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INTERVIEW
KEIN LEISER ABSCHIED
Seit 2004 leitet Intendant Thomas Bockelmann das Staatstheater Kassel. Im Juli dieses Jahres wird er nach 17 Spielzeiten den Stab weiterreichen an den designierten Intendanten Florian Lutz und dessen Team. 17 Jahre Intendanz Thomas Bockelmann, das sind 16 1/2 Jahre pralles Theaterleben in Kassel, beginnend unter den besonderen Bedingungen von Ersatzspielstätten und endend mit einer Spielzeit voller Ungewissheiten und immer wieder umgearbeiteter Pläne mit noch unklarem Ausgang. Das Ende der Spielzeit 2020-2021 läutet nun auch das Ende der Ära von Thomas Bockelmann ein. Wir haben zehn Persönlichkeiten der Kasseler Stadtgesellschaft gebeten, ihm eine Frage zum Abschied zustellen.
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Thomas Bockelmann – ein so „bewegter“ Mann – kann nicht einfach in den Ruhestand treten: Was können wir zukünftig von ihm an ehrenamtlichem Engagement (vielleicht sogar ein politisches?) in dieser und für diese Stadt erwarten?
Brigitte Bergholter (Bürger für das Welterbe e. V.)
Da mich das Theater derzeit noch so umtreibt, kann ich diese Frage momentan noch nicht beantworten. Aber wer künftig mit einem ernsthaften Interesse an mich herantritt, wird auch eine ernsthafte Antwort bekommen.
„Der Deutsche Bühnenverein startete bereits 1997 seine Kampagne „Theater muss sein!“ Corona hat uns nun ein Stück weit ein Leben ohne Theater aufgezwungen. Herr Bockelmann, haben Sie eine Vorstellung davon, wie Ihr Leben nach Ihrer Intendanz künftig aussehen wird?“
Markus Exner (Geschäftsführer Pro Nordhessen e. V.)
Mit einer gewissen Zuversicht hoffe ich, dass es mir gelingen wird, mich in der Kunst des Loslassens zu üben. Und meine Frau hin und wieder nach der Probe zu Hause mit einem besonderen Abendessen zu überraschen. Natürlich freue ich mich darauf, freier über meine Zeit zu verfügen. Die Aussicht, Freundschaften zu Menschen, die nicht in Kassel leben, künftig noch mehr pflegen zu können, ist schön. Die Perspektive, auch außerhalb der Theaterferien verreisen zu können, ist inspirierend. Und schreiben möchte ich, worüber, wird noch nicht verraten.
Wenn du später einmal auf deine 17-jährige Intendanz zurückblicken solltest: Wo werden deine Spuren noch erkennbar, was womöglich prägend geblieben sein für das Kasseler Staatstheater? Was wäre dein (heimlicher) Traum?
Prof. Dr. Ernst-Dieter Lantermann
das Feld der Eitelkeit locken. Und wenn ich hier über heimliche Träume spräche, wären sie ja auch nicht mehr so heimlich … Bescheidenheit ist die subtilste Form der Eitelkeit. Und das Schöne am Theater ist ja auch seine Vergänglichkeit.
Wie haben Christina und du es eigentlich hingekriegt, eine so glückliche Ehe zu leben, obwohl du ihr Chef warst?
Prof. Dr. Heidi Möller (Institut für Psychologie | Universität Kassel)
Das ist eine sehr intime Frage … Weil ich das nur auf dem Papier war, ihr Chef. Weil wir uns meistens lassen und uns auch „unsere Einsamkeit beschützen“ konnten (Rilke). Und natürlich auch, weil sie eine richtig gute Schauspielerin ist. Für mich sind die jetzt schon 26 Jahre mit ihr Lebensglück.
Worüber hast du dich in den letzten 17 Jahren am meisten geärgert?
Lothar Röse (Inhaber Hofbuchhandlung Vietor)
Dass der frühere Kämmerer Dr. Barthel ernsthaft versucht hat, das tif zu schließen. Eine Einladung zum Theatertreffen mit TYRANNIS von Ersan Mondtag hätte es dann zum Beispiel gar nicht mehr gegeben. Und unser Kinder- und Jugend-
theater wäre auch tödlich getroffen gewesen. Bertram Hilgen sei dafür gepriesen, dass er das nicht zugelassen hat.
Katja Ebstein besingt das Theater, da werde die Bühne zur Welt. Wie kann es sein, dass die Theaterbühne zur Welt wird?
Prof. Dr. Wilfried Sommer (Institut für Fachdidaktik an der Alanus Hochschule)
Wie meistens hilft Shakespeare, hier mit den Worten „Jaques“ in WIE ES EUCH GEFÄFFLLT: „Die ganze Welt ist eine Bühne und Fraun wie Männer nichts als Spieler. Sie treten auf und gehen ab danach.“ …
Was waren deine drei schönsten Momente im Theater in Kassel?
Bernhard Striegel (Fördergesellschaft Staatstheater Kassel e. V.)
Bei unserem letzten Sommernachts-Open-AirKonzert in der Karls-Aue von der Bühne aus 40.000 von der Sonne beschienene und offenbar ziemlich fröhliche Menschen beim musikalischem Picknick zu sehen, bleibt unvergesslich. DANKE an Patrik Ringborg, dass er diese Konzertreihe überhaupt erfunden hat.
Nach dem Schlussmonolog der Premiere von Ibsens EIN VOLKSFEIND, Regie Markus Dietz, gespielt von Bernd Hölscher – für mich einer der besten Schauspieler seiner Generation – geht das Licht aus. Und als es wieder angeht und Bernd Hölscher, der sich spielerisch extrem verausgabt hat, allein auf der Bühne ist, steht nach fünf Sekunden der ausverkaufte Saal und spendet einen Applaus, wie ich ihn noch nie im Theater erlebt habe. Am Sonntag, den 23. Oktober 2011 erhielt der berühmte Tänzer und Choreograf Royston Maldoom (Dokumentarfilm RHYTHM IS IT) den Kasseler Bürgerpreis „Das Glas der Vernunft“. Ich frage in meiner Begrüßungsrede, ob er nicht auch in Kassel ein Projekt mit Jugendlichen machen möchte. Spontaner Applaus. Und eineinhalb Jahre später steht er bei der umjubelten Premiere von CREATION MOVES wieder auf der Bühne des Opernhauses, zusammen mit 120 Jugendlichen, von denen viele vorher noch kein Theater von innen gesehen hatten. Und die in den Monaten zuvor die wesentliche Erfahrung gemacht haben, was gemeinsam alles möglich ist.
Was würde dir an einem Theater fehlen, wenn es genau so wäre, wie du es gerne hättest? Es also für dich perfekt wäre?
Angelika Umbach (Konzertdramaturgin)
Vielleicht kann Leonard Cohen weiterhelfen: „Forget your perfect offering. There is a crack in everything. That’s how the light gets in.“ Darum möchte ich mir ein perfektes Theater auch gar nicht vorstellen.
Du hast dich und das Theater aktiv in aktuellen Diskursen positioniert. Welche gesellschaftliche Rolle hat ein Staatstheater aus deiner Sicht in der heutigen Zeit?
Susanne Völker (Kulturdezernentin der Stadt Kassel)
Der Feind unserer offenen Gesellschaft ist das Geschrei, die Unfähigkeit einander zuzuhören und sich in den anderen, den Fremden, ja auch den Gegner hineinzuversetzen. Nicht zufällig wurde Jürgen Habermas auf der Bühne des Opernhauses mit dem „Glas der Vernunft“ ausgezeichnet: Er, der die Wichtigkeit gelingender Kommunikation lehrt. Die Kunst des Theaters ist die des Dialogs, der Einfühlung, des Sich-Anverwandelns, des gemeinsamen Schaffens neuer Räume. Es ist der konkrete Ort im Hier und Jetzt, der gegen die zunehmenden Zentrifugalkräfte in unserer Welt und ihren virtuellen Welten steht und die wesentlichen Geschichten der Menschheit bewahrt und immer wieder neu befragt. Und wenn es dann noch gelingt, Geschichten zu erzählen, die sich mit der Geschichte der Stadt beschäftigen, wo das Theater steht, wie beispielsweise bei uns mit MEIN VERWUNDETES HERZ oder NSU – DIE PROTOKOLLE, dann ist die „gesellschaftliche Rolle“ gut besetzt.
Wie viel Kassel trägst du nach 17 Jahren in dir? Wie beurteilst du die Veränderung von Kassel in deiner Zeit und wie siehst du die Perspektive?
Achim Wiegand (Inhaber ACHIM WIEGAND | SU MISURA)
Ich glaube, nicht nur für mich hat sich Kassel in den letzten 17 Jahren enorm entwickelt. Als ich 2004 hierherzog, gab es annährend 20 % Arbeitslosigkeit und man spürte noch immer die Spätfolgen der jahrzehntelangen Zonenrandlage. Radwege waren noch weitgehend ein Fremdwort (aber es kann natürlich immer noch erheblich besser werden). Lokale wie das Humboldt 1A oder gar das Voit hätten es damals noch schwer gehabt. Zum Glück gab es schon die Osteria. Danke, Gisela und Elis Levorato! Es gab noch nicht das schöne neue Grimm-Museum. Die vielen Ausgründungen aus der Uni Kassel. Danke, Professor Postlep! Viele Hochschulabsolventen bleiben mittlerweile und gründen Firmen. Die Museumslandschaft hat sich geöffnet. Danke, Professor Eberle! Das Aue-Bad, der Fußweg entlang der Fulda. Danke, Bertram Hilgen! Die lebendige Hofbuchhandlung Vietor mit Lothar Röse, das neue Café an der Insel Siebenbergen, das neue Hotel/Restaurant Renthof mit seinem schönen Innenhof und, und, und ... Aus meiner Sicht ist Kassel ein verspäteter Gewinner der Wiedervereinigung, auf einmal in der Mitte von Deutschland. Nur die Sonne könnte von November bis März öfter scheinen – aber die trage ich dann in meinem Herzen. Natürlich ist diese schöne Entwicklung im Moment durch Corona etwas gebremst, aber wenn die Stadt besonders auch ihr kulturelles Erbe und natürlich die documenta weiter pflegt, ist mir um ihre Zukunft nicht bang. Zum Abschluss ein kühner Traum: Die Straße, die jetzt noch den Friedrichsplatz teilt, verläuft ab dem Weinberg unterirdisch und kommt erst Richtung Altmarkt wieder nach oben. Und der Friedrichsplatz wird einer der größten und schönsten Plätze Deutschlands. Kassel ist auf jeden Fall meine Heimat geworden, an keinem Ort auf der Welt habe ich länger gelebt.
›› www.staatstheater-kassel.de