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Projekt Oper@4u Didaktischer Koordinator Carlo Delfrati Koordination des künstlerischen Bereichs Emanuele Masi Organisation Sabrina Chatham Einschreibungen Judith Paone Texte Carlo Delfrati Übersetzung Corinne Werth Veranstalter Stiftung Haydn Orchester von Bozen und Trient Gilmstraße 1/A I – 39100 Bozen Projekt und Umsetzung Stiftung Stadttheater und Konzerthaus Bozen Verdiplatz 40 I – 39100 Bozen Grafik Clab Sozialgenossenschaft Druck Publistampa - Pergine Valsugana (TN) www.stadttheater.bozen.it | T 0471 053 800 Februar 2015 Für Forderungen in Bezug auf Urheberrechte wenden Sie sich bitte an den Herausgeber.
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Inhaltsangabe Eine köstliche Wiederkehr
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Die Autoren
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Die Inszenierung
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Die Handlung
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Erstes Bild. Der Frühling
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Zweites Bild. Der Sommer
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Drittes Bild. Der Herbst
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Viertes Bild. Der Winter
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Die musikalische Komponente
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Die Jahreszeiten erleben
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Aus Sinneswahrnehmungen werden Symbole
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Vegetarier und Veganer
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Die Synästhesie
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Gesungene Kochrezepte
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Die Jahreszeiten
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Foodfilme
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Bibliografie
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Eine köstliche Wiederkehr
Oper@4u beschäftigt sich in der diesjährigen Ausgabe mit zwei Künstlern, die das Publikum bereits im Jahr 2011 mit einer Oper begeisterten: Der Komponist Matteo Franceschini und der Regisseur Volodia Serre zeichneten für die außergewöhnliche Electro-Oper My Way to Hell verantwortlich, in der sie sich mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike befassten. Nicht weniger außergewöhnlich ist ihr neustes Werk Forèst. Bereits der Untertitel Food Opera lässt erahnen, um was für eine Aufführung es sich hierbei handelt. Neben dem Regisseur und dem Komponisten trägt auch der Sternekoch Alessandro Gilmozzi zum Gelingen der Oper bei. Seinen Gerichten kommt in Forèst dieselbe Bedeutung zu wie der Musik und dem Bühnenbild. Wir sind es gewohnt, ein Werk aufgrund der visuellen, musikalischen und textlichen Darbietung zu bewerten. Dass auch andere Sinneswahrnehmungen, wie der Geschmackssinn oder der Geruchssinn, eine Rolle in der Kunst spielen können, ist uns weniger geläufig. Aber gerade darauf möchte die Oper von Franceschini die Aufmerksamkeit lenken. Franceschini macht dies in Anlehnung an das Werk The Commonwealth of
Art 1, einem Klassiker aus dem 19. Jahrhundert. Forèst ist eine multisinnliche Aufführung, bei der all unsere Wahrnehmungen in Interaktion treten. Der Geschmackssinn steht in Verbindung mit dem visuellen Sinneseindruck sowie mit dem durch Stimmen und Musikinstrumenten hervorgerufenen, auditiven Erleben. Über die Dialoge des mehrsprachigen Librettos (gesungen und gesprochen in Italienisch, Deutsch, Englisch, Französisch und im Trentiner Dialekt) wird ein idealer Handlungsverlauf gezeichnet, der sich über alle vier Jahreszeiten erstreckt. Die Uraufführung der Oper findet am 16. April 2015 im Stadttheater Bozen statt. Maximal 50 Zuschauer nehmen pro Aufführung auf der Bühne in einem kreisrunden von Bühnenbild und Musik geformten Klangraum Platz.
Dieses Schulheft ist der Oper und den Hintergründen ihrer Entstehung gewidmet. Es enthält eine Reihe von Übungen sowie Arbeitsaufträge für Oberschüler. 1
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Sachs, Curt (1946): The Commonwealth of Art. New York: W.W. Norton & Company.
Matteo Franceschini Musik und Konzept Matteo Franceschini wurde 1979 in Trient geboren. Seine musikalische Ausbildung in Komposition machte er bei Alessandro Solbiati am Konservatorium „Giuseppe Verdi“ in Mailand. Er perfektionierte sein Studium bei Azio Corghi an der Accademia Nazionale „Santa Cecilia“ in Rom. Anschließend besuchte er den „Cursus Annuel de Composition et d’Informatique Musicale“ am IRCAM in Paris. Franceschini erhielt zahlreichen Auszeichnungen. Seine Arbeiten wurden auf internationalen Festivals (u.a. der Biennale von Venedig) und an renommierten Theaterhäusern, wie der Mailänder Scala, gezeigt. Sein Opernkonzept Forèst ist eine multisinnliche Installation, die die Magie und Kreativität ausdrücken soll, die beim Aufeinandertreffen von Musik, Kochkunst, Natur und der Erinnerung entsteht. Im Mittelpunkt der Oper stehen der Mythos Wald und die Tradition der Dolomiten, die sich in Sprache, Brauchtum, Küche und Weinbau widerspiegelt. Seine Oper legt Franceschini wie eine Studie an, in der er ermitteln will, wie sich Geräusche, Geschmackserlebnisse, Düfte und Klänge gegenseitig beeinflussen.
Die Autoren Volodia Serre Libretto und Regie Nach seinem Studium in Paris am Conservatoire National Supérior d’Art Dramatique war Volodia Serre als Schauspieler in Frankreich tätig. Sein Debüt als Regisseur feierte er mit Le Suicidé von Nikolaï Erdman, aufgeführt wurde das Stück 2008 am Romain Rolland di Villejuif und am Théâtre 13 in Paris. Er inszenierte das Theaterstück Drei Schwestern von Cˇechov am Théâtre de l’Athénée Louis-Jouvet in Paris. 2013 zeichnete er verantwortlich für die Regie in Oblomow von Goncˇarov. Die Produktion ist seither auf Tournee in ganz Frankreich. Volodia Serre war als Schauspieler in den Kinofilmen Intrusions von Emmanuel Bourdieu und Renoir von Jean-Charles Tacchella zu sehen.
Alessandro Gilmozzi Fingerfood-Menü Alessandro Gilmozzi ist einer der erfolgreichsten Sterneköche Italiens. Sein Handwerk lernte er bei Meisterköchen wie Michel Bras und Alain Ducasse. Gilmozzi vereint in seinen kreativen Rezepten, die er zuvor fast wie ein Wissenschaftler studiert, die Aromen des Waldes. In Cavalese experimentiert er seit über 20 Jahren mit ungewöhnlichen Zutaten wie Flechten und Harzen; er überarbeitet alte Rezepte und verleiht diesen neuen Glanz. In seiner Küche duftet es nach Geräuchertem, nach Waldkräutern und nach Jagd. Er bereichert die traditionelle Küche mit modernen Kochtechniken, wie etwa der Molekularküche2, der Zubereitung der Speisen bei niedrigen Temperaturen und der originellen Nutzung von Rauch und Feuer.
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Die Molekularküche oder Molekulargastronomie befasst sich mit den biochemischen und physikalisch-chemischen Prozessen bei der Zubereitung und beim Genuss von Speisen und Getränken.
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Die Inszenierung Forèst präsentiert sich den Zuschauern wie eine Installation in einer Art „Klangraum“. In diesen Raum wird ein Video projiziert, das das Bühnenbild formt. Die Oper ist eine Aufeinanderfolge von Musikepisoden, die mit textlichen, bildlichen und kulinarischen Suggestionen verknüpft sind, die dem Volkstum und den regionalen Traditionen entspringen. Das mehrsprachige Libretto führt die Zuschauer anhand von Bildern, Erinnerungen und kulinarischen Assoziationen durch die Oper. Das Publikum nimmt an der Handlung der Oper teil, die Zuschauer werden selbst zu Protagonisten. In Forèst wird keine Geschichte im herkömmlichen Sinn erzählt, vielmehr folgt die Food Opera einem Ablauf von Bildern, die aus musikalischen Episoden bestehen und durch kohärente Poetik, Gebärden und Technik miteinander verknüpft sind. Die Darsteller auf der Bühne werden von den Autoren als „Architekten“ bezeichnet, die „die unterschiedlichsten Verlangen“ befriedigen möchten. Die Oper nimmt uns mit auf eine Reise, bei der aus einer einfachen musikalischen Idee kettenreaktionsartig durch die Verbindung von Geschmackserlebnissen, Formen und Farben neue Ideen entstehen. Laut Franceschini ist dieser „geniale und schöpferische Wahnsinn“ der eigentliche Kern dieses Werkes. Auf der Bühne stehen zwei Sänger, ein Schauspieler, ein Akkordeonist, ein Klarinettist und ein Violoncellist, unterstützt werden sie durch Elektronik und Videoprojektionen.
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Die Handlung Die Oper wird von einem Prolog eingeleitet und einem Epilog abgeschlossen. Sie besteht aus vier Bildern, die sich an den vier Jahreszeiten und den vier Elementen inspirieren, wobei ein besonderes Augenmerk auf territoriale Aspekte und deren kulinarische Ausdruckmöglichkeiten gelegt wird. Das Wasser verkörpert das Frühjahr, im Mittelpunkt stehen Berge und Öl. Die frische Luft symbolisiert, mit Almhütten und Käse, den Sommer. Der Herbst wird durch das Kaminfeuer und wahlweise durch die Forelle oder das Hirschfleisch dargestellt. Den Winter kennzeichnet die schneebedeckte Erde. Ein Mann begleitet die Zuschauer in das Gebiet der Dolomiten und bringt ihnen auf ihrer Reise das Echo näher. Er stellt vier Frauen (eine Mutter, eine Ahornfrau, eine tschechowsche Frau, eine rebellische Frau) und vier Männer vor (einen Vater, einen tschechowschen Mann, einen Ahornmann, einen Mann auf einer Sitzstange). Die Frauen werden von einem Sopran gesungen, die vier Männer von einem Bariton. Im Prolog fordert der Begleiter das Publikum auf, einen zunächst noch „dunklen Wald“ zu betreten. Dazu bedient er sich Bilder, die den Werken von Dante, David Henry Thoreau und Anton Cˇechov entlehnt sind. Es folgen Anweisungen über die Zubereitung von gastronomischen Häppchen, die jedem Zuschauer als Kostproben gereicht werden. Verse von Thoreau und der Verweis auf eine Episode aus Peer
Gynt von Henrik Ibsen begleiten das Spiel mit dem Echo, das das Frühlingsbild einleitet.
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Erstes Bild. Der Frühling
Angekündigt wird der Frühling durch das Tosen eines Wasserfalls. Der Begleiter erweckt das Echo am Klang des Wassers und verweist damit zum ersten Mal auf die Natur und deren Phänomene, ausgehend vom Trinkwasser im Rucksack. Dann führt er in die erste Szene ein, in der ein Paar mit seinen Kindern picknickt. Diese Szene soll das Publikum dazu anregen, die erste Kostprobe, ein besonderes Öl, dem Wiesenkräuter und –blumen beigemengt werden, zu sich zu nehmen. Die Kinder des Paares rezitieren das Rezept. Währenddessen erinnert der Begleiter daran, wie unsere Vorfahren das Wasser und andere Nahrungsmittel, die der Wald hergab, mit Genuss verzehrten und daraus sogar heilige Handlungen, Kastalische Quellen3 entstanden. Heute hingegen fallen „vagabundierende Seelen“ gewaltsam über die Natur her und verunstalten sie mit ihren Bauwerken. Beaudelaire4 beschreibt die Grundidee von Forèst in seinem Gedicht Correspondances, auf Deutsch Entsprechungen, treffend: Die Natur ist ein Tempel … Der Dichter beschreibt darin das Erleben der Natur mit all unseren Sinnen:
La Nature est un temple où de vivants piliers
Die Natur ist ein Tempel, wo aus lebendigen Pfeilern
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
zuweilen wirre Worte dringen;
L’homme y passe à travers des forêts de symboles
der Mensch geht dort durch Wälder von Symbolen,
Qui l’observent avec des regards familiers.
die ihn betrachten mit vertrauten Blicken.
Comme de longs échos qui de loin se confondent
Wie langer Hall und Widerhall, die fern vernommen mei-
Dans une ténébreuse et profonde unité,
ne finstere und tiefe Einheit schmelzen,
Vaste comme la nuit et comme la clarté,
weit wie die Nacht und wie die Helle,
Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.
antworten die Düfte, Farben und Töne einander.
II est des parfums frais comme des chairs d’enfants,
Düfte gibt es, frisch wie das Fleisch von Kindern
Doux comme les hautbois, verts comme les prairies,
süß wie Hoboen, grün wie Wiesen,
– Et d’autres, corrompus, riches et triomphants,
– und andere, zersetzt, üppig und triumphierend,
Ayant l’expansion des choses infinies,
Ausdehnend sich Unendlichkeiten gleich,
Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens,
so Ambra, Moschus, Benzoe und Weihrauch,
Qui chantent les transports de l’esprit et des sens.
die die Verzückungen des Geistes und der Sinne singen.
Der Sturm vertreibt das Wasser und es beginnt die zweite Szene... Die Kastalische Quelle erhält ihren Namen von einer Nymphe aus der griechischen Mythologie, die von Apollo in eine Quelle verwandelt wurde. Trank man von deren Wasser, verlieh sie einem die Dichtergabe. Die Quelle ist den Musen geweiht.
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Baudelaires Gedicht Correspondances übte großen Einfluss auf die Literatur der darauffolgenden Jahrzehnte aus. Es erschien erstmals 1858 in der Sammlung Les fleur du mal (Die Blumen des Bösen). Baudelaire, Charles (zuerst 1857): Die Blumen des Bösen. Übers. Friedhelm Kemp (2004). München: dtv – Deutscher Taschenbuch Verlag. 4
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Zweites Bild. Der Sommer
Der Sommer steht im Zeichen der Luft, auf Almen sucht man nach Abkühlung und Frische. Bevor die zweite Kostprobe, die Käseravioli, gereicht werden, wird ein Schluck Wein getrunken. Der Autor zitiert den berühmten Aphorismus von Baudelaire: „Ein Mensch, der nur Wasser trinkt, hat ein Geheimnis, das er vor seinesgleichen verbergen muss“5. Vor dem Essen wird noch empfohlen: „Nichts schlucken, ohne vorher zu verkosten!“ Dann dürfen die drei Ravioli, die mit Käse in drei unterschiedlichen Reifungsgraden gefüllt sind, gegessen werden und uns in die Vergangenheit entführen … In den Brombeersträuchern erscheint die erste Frau. Sie stellt sich vor, ein Ahornbaum zu sein, Symbol der Indianer Nordamerikas, der sich dank des Windes, der ihn erzittern lässt, nie langweilt. Wenn man seine Samen mit den Zähnen aufknackt, klingt dies wie eine Hymne an die unberührte Natur.
Drittes Bild. Der Herbst
Eine Jagdszene wird vom Röhren eines Hirsches eingeleitet. Das Tier symbolisiert Aktaion, eine weitere Figur aus der griechischen Mythologie. Aktaion war auf der Jagd und überraschte Artemis, die mit ihren Freundinnen im Wald ein Bad nahm. Dies erzürnte Artemis dermaßen, dass sie ihn in einen Hirsch verwandelte. Die Vermenschlichung des Hirsches führt zu einer noch immer aktuellen Frage. Mit welchem Recht töten Menschen Tiere, protestiert die rebellische Frau. Gemeinsam mit dem in einen Hirsch verwandelten Menschen enthüllt sie den Sinn des Wortes Wald (und dem Zuschauer den Sinn des Titels der Oper) und dessen Wortbildung Entwaldung, die das Überleben der Tiere gefährdet. Das italienische Wort forestiero bedeutet Fremder und kündigt an, dass sich der Mensch der Natur entfremdet hat. Den Begleiter lassen die Sorgen der beiden Tierschützer kalt (vielleicht aber möchten unsere Autoren den Begleiter auch nur aufs Korn nehmen): „Was für ein Theater wegen eines erlegten Tieres, wegen eines abgebrannten Baumes!“ Natürlich darf auch in dieser Szene das Essen nicht außen vor bleiben. Der Begleiter greift dieses Thema wieder auf und lässt den Zuschauer zwischen Hirschfleisch und marmorierter Forelle wählen. Baudelaire, Charles (1869): Petits poèmes en prose. Les paradis artificiels. Paris. Übers. Steinitzer, Heinrich (1925): Die künstlichen Paradiese. München: Georg Müller Verlag. Ein ebenfalls großer Feind der Abstinenz war sein Vorgänger Louis Philippe de Ségur: „Tous les méchantes sont buveurs d’eau. C’est bien prouvé par le déluge.“ In: Contes, fables, chansons et vers. Buisson (1801), Paris.
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Viertes Bild. Der Winter
Diese Jahreszeit und der kalte Nordwind werden von dem berühmten Gedicht von Jacques Prévert6 eingeführt:
Les feuilles mortes
Das trockene Laub7
Oh je voudrais tant que tu te souviennes
Oh, wie ich wünsche, Du würd’st Dich erinnern
des jours heureux ou nous étions amis
an unsre glücklichen Tage zu zweit,
En ce temps-la la vie était plus belle
in jener Zeit war das Leben viel schöner,
Et le soleil plus brûlant qu’aujourd’hui
brannte die Sonne viel heller als heut’.
Les feuilles mortes se ramassent a la pelle,
Trockenes Laub sammelt sich auf der Schaufel,
tu vois, je n’ai pas oublié...
Du siehst, ich vergaß sie noch nicht!
Les feuilles mortes se ramassent a la pelle
Es sammelt sich trockenes Laub auf der Schau-
Les souvenirs et les regrets aussi
fel, all’ die Erinnerung, gut oder schlecht.
Et le vent du nord les emporte
Da kommt der Wind aus dem Norden
dans la nuit froide de l’oubli
und weht sie fort in die Nacht,
Tu vois, je n’ai pas oublié
Du siehst, ich vergesse das nicht,
la chanson que tu me chantais
dieses Lied, Deinen zarten Gesang.
C’est une chanson qui nous ressemble,
Das ist ein Lied, das uns entspricht,
toi, tu m’aimais et je t’aimais
Du liebtest mich, ich liebte Dich,
Et nous vivions tous deux ensemble,
Wir lebten ein Leben zu zwei’n,
toi qui m’aimais, moi qui t’aimais
ich liebte Dich, Du liebtest mich.
Mais la vie sépare ceux qui s’aiment
Doch das Leben trennt, die sich lieben,
tout doucement, sans faire de bruit
ganz ohne Lärm, mit sanfter Hand
Et la mer efface sur le sable
und das Meer kommt und löscht alle Spuren
les pas des amants désunis.
geschiedener Paare im Sand.
Hören wir es uns an! Können wir es gemeinsam singen und spielen?
6 Die Musik wurde von Joseph Kosma zum Film Les portes de la nuit komponiert. Jacques Prévert adaptierte den Text. Dank der musikalischen Darbietung des Schauspielers Yves Montand wurde es zu einem der berühmtesten Lieder des 20. Jahrhunderts.
Deutscher Text von Leobald Loewe: http://lyricstranslate. com/de/les-feuilles-mortes-dei-welkenden-bl%C3%A4tter. html#ixzz3La5aJcZi (Stand Januar 2015).
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Der Begleiter verweist auf das Recht des Menschen, sich von Fleisch zu ernähren. „Ein Tier zu töten oder einen Baum zu fällen, bedeutet das nicht auch, dass ich derselben Welt angehöre?“ Wir sind, wie die meisten Tiere, Jäger. Er verweist mit anderen Worten auf die ursprünglich „barbarische“ Natur des Menschen anhand der Scienza nuova von Giambattista Vico8. Es fällt Schnee und wir wollen die häusliche Wärme genießen. Ein Haus spiegelt sich im Wasser und der Blick fällt auf das Haus Fallingwater von Frank Lloyd Wright, diesem großartigen amerikanischen Architekten, dessen Bauwerk im Einklang mit der Natur steht. Beim Bau wurden der Wald und der Lauf des Wassers respektiert. Fallingwater ist ein „Heiligtum für den Menschen in der Natur, ein Heiligtum für die Natur im Menschen“. Und in der Natur finden wir auch die ursprünglichen Zutaten unserer Nahrung: „in Öl eingelegte Artischocke, auf einem Harz- und Flechtenbett …“ Es folgt der Epilog. Der Begleiter erinnert an eine letzte Verknüpfung der Sinne: jene, die einen besonderen Geschmack mit einem Ort verbindet, an dem wir ihn gekostet oder erträumt haben.
Die Anweisung ist auch als eine an uns gerichtete Einladung zu verstehen: Welche Orte und Momente in unserem Leben wecken in uns Erinnerungen an den Duft eines Bratens oder den genüsslichen Biss in eine besondere Frucht?
Nach dem neapolitanischen Philosophen wurden die Gesellschaften nicht von Gelehrten gegründet, sondern vielmehr von menschlichen Bestien ohne Kultur, Wissen und Religion.
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Die musikalische Komponente Oper@4u möchte uns in erster Linie die ursprünglichsten Formen
weiter, so ist auch die Musik eine Möglichkeit, die Wirklichkeit
des zeitgenössischen Theaters, beziehungsweise des Musikthea-
zu hören, sie über das Gehör zu erleben.
ters, näherbringen, in dem Musik die Ausdruckskraft schlechthin
Die Aufführung verrät uns, auf welche außergewöhnliche Weise
ist. Das Wort, die Handlung und das Bühnenbild finden wir auch
Matteo Franceschini seine Welt „hört“. Die besondere Gestal-
im Prosatheater. In Forèst werden zwei weitere vollkommen
tung der Partitur zeugt davon, dass er der zeitgenössischen Mu-
neue Komponenten hinzugefügt: der Geschmackssinn und der
sik offen gegenübersteht. Einem Komponisten stehen heutzuta-
Geruchssinn. Typisch für das Musiktheater ist die Musik, der
ge Tausende von Techniken, Verfahren, Formen, Sprachen, Stilen
eine ergänzende Funktion zukommt. Sie ist bestimmend für das
zur Verfügung. Von der mittelalterlichen Ars Antiqua zu den zer-
Gestalten von Situationen, die Charakterisierung von Menschen
setzenden Formen der zeitgenössischen Avantgarde bietet sich
und die Darstellung ihrer Emotionen. Sie verweist symbolisch
ihm eine unbegrenzte Vielfalt, deren sich Franceschini bedient.
auf Wirklichkeiten, welche nicht auf der Bühne dargestellt sind.
Franceschinis Sprache unterscheidet sich wesentlich von jener,
Dies führt dazu, dass der Musik größere Aufmerksamkeit zu Teil
die wir üblicherweise durch die Massenmedien vermittelt be-
wird, wie wir sie ansonsten beispielsweise der Literatur oder
kommen. Seine Sprache ist vielschichtig und zeugt vom Ausei-
dem Kino schenken. Lesen wir einen Roman oder schauen wir
nandersetzen mit seiner Umwelt, sie vermittelt eine Fülle an
uns einen Film an, sind wir uns bewusst, dass wir uns auf eine
Gedanken und Gefühlen. Diese Ausdrucksform stellt für uns eine
lange Handlung einlassen, der es zu folgen gilt. Anders ist un-
Herausforderung dar, die aber, wenn wir sie annehmen, unseren
sere Haltung, wenn wir Musik im Alltag, also popular music,
Horizont erweitern kann. Die Oper wird sich uns erst bei ihrer
bekannt auch als Folk oder Unterhaltungsmusik, oder aber
Uraufführung erschließen. Wer noch nicht die Gelegenheit hat-
Neofolk anhören. Nicht zuletzt, weil diese Musik relativ kurz
te, Aufführungen von Matteo Franceschini live zu sehen, kann
ist. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet können wir sagen,
sich einige seiner Werke auf YouTube anhören und sich so von
dass ein Lied zu einem Musiktheater im selben Verhältnis wie
seinem Stil ein Bild machen.
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ein Aphorismus zu einem Roman steht. Hinzu kommt, dass ein aus nur wenigen sich wiederholenden Elementen komponiertes Lied mühelos erlernbar ist. Eine Repertoireoper verändert sich
Haben wir schon einmal eine Musik gehört,
jedoch ständig im Laufe eines sehr langen Zeitraumes.
die sich von der gängigen Musiksprache
Der wesentliche Unterschied zwischen einem Neofolk-Stück
der Lieder vollkommen unterschieden hat?
und einem anderen Lied liegt vor allem in der Sprache: Die
Wie war unsere Reaktion?
Komponisten von sogenannter ernster zeitgenössischer Musik
Haben wir nach dem Grund dieser
experimentieren mit kompositorischen Prinzipien sowie der
ungewöhnlichen Musik gefragt?
Stimme und dem Musikinstrument, wie wir dies im Neofolk nur ansatzweise finden. Ein solches Musiktheaterstück zu genießen,
Welche Stilmittel finden wir sowohl
erfordert folglich Konzentration. Wenn ein Lied einen flash an
in Forèst als auch in anderen Werk von
Emotionen hervorruft, so gräbt das Musiktheater einen tiefen
Matteo Franceschini?
Graben in unser affektives und kognitives Erleben. Musik ist befreiend, sie lässt uns, laut Ernst Cassirer,10 zu „symbolischen Tieren“ werden. Musik ist nichts Abstraktes, im Gegenteil, sie ist vielmehr eine Möglichkeit, die Wirklichkeit zu denken. Das Gemälde ist eine Art, die Wirklichkeit zu sehen, die Speise eine Art, die Wirklichkeit zu kosten. Spinnt man diesen Gedanken
Populär bezieht sich üblicherweise auf Musik aus dem bäuerlichen Umfeld, aus Berg- oder Meeresregionen. Sie ist heute nur mehr ein Zeugnis der Vergangenheit. Der Begriff popular (Popmusik) stammt hingegen aus dem angelsächsischen Raum und bezeichnet ein zeitgenössisches Repertoire, jenes der Popmusik, Rockmusik, Unterhaltungsmusik. Moderne Popmusik, Neofolk, bezeichnet ein Genre der Alltagskultur.
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Cassirer, Ernst (1972): Saggio sull’uomo. Rom: Armando.
Die Jahreszeiten erleben Wie jedes andere Theaterstück, das zum Nachdenken anregen
Zu guter Letzt müssen auch der Geschmackssinn und der
oder Wissen vermitteln möchte, lädt auch Forèst dazu ein, sich
Geruchssinn erwähnt werden, auf die unsere Künstler die
mit bestimmten Thematiken auseinanderzusetzen und ethi-
Aufmerksamkeit des Publikums lenken möchten: Anhand von
schen sowie sozialen Fragen nachzugehen. Dazu bietet sich
kleinen Kostproben soll die Erfahrung real werden, so wie
beispielsweise das heikle Thema Ernährung an.
auch die Klänge und das visuelle Erleben durch das Abspielen eines Videos in der Aufführung real sind.
Die Natur bietet uns, je nach Jahreszeit, unterschiedliche landwirtschaftliche Erzeugnisse. Wir ernten im März keine Trauben
Forèst fordert den Zuschauer auf, die saisonalen Besonderhei-
und im Juli keine Orangen. Unsere Ernährung wird aber vom
ten zu entdecken und zu genießen, die Vielfalt an Farben und
globalisierten Warentransport beeinflusst. Bis vor wenigen
Formen, an klimatischen Ereignissen, an Geschmacks- und Ge-
Jahrzehnten war jede Jahreszeit nicht nur vom Klima gekenn-
ruchserlebnissen der jeweiligen Jahreszeit zu würdigen. Damit
zeichnet, sondern auch von saisonalen Produkten. Heute steht
wir an den Jahreszeiten schätzen, was diese für unsere Sinne
uns saisonunabhängig jedes nur erdenkliche Obst und Gemüse
zu bieten haben.
zur Verfügung: Wir können im Januar Erdbeeren und im Juli Kiwis kaufen. Dasselbe gilt auch für typisch regionale Produkte. Auf unserem Speiseplan stehen Gerichte aus Afrika oder dem Fernen Orient und auch diese Speisen sind zu jeder Jahreszeit erhältlich. Fachleute wissen um die negativen Folgen die-
An welchen Klängen fernab
ser Globalisierung von Lebensmitteln, die ein Ansteigen der
vom Stadtverkehr erkennen
Kosten einerseits und der Umweltverschmutzung durch den
wir die jeweilige Jahreszeit?
weltumspannenden Vertrieb von Waren andererseits bewirken (man denke nur an die Sensibilisierungskampagnen für den Verzehr von regionalen Erzeugnissen). Das Werk von Matteo Franceschini und Volodia Serre regt dazu an, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und zeigt gleichzeitig Alternativen auf. Aufgrund der Hektik und der Schnelllebigkeit unserer Zeit laufen wir Gefahr, uns von der Natur zu entfernen. Die Knospen, die im Frühjahr auf den Bäumen sprießen oder die Blätter, die im Herbst fallen, die laue Luft eines schönen Apriltages oder die Kälte am ersten Schneetag, die Farbspiele im Sommer oder jene im Winter, all dies scheint inzwischen an uns vorüberzuziehen, ohne dass wir es wahrnehmen. Die Oper soll nicht nur unseren Blick für die Natur und die Jahreszeiten schärfen, sondern auch unser Gehör. Forèst ist reich an Klangsuggestionen. Die Jahreszeiten unterscheiden sich nämlich auch durch ihre Klänge und Geräusche, durch Vogelgesang und atmosphärische Ereignisse.
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Aus Sinneswahrnehmungen werden Symbole
Eine Oper, so reich an Symbolen wie Forèst, regt zum Nachdenken an. Unmittelbare Erfahrungen und Erlebnisse setzen Denkprozesse in Gang und führen zu Versinnbildlichung. So werden die Geräusche der Jahreszeiten zu Musik und Farben zu Bildern. Doch was wird aus Geschmäckern und Gerüchen? Einige Sinneseindrücke tragen seit jeher maßgeblich zur Entstehung großer Opernwerke bei, andere, wie der Geruchs- und der Geschmackssinn, beschränken sich auf die reine Wahrnehmung und üben scheinbar keinen Einfluss auf kreative Prozesse aus. Forèst will durch das Miteinbeziehen der gustatorischen Erfahrung in die Handlung das Gegenteil lehren. Wir sind zunächst symbolische Tiere: Aus einfachen Sinnesempfindungen wie Geschmack und Geruch werden, dank der sich immer weiterentwickelnden „Kunst des Geschmackes“, unabhängige Symbolsysteme, wie es auch das auditive und das visuelle System sind. Aus Sinneswahrnehmungen wird eine Sprache.
Können verschiedene Geschmäcker zu einer „Sprache“ werden? Wir sind es gewohnt, die verschiedenen Gerichte als eigenständig zu betrachten und nicht miteinander in Verbindung zu setzen: eine bestimmte Vorspeise, eine Beilage, ein Dessert … jedes einzelne Gericht scheint für sich alleine zu stehen. Können wir jedoch auch einen kulinarischen Parcours gestalten, bei dem wir von unserem Lieblingsessen ausgehen und ihn mit gegensätzlichen oder ähnlichen Gerichten fortsetzen? Vergleichbar mit einer
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„gustatorischen Botschaft“ einer Sprache?
In Forèst interagieren verschiedene Symbolsysteme, verschiedene Sprachen miteinander. Sie unterstützen sich gegenseitig und beziehen sich aufeinander. Die gustatorische Sprache ist, so wie alle anderen Sprachen, eine eigenständige. Es ist daher kein Zufall, dass neben den beiden Künstlern auch ein begnadeter Sternekoch mitwirkt. Auch in der Küche können Meisterwerke geschaffen werden. Man denke nur an die zahllosen Rezeptbücher in Fachbibliotheken, die unzähligen Essays und historischen Abhandlungen zum Thema11. Hinzugefügt werden muss natürlich auch die Kunst der Düfte.
Vegetarier und Veganer
Der Geschmack ist, wie jede andere Sprache, erlernbar und wird
Vegetarier und Veganer lehnen es ab, sich von Fleisch zu
anerzogen. Vertieft man die Kenntnisse einer Sprache, berei-
ernähren, da sie dafür Tiere töten, quälen oder ausbeuten
chert dies unsere Persönlichkeit, unsere Intelligenz und unsere
müssten. Diese Einstellung hat inzwischen auch bei uns Fuß
Gefühlswelt. Die Oper Forèst fordert uns mit ihrer Vielfalt an
gefasst. Vegetarier meiden Nahrungsmittel, die von getöte-
Geschmackserlebnissen geradezu auf, uns dem Reichtum der
ten Tieren stammen. Veganer gehen sogar noch einen Schritt
Speisen und ihren Kombinationsmöglichkeiten zu öffnen und uns
weiter und lehnen jede Form tierischer Ausbeutung ab, also
für die Gastronomie anderer Kulturen zu begeistern.
nicht nur den Verzehr von Lebensmitteln tierischen Ursprungs,
Wenn wir indische Tempel bestaunen, arabische Gesänge hören
sondern überhaupt jede Nutzung von Tieren und Tierproduk-
oder japanische Gedichte lesen, fühlen wir uns bereichert! Dassel-
ten. Diese Lebensweise wirkt sich nicht nur auf die Ernährung,
be verspüren wir, wenn wir unbekannte Gaumenfreuden erleben.
sondern auch auf die Bekleidung und andere Lebensbereiche
Wenn Gerichte, Gerüche und Geschmäcker ein grundlegender
aus. Veganer meiden im Besonderen Milch und Milchprodukte,
Aspekt einer Kultur eines Volkes sind, dann kann die Vielfalt je-
Eier, Honig und andere Imkererzeugnisse, auch in Form von
derzeit verfügbarer Speisen als „Arbeitsmaterial“ verstanden wer-
Zutaten in anderen Nahrungsmitteln.
den, das dazu dient, diejenigen Mauern einzureißen, die ethnische
Das Libretto behandelt dieses Thema in der Herbstepisode:
Gruppen voneinander trennen. Die Oper von Franceschini kann
Der Mann und die Frau beweinen das erlegte Tier und den ge-
uns lehren, das Eigene wertzuschätzen, um das Fremde aufzu-
schändeten Wald, während der Begleiter die Kunst des Kochs
werten.
verteidigt: „Lasst mich euch daran erinnern, was ein Koch macht: Er ver-
wandelt die Realität! Er verkostet sie, um sie neu zu erfinden und neu zu schaffen. Er knüpft eine Verbindung zwischen Realität und Menschheit und er glorifiziert sie, indem er sie Welche Erfahrungen haben wir mit
unserem Gaumen schmackhaft macht.“
typischen Speisen anderer Kulturen
Es sind diese Dialoge im dritten Bild, die den Titel der Oper
gemacht? Welche besonderen Gerichte
Forèst erklären. Im darauf folgenden vierten Bild wird dieser
kennen wir aus unserer Region?
Gedanke weiter ausgeführt: „Ein Tier zu töten oder einen Baum zu fällen, bedeutet das
nicht auch, dass ich derselben Welt angehöre?“ Diese Frage bietet sich als Diskussionsgrundlage für die Klasse an.
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Siehe Bibliografie.
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Die Synästhesie
Farben, die uns an Klänge erinnern; Klänge, die taktile Wahrnehmungen evozieren; Geschmackserlebnisse, die in uns Bilder hervorrufen … All diese Erfahrungen hat jeder von uns schon einmal gemacht. In Musikkritiken kann man häufig lesen, dass bestimmte Tonfolgen als kräftig (Geschmackssinn),
rau (Tastsinn), brillant (Sehsinn) definiert werden. Wird eine Sinneswahrnehmung, beispielsweise der Sehsinn, mit einem anderen Reiz, wie etwa der Gehörsinn, verknüpft, nennt sich das Synästhesie. Das Phänomen der Koppelung mehrerer Bereiche der Wahrnehmung ist sehr subjektiv und variiert von Individuum zu Individuum. Viele Künstler mit Synästhesie haben großartige Werke hervorgebracht. Im Jahre 1883 veröffentlichte Paul Verlaine das Sonette Voyel-
les (Vokale)12 seines Freundes Arthur Rimbaud. Jedem Vokal wird darin eine Farbe zugeordnet:
A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu: voyelles,
A schwarz E weiß I rot U grün O blau - vokale
Je dirai quelque jour vos naissances latentes:
Einst werd ich euren dunklen ursprung offenbaren:
A, noir corset velu des mouches éclatantes
A, schwarzer samtiger panzer dichter mückenscharen
Qui bombinent autour des puanteurs cruelles,
Die über grausem stanke schwirren schattentale.
Golfes d’ombre; E, candeur des vapeurs et des tentes,
E: helligkeit von dämpfen und gespannten leinen
Lances des glaciers fiers, rois blancs, frissons d’ombelles;
Speer stolzer gletscher blanker fürsten wehn von dolden.
I, pourpres, sang craché, rire des lèvres belles
I: purpurn ausgespienes blut gelach der Holden
Dans la colère ou les ivresses pénitentes;
Im zorn und in der trunkenheit der peinen.
U, cycles, vibrements divins des mers virides,
U: räder grünlicher gewässer göttlich kreisen
Paix des pâtis semés d’animaux, paix des rides
Ruh herdenübersäter weiden ruh der weisen
Que l’alchimie imprime aux grands fronts studieux;
Auf deren stirne schwarzkunst drückt das mal.
O, suprême Clairon plein des strideurs étranges,
O: seltsames gezisch erhabener posaunen
Silences traversés des Mondes et des Anges:
Einöden durch die erd- und himmelsgeister raunen.
– O l’Oméga, rayon violet de Ses Yeux ! –
Omega – ihrer augen veilchenblauer strahl. 12
Sich mit Synesthäsien auseinanderzusetzen, bedeutet auch, sich mit unserem eigenen Empfinden zu beschäftigen. Wie würde unsere Kombination von Farben und Vokalen, von taktilen
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Wahrnehmungen und Konsonanten aussehen?
Aus dem Französischen von Stefan George.
In literarischen Texten finden wir zahlreiche, subjektive Synästhesien. Auch auf die „Vokale“ von Rimbaud reagiert jeder von uns unterschiedlich. Die berühmteste systematische Synästhesie in der Musik entwickelte der Russe Aleksandr Nikolaevicˇ Skrjabin, der den Noten Farben zuordnete:
Spiegel-Bericht zum Thema Synästesie QR-Code scannen!
Skrjabin ging noch weiter: In einigen seiner Werke verknüpfte er Klänge mit farbigem Licht, das über ein eigenes „Lichtklavier“ an die Wände des Konzertsaals projiziert wurde.
Wir können dies erproben: Welche Musik assoziieren wir mit einem bestimmten
In Forèst werden diesen Synästhesien der Geschmackssinn
Gericht, einem bestimmten
und der Geruchssinn hinzugefügt. Matteo Franceschini setzt
Geschmackserlebnis,
diese beiden Wahrnehmungen an erste Stelle, auf dieselbe
einem bestimmten Duft?
Ebene wie Skrjabin die Klänge und Farben. Es ist dies kein Spiel mehr, sondern die Grundlage dieser Oper.
Und umgekehrt, welche Speisen, welchen Geschmack, welchen Duft assoziieren
Im Alltag ist Essen und Trinken stets eingebettet in das, was
wir mit einer bestimmten
wir momentan – bewusst oder unbewusst – erleben. Eine
Musik? Gehen wir noch
amerikanische Studie13 bestätigt, was uns auch unsere Erfah-
einen Schritt weiter: Welche
rung lehrt: Die Wahrnehmung eines Geschmackserlebnisses
Geschmackserlebnisse und
hängt davon ab, wie uns ein Gericht präsentiert wird, auf wel-
Gerüche/Düfte verknüpfen
che Art von Teller es aufgetragen wird, bei welchem Licht, auf
wir mit besonderen Orten,
einem weißen Tischtuch oder einem bunten, usw. Für diese
an denen wir uns befunden
Oper ist von Interesse, wie ein Gericht wahrgenommen wird,
haben? Unsere synästhetische
wenn eine bestimmte Musik dazu gespielt wird.
Fantasie darf sich auf eine Reise begeben …
Überlegen wir uns einmal, wie ein klassisches Konzert wahrgenommen wird: Eine in sich geschlossene Erfahrung, abstrakt, von der physischen Realität abgekoppelt. Es ist dies ein Moment für Geist und Seele, bei dem der Körper keine Rolle spielt und die Emotionen gerade mal als infantil-primitive Reaktionen toleriert werden. Dem Geschmackssinn Sprache zu verleihen, ermöglicht es uns auch, die musikalische Erfahrung auf originelle Weise zu „genießen“. 13 Bacci, Francesca; Melcher, David (2013): Art and the Senses. Oxford University Press. Eine Forschungsarbeit, die eine Vielzahl an Sinnesübereinstimmungen untersucht, unter anderem auch jene, die an Speisen gekoppelt sind.
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Nimmt man an einer Aufführung teil, hört zu, beobachtet und verkostet, wird die Wahrnehmung der Realität in ihrer Gesamtheit angesprochen und der Zuschauer wird dazu angeregt, sich all dessen bewusst zu werden, was in ihm und außerhalb von ihm vor sich geht. Bezeichnend dafür ist ein Projekt der Hotelfachschule der französischen Stadt Limoges in Partnerschaft mit dem Musikkonservatorium. Die Studenten haben Speisen einer Abhandlung des 18. Jahrhunderts neu zubereitet und diese zur Musik dieser Epoche aufgetragen.14
Entdecke das Projekt der Hotelfachschule in Limoges
Neben den praktischen Erfahrungen zu diesem Thema ist auch ein persönlicher Kontakt mit dem Koch möglich. Führen wir ein Interview mit ihm: Wie hat er gearbeitet? Nach welchen Kriterien wählt er die Zutaten, abgesehen von regionalen und saisonalen Produkten, aus? Entwickelte er die Gerichte zur Musik oder umgekehrt? Oder aber folgte jede Erfahrung ihrem eigenen Verlauf (wenn ja, welchem)? Erfolgte die Verknüpfung am Ende? Oder war alles reiner Zufall?
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14 Ein Bericht über diese Erfahrung auf der Website: http://www.dailymotion.com/video/xiyq2z_le-festin-joyeux_tv (Stand Februar 2015).
Gesungene Kochrezepte
Das Projekt, das an der Schule von Limoges durchgeführt wurde, können auch wir umsetzen, anhand des Buches Le festin
joyeux mit Rezepten aus dem 18. Jahrhundert, die zu damals aktuellen Arien gesungen wurden. Das Rezeptbuch wurde im Jahr 1738 von einem gewissen J. Lebas, officier de bouche von Luis XV., veröffentlicht. Lebas gab ein opulentes Bankett anlässlich der Krönung des Königs im Jahr 1722. Hier ein Beispiel eines Rezeptes15, das zu einer damals berühmten Arie gesungen wurde:
Des anchois et rouges betteraves Rôties de pain, câpres et petits oignons Ciboulettes, cerfeuils, estragon, Dressez dans une porcelaine Arrivé de l’île de Japon.
Sardellen und rote Beete. Toastbrot, Kapern und kleine Zwiebeln Schnittlauch, Kerbel und Estragon Angerichtet in Porzellan, das aus Japan stammt. Die Idee, Kochrezepte zu bekannten Melodien zu singen, fand erst kürzlich in den Vereinigten Staaten von Amerika Anklang,
Das wäre auch eine Idee für uns:
als zwei Musiker eine CD mit vertonten Rezepten des Kochs
Wir könnten die Rezeptbeilage einer
Chris Cosentino16 aufnahmen. Einen Schritt weiter machte
Kochzeitschrift herausnehmen und
hingegen der Koch Bill Telepan, der zum Lied Happy aus dem
sie zu einer bekannten Melodie
Album Paint it black ’tie ein eigenes Gericht kreierte. Das Erge-
singen! Wie wird das folgende
bnis kann sich sehen lassen: Duck, fois gras & cherry dish17.
Dessert klingen, wenn es zum Anfangsmotiv der Sinfonie Nr. 40 von Mozart gesungen wird?
Ein halbes Kilo schöner Kartoffeln, kochen, schälen und stampfen, etwas Olivenöl hinzufügen, zwei Eier und einen Teelöffel Honig
Den Text können wir nach Belieben weiterdichten:
Auch wir können es versuchen. Welche Zutaten würden wir zu unserer Lieblingsmusik kombinieren? Und umgekehrt, welche Musik würden
15
Aus: Lomazzi, Giuliana: L’allegro banchetto. In: Slowfood (Dezember 2007).
wir mit unserer Lieblingsspeise in
16
Man sehe auch die Website: The Recipe Project.
Verbindung bringen?
Vgl. Fish and chips and rock and roll: http://www.huffingtonpost.com/bill-telepan/cooking-music_b_1564051.html (Stand Februar 2015). 17
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Die Jahreszeiten
Die Handlung von Forèst umfasst alle vier Jahreszeiten mit ihren Farben, ihren Formen, aber auch ihren auditiven, taktilen, thermischen und gustatorischen Sinneseindrücken. Wir beschäftigen uns in diesem Kapitel mit dem musikalischen Teil und führen zwei Überlegungen an. Die erste Frage, die wir uns stellen, ist: Was hat die Musik mit anderen Künsten gemeinsam? Was sie von anderen unterscheidet, ist offensichtlich: Sie bedient sich der Klänge, während sich das Gedicht der Wörter und das Bild der Farben bedient. Aber
Man betrachte nur die Unruhe in diesem Bild von Van Gogh18
was hat diese Kunstform mit anderen gemein? Dichter und Maler des 20. Jahrhunderts haben uns daran gewöhnt, ihre „Erzählungen“ von Jahreszeiten auf eine neue Art und Weise wahrzunehmen: In ihren Beschreibungen kann das erkennbare Objekt Jahreszeit in den Hintergrund rücken, bisweilen sogar ganz verschwinden; ersetzt wird es durch ein Meer an Empfindungen, Eindrücken, Emotionen und Gedanken, die Jahreszeiten in ihnen hervorrufen.
Dieses Bild von Mondrian vermittelt hingegen eine geometrische Strenge19
19
20
18 Vincent Van Gogh, Olivenbäume, 1889. Piet Mondrian, Blühender Apfelbaum, 1912.
Dasselbe Prinzip gilt auch für die Musik. Mehr noch als andere
Bis zur Aufführung können wir einige
Künste zeigt uns die Musik, wie das Objekt Jahreszeit für ei-
Kompositionen von Matteo Franceschini auf
nen Komponisten eine marginale Bedeutung einnehmen kann
YouTube anhören:
und die persönliche Beziehung zum Objekt in den Vordergrund rückt. Eine Musik drückt nicht aus, ob ein Motiv Regen oder
La grammatica del soffio
Nebel „bedeutet“, sie vermittelt uns vielmehr, wie der Kom-
Konzert für Bassetthorn und Orchester.
ponist Regen oder Nebel fühlt. Ein Musiker setzt sich, wie ein Dichter oder Maler, in seinen Werken mit seinen multisinnlichen Erfahrungen auseinander.
Il gridario In Anlehnung an Rotkäppchen. Der Autor berichtet über sein Werk:
Die zweite Überlegung hat mit der Historie zu tun (wobei wir hier Geografie und ethnische Besonderheiten vernachlässigen, wenngleich auch sie bedeutend sind). Jede Epoche (und jedes Land) charakterisiert sich durch bestimmte linguistische, stilistische Eigenheiten ihrer Künstler. So wie ein Maler die Welt aus dem Blickwinkel seiner Zeit betrachtet, hört der Komponist die Welt mit dem Gehör seiner Zeit. Der Komponist, der Inspiration im Regen findet, macht dies mit rhythmischen, melodischen,
Zazie dans le métro
harmonischen, instrumentellen und formalen Techniken, die er
Theaterstück zum gleichnamigen Roman
einsetzt, wenn er eine Musik komponiert. Ein Komponist aus
von Raymond Queneau.
einem vorhergehenden oder nachfolgenden Jahrhundert wird uns ein vollkommen anderes Klangbild eröffnen. Komponisten waren schon immer von den Jahreszeiten fasziniert und haben die in ihnen geweckten Gefühle in Musik umgesetzt20. Das berühmteste Beispiel dafür ist wohl Antonio Vivaldi und seine vier Konzerte für Streichinstrumente und Clavicembalo. Im ersten der drei Sätze des Frühlings erkennt man mühelos das Vogelgezwitscher. Ein Komponist seiner Zeit hätte sich der damals gängigen konstruktiven Logik nicht entziehen können und wie Vivaldi dem Concertino ein Tutti gegenübergestellt. Vergleichen wir den von einem Musiker des 20. Jahrhunderts interpretierten Vogelgesang, können wir erkennen, dass sich dessen „auditives Szenario“ komplexer gestaltet. Olivier Messiaen, der den Vogelgesang zur Grundlage der meisten seiner Kompositionen erhob, hätte das Gezwitscher nicht so kantig, schematisch, hyperrational gestaltet wie ein Komponist aus dem 18. Jahrhundert. Er hätte „die Welt niemals so gehört“ wie Vivaldi. Obwohl er sie natürlich auch auf dessen Weise hätte hören können, ist doch die Vergangenheit Teil der Gegenwart. Und wie hat Franceschini die Jahreszeiten interpretiert? Wie hat er sie erlebt mit all ihren Düften und Farben? Welche zeitgenössischen Sprachformen hat er verwendet? Die Aufführung wird uns Antwort auf diese Fragen geben.
20 Einige Bispiele: Pëtr Il’i cˇ Cˇ ajkovskij, Die Jahreszeiten, für Klavier Emmanuel Chabrier, Pièces pittoresques, für Klavier Aleksandr Konstantinovicˇ Glazunov, Die Jahreszeiten, für Orchester Franz Joseph Haydn, Die Jahreszeiten. Gesungen Astor Piazzolla, Les cuatro estaciones porteñas, für Orchester Er greift auf das Vorbild der Konzerte Die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi zurück.
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Foodfilme
In zahlreichen Kinofilmen spielen Kochen und Essen eine zentrale Rolle. Auch wenn uns Filme nicht das reale Geschmackserlebnis bieten können, so eröffnen sie uns aber sehr wohl die Möglichkeit, über die Bedeutung des Essens in unserer Gesellschaft sowie über dessen ethischen, psychologischen und sozialen Einfluss nachzudenken.
In der Folge sind einige berühmte Beispiele von Foodfilmen angeführt:
Babettes Fest
Ratatouille
von Gabriel Axel (1987), das auf der
von Brad Bird (2007)
Novelle Babettes gæstebud von Karen
Chocolat… ein kleiner Biss genügt von Lasse Hallström (2000)
Blixen basiert. Babette,
Köchin,
Die Wanderratte Rémy liebt es zu ko-
Eine „magische“ Chocolaterie in einem
musste aus ihrer Heimat fliehen und
leidenschaftliche
chen und möchte ein berühmter Star-
biederen Ort Frankreichs. Angesiedelt
hat in einem kleinen dänischen Nest
koch werden. In einem angesehenen
in den 50er Jahren erzählt der Film die
Unterschlupf gefunden. Hier bekocht sie
Pariser Restaurant lehrt sie einem
Lebensgeschichte einer jungen Mutter,
zwei fromme, dem Verzicht frönende
Küchenjungen die Kochkunst und ver-
die in den Herzen der Einwohner dank
Schwestern, Töchter eines protestanti-
wirklicht dadurch ihren Lebenstraum. In
ihrer Pralinen und Süßigkeiten längst
schen Pfarrers. Als sie in der Lotterie ge-
diesem Film geht es um köstliche Gau-
vergessene Sinnesfreuden weckt. Die
winnt, möchte sie für die puritanische
menfreuden, um das Essen schlechthin,
Pralinen wecken Leidenschaften, ver-
Gemeinde ein opulentes Festbankett
das als Universalsprache das Herz eines
treiben Kälte, erwärmen Herzen und
ausrichten. Anfangs sträuben sich alle,
jeden Menschen berührt.
vertiefen Freundschaften. Der Film zele-
doch schließlich geben die Schwestern
briert die Macht der Speisen, die Liebe
nach. Während „Babettes Fest“ geben
für eigenhändig zubereitete Gerichte,
sich die anfangs noch schweigsamen
die Fähigkeit, die Seele mit dem Körper
Gäste immer mehr den kulinarischen
in Kontakt zu bringen und den Augen-
Genüssen hin, lösen sich von ihren
blick zu leben.
selbst auferlegten, gesellschaftlichen Zwängen und entdecken letzten Endes ihre Lebensfreude wieder.
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Bibliografie
Essen und Literatur – was für eine wunderbare Kombination! Wir haben die Qual der Wahl.
ROMANE Allende, Isabel (1998): Aphrodite – Eine Feier der Sinne. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. Barbery, Muriel (2009): Die letzte Delikatesse. München: dtv – Deutscher Taschenbuch Verlag. Barreau, Nicolas (2012): Das Lächeln der Frauen. München: Piper Verlag. Bauermeister, Erica (2009): Das Liebesmenü. München: Goldmann Verlag. Bennett, Alan (2001): Alle Jahre wieder – eine kleine Geschichte. Frankfurt am Main: Fischer Verlag. Bourdain, Anthony (2004): Ein Küchenchef reist um die Welt. Auf der Jagd nach dem vollkommenen Genuss. München: Goldmann. Israel, Andrea; Garfinkel Nancy (2010): Johannisbeersommer. Berlin: Ullstein Taschenbuchverlag. Jha, Radhika (2001): Der Duft der Gewürze. München: Blanvalet. Simmel, Johannes Mario (1996): Es muss nicht immer Kaviar sein. München: Droemer Knaur. Wenfu, Lu (2005): Der Gourmet. Das Leben eines Feinschmeckers. Zürich: Diogenes Verlag.
ESSAYS Hack, Margherita (2011): Perché sono vegetariana. Rom: Altana. Harris, Marvin (2004): Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus. Stuttgart: Klett-Cotta. Petrini, Carlo (2007): Gut, sauber und fair. Grundlagen einer neuen Gastronomie. Wiesbaden: TreTorri. Sottile, Daliah G. (2011): La cucina dei colori. Mailand: Tecniche Nuove.
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