werden wir versinken.
Klara Hellena Kayser Stop — in the name of reproduction
To successfully reproduce, You must first learn to seduce Tom, Michael and Bruce. However, Stop make-up abuse There is no use You were born to reproduce. Stop wearing high-heeled shoes There is no use You were born to reproduce. And stop ridiculing Zeus There is absolutely no use For you were merely born to reproduce! Eat carbohydrates EVERYDAY Your calling is reproduction, I am sorry to say. P.S Thanks to reproduction You get a tax deduction on tumescent liposuction.
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Bianca Muckelmann
Unendlich viele Halme, Erdkrumen, Ursula Seeger Rapsblüten, Blätter und SonnenstrahBeschreibung #1 len, die sich darin brechen. Weiße Tupfen auf roter Bluse, schwankend beim Bremsen. Die Welt zieht rückwärts vorbei. Feld, Wald, Ort, Feld, Haus, Feld, Ort, Feld, Ort, Ort, Feld. Risse an einer Mauer hinter einer Bank, ein nagelneues Rathaus und eine alte Kirche. Haus, Haus, Haus, Haus, Baum, Haus, halt. Wogendes Gras hinter Maschendrahtzaun, tonlos, stattdessen lautes Motorengeräusch.
gibt es Kuchen. wenn alleine davon viel. denn im Mund und doch nur Füllsel für das eigne Mißgefühl. des Tags, der dich gern fressen geht.
Katharina Dörr ab und zu
Kuchen gibt es. schwer aber dran, danach wieder sprechen zu lernen.
Da habe ich es. Ich wurde geboren. Bianca Muckelmann Das war in letzter Zeit wohl nicht so offensichtlich. Einen Hieb ins Gesicht schlug ich vor, der würde es doch auch tun. Man sähe dann schon, dass es mich gibt. Aber nein. Backpfeifen seien so schlecht zu archivieren. Zwei bis drei Wochen musste ich warten, bei Tag und bei Nacht. Beim Gehen bewegte ich mich. Wenn ich stehen blieb, hatte ich eine Position. Ich raste auf einer Ellipsenbahn um die Sonne. Derweil drückte jemand mit einer Befugnis einen Stempel in ein Kissen. Vor ihm lag ein Blatt Papier. Man hatte es in Normgröße ausgeschnitten.
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Oben unten rechts und links, hellgrün, Ursula Seeger blaugrün, dunkelgrün. Da ist rauschenBeschreibung #2 des, silbriges Blattrückseitengrün, gefiedertes Farngrün, stoppeliges Rasengrün. Helles, wogendes Weidengrün, schattiges Wiesengrün, scharfkantiges Brennesselgrün und vergilbtes, feinblättriges Unkrautgrün. Junges, leuchtendes Grasgrün, daneben stumpfes Schattengrasgrün und holziges, tanniges Immergrün, rundblättriges, dunkel glänzendes Heckengrün, und im Gegenlicht geädertes, junges Ahorngrün, lianenhaft wucherndes, im Wind schwankendes Kletterpflanzengrün und blasses rotbekirschtes Tischdeckenminzgrün.
Katharina Dörr unbekümmert
Suchend schiebt sich die Nase vor. Sie und Kinn blättern die Seite um. Dann wartet sie den einen Moment, der seiner ist. Sie wartet, schläft ein. Nachher findet sich ein Zettelchen gesteckt. Bella in eigener. Alles in seiner Schrift. Sie entfaltet und beginnt: Mit ihr verstehe er sich. Seine Nummer ist nicht dabei. Aber die Zeile: Ich mag dich wiedersehn. Aha, wie schön.
Ein Zierhirn mit senfgelben Röschen, Bianca Muckelmann die zuwucher tragen. Wenn OsterRösalind spricht glocken daraus würden wär’s okay. Fünf Liter Honig könnt’ ich trinken, dann wäre kleben kein Problem. Schmier’s mir um die Lippen, das Wüldertolle, Pollenmolle, Sinnverkolle, Schüldervolle, das Füllden, die Knüllden, so dass die Mündchen verwüllden. Mach sie auf, die Zähnelein, sprich und meinetwegen spuck’ beim Reden, sprotze, sei gut drauf, verschleuder alle halben Heiten, mach den Schläuern ein Gesicht.
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Kirsten Wandschneider The kitchen and the cat
»What is it all about?« »It’s all about the kitchen and the cat.« »Hat dir schon einmal eine Katze eine Geschichte erzählt?« Immerhin gibt es genug Stauraum. Für Bücher. »Und trotzdem alles so minimal hier. Toll!« »Ich müsste den Katalog umsonst bekommen. Mein Name steht bestimmt auf der Liste.« »Es gibt keine Liste.« »Mein Name steht da aber bestimmt drauf.« Kinder im Alter zwischen drei und sechs legen sich vorzugsweise ins Regalfach. Tannenholz. It’s not meant to be touched, weil unbehandelt. Was hätte wohl Margarete Schütte-Lihotzky dazu gesagt? Eine Küche in sakraler Architektur. »Did he kill the cat?« »Arme schwarze Katze!« Durch Spinnenfäden an die Decke gekettet, sitzt sie da, steif und fest. Der Kurator der Tate hätte das Licht auf jeden Fall weggelassen. »Can you feel the difference? Can you feel it?« »Deutsch ist keine Weltsprache«. Aber Italienisch doch auch nicht. Eine Schande, sagen die Italiener: »Che vergogna!« Konnte auch wieder nur den Deutschen einfallen. »Die Deutschen klauen wo sie nur können. Nur übersetzen wollen sie es nicht.» »How would you behave?« »How would Jesus behave?« »Wirklich eine sehr starke Arbeit — sehr deutsch.« Ob das ein Lob ist? Die wohl fotogenste Katze aller Zeiten. Dabei geht es doch gar nicht um die Katze. Schlagwort: Interaktion im Raum. Klingt immer gut. Aber wollen das nicht alle? »Excuse me. Are you part of the installation?« Wenn die Menschen anfangen, sich von Katzen zu ernähren, haben sie alles andere schon gefressen. »It’s purely symbolic!« Immerhin gibt es kalten Kaffee umsonst. Aus der Dose. »Anyway. Lass uns zu den Briten gehen.«
Einfach und stabil, aber dennoch fragil. Ursula Seeger Die paradoxe Intervention mithilfe des Lass uns über Kunst reden Windmühlenalphabets, ohne eine staatliche Genehmigung, ist Ihnen das genehm, Herr Müller? Als allerfarbigst und archaisch könnte man die gestalterischen Gesetze beschreiben, die ein skulpturales Moment suggestiv kolportieren. Wie geheimnisvoll und fragwürdig muss denn die abstrahierte Kunst sein, oder rückwärts: wie perfekt konkav? Das Berühren ist das wichtigste Kriterium, wenn man nur Geschichten ausstellt, oder aber ein Bild von einer Falle für Marder.
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Alles so unglaublich »new«. Alles so unChristian Camehl glaublich »new« and blowed-up. Immer Punkt. Punkt. Punkt. auf dem neusten Stand and immer »up-to-date«. Langsam sollte der liebe Gott neuen Odem in uns blasen. Oder war es Adolf H.? Jeden Tag neue Geräusche hören und neue Sachen schmecken. Neue Wörter erfinden und jeden Tag ein neues Make-up. Die Luft möglichst lange ausatmen, damit die frische und neue Luft möglichst viel Platz hat, um in die Nase eindringen zu können. Die »New Economy« war schon immer mein Steckenpferd. Heute sind es nur noch Überbleibsel, und ich sehne mich nach Geld, Sex und Neuem. Geld, Geld und das rote Blut der Wale. Immer ein neues Parfüm und immer ein neues Sekret! Der alte Rotz muss raus und wird im Taschentuch, bestickt mit deinen Initialen, auf den Müll geschmissen. Die Leute achten dich, wenn du dich jeden Tag veränderst. Der Name wird anders, dein Gesicht, deine Sekrete, dein Geschmack! Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum. Ja, der sagte das schon, nahm die Peitsche und schlug wahllos alle tot, um das wir erlöst waren. Der Mann mit den feuchten Augen kann es nicht fassen. Er hatte doch die Macht über seine Frau. Zehn Jahre Zuchthaus. Nahm dieses willige Stück Fleisch doch. Sie wollte es doch auch. Immer wieder. Nicht neu. Immer der harte Schwanz. Und am nächsten Morgen schmierte sie ihm wieder seine Stulle und kochte ihm Kaffee. Es war für dich und mich unbegreifbar. Alle haben doch Angst vor der Organmafia. Schließlich ziehen sie dir die Niere aus dem Körper. Manchmal auch einen Lungenflügel. »Wenn es um deinen mickrigen Maßstab geht, bist und bleibst du immer hässlich!« In dem Zuchthaus und in der Schule, das waren die einzigen Orte, wo ich frei war. Hier ist alles dreckig, da setzt sich niemand gerne nieder. Das Fett brutzelt in der Pfanne. Der Leberkäse ist goldgelb. An manchen Stellen etwas schwarz. Oh, meine Mutter, ich liebe dich. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und die 10. Die Augen weit aufgerissen. »Trägst du eigentlich eine Brille?« Ach, mein lieber S., wie gern würd’ ich in deinen Armen liegen. Deinen Körper in übersichtliche Karten einteilen. Eine riesige Säule. Stark und dick. Dort, sieh nur — die Wälder um den trockenen See. Deine Hände wie Waffen. Die Socken gerissen, und deine Beinhaare verfärben sich rot. China, Indien, Russland, Südkorea, Griechenland, Türkei, die Balkanstaaten und der Nahe Osten. US-Intervention und dann noch die armen schwulen Fußballer. Und du liegst hier, die Decke hochgezogen, die Trainingshose klebt durch das Sperma an deinem Bauch. Schau dich doch an! Bulgarien, Iran, Brasilien, Weißrussland, Sudan, Ägypten.
IMMER-HIN-UND-HER-GERISSEN immerfort bin ich weg und fort gereist fort: immer hin und her gerissen hin: immer fort und weg gereist immerhin bin ich her und hin gerissen.
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Rosanna Baltzer hinundher
Beziehung zwischen Hirt und Herde, Ursula Seeger Regierung der Seelen, so, eine Portion Beschreibung #3 Pommes! Rattern, die Jalousie schließt sich, kein Kuchen mehr. Messer und Gabel raus und los, zwei Kreise überlagern sich, akustisch, Geräusche der selben Art. Klappern, Scheppern, Schmatzen, unverständliche Gespräche (in der Überlagerung), ein Kreis ist noch da, stumm, und ich. Beobachtend, vermischend, sortierend, springend. Die innerhalb des Christentums entwickelten Führungstechniken — ein Zischen durchschneidet den Klangbrei, durchschneidet die Notwendigkeit der Reflexion auf die Voraussetzungen, die sich vermischt mit Gesprächen über VW und Science Fiction im Ambiente nikotingelber Tischdeckchen und weißer Backsteinwand. Langsam im Wechsel führen sie ihre Gabeln zum Mund, stummes Kauen, die Gabel zum Mund, kauen, schlucken, die Gabel zum Mund, nun, die Choreografie durchbrechend, ein Schluck Cappuccino. Die politische Vernunft stellt eine autonome Rationalität dar, ein Piepsen und ein gelangweiltes Kratzen am Kopf.
Ursula Seeger Beschreibung #4
Echt und dauerhaft, eine Ansammlung von Menschen, Staub und Rauchkringel in der Luft. Farbkleckse, Schriftzeichen, Gespräche und Licht. Licht von oben, Licht im Fenster, sehr viel heller. Licht in den Haaren, Licht im Gesicht, die Nudeln sind fertig. Klappern und Lachen und Christian hüpft vorbei. Die Kissen, der Staub, die Flaschen, der Stuhl. Die Teller, der Tisch. Die Handbewegungen und der Gesang. Die dampfenden Nudeln, ich höre auf zu beobachten und gehe essen.
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Nachwort — Ulrike Stoltz
Wir Neandertaler Manchmal komme ich mir so vor. Ich stamme aus dem vorigen
*
Hans Peter Willberg: Das Buch ist ein sinn-
liches Ding. Den Büchermachern in die Schule geplaudert. Leck 1993
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Jahrtausend, aus dem Vor-Computer-Zeitalter, das sich für manche vielleicht wie Steinzeit anfühlt — und ich liebe Bücher. Gerne versuche ich, andere mit dieser Liebe zu infizieren. — Immerhin Immerhin ein Buch. Das erste (wahrscheinlich) für die meisten AutorInnen, das erste gestaltete und in einer kleinen Auflage produzierte Buch für die meisten GestalterInnen. Ein Buch, das heißt eine Form, mit einem Anfang und einem Ende und einer Reihenfolge und einer Dramaturgie darin; das heißt ein Inhalt, den ich als GestalterIn gelesen und verstanden haben muss, damit ihn die LeserInnen später auch lesen und verstehen können. Ein Buch, das heißt eine Schrift und ein Satzspiegel sowie eine Spielregel, nach der die Texte und die Namen der AutorInnen und die Überschriften der Texte gesetzt werden; das heißt ein Papier, das sich gut anfühlt und auf dem die Schrift angenehm zu lesen ist; das heißt ein Format, das schon etwas aussagt über den Inhalt und eine bestimmte Art der Handhabung nahe legt; das heißt eine Bindung, die dem Papier entspricht und dem Format und dem Inhalt. »Das Buch ist ein sinnliches Ding«*, und es erzählt immer auch eine non-verbale Geschichte. Text und Buchform können übereinstimmen, sich gegenseitig ergänzen, sich widersprechen, zum Widerspruch anregen. Immerhin. — Stromaufwärts treiben Widerstände überwinden. Müssen mir als GestalterIn die Texte gefallen? Muss ich Leseerfahrung mit moderner Literatur mitbringen, um die Texte gestalten zu können? Welche Schrift nehme ich? Wodurch werde ich als GestalterIn zum Co-Autor, zur Interpretin, zum Regisseur? Wo sind die Grenzen meiner gestalterischen Eingriffsmöglichkeiten? — aber aber Aber was für ein Buch ist das? Wie kann ich sichtbar machen, dass es sich um eine Anthologie mit Texten junger, unbekannter AutorInnen handelt? Wie werden diese Texte gelesen werden? Und von wem? Für wen gestalte ich? Aber sieht das überhaupt noch aus wie ein Buch? Aber warum nicht? — genau genommen Zehn Studierende aus dem BA-Studiengang Kommunikationsdesign gestalten jeweils ein Buch mit dreiundfünfzig Texten von zwanzig Studierenden aus der ganzen HBK Braunschweig, entstanden im Seminar »Freies Schreiben« im vorangegangenen Semester. Es gibt keine Schnittmenge zwischen AutorInnen und GestalterInnen. Es gibt zehn verschiedene Bücher mit den gleichen Texten, also zehn verschiedene Formen für den gleichen Inhalt, also zehn verschiedene Interpretationen, also zehn verschiedene Aufführungen. Jedes Buch wird in einer kleinen
Auflage von vier Exemplaren hergestellt, darüber hinaus gibt es weitere zwanzig Exemplare: Die AutorInnen entscheiden, welches Buch ihnen am besten gefällt und erhalten davon ein Exemplar als Beleg. — Danke Ich danke dem Kollegen Böhringer für die Organisation der öffentlichen Lesung der Texte aus dem »Freien Schreiben« während des letzten Rundgangs, die mich spontan auf die Idee brachte, diese Texte als Grundlage für mein Angebot Buchgestaltung in diesem Wintersemester zu nehmen, sowie für seine Schreibimpulse, die auch mich inspirierten. Ich danke den AutorInnen, die uns ihre Texte so bereitwillig zur Verfügung stellten. Ich danke Juliane Wenzl und Roberta Bergmann für die Initiative, das Kommunikationsdesign im März mit einem Stand auf der Leipziger Buchmesse vorzustellen: Ein weiterer Ansporn für uns. Ich danke Jörg Petri und Ralf de Jong, die für ihr Seminar »Lesen am iPhone« zumindest teilweise die gleichen Texte verwenden, so dass ein direkter Vergleich unterschiedlicher »Lesarten« möglich sein wird. Ich danke Sabine Schlimme, Thomas Steen und Veronika Wehrstedt, die die Studierenden bei allen produktionstechnischen Fragen hervorragend beraten und unterstützt haben. Ich danke meiner Tutorin Esra Özen, die mit großer Aufmerksamkeit den Gestaltungsprozess hilfreich begleitet hat. Und ich danke den Studierenden Florian Beddig, Sümeyra Günaydin, Berit Homann, Peter Meyer, Dina Michalski, Frederik Niemann, Benno Sattler, Christina Stern, Frank Vollmer und Malte Wetzig für ihre interessanten und schönen Bücher. Dezember 2009
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Rosanna Baltzer — * 1987 in Siegburg
Kurzbiographien
Studium der Kunst- und Medienwissenschaften; zurzeit (5. Semester) Studium an der Fakultät für bildende Künste in Belgrad.
Michael Bayer — * 1984 in Ochsenfurt Studiert seit 2006 (Freie Kunst) an der HBK Braunschweig.
Martina Leitschuh — * 1982 in Quedlinburg Studiert Kommunikationsdesign an der HBK Braunschweig.
Josephine Brückner — * 1986 in Berlin BA Kunstwissenschaft HBK Braunschweig; lebt und arbeitet in Berlin.
Veronika Mayer — * 1987 in Günzburg Studiert Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig.
Christian Camehl — * 1986 in Gifhorn 3. Semester Kunstwissenschaft/Medienwissenschaften (HBK Braunschweig).
Vera Meier — * 1987 in Tomsk Studiert Kunstvermittlung an der HBK Braunschweig.
Eva Casper — * 1988 in Hildesheim Studiert Kunstwissenschaft/Medienwissenschaft an der HBK Braunschweig.
Bianca Muckelmann — * 1981 in Düsseldorf
Studiert Kunstwissenschaft an der HBK und Germanistik als Nebenfach an der TU Braunschweig.
1. Staatsexamen Kunstpädagogik, Mathematik und Darstellendes Spiel an der TU und der HBK Braunschweig; Meisterschülerin Freie Kunst an der HBK Braunschweig. Lebt und arbeitet in Braunschweig.
Katharina Dörr — * 1981 in Marburg/Lahn
Helene Osbahr — * 1986 in Hamburg
Seit 2005 Studentin der Freien Kunst an der HBK Braunschweig.
Kunstwissenschaften, Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig.
Linda Gerner — * 1987 in Langenhagen
Ursula Seeger — * 1984 in Braunschweig
Studiert Kunswissenschaft und Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig.
Studiert Kommunikationsdesign und Kunstvermittlung an der HBK Braunschweig.
Viktoria Hellfeier — * 1988 in Braunschweig
Kirsten Wandschneider — * 1984 in Lörrach
Studiert Kunstwissenschaft als Haupt- und Medienwissenschaft als Nebenfach an der HBK Braunschweig (Bachelor).
MA Kunstwissenschaft an der HBK Braunschweig. Davor BA Italienstudien an der FU Berlin.
Leonie Hesse — * 1987 in Bamberg
Constanze Wicke — * 1983 in Leipzig
Studiert Kunstwissenschaft an der HBK Braunschweig.
Studiert Kunstwissenschaft an der HBK Braunschweig.
Klara Hellena Kayser — * 1986 in Hannover
Dörthe Wilke — * 1986 in Emden
BA Kommunikationsdesign HBK Braunschweig; lebt und arbeitet in ... (ich weiß gerade noch nicht, wo genau ich lebe und arbeite).
Studiert Kunstwissenschaft und Kommunikationsdesign an der HBK Braunschweig.
Helena Davenport — * 1989 in Lüneburg
Impressum Herausgegeben von Texte von
Gestaltet von
Hannes Böhringer und Ulrike Stoltz Rosanna Baltzer Michael Bayer Josephine Brückner Christian Camehl Eva Casper Helena Davenport Katharina Dörr Linda Gerner Viktoria Hellfeier Leonie Hesse Klara Hellena Kayser Martina Leitschuh Veronika Mayer Vera Meier Bianca Muckelmann Helene Osbahr Ursula Seeger Kirsten Wandschneider Constanze Wicke Dörthe Wilke Florian Beddig — * 1986 in Freiberg BA Kommunikationsdesign, Zeitbasierte Medien im 5. Semester an der HBK Braunschweig.
entstanden in den Werkstätten der HBK Braunschweig im WS 2009/2010
Schriften Papier Auflage
Quadraat Serif, Frutiger 47 Light Condensed Chlairfontain DUNE 160 g/m2 10 Exemplare