6 minute read
INTERVIEW
JEDES STÜCK HAT EINE GESCHICHTE
Advertisement
Die Interieur-Designerin Juliane Hebeler, kurz Jule, und der Dokumentarfilmer und Fotograf Fernando Vargas haben ihren Lebenstraum verwirklicht und im vergangenen Jahr im Kasseler Königstor in einer alten Fabrikhalle ihre „aesthetischen Werke“ eröffnet. Die „aesthetischen Werke“ sind mehr als ein Vintage-Store: Es ist ein Ort der Kreativität und Experimentierfreude, eine Ideen- und Inspirations-Werkstatt – man findet hier Vintage-Möbel, Lampen und Accessoires aus dem 20. Jahrhundert. Wären wir nicht im zweiten Lockdown, würden in dem Industrieloft regelmäßig Ausstellungen, Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen stattfinden. Wir haben die beiden besucht und mit ihnen über die Entstehungsgeschichte von „aesthetische Werke“, die aktuelle Situation und die Zukunft gesprochen.
Wie habt ihr die letzten Monate erlebt?
Die letzten Monate waren auf jeden Fall nicht langweilig und das ist schon mal gut, da wir Langeweile nicht mögen. Wir durften erleben, wie das, was wir uns hier aufgebaut haben, angenommen wird. Wir haben ganz viel Begeisterung und Interesse an unserem Ort widergespiegelt bekommen und viele neue Menschen kennengelernt. Und wir haben ganz viel dazugelernt und uns weiterentwickelt. Insgesamt konnten wir trotz der Ausnahmesituation feststellen, dass unser Konzept aufgeht, und das stimmt uns zuversichtlich.
Was bedeutet die Pandemie für eure Arbeit? Was hat sich verändert?
In erster Linie bedeutet die Pandemie für unsere Arbeit, dass auch wir weniger Kontakt mit Menschen haben. Das heißt, wir können keine Ortstermine mehr zur Interieurberatung bei unseren Kunden zu Hause oder in ihren Geschäftsräumen machen und auch bei uns in der Halle findet weniger Begegnung und Austausch statt. Das ist schade, da wir darauf besonders viel Wert legen. Außerdem sind durch die eingeschränkte Mobilität und die Schließung von Flohmärkten unsere Einkaufsmöglichkeiten eingeschränkt. Insgesamt ist es aber so, dass unsere Branche nicht so stark betroffen ist wie manch andere. Durch räumliche Veränderungen, wie Home-Office, und dadurch, dass viele Menschen mehr Zeit zu Hause verbringen, entstehen Bedürfnisse, die wir mit unserem Angebot abdecken können. Wir sind weiterhin mit unseren Kunden in Kontakt und beraten zum Beispiel auch telefonisch oder über Videocall. Durch den Lockdown kommen wir auch mehr zu Dingen, für die uns im laufenden Betrieb oft die Zeit fehlt: Wir arbeiten mehr in der Werkstatt und gehen aufwendige Restaurationsprojekte an. Wir setzen Ideen um und schmieden Pläne und wir reflektieren über unser erstes Geschäftsjahr. Wir sind sehr froh, dass wir immer etwas zu tun haben und uns hier nicht so schnell die Decke auf den Kopf fällt (sie ist dafür einfach zu hoch).
Wie ist die Idee für die aesthetischen Werke entstanden? Was genau macht ihr?
Die Idee war eigentlich schon immer da und hat über die Zeit mehr und mehr Form angenommen. Irgendwann war dann genau der richtige Ort und die richtige Zeit gekommen … Wir suchen und sammeln alte Möbel, Leuchten und ausgewählte Wohnaccessoires und restaurieren diese in unserer offenen Werkstatt selbst. Bei der Restauration ist es uns besonders wichtig, die Patina zu erhalten und nur Originalteile zu verwenden. Außerdem bauen wir Upcyclingmöbel. Wir entwerfen Raumkonzepte für Privaträume genauso wie Geschäftsräume – wie Bars und Cafés, Workspaces – und temporäre Events. Wir gestalten unsere alte Fabrikhalle ständig um und bieten diesen außergewöhnlichen Raum mit
all seinen Requisiten auch zur Miete an für Workshops, Shootings, Videodrehs und private Feiern. Hin und wieder laden wir zu Events, wie kleinen Konzerten, Ausstellungen, Lesungen … ein.
Wo findet ihr eure Schätze?
Einen Teil unserer Ausstellung haben wir aus unserem eigenen, über die Jahrzehnte entstandenen Fundus mitgebracht. Ansonsten sind wir ständig auf der Suche nach neuen alten Schätzen und fahren dafür auch schon mal über Landesgrenzen. Auch ausgewählte Märkte in Italien, Belgien, den Niederlanden gehören zu unseren Einkaufstouren. Wir gehen auf Industrieauktionen und Haushalts- und Geschäftsauflösungen und bauen ein immer weiter wachsendes Netzwerk mit anderen Händlern und Privatleuten auf, die uns ihre Schätze anvertrauen. Wir wissen eigentlich nie, was uns genau erwartet, wenn wir auf Tour fahren, und es ist jedes Mal so aufregend, wie früher Weihnachten war. Am Liebsten holen wir die Stücke von da, wo sie alt geworden sind, und bringen sie nach liebevoller Aufarbeitung da hin, wo sie dann ihr zweites Leben verbringen.
Inspiriert ihr euch gegenseitig?
Auf jeden Fall! Am liebsten arbeiten wir gemeinsam und wenn wir dann im Flow sind, sind wir so ne Art von synchronisiert, dass immer einer das ausspricht, was wir beide gerade gedacht haben. Aber wir ergänzen uns auch gut, wenn ich, Jule, zum Beispiel ein neues Arrangement zusammenstelle oder gleich die ganze Halle umgestalte und Fernando dann mit der Kamera alles aus seiner Sicht aufnimmt, ist das Foto, was dann entsteht, das Produkt unserer gemeinsamen Arbeit. Wir gehen auch am liebsten gemeinsam auf Sachensuche und haben schon so viele skurrile Orte entdeckt und abgefahrene Geschichten gehört. Wenn wir dann wieder in der Halle sind, heißen wir jedes Stück erstmal willkommen und feiern unseren neuesten Fund. Und jedes Mal sagt dann einer von uns: Das verkaufen wir aber erstmal nicht :)
Eure generelle Inspiration?
Generell inspiriert uns alles, was uns überrascht und neugierig macht. In unserem Freundeskreis und in der Familie, die über die ganze Welt verteilt sind, gibt es viele Menschen, die kreativ und künstlerisch arbeiten und unkonventionell leben. Da findet die ganze Zeit gegenseitige Inspiration statt. Wir mögen außerdem Dinge, die sich nicht sofort erfassen lassen und erst auf den zweiten Blick greifbar werden. So ist es oft mit den Stücken, die wir finden auch: Sie sind wie ungeschliffene Diamanten, die sich in dem Kontext, in dem wir sie vorfinden, „verstecken“. Erst wenn wir sie in einen neuen Kontext einbetten, entfalten sie ihre ganze Ästhetik. Das macht sehr viel Spaß!
Worauf legt ihr besonderen Wert?
Was uns sehr wichtig ist, ist Nachhaltigkeit! Wir mögen Dinge, die noch so gebaut sind, dass sie von Generation zu Generation weitergegeben werden können. In unserer Werkstatt arbeiten wir fast ausschließlich mit Verbrauchsmaterialien, die wir vor dem Wegwerfen bewahrt haben. Wir selbst werfen fast nichts weg. Manchmal verschenken wir Sachen, die wir gefunden haben und die nicht unser Konzept passen. Bei der Beratung steht bei uns immer der Mensch im Vordergrund mit seinen eigenen individuellen Bedürfnissen. Wir versuchen dann herauszufinden, was in den Räumen, die wir gestalten, wirklich wichtig ist, und entwickeln dann individuelle Konzepte nach dem alt bekannten Motto „form follows function“. Generell ist uns vor allem wichtig, dass es immer weitergeht, dass Entwicklung stattfinden kann. Und Spaß natürlich!
Woran arbeitet ihr aktuell?
Wir haben zum Ende des Jahres ein bisschen expandiert und uns eine weitere Halle gemietet, wo wir unsere eigene Manufaktur aufbauen. Wir arbeiten dort mit unseren Freunden John und Hagen von „zeitens“ zusammen und entwerfen und bauen eigene Produkte, die teils aus alten Materialien gefertigt werden oder aus Stoffen, die durch Recycling entstehen. Coming soon …
Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Tolle Frage! Wir lieben Wünsche! Wir wünschen uns sehr, dass nicht alles wieder so wird wie vor der Pandemie! Wir wünschen uns, dass es ein Umdenken gibt, dass die Chancen einer Krise auf Veränderung und Entwicklung wahrgenommen werden. Wir wünschen uns mehr Bewusstsein bei dem, was man tut und konsumiert. Weniger wegschauen. Mehr hinschauen, hinterfragen. Mehr im Moment leben. Mehr miteinander. Entschleunigung. Politische Aufmerksamkeit und Positionierung. Austausch, Diskurs, Aktion. Und wir freuen uns darauf, bald wieder mehr Menschen um uns haben zu können – endlich!
›› www.aesthetische-werke.de