FROH! 3: FINALE

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FROH!

Magazin für DIE SCHÖNEN TAGE DES JAHRES nummer 3 10 EURO ISSN 1869-1528

Finale

Alles hört mal auf



Editorial Das Jahr 2010 ist ein Fußballjahr. Und wir möchten, noch bevor alles anfängt, an das Ende denken. FINALE ist ein Heft über das Aufhören und Neu-Beginnen. Es ist ein Heft über den Tod, der eine Standardsituation des Lebens ist. Und natürlich: ein Heft über den Fußball. Wir haben uns bei der Idee für FINALE von der gängigen Annahme leiten lassen, dass man mit dem Fußball eigentlich alles vergleichen kann. Erst recht das Leben als solches. Die Leidenschaft und der zähe Kampf, die Strategie, der Glaube und das Schicksal – alles da! Das Warten auf den Moment, an dem wir das Spiel drehen, und der Gang in die Verlängerung. Reingehen mit dem gestreckten Bein, Steilvorlagen und Selbsttore. Die großen Themen des Daseins auf 5.000 m² Rollrasen. Die Geschichten im Heft zeigen aber, dass sich das Leben nicht immer so leicht lesen lässt wie das Spiel. Der Mensch bringt Aktionen, für die man im internationalen Fußball sofort ein Gegentor kassieren würde. Zieht nach vorne und macht riskante Ausflüge. Zum Beispiel unsere Autorin Stefanie Müller-Frank, die auf eine ungesicherte Brücke geklettert ist, um mit einem Seil um den Bauch wieder runterzuspringen (S. 54). Auch die Menschen, die Konrad Bohley im Vergnügungspark Tripsdrill beobachtet hat, scheinen sich vor allem im freien Fall wohl zu fühlen (S. 16). Und Herr und Frau Pfeiffer benehmen sich mit Ende 60 so, als wären sie Anfang 20 (S. 28). Strategisch sinnvoll ist das nicht. Aber schön ist es. Gerade wenn die Räume eng sind und ihn das Leben in die Nachspielzeit schickt, zeigt der Mensch mitunter Klasse und geht noch mal lange Wege. Charlotte Janson etwa, die weiß, dass ihr Leben aufgrund einer chronischen Erkrankung jederzeit vorbei sein kann (S.53). Nach einer Nahtoderfahrung hat sie den Spieß umgedreht und ist auf die Suche nach dem Tod gegangen: in Krematorien, Instituten für Pathologie und Bestattungsunternehmen, bis in seinen natürlichen Lebensraum ist sie ihm gefolgt. Doro Adrian wiederum hat mit Fans vom HSV gesprochen. Nach dem Tod werden sie genau da sein, wo sie auch jetzt schon ihren Lebensschwerpunkt haben: in Sichtweite der HSV-Arena, das Jubeln der Fans in den Ohren (S. 70). Und Kathryn Baingo war bei Herrchen und Frauchen, die das eigene Haustier nach dem Ableben haben ausstopfen lassen (S. 82). Ihre Bilder erzählen eine Liebesgeschichte, die größer ist als der Tod. Sie sollte nur von Zeit zu Zeit abgestaubt werden. Aber nicht alles geht zu Ende. Sven Groß berichtet aus dem Wunderland der Mathematik, und da gibt es sie: die Unendlichkeit (S. 98). Auch in Manshiet Nasser geht es gegen Unendlich. Hier hat sich eine informelle Recycling-Wirtschaft entwickelt, ein intelligentes System, dessen Zellen Hunderttausende Menschen sind, die den Müll aus Kairos Straßen ziehen und die Rohstoffe weiterverkaufen (S. 46). Die Menschen, die aus Afrika flüchten, um über Sizilien nach Europa einzureisen, stehen ebenfalls am Anfang. Ihre Hoffnung auf ein neues Leben vertrauen sie winzigen Holzbooten an, mit denen sie über das offene Meer fahren (S. 32). Wenn man eines vom Fußball lernen kann, dann das: Nach dem Ende ist vor dem Anfang! Deshalb haben wir den Schluss auch ganz nach vorn gestellt: Unser Cover zeigt das großartige Bild des holländischen Fotografen Hans van der Meer. Vor den Kulissen des Himalajas spielen Bhutan und Montserrat um die letzten beiden Plätze der Weltrangliste. Und deshalb mussten wir auch noch eine Ostergeschichte ins Heft nehmen (S. 94): Maria Magdalena versteht nicht, was sie sieht, als sie in das leere Grab blickt – genauso leer mag sie auch innerlich gewesen sein. So kann es sich anfühlen, wenn etwas Neues beginnt. Eure FROH!-Redaktion


ANSTOSS seitenwechsel abpfiff nachspielzeit


Noch ‘ne Runde? Auf den Umschlaginnenseiten geht

Felix Scheinberger mit uns auf Achterbahnfahrt

2 & 99

Editorial Nur mit Dir … Weltmeister der Herzen TEamgeist Impressum

In eigener Sache Gutes Projekt: Freundeskreis Bagamoyo Unsere Stammelf Unsere Aufstellung

3 6 7 8 – 9 10

Heimspiel Eine Lebensgeschichte Fallen lassen Bilder aus der Vertikalen Wunderpillen Eine Geschichte des Balls Traumpass Eine gute Idee Fairplay Gutes Einkaufen Ballzauber Bernd Schneider über verpasste Finales Sweet Sixty Ein später Frühling Schallmauer So klingt Afrika

12 – 15 16 – 21 22 – 25 25 26 27 28 – 29 30

Das Ende einer Bootsfahrt Eine Fotostrecke von Heiko Schäfer Mehr Leben! Charlotte Janson über ihr zweites Leben Mandela und Nelson Eine Geschichte für Kinder und Erwachsene Ökosystem Manshiet Nasser lebt vom Recyling Fallrückzieher Ein Selbstversuch

32 – 40 41 42 – 45 46 – 53 54 – 56

Elfmeterkiller Die Geschichte des Endes ‘n abEnD allERSEiTS! Ein Gespräch mit Heribert Faßbender Einer geht noch! Kein Essen ohne Nachtisch Erfolgsrezepte Fußball geht durch den Magen Final Countdown Ich hab‘s ja gleich gesagt Hits von oben Cordalis über Volksmusik und Philosophie Heiliger Rasen Leben und Sterben mit dem HSV Am Ende der Anfang Gesine Schwan über das Wichtige im Leben Schlusstakt Eine Ethik des Endes Comeback Heinos aktuelle Abschiedstournee

58 – 59 60 – 63 64 65 – 67 68 69 70 – 75 76  77 – 79 80

Unsterblich Portraits von Menschen und Haustieren gegen Unendlich Manche Dinge dauern einfach länger Ach, Maria … Ein Brief von Frau zu Frau

82 – 89 90 – 93 94 – 97 98

∞ Aus dem Wunderland der Zahlen


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Weltmeister der Herzen Im 19. Jahrhundert schlug das Herz Tansanias in Bagamoyo. Heute ist das Land eines der ärmsten der Welt. Der Freundeskreis Bagamoyo e.V. hilft vor Ort Schulen und Krankenhäuser aufzubauen und pflegt seit 21 Jahren einen deutsch-tansanischen Kultur- und Künstleraustausch. Foto: Peter Harke

Auf Kisuaheli bedeutet Bagamoyo »Leg dein Herz nieder«. Die zentrale Lage des Hafenortes am Indischen Ozean war Segen und Fluch zugleich: Für die Siedler und Sklavenhändler aus dem Oman, die im 18. Jahrhundert über den Indischen Ozean kamen, stellte Bagamoyo das Tor zu Ostafrika dar. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das kleine Fischerdorf zu einer Schaltzentrale des ostafrikanischen Sklavenhandels. Die Sklaven, die von Bagamoyo aus auf die Gewürzplantagen von Sansibar, auf französische Kolonien oder nach Arabien und Indien verschleppt wurden, mussten hier Abschied von ihrem Heimatland nehmen. Heute zählt Tansania zu den 25 ärmsten Ländern der Welt. Trotz seines Reichtums an Bodenschätzen und einem wirtschaftlichen Wachstum von etwa sechs Prozent jährlich steht das Land in Hinblick auf die Lebenserwartung und Bildung seiner Bewohner auf Platz 151 von 175 verglichenen Ländern. Dies lässt sich auch am Zustand der Infrastruktur ablesen: Das Distriktkrankenhaus von Bagamoyo, zuständig für einen Landstrich von der Größe des Libanons, war bis vor wenigen Jahren in einem furchtbaren Zustand: Das gesamte Wasser- und Abwassersystem war zusammengebrochen, der Zustand der einzelnen

Stationen war zum Teil verheerend. Auf dem gesamten Gelände funktionierte nur ein einziger Wasserhahn, eine funktionierende Toilette gab es nicht. Dass dies nicht mehr so ist, ist vor allem der Arbeit des gemeinnützigen Freundeskreises Bagamoyo e.V. zu verdanken. Der Verein widmet sich neben anderen Projekten vor Ort auch der Sanierung und Instandhaltung des Krankenhauses. Daneben investiert der Verein in den Ausbau der Infrastruktur: Im Jahr 2003 wurde eine Erweiterung der Entbindungsstation gebaut sowie eine Augenklinik eingerichtet und im Jahr 2008 das Dach des historischen Krankenhaustraktes saniert. Hier ist inzwischen mit amerikanischer Hilfe eine Ambulanz für HIV/Aids, TB - und Malariepatienten entstanden. 50 Cent pro verkaufter Ausgabe spenden wir dem Freundeskreis Bagamoyo e.V. Der Verein arbeitet ehrenamtlich, die Spenden fließen zu 100 Prozent in die Hilfsarbeiten vor Ort. Für 2010 sind Sanierungs- und Instandhaltungsarbeiten der Entbindungs- sowie der Männer- und Frauenstation geplant. Kontaktinformationen: Freundeskreis Bagamoyo e.V., www. bagamoyo.com. In Bagamoyo spielt auch die Geschichte »Mandela und Nelson«, die wir auf den Seiten 32–35 abgedruckt haben. Der Autor Hermann Schulz ist seit vielen Jahren Mitglied des Vereins.


Teamgeist Dr. Stefanie Schardien, Jahrgang

1976, ist Juniorprofessorin für Systematische Theologie am Institut für Evangelische Theologie der Stiftung Universität Hildesheim. Ihr Buch »Sterbehilfe als Herausforderung für die Kirchen« befasst sich ethischen Konflikten am Lebensende.

Heiko Schäfer,

Jahrgang 1983, lebt und arbeitet als Fotograf in Berlin. Seine Bilder wurden mit dem Gute Aussichten Preis 2008 ausgezeichnet und waren u.a. im New Museum in New York zu sehen. www.heikoschaefer.de

Markus Kuhlen , Jahrgang 1977, ist (Sport-) Journalist, lebt in Köln und arbeitet bei der Rhein-Zeitung. mkuhlen@gmx.de

Jens Tönnesmann,

Jahrgang 1978, ist Journalist und lebt in Köln. Seine Texte sind in der WirtschaftsWoche, brand eins und Die ZEIT erschienen; außerdem leitet er die Lehrredaktion der Kölner Journalistenschule.

Adriane Krakowski,

Jahrgang 1979, ist freiberufliche KommunikationsDesignerin und lebt in Hamburg. www.atelierandacht.de

Hans Van der Meer,

Jahrgang 1955, hat Fußballplätze auf der ganzen Welt fotografiert. Seine Bilder waren u. a. in der Neuen Pinakothek in München und auf dem Fotofestival in Arles zu sehen. Für die holländische Agentur KesselsKramer reiste er 2002 nach Bhutan, um das Länderspiel Bhutan – Montserrat zu fotografieren.

Franca Neuburg, Konrad Bohley,

Jahrgang 1974, ist Filmemacher und Schauspieler. Er lebt und arbeitet in Köln. Mehr Informationen unter www.konradbohley.de.

Wally Nell,

geboren in Südafrika, lebt und arbeitet derzeit als Fotograf in Kairo. Er ist Gewinner des South African National Press Awards in der Kategorie Sport. Seine Bilder erschienen u. A. im National Geographic Traveler und der New York Times. www.wallynell.com.

Schwester Jordana Schmidt OP, Jahrgang

1969, Dominikanerin von Bethanien. Erziehungsleiterin im Bethanien Kinderdorf Schwalmtal-Waldniel, gehört vier Jahre zum Sprecherteam des Wort zum Sonntag in der ARD.

Jahrgang 1975, lebt mit ihrer Familie in Köln und arbeitet als Illustratorin und Objektdesignerin. www.zenzi-design.de

Kay Lehmkuhl

lebt mit seiner Frau und Tochter in Köln. Er arbeitet als Journalist und Musiker.

Stefanie Müller-Frank,

Jahrgang 1977, lebt als Journalistin in Berlin. Sie schreibt Reportagen für Deutschlandradio, WDR, SWR und die ZEIT. Außerdem ist sie Redakteurin beim Großstadtmagazin NEONLICHT.


Was wäre FROH! ohne die Menschen, die mitmachen ...

Kathryn Baingo,

Uli Knörzer,

Jahrgang 1973, lebt und arbeitet als Fotografin in Unna. Ihre Bilder waren u. a. auf dem internationalen Fotografiefestival in Leipzig zu sehen.

Jahrgang 1975, lebt und arbeitet als freischaffender Illustrator in Berlin. Seine Arbeiten sind u. a. in der ZEIT, form und dem Kulturspiegel erschienen. www.uliknoerzer.com

Oliver Schneider

arbeitet als Künstler und Designer in Köln, wo er zusammen mit Ana Motjér das Royal Family-designlabor gegründet hat. www. royalfamily-designlabor.de

David Gieselmann,

Jahrgang 1972, hat in Berlin »Szenisches Schreiben« studiert und lebt heute als Theaterautor mit Frau und zwei Kindern in Hamburg. Er schreibt Komödien, seine bekannteste heißt »Herr Kolpert«.

Martin Enzner,

Jahrgang 1983, ist Geograph und Sozialunternehmer. Er lebte einige Monate in Kairo und bereiste Afrika mit lokalen Verkehrsmitteln. Derzeit gründet er zusammen mit einem südafrikanischen Geschäftspartner das fairtrade Möbellabel behali.de mit Möbeln aus Pakistan.

Dr. Sven GroSS

ist Postdoc am Hausdorff Center for Mathematics und am Institut für Numerische Simulation an der Universität Bonn. Er ist Vater von zwei Kindern und spielt leidenschaftlich Saxophon.

Felix Scheinberger,

Jahrgang 1969, Gast- und Vertretungsprofessuren für Zeichnen und Illustration an verschiedenen Universitäten. Sein Lehrbuch der Zeichnerei »Mut zum Skizzenbuch« ist 2010 im Verlag Hermann Schmidt erschienen. www.felixscheinberger.de

Leopold Brötzmann,

Jahrgang 1982, gründete mit Lilli Green den ersten deutschsprachigen Blog für nachhaltiges Design. Er arbeitet als freier (Online)Marketingberater in Berlin. www.lilligreen.de

Hermann Schulz,

Jahrgang 1938, ist Autor zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, die Erwachsene gleichermaßen erfreuen und vielfach ausgezeichnet wurden. Von 1967 – 2001 war er Leiter des Peter Hammer Verlages. Seine Schriftstellerkarriere begann anschließend als zweite Halbzeit seiner beruflichen Laufbahn. Sein Buch »Mandela und Nelson, Das Länderspiel« ist 2010 im Carlsen Verlag erschienen.

Peter Bongard,

Jahrgang 1976, ist Journalist und arbeitet als Redakteur und Fotograf bei der Rhein-Zeitung. Er lebt mit seiner Familie im Westerwald.

Jeannette Corneille,

Jahrgang 1978, lebt und arbeitet als freie Illustratorin und Grafikerin in Köln.

Isabel Lezmi,

Jahrgang 1979, arbeitet als Texterin bei Hoffnungsträger. Die Kölner Agentur für Kommunikation betreut sie gemeinsam mit ihren beiden Partnern. www.die-hoffnungstraeger.de

Tim Leimbach,

Jahrgang1975, lebt mit seiner Familie in Köln und verkauft ökologische Lebensmittel.

Dr. Michael Basseler,

Jahrgang 1976, arbeitet als Literatur- und Kultur­wissenschaftler am anglistischen Institut der Uni Gießen.


Herausgeber Dirk Brall dirk.brall@frohmagazin.de Michael Schmidt michael.schmidt@frohmagazin.de Chefredakteur Dr. Sebastian Pranz sebastian.pranz@frohmagazin.de ArtdirektOR Klaus Neuburg klaus.neuburg@frohmagazin.de Design Mona Garde, Julia Vukovic, Vanessa Zengerling Lektorat Mirja Wagner Schlusslektorat Thomas Donga-Durach (www.edit-home.de) Vertrieb und Abo shop@frohmagazin.de Internet-Auftritt Christian Kunz (www.designammain.de)

Über FROH! FROH! ist ein Gesellschaftsmagazin, das besondere Ereignisse des Jahres aufgreift und sich neugierig auf die Themen und Fragen dahinter einläßt. Die Beitragenden schenken dem Magazin nicht nur ihre Texte und Bilder, sondern den Leserinnen und Lesern auch neue und überraschende Blickwinkel. Durch die sorgfältige Komposition von Beiträgen aus Kultur, Gesellschaft, christlicher Spiritualität und nachhaltigen Lebenskonzepten entsteht ein hochwertig gestaltetes Magazin, das nicht nur FROH! heißt, sondern auch froh macht.

FROH! Magazin Redaktion FROH! Magazin c/o motoki-Wohnzimmer Stammstr. 32–34, 50823 Köln

Typographie Adobe Garamond Pro, House Industries Chalet Headlines gesetzt in 54, 74 und 90 Punkt

Herzlicher Dank Andere Zeiten e.V., Rudolf Blauth, Christian Fahrenbach, Nora GummertHauser, Benjamin Groß , Viola Müller, Elisabeth Rosenkranz, Andreas Burgmann, Claudia Hoffmann, Nina Poppe, Karin Schmidt-Friderichs, Mark Verma, Leila Iskanda, Ferdinand Reinhard, Kyung Chan HWANG, Antje Kratzing, Bernd Schneider, Dorothe Sternal, Heribert Faßbender, Otmar und Ursula Pfeiffer, Costa Cordalis, Charlotte Janson, Sabine Lydia Müller, Gesine Schwan, Ferdinand Reinhard, Anja Offenhäuser, Khalil Shaat, Carlsen Verlag, Markus Meske, Hedi Neuburg, Krista Lemke, Prof. Dr. Reiner Sörries

Druck Universitäts-Druckerei H. Schmidt Mainz www.universitaetsdruckerei.de

Schutzfaktor Das FROH! Magazin und alle darin veröffentlichten Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung oder Verwertung bedarf der schriftlichen Genehmigung der Herausgeber.

Hinter FROH! Das FROH! Magazin ist ein Projekt der Non-Profit-Organisation mateno e.V.

Diese Broschüre wurde mit Druckfarben aus nachwachsenden Rohstoffen und Papier aus vorbildlicher Forstwirtschaft gedruckt. Die Universitäts-Druckerei H. Schmidt Mainz arbeitet klimaneutral, verwendet ausschließlich umweltfreundliche Materialien und ist EMAS-zertifiziert (D-115-0036).

Papier Druckfein von Römerturm vereint die Haptik eines Naturpapiers mit der Druckbrillanz eines gestrichenen Papiers.

mateno träumt heute eine bessere Welt von morgen: eine Gesellschaft, in der man sich nicht um sich selber dreht, sondern füreinander da ist. mateno möchte Menschen motivieren, diese Miteinander-Gesellschaft in die Tat umzusetzen.

Als gemeinnütziger Verein arbeiten wir auf Nonprofit-Basis. Auch Produkte, die wir zum Kauf anbieten, decken nur einen geringen Teil der Kosten ab. Darum sind wir auf die Unterstützung von Privatpersonen, Unternehmen, Stiftungen und Vereinen angewiesen, die sich gemeinsam mit uns für eine Miteinander-Gesellschaft engagieren möchten.

Unsere Projektideen sind vielfältig. Wir konzipieren und gestalten nicht nur verschiedene Medien, sondern entwickeln auch Veranstaltungen, Kampagnen, Denkmodelle oder Lebenskonzepte.

Das Wort mateno ist der Sprache Esperanto entnommen und bedeutet »früher Morgen«. Der Tag mag lang sein. Bis die Träume greifbar werden, ist es noch ein weiter Weg. Wir sind schon mal losgegangen. www.mateno.org


AnstoSS Das Beste am Spiel ist sein Beginn. Die Spieler wirken wie ein Hummelschwarm, der den Flug aufnimmt. Eine Energie, die noch keine Richtung hat. In diesen magischen Minuten ist alles noch denkbar. Sp채ter ist es gewonnen. Oder verloren.


Heimspiel Immer wenn Deutschland im Finale stand, hat Ferdinand Reinhard seinen Fernseher eingeschaltet. Am Tag danach ging sein Leben weiter. Text: Tim Leimbach

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54

66

74

04. Juli 1954

30. Juli 1966

07. Juli 1974

Wankdorfstadion, Bern

Wembley-Stadion, London

Olympiastadion, München

Deutschland – Ungarn 3:2

England – Deutschland 4:2

Deutschland – Niederlande 2:1

Toni Turek Josef Posipal Werner Kohlmeyer Horst Eckel Werner Liebrich Karl Mai Helmut Rahn Max Morlock Ottmar Walter Fritz Walter Hans Schäfer

Gyula Grosics Jeno Buzanszki Mihaly Lantos Jozsef Bozsik Gyula Lorant Jozsef Zakarias Ferenc Puskas Sandor Kocsis Nandor Hidegkuti Zoltan Czibor Mihaly Toth

Gordon Banks George Cohen Ramon Wilson Nobby Stiles Jack Charlton Bobby Moore Alan Ball Geoff Hurst Bobby Charlton Roger Hunt Martin Peters

Hans Tilkowski Horst-Dieter Höttges Willi Schulz Wolfgang Weber Karl-Heinz Schnellinger Franz Beckenbauer Wolfgang Overath Helmut Haller Uwe Seeler Siegfried Held Lothar Emmerich

Sepp Maier Berti Vogts Paul Breitner Georg Schwarzenbeck Franz Beckenbauer Rainer Bonhof Ulrich Hoeneß Wolfgang Overath Jürgen Grabowski Gerd Müller Bernd Hölzenbein

Jan Jongbloed Wim Suurbier Wilhelmus Rijsbergen Arie Haan Rudolf Krol Wim Jansen Willem van Hanegem Johan Neeskens Nicolas Rep Johan Cruyff Nicolaus R. Rensenbrink

Sepp Herberger

Gusztáv Sebes

Alf Ramseys

Helmut Schön

Helmut Schön

Rinus Michels

1:2 Morlock, 10. (Rahn) 2:2 Rahn, 18. (Walter) 3:2 Rahn, 84. (Schäfer)

0:1 Puskas, 6. 0:2 Czibor, 8.

1:1 Hurst, 18. 2:1 Peters, 78. 3:2 Hurst, 98. 4:2 Hurst, 120.

0:1 Haller, 12. 2:2 Weber, 90.

1:1 Breitner, 25. (Elfmeter) 2:1 Müller, 43.

0:1 Neeskens, 1. (Elfmeter)

William Ling (England)

Gottfried Dienst (Schweiz)

Jack Taylor (England)

60.000

96.924

77.833

Ich war 25 Jahre alt und hatte natürlich keinen eigenen Fernseher, niemand hatte damals einen, also bin ich mit meinen Arbeitskollegen in unsere Stammkneipe am Fasanenhof in Kassel gegangen, um die Spiele in der Schweiz zu sehen. Normalerweise passten 60 – 70 Leute in die Kneipe, beim Finale waren es aber mit Sicherheit über 100. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, und wir alle vergaßen die Entbehrungen der letzten Jahre, versoffen an dem Tag einen ganzen Wochenlohn. Ich bin erst um 2.00 Uhr nachts nach Hause gekommen, das war ein Fußmarsch von einer Stunde, und um 3.00 Uhr ging es wieder an die Arbeit, ich hab damals noch Zeitungen ausgetragen, bevor ich um 7.00 Uhr bei der Post angefangen habe, aber ich habe an diesem Morgen keine Müdigkeit gespürt, die Gefühle vom Vortag waren noch zu stark, alle redeten nur über das Spiel – für mich war das der schönste Titel.

Wir hatten damals schon einen Fernsehapparat zu Hause, ich hab aber mit meinen Mannschaftskameraden von Hermania Kassel im Vereinslokal das Spiel gesehen. Wir sind alle direkt nach dem Spiel nach Hause gegangen, mit meiner Frau Gertrud und meiner Tochter hab ich nicht über Fußball gesprochen, ich glaube, ich habe im Keller noch was gewerkelt. Am nächsten Tag gab’s an der Arbeit wieder nur ein Thema – das war für mich die schlimmste von den vier Finalniederlagen, das hat richtig wehgetan, mir hat der Uwe Seeler so leidgetan, der war schon so etwas wie ein Idol.

1974 war richtig schön, die ganze WM war schön, auch weil sie in Deutschland stattgefunden hat. Wir haben im Auefeld gewohnt, damals hab ich Alte Herren in Heckershausen gespielt, und das Finale hab ich mit meiner Frau zu Hause gesehen, Fernseher hatten wir ja, aber noch schwarz-weiß, das war damals schon ’ne alte Kiste. Ich kann mich noch genau an die Tore erinnern, die Elfmeter, das war ’ne Supermannschaft – Beckenbauer, Müller, Overath, Maier, Breitner – das war bestimmt die beste Mannschaft, die wir je hatten.


82

86

90

11. Juli 1982

29. Juni 1986

08. Juli 1990

Bernabéu-Stadion, Madrid

Azteken-Stadion, Mexico-City

Giuseppe-Meazza-Stadion (San Siro), Rom

Italien – Deutschland 3:1

Argentinien – Deutschland 3:2

Deutschland - Argentinien 1:0

Dino Zoff Antonio Cabrini Gaetano Scirea Claudio Gentile Fulvio Collovati Gabriele Oriali Giuseppe Bergomi Marco Tardelli Bruno Conti Paolo Rossi Francesco Graziani

Harald Schumacher Manfred Kaltz Ulrich Stielike Karlheinz Förster Bernd Förster Wolfgang Dremmler Paul Breitner Karl-Heinz Rummenigge Hans-Peter Briegel Pierre Littbarski Klaus Fischer

Nery Pumpido Jose Cuciuffo Jose Brown Oscar Ruggeri Julio Olarticoechea Sergio Batista Ricardo Giusti Hector Enrique Jorge Burruchaga Diego Maradona Jorge Valdano

Harald Schumacher Ditmar Jakobs Andreas Brehme Karlheinz Förster Hans-Peter Briegel Thomas Berthold Lothar Matthäus Norbert Eder Felix Magath Karl-Heinz Rummenigge Klaus Allofs

Bodo Illgner Klaus Augenthaler Thomas Berthold Jürgen Kohler Guido Buchwald Andreas Brehme Thomas Häßler Lothar Matthäus Pierre Littbarski Jürgen Klinsmann Rudi Völler

Sergio Goycochea Oscar Ruggeri Juan Simon Nestor Lorenzo Jose Serrizuela Roberto Sensini Jorge Burruchaga José Basualdo Pedro Troglio Gustavo Dezotti Diego Maradona

Enzo Bearzot

Jupp Derwall

Dr. Carlos Bilardo

Franz Beckenbauer

Franz Beckenbauer

Dr. Carlos Bilardo

1:0 Rossi, 56. 2:0 Tardelli, 68. 3:0 Altobelli, 80.

3:1 Breitner, 82.

1:0 Brown, 21. 2:0 Valdano, 55. 3:2 Burruchaga, 84.

2:1 Rummenigge, 73. 2:2 Völler, 81.

1:0 Brehme, 85. (Foulelfmeter)

Coelho (Brasilien)

Arppi Filho (Brasilien)

Codesal Mendez (Mexiko)

90.000

114.590

73.603

An das Finale 1982 kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, ich hab das Spiel allein zu Hause gesehen, nach dem Tod meiner Frau im Jahr davor war ich nach Heiligenrode umgezogen, in das Haus neben meinem Bruder Manfred, wo ich heute noch wohne. Das war damals eine schwere Zeit für mich, irgendwie ist davon nicht viel hängengeblieben, gegen Italien haben wir verloren. Manni Kaltz hat da mitgespielt und der Toni Schumacher im Tor, Stielike, vorne schon der Rummenigge, oder? Ich konnte damals keine Enttäuschung über die Niederlage empfinden, wahrscheinlich hätte ich mich auch über einen Sieg nicht freuen können, es gibt wichtigere Dinge im Leben als Fußball. An den Fernsehapparat kann ich mich noch erinnern, ich hatte einen schönen großen Fernseher von Braun.

Obwohl wir ’86 verloren haben, ist mir der Tag als ein guter in Erinnerung geblieben. Meine zweite Frau Ingrid und ich sind damals nach Holzhausen zu meiner Tochter, ihrem Mann und meinen beiden Enkeln gefahren, die Eltern von meinem Schwiegersohn waren auch da, und in der Halbzeitpause haben wir Männer mit den Jungs im Garten gekickt. Das hat so viel Spaß gemacht mit der ganzen Familie – auch nach dem Spiel, sodass wir uns gar nicht so sehr über die Niederlage geärgert haben. Der Maradona hatte es auch verdient, obwohl ich den nicht leiden konnte mit seiner »Hand Gottes«, aber der war schon ein genialer Spieler. Mein Lieblingsspieler war der Briegel, ich war ja schon immer LauternFan, selbst aktiv gespielt hab ich zu der Zeit zwar nicht mehr, aber meinen Enkeln konnte ich trotzdem noch was zeigen, das Gefühl für den Ball verlierst du ja nie.

1990 haben wir wieder in Holzhausen gesehen, mein Schwiegersohn hatte einen neuen Fernseher mit Videorecorder und hat, glaub ich, alle Spiele der deutschen Mannschaft aufgenommen, die hat der heute noch im Regal stehen. Der Beckenbauer war ja der Erste, der als Spieler und als Trainer Weltmeister geworden ist, und ich weiß noch genau, wie der allein über den Platz gegangen ist nach dem Spiel, das war schon bewegend. Noch bewegender war aber, dass meine Enkel nach dem Spiel mit Trompete und Posaune die Nationalhymne gespielt haben – die waren im kirchlichen Posaunenchor, und wir Alten hatten Tränen in den Augen. War wirklich so, auch wenn sich das komisch anhört – ich kann mich noch daran erinnern, als wäre es gestern erst geschehen, wie die zwei da standen.

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02 30. Juni 2002

11. Juli 2010

Nissan-Stadion, Yokohama

Soccer City Stadion, Johannesburg

Br asilien – Deutschland 2:0

Marcos Lucio Edmilson José Roque Junior Cafú Kleberson Gilberto Silva Roberto Carlos Ronaldinho Ronaldo Rivaldo

Oliver Kahn Torsten Frings Thomas Linke Carsten Ramelow Christoph Metzelder Bernd Schneider Dietmar Hamann Jens Jeremies Marco Bode Oliver Neuville Miroslav Klose

Luiz Felipe Scolari

Rudi Völler

0:1 Ronaldo, 67. 0:2 Ronaldo, 79.

Pierluigi Collina (Italien) 70.600

Man wird ruhiger im Alter, mich hat das schon noch interessiert, und ich hab das Spiel zu Hause mit meiner Frau gesehen, schön gemütlich auf dem Sofa, ohne viel Aufregung – aber die Zeiten sind irgendwann vorbei. Die Spielzeiten waren komisch, weil die WM ja in Japan war, da hab ich immer schon am Vormittag vorm Fernseher gesessen und nur zum Mittagessen kurz ausgeschaltet, da hat meine Frau immer geschimpft.

Schön wär das ja, wenn unsere Jungs wieder ins Finale kommen würden, aber ich glaub da nicht dran. Und wenn sie es nicht schaffen, dann vielleicht beim nächsten Mal. Ich werde so oder so mit dem Kopf schon ganz woanders sein, denn am 20. Juli feiere ich zum zweiten Mal silberne Hochzeit – zwei Mal 25 Jahre verheiratet, das ist doch schöner als jeder WM-Titel – und da wird dann so richtig gefeiert!


fallen lassen Die Zeit geht schnell rum, wenn man sich am端siert. Die Aufnahmen, die Konrad Bohley vom FreefallTower im Vergn端gungspark Tripsdrill gemacht hat, kann man sich zum Gl端ck in Zeitlupe ansehen. Eine Vertikalfahrt. filmstills: Konrad Bohley

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wunderpilleN In der Geschichte der Weltmeisterschaft spielt der Ball die Hauptrolle. text: Michael Basseler

DFB-Zeugwart Heinz Dahn mit dem 66er WM-Ball.

(Bild: imago/Kicker/Metelmann)

30. Juni 1966. Die Verlängerung ist gerade abgepfiffen. Die englischen Spieler liegen sich in den Armen, Tausende Fans stürmen den Rasen des altehrwürdigen Wembley Stadium in London. Im kollektiven Jubeltaumel bemerkt offenbar niemand, wie Helmut Haller, Stürmer und Final-Torschütze der DFB -Elf, kurz unter sich blickt, den Ball vor seinen Füßen aufhebt und sich davonstiehlt. Noch als er bei der Siegerehrung der englischen Königin Elizabeth II. die Hand schüttelt, klemmt das braune Rund unter seinem Arm. Und er wird es auch bis zur Rückkehr nach Deutschland nicht mehr loslassen. Die Engländer hatten vielleicht den Sieg, Haller aber den Skalp davongetragen. Doch schauen wir kurz zurück: In einem denkwürdigen Spiel hatten die Deutschen mit 2:4 unglücklich das WM-Finale verloren, nicht zuletzt durch eines der berühmtesten und umstrittensten Tore der Fußballhistorie. In der 98. Minute passierte es. Der Engländer Geoff Hurst kam im Strafraum zum Schuss und donnerte den ledernen Ball mit voller Wucht an die Unterkante der Latte, von wo aus er auf den Boden zurücksprang und vom deutschen Abwehrmann Weber ins Aus geköpft wurde. Der Rest ist Geschichte: Nach kurzer Rücksprache mit seinem russischen Linienrichter entschied der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst auf Tor. Nie konnte endgültig geklärt werden, ob der Ball in vollem Umfang die Linie überschritten hatte – auch wenn die meisten Filmaufnahmen eher darauf hindeuten, dass der Ball auf der Linie und damit nicht im Tor war. Den Ball selbst konnte man hinterher nicht mehr befragen. Nicht nur, dass man damals vom computerchipkontrollierten Spielgerät noch Jahrzehnte entfernt war – bis heute konnte sich die FIFA bekanntlich nicht dazu durchringen – nein, er war ganz einfach verschwunden. Stibitzt ausgerechnet von einem deutschen Nationalspieler. Der Verlust traf die Engländer denkbar hart: Den WM-Wanderpokal musste man nach vier Jahren zurückgeben. Somit war ihnen mit dem Ball die eigentliche Trophäe des bislang einzigen WM-Siegs abhanden gekommen. Anders als heute gab es damals auch noch keine Armee von Bällen, die wie Klone bei jedem Einwurf oder jeder Ecke einfach ersetzt wurden. Kurzum: niemals wurde in der Geschichte wohl so viel Aufhebens um das Verschwinden einer Schweinsblase, achtzehn


Mexiko 1970

Telstar

Deutschland 1974

Telstar-Chile

Argentinien 1978

Tango

Spanien 1982

Tango España

Mexiko 1986

Azteca

Italien 1990

Etrusco Unico

USA 1994

Questra

Frankreich 1998

Tricolore

Südkorea/Japan 2002

Fevernova

Deutschland 2006

Teamgeist

Südafrika 2010

Jabulani

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Lederstreifen und ein paar Metern Faden gemacht. Und als Haller den Ball 30 Jahre später bei der Europameisterschaft in England feierlich zurückgab, bekam das football‘s coming home für ganz Fußball-England eine neue Bedeutung. Es mag Zufall sein, dass dieser Diebstahl eine neue Ära in der Geschichte des Fußballs einläutete. Denn während das 66er Modell mit den quer vernähten Streifen des britischen Herstellers Slazenger im Haller,schen Domizil sehnsuchtsvoll seiner Rückkehr ins Mutterland des Fußballs harrte, begann einige Kilometer weiter im fränkischen Herzogenaurach die Erfolgsstory des modernen WM-Balls. Seit 1970 wird das offizielle Spielgerät nämlich von der bekannten Marke mit den drei Streifen hergestellt, die alle vier Jahre mit einem runderneuerten Modell aufwartet, das seine Vorgänger wie fluglahme Klumpen aussehen lässt. Dieser Ball verhalf dem Fußballsport endgültig zum medialen Durchbruch. Pünktlich zur ersten live im Fernsehen übertragenen WM-Endrunde betrat nämlich der Telstar die Weltbühne des Fußballs und zeigte sich dabei so telegen, wie sein Name vermuten lässt. Geometrisch betrachtet ein abgestumpftes Ikosaeder, sorgten seine 20 weißen Sechsecke und zwölf schwarzen Fünfecke dafür, dass er selbst im Schwarz-Weiß-Fernsehen gut zu erkennen war. Sein Design machte ihn bis heute zum Inbegriff eines Fußballs. Und mehr noch. Mit dem Telstar kamen auch die großen Fernsehstars des Fußballs: Im Finale zwischen Brasilien und Italien blieb es dann auch – wie könnte es anders sein – dem ewigen Pelé vorbehalten, ihn zum 1:0 medienwirksam ins Tor zu befördern. Acht Jahre später, bei der WM in Argentinien, erwies der Ball dann zum ersten Mal der Kultur des Gastgeberlandes seine Referenz. Der Tango setzte nicht nur in optischer Hinsicht Maßstäbe für die nächsten Jahre. Er stilisierte den Fußball zum Tanz und machte als Tango España 1982 aus raubeinigen Kickern anmutige Matadoren der Neuzeit, die voller Stolz und Leidenschaft vor den Augen der jubelnden Menge dem Gegner den finalen Stich versetzten. Der Azteca huldigte bei der WM 1986 der großen, vergangenen Kultur Mexikos – und war dabei der erste vollständig aus synthetischen Materialien hergestellte Fußball. Es folgten der Etrusco Unico in Italien 1990, der Questra (Quest for the stars) 1994 in den USA, der Tricolore 1998 in Frankreich sowie der Fevernova bei der WM 2002 in Südkorea und Japan, dessen asiatisches Design von dem des westlich inspirierten Tango erstmals grundlegend abwich. Fußball goes global – und gerade im neuen Jahrtausend hat man mit der Eroberung des asiatischen Marktes begonnen. Mit dem Teamgeist wurde 2006 in Deutschland gekickt. Dank seiner neuartigen Struktur, die auf die herkömmlichen Waben verzichtete, war er mit einer Abweichung von ca. 0,1 Prozent von der perfekten Kugel nicht nur runder als all seine Vorgänger. Er traf auch den Nerv einer WM, deren erfolgreichste Mannschaften eher auf kollektiven Zusammenhalt als auf brillante Einzelkönner setzten. Und dank Fanmeilen und Public Viewing wurde Teamgeist auch zur offiziellen Rezeptionshaltung erklärt. Außerdem war 2006 die erste WM, bei der man dem Finale einen eigenen Ball spendierte: Der Teamgeist Berlin erstrahlte in goldenem Glanz, und auch sonst glänzte so einiges: Mit 15 Millionen verkauften Exemplaren schlug der Ball alle Rekorde und war ein voller wirtschaftlicher Erfolg. Zumindest für den


Hersteller, denn etwa drei Viertel aller weltweit verkauften Fußbälle werden im pakistanischen Sialkot gefertigt, nicht selten von Kindern unter 14 Jahren, in der Regel jedoch von schlecht bezahlten Näherinnen. Im Sommer 2010 dreht sich wieder alles um den Fußball, dessen globale Breitenwirkung mit jeder WM steigt. Die Weiterentwicklung des Balls wird dabei zur Quadratur des Kreises, zur Suche nach dem in allen Belangen perfekten Rund hochstilisiert: Im Laufe der Jahre hat sich der WM-Ball von der schnöden Lederkugel zum sporttechnologischen Vorzeigestück gemausert. Er verkörpert geradezu perfekt den Geist der Weltmeisterschaft und den fußballerischen State of the Art. Als weltmännischer Medienprofi kommt er heute daher, der auf dem Spielfeld alle Tricks beherrscht und sich zudem noch äußerst kulturbeflissen zeigt. Mit dem Jabulani, wie er offiziell heißt, rollt im Sommer nicht nur der bislang geometrisch rundeste Fußball aller Zeiten über den südafrikanischen Rasen. Wer ihn genau studiert, erfährt auch etwas über die Kultur des Gastgeberlandes: Sein Name stammt aus der Sprache der Zulu und bedeutet soviel wie feiern oder zelebrieren, und seine elf Farben repräsentieren neben den elf Spielern einer Mannschaft die elf Stämme und offiziellen Sprachen des Landes. Political Correctness paart sich mit modernster Technologie und globaler Marketingstrategie. Wenn der Fußball als Sport seiner Rolle als Völkerverbinder Nummer 1 gerecht werden will, dann muss sich das schließlich auch und vor allem im Fußball als Spielgerät manifestieren. Im Mittelalter galt der freihändig gezeichnete Kreis als Ausdruck von Vollkommenheit – heute ist es der WM-Ball. Und obwohl der Jabulani ein begehrenswerter Schatz ist – es wäre noch schöner, wenn Lukas Podolski nicht nur ihn als Trophäe aus Südafrika mitbringen würde.

TRAUMPASS vorgestellt von: Leopold Brötzmann

Hilfslieferungen schaffen eine lebensotwendige Grundversorgung. Gerade Kinder brauchen neben Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten aber vor allem eines: Spaß und Freude. Das Unplug Design Studio hat eine Verpackung für Hilfslieferungen entworfen, die neben Hilfsgütern Spaß und Freude transportiert. Der Dreamball besteht aus recyceltem Papier und verfügt über einen speziellen Aufdruck, der es erlaubt, aus der Verpackung Fußbälle kinderleicht zu bauen. Neben Freude, Spiel und Spaß können so wichtige Kontakte zwischen Hilfsorganisationen und den Menschen vor Ort entstehen. Außerdem lässt sich das Müllaufkommen erheblich reduzieren. www.unplugdesign.com


fairplay Nach dem Spiel ist vor dem Einkauf.

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So richtig rund werden Fuß­bälle durch ihre inneren Werte: FSC -zertifiziertes Naturlatex, menschliche Arbeitsbedingungen, ungiftige Materialien und faire Handelspreise. Und wer neben dem Ballgefühl noch den Kopf trainieren will, holt sich am Besten das Modell, auf dem die Milleniumsziele der UN hübsch illustriert abgedruckt sind. 1 Runde Sache

www.fairdealtrading.de 2 BAllbag Aus ausgedienten Trainingsfußbällen entsteht eines der sportivsten RecyclingProdukte auf dem Markt. Diese stil­volle Handtasche macht nicht nur Mädels glücklich, sondern lässt auch Jungsherzen höher schla-

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gen und an glorreiche Zeiten in der E-Jugend denken. abteil-shop.de 3 BIErgrätsche Es gibt Hoffnung für die Stammelf am Kicker: Nach dem Ende der Karriere als aktive Spieler wechseln die kleinen Figuren einfach die Stollen gegen einen Flaschenöffner. Eigentlich genau wie beim Menschen. lockengeloet.com 4 Cape der guten Hoffnung Irgendwann wird jeder von einem Regenschauer erwischt, egal ob beim Public Viewing, im Stadion oder bei anderen Outdoor-Veranstaltungen. Gut, wenn man dann das Regencape aus Kartoffelstärke dabei hat. Der Clou steckt in seiner Brust-

tasche. Hier befindet sich eine kleine Kapsel mit ausgewählten Samen. Ist das Cape beschädigt und damit unbrauchbar, kann sein Besitzer es mit gutem Gewissen in der Erde vergraben. Nach einiger Zeit entsteht auf gutem Grund ein Baum. gesehen bei lilligreenshop.de 5 Kein-Tor-Töröster Es soll ja vorkommen, dass Spiele verloren werden und dicke Tränen fließen. In diesem Fall empfehlen wir ein Stofftaschentuch töröst, das so schön ist, dass es sogar gestandene Fans geben soll, die es in der Südkurve bei einer Heimniederlage benutzen. zenzi-design.dawanda.de


ballzauber Bernd Schneider hat die wichtigen Finale seiner Karriere verloren. Im deutschen Fußball­gedächtnis ist ihm trotzdem ein Stammplatz sicher. protokoll: Jens Tönnesmann Illustr ation: Uli Knörzer

»Mein erstes Mal im Stadion, das war 1980. Ich war sechs Jahre alt und Fan von Carl Zeiss Jena. Jena hatte das Europapokal-Hinspiel in Rom mit 3:0 verloren und war damit quasi ausgeschieden. Aber das Unmögliche passierte: Carl Zeiss gewann das Rückspiel zu Hause 4:0 und schaffte es bis ins Finale gegen Dinamo Tiflis. Am Ende wurde Jena zwar nur Vize-Europapokalmeister, aber es war ein unglaublicher Erfolg für den Verein. Genau wie für Bayer 04 Leverkusen und mich, als wir im Jahr 2002 im Finale der Champions League standen. Auch mit Bayer 04 wurden wir 2002 Zweiter – nicht nur in der Champions League, sondern auch noch in der Bundesliga und im DFB Pokal. Kurz darauf bin ich mit der Nationalelf auch noch Vizeweltmeister geworden. Ich habe also alle Titel haarscharf verpasst. Das war natürlich bitter. Aber es war zugleich ein großartiges Jahr, das schönste meiner Laufbahn. Das vergisst man schnell, wenn man nur auf die Finale schaut. Natürlich ist es ist nicht ganz leicht, solche Niederlagen abzuhaken, ich bin schließlich ein Siegertyp. Aber als Fußballspieler muss man dann den Mund abputzen und sich auf das nächste Spiel konzentrieren. Hätte, wenn und wäre zählt nicht. Wichtig ist nur, dass du am Ende des Spiels von dir sagen kannst: Ich habe alles aus mir rausgeholt.

Im Sommer 2009 habe ich zum letzten Mal als Profi ein Spiel bestritten, gegen Mönchengladbach in der Bundesliga. Auf dieses Comeback hatte ich in einer monatelangen Verletzungspause hin gearbeitet. Als ich auf den Platz kam, war das ein unbeschreibliches Gefühl – selbst die gegnerischen Fans haben applaudiert. Aber nach dem Spiel sagten die Ärzte: Das Risiko ist zu groß. Also habe ich schweren Herzens meine Fußballschuhe an den Nagel gehängt. Wie wichtig es ist, auf die Gesundheit zu achten, hat mir die traurige Geschichte von Axel Jüptner gezeigt, mit dem ich 1998 zusammen bei Carl Zeiss Jena gespielt habe. An den letzten Tag mit ihm erinnere ich mich noch genau: Er saß neben mir in der Kabine, hat Witze gemacht, wir haben gelacht. Ich bin duschen gegangen und als ich später aus der Kabine kam, stand ein Krankenwagen vor der Tür. Kurz darauf ist Axel gestorben, an den Folgen einer Herzmuskelentzündung. Das hat unheimlich wehgetan. Es hat mir gezeigt, wie schnell alles aus sein kann. Hinter jedem Spieler, und wenn er noch so viel Geld verdient, steckt eben ein Mensch, und Fußball ist nicht alles im Leben. Das merke ich auch jetzt: Mit Mitte dreißig ist man als Fußballer ein alter Sack, aber außerhalb der Fußballwelt geht das Leben dann erst richtig los. Ich habe viele Pläne und Ideen. Als Erstes gebe ich mein offizielles Abschiedsspiel. Mit den Mannschaftskameraden, mit denen ich 2002 im Finale der Champions League stand, bestreite ich quasi mein persönliches Finale.« Bernd Schneider, Jahrgang 1976, Spitzname ›Schnix‹, hat für Bayer 04 Leverkusen 263 Bundesligaspiele bestritten und stand 81-mal im Trikot der deutschen Nationalelf auf dem Platz. Er galt als starker Techniker und wurde deswegen als ›der weiße Brasilianer‹ und ›der letzte Straßenfußballer Deutschlands‹ bezeichnet. Im Jahr 2002 wurde er Vizemeister, Vizepokalsieger, Vizeeuropameister und Vizeweltmeister.


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Sweet Sixty Wer mit Ende 60 noch mal heiratet, weiß warum. Text und Foto: Peter Bongard

Auf den ersten Blick ist die Wohnung der Pfeiffers das typische Domizil eines älteren Ehepaares: gemütliches Sofa, ein Strauß Blumen auf dem Tisch, Familienfotos an der Wand. Doch die Fotos erzählen zwei unterschiedliche Geschichten, aus denen erst im Sebtember 2007 eine gemeinsame wird. Denn in diesem Jahr lernen sich Otmar und Ursula Pfeiffer kennen. Als die beiden 2008 heiraten, ist er 70 und sie 67. Im Herzen sind sie wieder Teenager, sagen sie. Besser gesagt: im Bauch. Denn dort flattern die Schmetterlinge heftiger als je zuvor. Die Geschichte des Westerwälder Paares lässt sich Zeit. Beide sind verwitwet. Beide hatten Partner, die mehr als 30 Jahre lang schwer krank waren und vor einigen Jahren gestorben sind. 2005 ist der Tiefpunkt: Die Ärzte stellen bei Otmar Krebs fest. Er wird operiert, geht in die Reha. Dort ordnet er seine Gedanken: »Ich wollte noch mal durchstarten. Mit voller Kraft. Und nicht alleine.« Dann wird aus dem Ende tatsächlich ein Anfang. Otmar wird wieder gesund. Aus Dankbarkeit will er an einer Wallfahrt teilnehmen. Zum ersten Mal ruft er bei Ursula an, die damals noch mit Nachnamen Olbert heißt und für ihre Kirchengemeinde Pilgerfahrten organisiert. Aus dem Telefongespräch wird ein Kennenlernen, dann ein Näherkommen. Die beiden gehen zusammen Kaffee trinken, treffen sich zum Spazieren. Ursula geht es trotzdem noch zu schnell.

»Ich hatte anfangs Sorgen, was die Leute sagen, wenn sich eine Witwe plötzlich mit einem Witwer trifft. Ich war also ziemlich verwirrt, um’s mal vorsichtig auszudrücken.« Aber Otmar lässt nicht locker. Und geht schließlich aufs Ganze. Er schenkt ihr ein Herz aus Blumen und einen Achtzeiler, in dem er ihr seine Liebe gesteht. »Ich bin dahingeschmolzen. Schlimmer als jemals zuvor in meinem Leben«, sagt Ursula. Sie lächelt: »Eigentlich wollte ich in den Tagen danach einen Familienausflug planen. Aber es ging nicht. Ich war einfach zu verliebt.« Neun Tage nach dem Blumenherz und dem Gedicht macht ihr Otmar einen Heiratsantrag. Die Freunde und Familien schlagen die Hände über dem Kopf zusammen und verstehen nicht, warum plötzlich alles so schnell gehen muss. »Wir mögen eben keine halben Sachen«, meint Ursula. »Wir wollten heiraten – so lange wir noch wissen warum. Außerdem möchten wir uns komplett haben. Nicht bloß ein bisschen. Das ist doch schöner, als abends alleine zurück in sein eigenes Haus zu fahren. Und wenn einer mal im Krankenhaus liegt, soll ihm der andere auch rund um die Uhr zur Seite stehen können. Das geht eben nur bei engen Familienangehörigen.« Dann lächelt sie wieder und verrät, dass es sie unheimlich stolz macht, Otmar ihren Mann nennen zu dürfen. Am 9. Februar 2008 heiraten die Senioren kirchlich. Dann regeln sie in aller Ruhe die Formalitäten: gegenseitiger Erbverzicht, Vorsorgevollmacht. Erst sieben Monate später gehen sie zum Standesamt und besiegeln damit das, was Otmar eine »Liebesehe« nennt. »Das Einzige, was jetzt noch eine Rolle spielt, sind wir«, sagt er. »Mit allem anderen würden wir nur unsere letzten Jahre vergeuden.«


schallmauer Das Geräusch des Jahres geht ungefähr so: HURRRRRRRRR! David Gieselmann hat mal genauer hingehört und sein eigenes Wort nicht mehr verstanden. text: David Gieselmann

Jede WM hat ihre Mythen. Im Jahr 2010 ist es ein afrikanischer Mythos. Und die europäische Fußballwelt, geprägt von Spielanalysen und Videoauswertungen, lernt den Voodoo kennen, oder genauer: die Vuvuzela. Die Vuvuzela ist ein langes Plastikhorn, das genau einen Ton fabriziert – einige Virtuosen schaffen zwei verschiedene Töne. Das ein Meter lange Instrument stammt aus Südafrika, und einem breiteren Publikum wurde die Vuvuzela auch beim Confederation Cup 2009 in Südafrika in den Stadien und an den Fernsehschirmen bekannt. Mit etwas Übung und guten Lungenflügeln lassen sich diesen Tröten Lautstärken von bis zu 120 Dezibel entlocken. Das reicht aus, um im Hamburger Hafen als Nebelhorn aufzutreten. In der Summe ihrer Popularität ergibt sich in den Stadien ein Klangbild, das im Fernsehen so wirkt, als würde stets eine aufgebrachte Elefantenherde durch das Stadion poltern. Ihr gezielter Einsatz ist spätestens dann fragwürdig: Da das Klangbild insgesamt so laut ist, kann man sie wohl kaum mehr verwenden, um beispielsweise den gegne-rischen Stürmer zu verwirren. Verwirrt sind eher alle. War sie anfangs nur ein Nischenhorn süd­afrikanischer Fans, so haben sich die globalen Fanmerchandiser längst der Sache angenommen. Für durchschnittlich drei Euro pro Stück lassen sich auf eBay

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längst Vuvuzelas in Schwarz, Rot, Gold, Orange oder anderen landestypischen Farben erwerben. Die Popularität der Trompeten erklärt sich allerdings wohl nicht nur durch den niedrigen Preis. Das Tröten fordert zum Mittröten auf, da der ohrenbetäubende Lärm passiv kaum zu genießen ist. Der Krach relativiert sich, wenn man ihn selber erzeugt, und die Vuvuzela-Fans sind wohl auch froh, über ein Phänomen zu bestimmen, das Rationalisten wie Jogi Löw, der die Vuvuzelas am liebsten aus den Stadien verbannen würde, nicht verstehen. Vielleicht ist der voodooartige Glaube an die Vuvuzelas auch der kindische Fantrotz gegenüber einem durchrationalisierten Fußball von Millionären. Die FIFA hat kürzlich deutlich gemacht, dass es kein von Spielern und Fernsehanstalten gefordertes Verbot der mobilen Tröten geben wird. Deshalb ist davon auszugehen, dass sich die Fernsehreporter bei der kommenden WM stets über einen elefantischen Klangteppich hinwegsetzen müssen. Die FIFA hat mit diesem Nichtverbot also dafür gesorgt, dass der Fußball im Fernsehen nicht den unmittelbaren Fußball im Stadion dominiert. Die Elefantenklangkulisse wird uns im kommenden Sommer daran erinnern, dass das Spiel, so wie wir es sehen und hören, auch tatsächlich stattfindet, und die Fans werden wissen, dass sie da waren: Ich tröte, also bin ich. Im Stadion.


Seitenwechsel Die Kabinenpredigt zeigt Wirkung, wir gehen noch mal richtig rein. Spieler wie Publikum. Was ein Seitenwechsel noch bedeutet: Anschluss suchen und neue Räume aufmachen, das Spiel gestalten und Chancen verwandeln. Und natürlich die Überzeugung, dass jetzt alles besser wird.


Das Ende einer Bootsfahrt Jedes Jahr versuchen tausende Flüchtlinge von Afrika über das offene Meer nach Europa zu gelangen. Viele überleben die Überfahrt nicht. Ihre Boote werden von der Sizilianischen Küstenwache katalogisiert und weggeschlossen. Eine fotografische Bestandsaufnahme. Fotos: Heiko Schäfer









Sizilien gehört politisch gesehen zu Italien, geologisch aber liegt es zur Hälfte auf der afrikanischen Kontinentalplatte. Es ist der Überrest einer Landbrücke, die einst Europa mit Afrika verband. Zwei verschiedene Welten, die sich hier fast berühren. Bekannt ist die Mittelmeerinsel als Feriendomizil und Anbaugegend von Rotwein, aufgrund des Ätnas und der Mafiageschäfte. In den letzten Jahren hat sich »der Ball, nach dem der Stiefel tritt«, wie die Insel auch genannt wird, allerdings zum Schauplatz einer weltweiten Tragödie gewandelt. In den Zeitungen liest man davon immer wieder zwischen den kleinen Meldungen auf der Rückseite, in denen von im Mittelmeer ertrunkenen Seefahrern berichtet wird. Wie Lampedusa ist Sizilien zu einem Ort der letzten Hoffnung auf ein besseres Leben geworden. Menschen, die den unmöglichen Lebens­ bedingungen von Liberia, dem Irak oder Ägypten entflieh​en müssen, su­chen dort Schutz. Nach Angaben der Flüchtlingskoalition Fortress Europe sind 2007 dort 12.527 Asylsuchende gestrandet. Bevor sie in die Boote nach Europa steigen, haben die Flüchtlinge oft lange Fahrten mit überladenen LKW oder in Containern hinter sich gebracht. Die Überfahrt von der Türkei, Tunesien oder Libyen ist der zweite gefährliche Teil ihrer Reise. Zwölf Prozent überleben diese Reise nicht. Die anderen werden von der italienischen Küstenwache geschnappt und in Auffanglager gesteckt. Ohne Asyl beantragen zu können, werden sie von dort nach Libyen verfrachtet, wo sie meistens in Gefängnissen landen. Europa verlagert das Flüchtlingsproblem an seine südlichste Spitze, oder noch besser: auf die andere Seite des Mittelmeers, in Diktaturen wie Libyen. Nur wenige der Flüchtlinge schaffen es, in Europa zu bleiben. Und wenn, landen sie oft als Schwarzarbe­iter auf den Tomatenplantagen Süditaliens oder den Baustellen der Großstädte. Heiko Schäfer hielt sich mehrere Tage im Süden Siziliens in der kleinen Hafenstadt Pozzallo auf. Von dort kann man nach Malta oder Lampedusa übersetzen. Er hatte von Flüchtlingsorganisationen erfah­ren, dass hier die Boote der Flüchtlinge liegen. Einfache Holzboote, die für den Fischfang, aber nicht für eine Mittelmeerüberfahrt geeignet sind und von Schleppern oft völlig überladen werden. Aufgrund von Seuchengefahr liegen sie versteckt vor Touristen und Journalisten. Die Boote werden von den Behörden mit einer Vorgangsnummer versehen, unter welcher der »Vorfall« amtlich registriert wird. Dann wird gezählt, wie viele Männer und wie viele Frauen darin saßen. Mit Farbe oder Kreide auf die Bootsrümpfe gemalt, finden sich diese Nummern später in den amtlichen Dokumenten wieder, in denen die täglichen »Incidents« verzeichnet werden. Heiko Schäfer beobachtete von einem Hügel oberhalb des Hafens das Treiben. Sonntagmittag, wenn die Fährboote anlegten und die Hafenarbeiter sich auf die Gäste konzentrierten, schlich er sich aufs Gelände und zog seinen Fotoapparat hervor. Die Flüchtlinge waren längst weggesperrt, ohne gehört zu werden sein. Die Boote aber erzählen ihre Geschichten.

TEXT: Dirk Brall

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Mehr leben! Charlotte Janson ist dem Tod begegnet. Dabei hat sie die Angst vor dem Leben verloren. protokoll: Jens Tönnesmann Illustr ation: Uli Knörzer

»Der Tod hat mein Leben verändert. Genauer: Eine Nahtoderfahrung im März 2008. Ich lag auf meinem Bett, als ich plötzlich schwerelos wurde. Ich spürte meinen Körper nicht mehr. Stattdessen schwebte ich unter der Zimmerdecke und sah ihn auf dem Bett liegen. Keine Ahnung, wie lange das so ging. Zeit schien keine Rolle zu spielen. Alles war warm und friedlich. Ich fühlte mich so wohl wie nie zuvor. Dann vernahm ich ein Rauschen wie von ei­ nem aufkommenden Sturm; alles wurde dunkel und schmal wie in einem fast zugewachsenen Wald­ weg. Etwas zog an mir, und ich konnte meinen Körper nicht mehr sehen. Auf einmal wurde es direkt vor mir gleißend hell. Inmitten des flirren­ den Lichtstrahls saß mein toter Kater Kaya bewe­ gungslos vor einem hauchzarten, aber undurch­ sich­tigen Schleier und schaute mich an. Alles in Ordnung, schien er mir zu bedeuten. Aber er signalisierte mir auch, dass ich eine Entscheidung treffen musste: weitermachen oder nicht – mit dem Leben. Ich tat mich schwer mit dieser Entscheidung, weil ich den Eindruck hatte, dass hin­ ter dem Schleier – im Licht – etwas Wunderbares auf mich wartete. Aber der Kater ließ mich nicht vorbei. Widerwillig kehrte ich in meinen Körper zurück.

Früher habe ich gedacht: Tot ist tot, da helfen keine Pillen. Seit dieser Erfahrung denke ich: Wenn das der Tod war, dann brauchen wir keine Angst davor zu haben. Das hat mich beruhigt. Vor 16 Jahren wurde bei mir eine unheilbare, chronische, potenziell lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert. Seitdem lebe ich mit einer Zeitbombe im Körper: Die Krankheit kann jederzeit wieder ausbrechen. So wie damals, als ich die Nahtod­ erfahrung hatte. Seitdem bin ich konsequenter geworden. Ich verschwende nicht mehr so viel Zeit und Energie; ich ärgere mich zum Beispiel nicht mehr über Dinge, die ich ohnehin nicht ändern kann. Außerdem habe ich den Spieß umgedreht und mir viele Aspekte des Todes genau angeschaut. Ich habe mich mit vielen Menschen darüber unterhalten, wie sie den Tod von Freunden und Angehörigen er­ lebt haben; ich habe in Särgen Probe gelegen, Friedhöfe und Krematorien besichtigt und Pathologen besucht – und darüber dann ein Buch geschrieben. Seitdem gehe ich mit dem Leben, aber auch mit dem Tod anders um. Wenn ich gestorben bin, soll bei der Beerdigung »Here comes the flood« von Peter Gabriel gespielt werden. Ich werde meine Trauerrede selbst schreiben. Denn ich will sichergehen, dass die Gäste meiner Trau­ erfeier auch was zu lachen haben.«

Charlotte Janson, Jahrgang 1958, Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Schriftstellerin. Seit vielen Jahren schreibt sie unter Pseudonymen Unterhaltungsromane. Ihr Buch »Letzte Reise und zurück« ist im Februar 2010 im Heyne Verlag erschienen.


Mandela und Nelson Ein staubiger Fußballplatz, eine Kuhherde, ein planloser Trainer und ein Stürmer, der während des Angriffs pinkeln geht. Wie soll man hier in Bagamoyo ein Länderspiel gegen die Deutschen gewinnen? Die Geschwister Mandela und Nelson sind aufgeregt. Doch zum Glück weiß Superstar Hussein Sosovele Rat. Eine Geschichte für Kinder und Erwachsene. Auszug aus: Mandela und Nelson, Das Länderspiel Text: Hermann Schulz *

Ich wollte nicht zu spät bei Sosovele aufkreuzen, sonst riskierte ich, dass er mich nicht mehr vorließ. Glücklicherweise kann­­­te ich ihn. Er hatte unserem Club zwei Fußbälle geschenkt und versprochen, uns zu trainieren. Seitdem hatten wir ihn aber nicht wieder auf dem Platz gesehen. Viel­ leicht hatte er zu viel damit zu tun, an den Erinnerungen aus seinem Fußballleben zu schreiben. Es wurde schon langsam Abend und es war nicht mehr so heiß wie am Tag.

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Ein lauer Wind wehte durch die Palmen. Ich musste ein paar hundert Meter den Strand entlang nach Süden, dann die Straße hinter dem neuen Hotel nach Westen nehmen. Sein Haus würde ich wiedererkennen. Als ich ankam, saß er im Vorgarten seines Bungalows, ganz allein, in einem Liegestuhl. Er hatte eine kurze schwar­ ze Hose an, ein schwarzes T-Shirt, auf der Nase eine schwar­ze Sonnenbrille mit noch schwärzeren Gläsern, die ein bis­schen spiegelten. In der Hand hielt er ein Glas mit Orangensaft und er nuckelte an einem Strohhalm. So sieht bei uns ein Luxusleben aus, wenn einer als Fußballspieler genug Geld verdient hat.


»Jambo, Mister Sosovele«, begrüßte ich ihn und blieb höflich auf der Straße stehen. Er blickte einmal kurz über seinen Brillenrand hinweg und winkte mir, näher zu kommen. »Was willst du, Mister Nelson?« Ich war verwundert, dass der berühmte Mann sich mei­ nen Namen gemerkt hatte. »Also … Am Samstag ist hier ein Länderspiel. Unsere Truppe gegen eine Jugendmannschaft aus Europa. Ich glau­ be, die kommen aus Deutschland und haben in Daressalam und Sansibar gewonnen. Da wollte ich ein paar Tipps von Ihnen haben. Wenn Sie jetzt Zeit hätten …« Ich ging quer durch seinen Vorgarten und setzte mich ihm gegenüber auf einen Hocker. Wieder blickte er über seinen Brillenrand, diesmal ziemlich lange, und sah mir in die Augen. »Ihr verliert!«, sagte er müde und lehnte sich zurück. Dann wiederholte er noch einmal mit trauriger Stimme: »Ihr verliert!«

Mir blieb die Spucke weg. Was er da von sich gegeben hatte, hörte sich wie die strenge Predigt eines Pastors an, wenn die Kirche voller Sünder ist. Er war aber noch nicht fertig: »Außerdem habt ihr keine Psychologie!« Während ich krampfhaft überlegte, was diese Bemerkung sollte, lehnte er sich zurück und griff nach seinem Glas. »Was ist das: Psychologie?«, fragte ich, obwohl ich das Wort schon einmal in der Schule oder von meiner Mutter gehört hatte. »Das ist, wenn man nicht nur gut spielt, sondern Einfluss nimmt auf den Gegner, psychologisch gesehen.« Ich verstand das nicht richtig, wollte aber nicht noch mehr davon hören. Wir waren gute Spieler, reichte das nicht aus? Oder waren die Amulette oder der andere Zauberkram damit gemeint? »Wir haben dazugelernt!«, sagte ich. »Auch Psychologie.« Vermutlich hörten sich meine Worte kleinlaut an.

Was sollte ich darauf sagen? Ihm etwa zustimmen? Dann hätte ich auch gleich wieder gehen können. Stattdessen sag­ te ich so ruhig wie möglich: »Wir machen sie platt! Wir spie­len sie an die Wand, dass sie quietschen. Wir hauen ihnen die Dinger rein, dass sie bedauern, gegen uns angetreten zu sein.« Während ich sprach, wurde meine Stimme immer sicherer und lauter. In Sosoveles Gesicht erschien ein kleines Lächeln. Er nahm seine schwarze Brille ab und sah mich an. »So, ihr wollt also gewinnen. Das ist gut so. Aber ihr werdet verlieren!«, sagte er. »Warum verlieren wir?« Er lehnte sich weit nach vorn und giftete: »Weil ihr keine Disziplin habt. Weil ihr nicht regelmäßig und nicht hart genug trainiert. Weil keiner von euch auf seiner Position auf dem Platz bleibt. Weil ihr wie eine wild gewordene Horde von Büffeln losstürmt. Weil eu­ ropäische Mannschaften genau das Gegenteil davon sind – und deshalb immer gewinnen. Deshalb!« Bei seinem letz­ ten Wort hob er den Finger wie ein Lehrer.

Er lehnte sich wieder nach vorn, schob seine schwarze Brille in die Haare und musterte mich eingehend. »Was habt ihr denn gelernt? Einige pinkeln während des Spiels, andere holen sich ihre Banane oder ihren Maiskolben raus und essen. Oder sie setzen sich einfach irgendwohin, wenn sie müde sind oder keine Lust mehr haben. Und was ist mit dem Platz? So etwas nenne ich einen Acker! Nicht einmal Netze habt ihr im Tor!« Sosovele stand auf und ging ärgerlich ein paar Schritte auf und ab, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Den Platz bringen wir in Ordnung. Ich wollte Sie sowieso fragen, wie groß der für Länderspiele sein muss. Ich finde das nirgendwo.« »Hundertzehn mal fünfundsiebzig!«, stieß er hervor. Ich machte mir sofort eine Notiz. Das war bisher die einzige Auskunft, die ich brauchen konnte. »Mister Sosovele, haben Sie vielleicht einen Tipp für uns, welche Taktik wir nehmen sollen, oder wie man das nennt?«, fragte ich.

* FROH! hat mit dem Autor und Verleger Hermann Schulz gesprochen. Das Interview findest Du online unter: www.frohmagazin.de/finale/schulz


Er fummelte an seiner Brille und setzte sich wieder in den Lehnstuhl. Sein Gesicht hatte jetzt einen ganz konzen­ trierten Ausdruck. So wie bei meinem Papa, wenn er eine neue Schlangensorte begutachtete. »Schreib mit!«, befahl er. »Wenigstens ein paar Stichworte. Also: Ihr seid schneller und wendiger. Ihr spielt unkonventioneller, also könnt ihr sie überraschen, ihnen ihr Spiel kaputt machen. Ihr seid an das Klima gewöhnt, das ist ein weiterer Vorteil. Wenn ihr volles Tempo vorlegt, ma­ chen sie nach einer halben Stunde schlapp. Merkt euch das …« Er schien zu überlegen, lächelte und klopfte mit seiner langen schmalen Hand auf die Armlehne. »Wenn ihr einen guten Stürmer habt, schickt ihn sofort nach vorn, schießt ein frühes Tor. Das macht sie unsicher und sie krie­ gen Muffensausen. Dann sofort nachsetzen, bevor sie zur Besinnung kommen. Spielt sie schwindelig, hetzt sie über den Platz, bis sie sich nach Deutschland zurücksehnen. Und dann«, er lächelte jetzt breit, so dass ich seine weißen Zahnreihen komplett sehen konnte, und sprach plötzlich ganz leise, als verrate er mir ein Geheimnis: »Und dann zieht ihr euch zurück. Tut so, als sei euch die Luft ausgegangen. Das macht sie wieder mutig, lasst sie kommen, von rechts, von links, aus der Mitte. Tut so, als hätten sie euch in der Zange.« Er grinste wie ein lauernder Fuchs vor dem Hühnerstall und hob beschwörend eine Hand. »Jetzt schnappt ihr euch den Ball und kontert sie aus, schickt zwei der schnellsten Spieler nach vorn, die anderen behindern die nachrückenden Weißen. Egal, wie! Eine kleine Nickeligkeit schadet nicht! Ein Bein wie zufällig stehen lassen oder so. Dann könnte es schon Zwei zu Null stehen. Wenn ihr es so weit schafft, habt ihr gewonnen.« Sosovele war richtig in Fahrt gekommen und ich fand seine Vorschläge genial. Gleich darauf kam jedoch die kalte Dusche für mich. »Aber ehe deine Mannschaft diese Taktik auch nur begriffen hat, steht es schon Zwei zu Null für die anderen. Tut mir leid! Was euch fehlt, ist die Disziplin. Die braucht man für jedes gute Spiel. Ihr seid nur eine verwahrloste Bande, die nicht mal einen richtigen Trainer hat.«

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Das brachte mich nun auf die Palme, das ließ ich mir von ihm nicht bieten. »Mister Sosovele, eigentlich wollen Sie uns ja trainieren … Oder erinnere ich mich da falsch?« Das hörte sich richtig bissig an und ich hatte ihn an ei­ ner empfindlichen Stelle getroffen. »Stimmt, mein Junge! Aber ich hatte in den letzten zwei Jahren einfach keine Zeit. Was meinst du, was man alles tun muss, wenn man ein bisschen Geld hat? Jede Woche verhandele ich mit den Banken, prüfe Angebote für neue Investitionen und Firmenkäufe, kaufe Grundstücke, verkau­ fe sie wieder. Dann diese verdammten Aktien, sie fallen oder steigen. Da muss man gut drin sein, verstehst du das?! Dann die Rechtsanwälte, die Steuerfahndung, Rechnungen und nochmals Rechnungen. Den halben Tag sitze ich am Telefon und quatsche mich heiser … Glaub ja nicht, es wä­re so einfach, wohlhabend zu sein.« Beinahe hätte ich ihn bedauert. Aber böse konnte ich ihm auch nicht sein. Er hatte uns schließlich die beiden einzigen Lederbälle geschenkt, die jemals in Bagamoyo gesehen worden waren. Wir spielten damit nur bei besonderen Gelegenheiten. Für unser Training hatten wir uns einen Ball aus Stoffresten selbst zusammengenäht. Da wir meistens barfuß spielten, war das ganz angenehm. »Erzählen Sie mir noch mehr über unsere Taktik. Über unsere Aufstellung.« Ich wollte sein brütendes leidendes Schweigen unbedingt unterbrechen, vermutlich dachte er über Aktienkäufe nach. »Wo kommen die Weißen her?«, fragte er. »Wie? Aus Deutschland, soweit ich gehört habe.« »Deutschland ist groß! Ich meine, aus welcher Stadt?« »Keine Ahnung. Was macht das für einen Unterschied?« Er rief nach seiner Hausangestellten und verlangte nach einem neuen Drink für sich. »Und eine Cola für meinen Gast Mister Nelson!« So drückte er sich tatsächlich aus. Dann ging er auf meine Frage ein. »Das ist ein gewaltiger Unterschied, mein Junge. Sieh mal: Wenn sie von Schalke kommen, habt ihr leichtes


Spiel. Die brauchen ihr Publikum, sonst kommen sie nicht in Form und hängen faul herum. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Schalker Fans mit Flugzeugen und Bussen hier antanzen. Wenn sie dagegen aus München kommen, kriegt ihr große Probleme. Die haben die besten Trainer – und bezahlen schon die Jugendmannschaft für jeden Sieg. Das sind harte Knochen! Kommen sie aus Bochum, könnten sie eure besten Freunde werden. Die halten fest zusammen, aber auch gegen die habt ihr eine Chance. Egal, du weißt es nicht, es bringt uns also nicht weiter. Sieh zu, dass du morgen, wenn sie ihr Trainingscamp in Bagamoyo aufschlagen, einen Spion hinschickst. Wenn du herausgefunden hast, woher sie stammen, kommst du wieder zu mir und wir besprechen die taktische Einstellung. Okay?« Ich nickte. »Sie steigen in der Travellers Lodge ab. Die Chefin Helen kenne ich. Die kauft Yakobo die Tinten­ fische ab. Die lässt mich jederzeit ins Hotel.« Mit Helen war ich gut befreundet. Manchmal dachte ich: Schade, dass sie schon so alt ist. Mindestens dreißig. Bei der kannst du als Elfjähriger nicht landen. So etwas ging mir immer wieder durch den Kopf. Würdest du solche Gedanken etwa deinen Eltern erzählen? Ich nicht. Aber Mandela, meine Schwester, plapperte sogar zu Hause von ihren Privatsachen. Auch wenn sie nur in ihrem Kopf stattfanden. »Also morgen um die gleiche Zeit, Mister Nelson! Sonst noch Fragen?« »Im Moment nicht. Danke für alles«, sagte ich bescheiden und reichte ihm die Hand. Er begleitete mich bis an die Straße und sah mir nach. Ich war sehr zufrieden, dass er nach seinen ersten Schimpf­ tiraden doch noch Feuer gefangen hatte. Vielleicht konnte ich ihn morgen überreden, mit uns ein paar Trainingsstun­ den zu machen. Und ihn vorsichtig fragen, wie er über Amulette im Tor dachte. Es war inzwischen ganz dunkel, die Straßenlaternen ver­ breiteten trübes Licht. Die Schreinerei war noch erleuchtet und ich holte mir die Messlatte.

Wenig später kroch ich auf Knien über den Platz, glück­ licherweise schien der Mond. Nach jeder Abmessung hielt ich kurz inne und rechnete zusammen, dann ging es weiter, bis zum Ende. Als eine Herde Mungos an mir vorbeizischte und mich ablenkte, vergaß ich die Zahl und musste von vorn anfangen. Da habe ich ganz schön verflucht, dass ich Spielführer bin. Eine gute Stunde brachte ich damit zu, die Länge des Platzes und den Abstand der Tore zu messen. Dann legte ich noch die Punkte fest, wo die Eckfahnen stehen sollten. Ich legte dicke Steine dorthin. Nachdem ich alle vier Ecken markiert hatte, blickte ich im Mondlicht noch einmal nachdenklich über den Platz. Vom Rasen war nicht viel zu sehen. Das bisschen Gras war von der Sonne verbrannt, denn es hatte seit Monaten nicht mehr geregnet. Ich überlegte, wie wir es hinkriegen würden, die Linien ganz gerade zu ziehen, wie ich sie auf den Fußballplätzen im Fernsehen gesehen hatte. Ich wusste nicht, wie die Weißen so gerade Linien hinkriegten. Wenn es um gerade Linien ging, waren sie wahre Meister. Wenn aber etwas schief sein sollte, machte uns Afrikanern keiner was vor. Ehrlich gesagt, gefielen mir krumme Linien im Allgemeinen besser. Aber auf einem Fußballfeld hatten sie nichts zu suchen.

Die Geschichte ist ein Auszug aus dem Buch »Mandela und Nelson, Das Länderspiel«, das 2010 im Carlsen Verlag erschienen ist. Ebenfalls dem Buch entnommen sind die Illustrationen von Jörg Mühle. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.


Ökosystem Die Megacity Kairo produziert täglich Unmengen von Abfall. Ohne die Zaballin würde sie daran ersticken. Was andere wegschmeißen, erwecken die Müllsammler zu neuem Leben. Text: Dirk Brall und Martin Enzner Fotos: Wally Nell



Es ist 5:30 Uhr morgens. Die Muezzins rufen zum Morgengebet. Durch die breiten Einbahnstraßen Kairos schlängeln sich Taxis. Girgis parkt den Pick-Up in der Abd-el-Aziz, Downtown. Er, sein Vater und sein Bruder steigen aus. Über ihnen dämmert es. Die Wärme des Vortages strahlt von den Hauswänden. Sie ziehen los und gehen von Tür zu Tür, um den Müll von jeder einzelnen Wohnung abzuholen. Girgis ist ein Zaballin, ein Müllsammler. Sein Vater kam in den 1970er Jahren aus Assiut in die Hauptstadt. Er hat mit seiner Frau sieben Kinder, fünf Mädchen und zwei Jungen. Einer davon ist Girgis, 25 Jahre alt. Die ersten Zaballin zogen in der Hoffnung auf Arbeit Ende der 1940er Jahre nach Kairo. Sie verließen die ländliche Provinz Oberägyptens 400 Kilometer südlich von Kairo. Sie waren arm und ungebildet und siedelten sich in den Außenbezirken an. Um überleben zu können, kauften sie den Waahis das Recht zum Müllsammeln ab. Die Waahis waren vor den Zaballin in die Stadt gekommen, von den Oasen der Wüste, und begannen, den Papiermüll der Bewohner zu sammeln. Diesen verkauften sie zum Heizen an die öffentlichen Bäder und an die unzähligen Her­ steller des Nationalfrühstücks, die fuul medammes kochten, eine Art Bohnenbrei. Als die Zaballin in die Stadt kamen und auch mit dem Müllsammeln anfingen, mussten sie zuerst den Waahis den Müll und die Straßennutzungsrechte abkaufen. Dann verkauften sie das Papier an die Waahis, die es wiederum weiterverkauften. Die Waahis waren froh, nicht mehr die schwere und dreckige Arbeit ausführen zu müssen. Sie ließen sich den Dienst von den Hausbewohnern bezahlen und verhandelten als Mittelsmänner mit den Zaballin über die jeweiligen Straßenzüge, in denen Müll gesammelt werden sollte. Damals gab es neben dem Papier nur organischen Müll, da das Land hauptsächlich landwirt­schaftlich geprägt war. Mit diesem Abfall füt­terten die Zaballin ihre Schweine. Dann aber führ­te das Aufkommen von Benzinöl dazu, dass Papier zum Heizen nicht mehr benötigt wurde. Die Zaballin fanden andere Käufer. Und als in den 1950er Jahren mehr und mehr Plastik und Metall im Hausmüll aufkamen, fanden sie auch dafür Abnehmer. So wuchs ein System, das auf

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gegenseitiger Abhängigkeit beruhte. Die Stadt profitierte von der kostenlosen Müllsammlung der Zaballin. Diese hingegen lebten vom Verkauf der recycelten Materialien. Bis heute. Während Girgis, sein Vater und sein Bruder den Müll auf den Straßen Kairos einsammeln, durchwühlen seine Mutter und seine zwei nicht verheirateten Schwestern den Müll vom Vortag. Er ist im Erdgeschoss ihres eigenen Wohnhauses abgeladen worden. Die Räume sind gefüllt mit zahllosen grauen Säcken und Tüten mit buntem Inhalt. Die Einwohner dieses Viertels leben mit dem Müll. Ihr Viertel heißt medina zaballin, arabisch für »Müllstadt«. Aber sie leben nicht auf einer Müllkippe, auf der der Müll verrottet. Sie sortieren, reinigen, verarbeiten und verkaufen ihn. Was andere wegschmeißen, erwecken sie zu neuem Leben. Was andere nicht mehr beachten, heben sie hervor. Vielleicht wäre »Rohstoffproduzenten« ein besserer Begriff ihrer Berufsbezeichnung als »Zaballin«, die Müllsammler. Girgis’ Mutter und ihre Töchter sortieren zuerst den organischen Abfall aus, um ihn an ihre Tiere zu verfüttern. Sie besitzen Ziegen und Schweine, die sie in den Hinterhöfen ihrer Häuser halten und an Schlachtereien verkaufen. Dann sortieren sie den anorganischen Müll nach Karton, Glas, Plastik, Metall, Stoff und Knochen und füllen ihn in Säcke. Unzählige kleine Familienbetriebe in der Nachbarschaft kaufen den Müll und verarbeiten ihn weiter. Das Material wird weiter sortiert, gepresst, granuliert, gewaschen und getrocknet. Dabei variieren die Größe und die Aktivitäten eines Recyclingbetriebes. Einige spezialisieren sich auf einen bestimmten Prozessabschnitt, weil sie nur eine Maschine haben. Der eine hat eine Presse, der andere einen Häcksler. Manche können mehr investieren und vereinen verschiedene Stationen, um ihre Einnahmen zu erhöhen. Die Händler haben sich ebenfalls meistens spezialisiert, beispielsweise auf Plastik oder noch genauer: auf PET-Flaschen. Eine Woche benötigen sie, um ausreichend Material zum Weiterverkaufen zu haben. Die Reste werden zu Kairos Müllkippe gebracht. Es sind gerade mal 15 bis 20 Prozent des Mülls, die nicht recyclebar sind. So profitiert eine lange Kette von Girgis’ Funden. Sein Schwager ist im Plastik-Business tätig. Er kauft von Girgis und anderen Müllsammlern alte Joghurtbecher und wäscht sie in kochendem, mit Salz und Bleichmittel versetzem Wasser. Die geschrumpften und sauberen Becher verkauft er an den Besitzer eines Kunststoffhäckslers. Dieser schreddert die Becher zu Plastikstaub und verkauft ihn nach China. Dort werden Fleecejacken und Spielzeug daraus hergestellt, die vielleicht irgendwann wieder für die Oberschicht in Kairo zu kaufen sind. So könnte unbemerkt ein alter, weggeschmissener Joghurtbecher irgendwann ins Kinderzimmer und an die Garderobe zurückkehren. Und der große Kreis des Recyclings würde sich schließen. Girgis bündelt den Müll der ersten Stunden und wackelt mit einem riesigen grauen Müllsack auf seinem Rücken halb rennend, halb gehend in seinen Plastiklatschen die Straßen entlang. Dass der Rohstoff


Plastikbecher einmal ausgehen wird, ist nicht anzunehmen. Kairos Wachstum ist längst nicht mehr unter Kontrolle zu halten. Offiziell leben dort 7,9 Millionen Einwohner. Inoffiziell wird die Zahl auf bis zu 25 Millionen geschätzt. Die Megacity gehört weltweit zu den Städten mit der höchsten Bevölkerungsdichte. Denn die Siedlungsflächen in Ägypten sind begrenzt. Nur fünf Prozent der Landfläche sind bewohnt. Bis auf wenige kleine Oasen wohnen die Menschen im Nildelta und entlang des Nils, der Lebensader des Landes. Die Regierung ist hoffnungslos überfordert, Wohngebiete und Gebäude für ärmere Bevölkerungsschichten zu errichten. Stattdessen bauen die Menschen ihre Häuser selber, meistens auf wertvollem Ackerland. Da jedoch nur eine geringe Landfläche Ägyptens als Ackerfläche genutzt werden kann, hat diese Besiedelung dramatische Konsequenzen. Schätzungen gehen davon aus, dass 2025 fast die Hälfte des fruchtbaren Landes von Ägypten durch ungeplant entstandene Wohnsiedlungen besetzt sein wird. Wissenschaftler nennen diese Wohngebiete informelle Gebiete oder informelle Siedlungen, während manche der reichen Bewohner und Touristen schlicht Slums sagen. Mehr als die Hälfte der Bewohner Kairos, mindestens zehn Millionen Menschen, wohnen in diesen informellen Gebieten. Damit ist Kairo kein Einzelfall. Weltweit lebt bereits heute jeder sechste Erdbewohner in einem Slum, gut eine Milliarde Menschen. Da das globale Bevölkerungswachstum sich fast ausschließlich in den Städten von Entwicklungsländern ereignen wird, schätzt das Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen, die UN-HABITAT, dass im Jahre 2030 bereits zwei Milliarden Menschen in Slums leben werden. 2050 werden es dreieinhalb Milliarden Menschen sein, ungefähr jeder dritte Bewohner der Erde.

Eines dieser informellen Gebiete in Kairo ist Manshiet Nasser. Es liegt im Osten der Stadt, am Fuße der Mokattamberge, die schon als Steinbruch für die Pyramiden dienten. Manshiet Nasser hat laut Regierungszahlen 260.000 Einwohner. Tatsächlich leben dort mehr als eine Million Menschen. Weltweit Schlagzeilen machte Manshiet Nasser im September 2008, als sich große Gesteinsbrocken aus den Felsen lösten und unter sich mindestens hundert Menschen begruben. Dass eine Gefahr bestand, war dem Regierungsbezirk Kairo schon lange zuvor bekannt. Doch keiner unternahm etwas dagegen. Manshiet Nasser erstreckt sich über verschiedene Siedlungen. Girgis’ lebt mit seiner Familie in Mokattam, das mit geschätzten 60.000 Einwohnern die größte von sechs Recycling-Communities in Kairo ist. Das Haus von Girgis’ Familie ist wie viele andere nicht öffentlich registriert. Obwohl sein Vater für das Land bezahlt hat. Der informelle Wohnungsmarkt ist strikt organisiert, man kann in Eigenbesitz, zur Miete oder zur Untermiete wohnen. Alle Bewohner müssen Geld für ihre Unterkünfte zahlen, ob an Makler oder an Beamte, die sich nebenbei ein illegales Einkommen verschaffen. Trotzdem ist ihr Status illegal und sie könnten irgendwann aus ihrem Haus vertrieben werden. In den 1950er und 60er Jahren wurden die Zaballin mehrfach zwangsumgesiedelt. Eine dadurch ausgelöste subtile Ungewissheit herrscht bis heute. Bei den Gebäuden der informellen Gebiete Kairos handelt es sich nicht um Wellblechhütten, sondern um Steinhäuser, die mühevoll gebaut wurden. Fast alle Häuser sind aus grauen Betonpfeilern und roten Backsteinen errichtet. Die Betonpfeiler ragen oft mehrere Meter über das Gebäude hinaus in den Himmel; für den Fall, dass die



Familie sich vergrößert und ein weiteres Stockwerk gebaut werden Die Handelsbeziehungen reichen bis nach Europa und China, wie der muss. Khalil Shaat, Berater des Regierungsbezirks Kairo für informel- Joghurtbecher von Girgis’ Schwager zeigt. Girgis’ Familienunternehle Siedlungen und zugleich von der bundesdeutschen Gesellschaft für men ist vielleicht ein kleiner, aber dennoch sehr wichtiger Bestandteil technische Zusammenarbeit, GTZ, angestellt, sagt: »Manshiet Nasser der informellen Recyclingwirtschaft, die aus Sammeln, Transport, Rekann flächenmäßig nicht mehr wachsen, da es Richtung Osten durch paratur, Recycling, Verarbeitung und Handel besteht. Dieses infordie Stadt und Richtung Westen durch die Mokattamberge begrenzt melle System hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass es ist. Dadurch hat sich das Bevölkerungswachstum in Manshiet Nasser auf den Markt flexibel reagieren kann. Der informelle Müllrecyclingverlangsamt. Es findet heute nur noch in die Höhe statt. Die Bewoh- Sektor ist mit dem Bevölkerungswachstum stetig und organisch mitgewachsen. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Ökosystem. Und ner bauen auf ihre Häuser weitere Stockwerke.« Mokattam ist mit seinen etwa tausend Kleinbetrieben wahrscheinlich Wenn Girgis seinen Müll auf den Pick-Up geladen hat und sich auf­ die größte Anhäufung von informellen privaten Recycling-Betrieben richtet, sieht er die reichen Ägypter entlang der Geschäftsstraßen ge- auf der ganzen Welt. hen. Und schämt sich. Die Zaballin haben in ihrem Land einen schlechten Ruf. Sie halten als koptische Christen Schweine, die für Mittags macht Girgis mit seinem Bruder und Vater in einer Seitendie Moslems als unrein gelten. Sie haben einen Beruf, der kein Anse- straße von Downtown Pause. Die Sonne brennt senkrecht in die hen genießt. Ein gebildeter Jugendlicher will nichts mit dem Müll zu Häuserschluchten. Sein FC-Barcelona-Trikot ist nass geschwitzt. Sie tun haben. Die meisten gehen lieber in die Tourismusbranche. Auch essen ihren Bohnenbrei oder tameya, eine Art Falafel, und batatis, wenn die Menschen von Kairo es begrüßen, dass jeden Tag ihr Müll Kartoffelchips. Dazu trinken sie Wasser. Einen frisch gepressten Saft vor ihrer Haustür abgeholt wird, bekommen die Zaballin für ihre harte aus Orangen, Grapefruit oder Erdbeeren, den die vielen Läden an den Straßen anbieten, können sie sich in Downtown nicht leisten. Arbeit wenig Respekt. Mit einem Zaballin hat man nichts zu tun. Dabei hätte er guten Grund dafür, stolz auf seine Arbeit zu sein. Girgis Vater verdient 600 Pfund im Monat, was umgerechnet 80 Euro Und wären die Lebensbedingungen besser, dann hätte sein Tun weltwei- sind. Und ein Glas Saft kostet hier vier Pfund, die ungefähr 60 Cent ten Vorbildcharakter. Denn obwohl die Zaballin lokal handeln, reicht entsprechen. Vielleicht zum Feierabend einen asab, eine Art Limonaihr Recyclingsystem weit über Kairos Grenzen hinaus. So haben sich de, die aus gepresstem Zuckerrohr gemacht wird und nur ein Pfund in vielen Jahren erstaunliche Beziehungen zu anderen informellen kostet. Oft steht aber eine mit Leitungswasser gefüllte Kanne dort, aus und formalen Märkten im ganzen Land aufgebaut. Es wird nicht nur der sie sich kostenlos bedienen können. Oder sie trinken aus WasserMüll gesammelt, sondern auch bereits getrennter Müll von anderen hähnen, die entlang der Straßen zu finden sind. Dass Ägypten sich nicht zu dieser einfallsreichen RecyclingverFirmen, Institutionen sowie Mittelsmännern bezogen. Diese Handelsund Ver­arbeitungsnetzwerke ziehen sich übers ganze Land, von Assu- wertung stellt und sie nicht gegenüber anderen Staaten als einzigartig an im Sü­den bis hin nach Alexandria im Norden, vom riesigen Nil- im Bereich nachhaltiger Entwicklung und moderner RessourcensicheStausee bis ans Mittelmeer, in das der Nil mündet. Teilweise kaufen rung hervorhebt, zeigt, wie dieses Land gesehen werden will. Auf der staatlich anerkannte Firmen die recycelten Materialien der Zaballin. einen Seite steht die herausragende Geschichte der Pharaonen und


der Schreibkultur, die Architektur der Gräber und Kultstätten, die Schönheit der Oasen und Wüsten. Das Land lebt von diesen Schätzen und dem sich daraus ergebenden Tourismus. Im Jahr 2009 besuchten zwölfeinhalb Millionen Touristen das Land, um im Roten Meer bei Sharm El Sheik und Hurghada nach Korallen zu tauchen, auf den Sinai-Berg zu steigen oder die Tempel von Luxor und die Pyramiden von Gizeh zu bewundern. Und auf der anderen Seite ist die erschreckende Armut, mit der ein Pauschaltourist, wie es die meisten sind, nie in Berührung kommt. Reisebusse kippen ihre Leute unmittelbar vor den Sehenswürdigkeiten aus, um sie dann wieder zu ihrem Hotel oder Kreuzfahrtschiff zurückzubringen. Was mit ihrem vielen Müll geschieht, werden sie nie erzählt bekommen. Und vor allem niemals sehen. Girgis ist froh, dass die Sonne nicht mehr so stark brennt. Auf der Straße laufen Touristen mit Kameras vor ihren Bäuchen und sonnenverbrannten Gesichtern herum. Von Kairo sind viele Besucher enttäuscht. Abgestoßen vom Lärm, Staub und dem permanenten Gewusel überall. Sie wollen in die Sonne und Weltwunder aus alten Zeiten sehen. In der meist kurzen Zeit ist es ihnen fast unmöglich in diese aufregende Metropole mit ihren Millionen Überlebenskünstlern vorzudringen.

Und obwohl Touristen einen großen Bogen um Manshiet Nasser machen, kommen sie damit in Berührung. Denn einige Souvenirs werden dort hergestellt und anschließend am nur zwei Kilometer entfernten touristischen Basar Khan-el-Khalili verkauft. Auf dem bunten Markt buhlen die Händler um Kundschaft und feilschen um jedes Pfund. Viele der Rohmaterialien der Wasserpfeifen, Taschen, Tücher, Figuren und Schmuckkistchen sind aus den recycelten Ressourcen der Zaballin entstanden. Die Zaballin haben wiederholt versucht, wenigstens ihre Geschäfte staatlich registrieren zu lassen, um den unsicheren Status der Informalität hinter sich zu lassen. Doch bisher war es unmöglich, einen legalen Status zu erlangen. Die Behörden sperren sich gegen eine Anerkennung der vielen Kleinunternehmen im Recyclingsektor. Sie halten die Zaballin abhängig. 2002 schloss der Regierungsbezirk Kairo Verträge mit internationalen Müllentsorgungsfirmen aus Spanien und Italien ab, ohne einmal mit den Zaballin gesprochen oder verhandelt zu haben. Und nicht ein Cent wurde den Zaballin für ihre Arbeit gezahlt, trotz ihrer Zuverlässigkeit. Die Regierung orientiert sich lieber an der »modernen« Müllentsorgung westlicher Länder.


Girgis sieht vor sich seinen Vater den Müll auf den Pick-Up schleppen. Seine Bewegungen werden jedes Jahr langsamer. Wie lange wird die Familie noch von der Müllentsorgung leben können? Wird es reichen, um eines Tages die alten Eltern zu ernähren? Oder werden die internationalen Müllentsorgungsunternehmen Kairos Müllgeschäft kom­plett übernehmen? Werden Girgis und seine Geschwister einen anderen Job finden? Dass die Zukunft der Zaballin nicht aussichtslos ist, ist unter anderem Leila Iskandar zu verdanken. Sie kämpft gegen die staatliche Ungerechtigkeit. Die Sozialunternehmerin und international anerkannte Expertin für informelle Recyclingsysteme setzt sich seit vielen Jahren für die Rechte der Zaballin ein. Sie baut Schulen und versucht zwischen der Stadtverwaltung und den Zaballin zu vermitteln, um bessere Geschäfts- und Lebensbedingungen zu schaffen. Sie fand heraus, dass die Müllfirmen große Probleme hatten, Arbeiter zu bekommen. Besonders unter den seit Jahrzehnten an Selbständigkeit gewohnten Zaballin. »Sie lehnten ab«, weiß Leila Iskandar, »die Zaballin sagten: ›Wir sind Unternehmer. Wir sind Recycler. Glauben sie wirklich, wir gehen täglich raus um den Dreck zu sammeln, nur weil wir den Dreck lieben?‹ « Schlüssige Argumente für einen offenen Diskurs und sorgfältiges Nachdenken über die Zukunft der Müllentsorgung zu finden, ist nicht schwer. Die Stadtverwaltung riskiert, die direkte oder indirekte Existenzgrundlage von mindestens 200.000 Menschen in Kairo zu zerstören, die sich dann nach Arbeit und Essen werden umschauen müssen. Und sie sieht auch nicht, dass durch die zentral organisierte Müll­entsorgung dem produzierenden Gewerbe die recycelten Materialen als Rohstoffe fehlen werden. Des Weiteren betont Leila Iskandar, dass die angeheuerten internationalen Unternehmen neben einem wesentlich schlechteren Service nur eine Recyclingrate von 20 Prozent erreichen und den Rest verschwenderisch auf Müllkippen deponieren. Die Zaballin schaffen den umgekehrten Wert. Iskandar sagt »Man kann nicht einfach das zentral organisierte Müllverwertungssystem der reichen Länder des Nordens in den armen Ländern des Südens kopieren. Es funktioniert einfach nicht.« Etwa ein Drittel des gesamten Mülls der Stadt, wird derzeit noch von den Zaballin recycelt. Wie lange sie ihren Anteil noch halten können, ist unsicher. Die aktuelle Entwicklung erlaubt wenig Hoffnung, wie der Sommer 2009 zeigte. Die weltweite Aufregung um Schweinegrippe hatte für alle Schweinebesitzer Manshiet Nassers schwerwiegende Konsequenzen. Im Mai 2009 beschloss die Regierung, alle 250.000 Schweine der Zaballin zu töten. Die Tiere wurden aus den Hinterhöfen geholt und in die Wüste gebracht, wo sie massenweise umgebracht wurden. War die drohende Gefahr einer Seuche der Grund? Oder war die Schweinegrippe eine willkommene Chance, den Zaballin das Leben zu erschweren und zu zerstören? Leider hatte diese Aktion fatale Auswirkungen auch auf die Einwohner der Mittel- und Oberschicht Kairos. Die riesigen Müllberge, die sich anschließend in den Straßen dieser Megacity türmten, waren nicht zu übersehen. Die Hitze des Spätsommers glühte und überall verweste der organische Müll. Die Zaballin haben seitdem keine Schweine mehr, an die sie die Lebensmittelreste verfüttern und damit recyceln können. Der organische Müll hat kaum mehr einen Wert für sie.

Girgis fährt mit seinem Vater und Bruder im vollgeladenen PickUp nach Hause. Im Radio laufen die Hits von Amr Diab. Auf den Straßen schieben sich langsam hupende Taxis. Sie überholen einen Fahrradfahrer, der auf dem Kopf unzählige Brote auf einem langen Brett balanciert. Girgis schaut aus dem Fenster. Seitdem er sechs Jahre alt ist, macht er diesen Job. Er wurde nie gefragt, ob er eine andere Arbeit machen will. An manchen Tagen träumt er davon, studieren zu können. Oder dass er einmal in den nicht weit von Manshiet Nasser liegenden Al-Azhar-Park gehen könnte, der auf einer ehemaligen Müllkippe entstanden ist und fünf Pfund Eintritt kostet. Dass er sich dort mit einem Mädchen treffen und den Sonnenuntergang bestaunen könnte, während die Rufe der Muezzins über die nach der Tageshitze zum Leben erwachende Stadt erklingen. Er träumt davon, einmal weniger Kinder zu haben, um ihnen ein besseres Leben zu sichern. Dass er irgendwann mal ans Meer kann. Und manchmal träumt er einfach nur, dass er Anerkennung und Erleichterungen für seinen Job bekommt. Leila Iskandar kämpft für eine bessere Zukunft der jungen Zaballin. Damit sie Träume haben dürfen. Sie investiert in ihre Bildung. So schult sie die jungen Zaballin beispielsweise darin, Plastikflaschen unterschiedlicher Hygienemittel desselben Herstellers erkennen zu können. »Pert Plus, Pantene, Head&Shoulders – das sind die ersten Worte, die die Kinder in der literacy class im Sprachunterricht lernen.« Der Hersteller Procter & Gamble zahlt einige Cents pro Sack an die Zaballin. Dadurch entziehen sie Produktfälschern die Möglichkeit, gebrauchte Plastikflaschen von Procter & Gamble mit deren billigen Seifen abzufüllen. Das vermittelte Wissen soll praktisch anwendbar sein. Den Schülern wird beigebracht, Stadtkarten und Tabellen zu lesen. Ihnen wird beigebracht, Verträge auszuhandeln, ob mit den öffentlichen Behörden oder den internationalen Müllfirmen. »2015 oder 2017 werden die Verträge zur Müllentsorgung Kairos neu ausgehandelt. Wir hoffen, dass unsere Schüler dafür gerüstet sind. Vertragsverhandlungen sind Teil des Curriculums.« Nach 18 Stunden Arbeit auf den Straßen Kairos entlädt Girgis mit seinem Vater und Bruder den meterhoch beladenen Pick-Up. Sie tragen den Müll ins Haus. Dann fällt Girgis im Obergeschoss müde ins Bett. Sonntag ist der einzige Tag, an dem er nicht arbeitet. Er zieht seine schwarze Hose, ein frisches Hemd und seine glänzenden Lederschuhe mit den langen Spitzen an und geht zur Kirche. Danach isst er gemeinsam mit seiner Familie. Nur an diesem Tag gibt es Fleisch, meistens Hühnchen. Nach dem Essen besucht sich die Großfamilie gegenseitig. Und am Abend zappt sich Girgis durchs Programm, bis er bei Superstar-al-Arab im Fernsehen hängen bleibt. Er muss früh ins Bett. Um 5:00 Uhr geht sein Wecker.


Fallrückzieher Beim Sprung von einer 30 Meter hohen Brücke hat man knapp zwei Sekunden Zeit, um über sein Leben nachzudenken. Dann fällt man ins Seil. Hoffentlich. text: Stefanie Müller-Frank Illustr ation: Jeannette Corneille

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Auf langen Autofahrten mit meinen Eltern ergriff mich früher plötzlich der Impuls, einfach die Tür vom Rücksitz aufzureißen. Ich spürte den Plastikgriff zwischen meinen Fingern und fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich jetzt an ihm zöge. Würde mich der Fahrtwind erfassen und aus dem Auto reißen? Ein heißer Strahl schoss dann jedes Mal in meinen Magen, ließ mein Herz wummern, bis es mir in den Ohren rauschte. Jetzt, da ich zu Johannes und Tom ins Auto steige und auf den Rücksitz klettere, muss ich wieder daran denken. Alle vier Fenster des alten Ford Fiesta sind heruntergekurbelt, das Radio spielt entspannten Reggae. Die beiden jungen Männer könnten auch zum Surfen fahren: Johannes mit Muskelshirt und Sonnenbrille, die Dreadlocks zu einem dicken Zopf zusammengebunden. Tom mit seiner sonnenverbrannten Nase, auf der sich die Haut rosa abschält. Aber wir fahren nicht ans Meer. Die beiden nehmen mich mit auf eine Eisenbahn­ brücke, von der wir uns, an Seilen gesichert, in die Tiefe stürzen wollen. Ich kannte die beiden bis heute nur vom Telefon. »Schnall dich bitte an«, ruft mir Johannes noch über seine Schulter zu. Dann fährt er los. Ich frage mich, was ich hier auf diesem Ausflug, tief in der bayerischen Provinz, eigentlich zu suchen habe. Beweisen muss ich mir nichts. Das ist es nicht. Was dann? Der Kick? Ist mein Leben nicht aufregend genug? Trendforscher mei­ nen, dass unsere Gesellschaft zu abgesichert ist, dass wir im Alltag keinem Risiko mehr ausgesetzt sind und deshalb die Gefahr in der Freizeit suchen. Mir fällt eine Szene aus Fontanes Roman »Effi Briest« ein. Da sitzt die junge Heldin auf der Schaukel und behauptet, dass sie am liebsten in der Furcht schaukle, dass die Stricke reißen und sie zu Boden stürzen könne. Vielleicht, habe ich mir gedacht, sollte man die Stricke einfach mal ein wenig anschneiden. Johannes parkt das Auto versteckt hinter einem Brückenpfeiler, denn das, was wir vorhaben, ist illegal. Die Brücke gehört der Deutschen Bahn. Sie zu betreten ist verboten, von ihr zu springen natürlich auch. Idyllisch liegt sie in der Landschaft, spannt sich über einen mächtigen Fluss, an dessen Ufern dichter Wald die Hügel hinaufsteigt. Sobald der Motor abgestellt ist, höre ich nur noch

die Vögel. Und das Blut, das mir durch den Kopf rauscht. Geschätzte 30 Meter liegen die Glei­se über dem Wasser. Zum Glück habe ich mir einen Klettergurt geliehen. Johannes zeigt mir, wie ich ihn anlegen muss, ich habe noch nie einen getragen. Ich bin auch noch nie von einer Brücke gesprungen. Nicht, dass ich müsste. Ich habe die beiden gebeten, mich mitzunehmen. Und ich habe noch immer die Wahl, es mir anders zu überlegen. Wir klettern das Gerüst hoch bis kurz unter die Gleise und steigen auf ein Gitter, durch dessen Löcher wir den Fluss in der Tiefe da­ hinströmen sehen. Ein Geländer gibt es nicht. Ich konzentriere mich auf jeden Griff, jeden Schritt. Immer wieder muss ich innehalten und nach unten starren. Wie lange würde es dauern, bis ich unten auf dem Wasser aufschlage? Würde mich die Flut mitreißen und ans Ufer spülen? Ich zwinge mich, weiterzuklettern, die Anstrengung treibt meinen Puls in die Höhe. Besser als meine Angst, denke ich. Die Stahlträger sind mit Graffiti bemalt, sogar die Zeiten, wann ein Zug über die Brücke fährt, sind hier hingekritzelt. »Du siehst«, sagt Johannes und grinst, während er das Hauptseil um einen der Stahlträger fädelt, »wir sind nicht die Einzigen, die hierher kommen.« Das wundert mich nicht. Die massiven, v-förmigen Stahlpfeiler scheinen wie für diesen Zweck gemacht. Die Seile, die die beiden jungen Männer mitgebracht haben, sind Schwerlastschwingen mit einer Arbeitslast von 2,4 Tonnen. Die könnten zwei PKW aushalten. Und zur Sicherheit, erklärt mir Johannes, verwenden sie immer zwei unterschiedliche, voneinander unabhängige Seile: Das eine nimmt das Gewicht des Springers auf, das an­ dere ist die Notfallsicherung – falls doch was reißen sollte. Tom unter-­ bricht ihn. Er befürchtet, dass das Seil, so wie es jetzt festgemacht ist, an der Brücke scheuern könnte. Die beiden diskutieren kurz, dann ver­ längern sie lieber nochmal den Abstand. Ich dachte immer, die Formel lautet: Je höher das Risiko, desto größer der Kick. Johannes winkt ab und schaut noch nicht mal von dem Knoten auf, den er gerade knüpft. »So ein Unsinn, wir sind ja nicht lebensmüde.« Plötzlich wirft Johannes seinen Rucksack am Seil von der Brücke. Ich zucke zusammen und merke, dass ich ihm nur halb zugehört habe. Warum hat er das jetzt gemacht? »Na, um zu testen, ob das Seil auch nicht zu lang ist.« Es ist nicht zu lang. Der Rucksack baumelt mehrere Meter über dem Fluss. Viele offizielle Bungee-Sprung­ anlagen können sogar TÜV-Plaketten vorweisen. Dort wird das Körpergewicht des Springers gemessen, um genau zu berechnen, wie lang das Seil sein darf. Nämlich exakt so lang, dass der Springer schon glaubt, unten aufzuschlagen – aber dann doch noch kurz vorm Aufprall zurückgerissen wird. Im Sprung wird also genau das simuliert, was nicht passieren soll: Dass das Seil doch zu lang sein könnte, oder reißt – und man unten aufschlägt. Natürlich ist das äußerst unwahrscheinlich. Aber ein Restrisiko bleibt. Und das bedeutet im schlimmsten Fall das finale Aus. Für Johannes. Für Tom. Oder für mich. Unweigerlich muss ich nach unten in die Fluten schauen. 30 Meter. Das überlebt man nicht. Keine Chance. »Beim letzten Mal«, sagt Johannes, »sind wir mit den Füßen sogar ins Wasser eingetaucht. Aber das war nicht so geplant.«


Die beiden hatten vergessen, die Seildehnung mit zu berechnen. »Aber zum Glück sind wir nicht kopfüber gesprungen, wie beim BungeeJumping üblich, sondern mit den Beinen zuerst.« Der Effekt bleibt der Gleiche: Man simuliert seinen Sprung in den Tod. Denn in unserem Hirn gibt es einen Automatismus, der sich nicht ausschalten lässt. Sooft man sich auch zuredet, dass alles doppelt und dreifach gesichert ist, es hilft nichts. Das Gehirn wähnt sich in Lebensgefahr, der Körper schaltet in Sekundenbruchteilen auf Notfall um und schüttet Adrenalin aus. Ein Mechanismus, der uns früher einmal das Überleben sichern sollte: Das Herz schlägt schneller, wir können schneller atmen, schneller laufen – und so hoffentlich dem Löwen gerade entkommen, der uns auf den Fersen ist. Und die schwitzigen Hände? Mit denen, so vermuten Hirnforscher, hatten wir einen besseren Halt, um schnell auf den Baum raufzukommen. Blöd nur, dass uns das bei einer Prüfung – oder dem ersten Date – nichts mehr nützt.

Während Tom beginnt, sich einzugurten, erklärt mir Johannes die Sprungtechnik. Ich soll mit den Füßen zuerst springen, weil das angeblich weniger belastend ist für den Körper als sich kopfüber in den Abgrund zu stürzen. Okay, ist mir auch lieber so. Außerdem fängt mich dann mein Klettergurt wie ein Sitz auf. Klingt auch gut. Aber wie soll das bitte funktionieren, obwohl ich hier senkrecht von der Brücke runterspringe? »Na, weil das Seil unter der Brücke zu schwingen beginnt, du also nach dem Fall automatisch in einer Schaukelbewegung endest.« Und was, wenn ich mich in den Seilen verheddere? »Das passiert eigentlich nur, wenn du Saltos machst oder rückwärts springst.« Johannes grinst, aber ich fürchte, er meint es ernst. »Hast du das schon mal gemacht?« Er nickt. »Letztes Mal einen doppelten Salto, aber heute versuche ich einfach nur, frei zu springen.« Was heißt das denn nun wieder? »Mich nicht aus Angst an meinem Klettergurt festzukrallen.« Mir empfiehlt er allerdings meine Hände am Körper einzuhaken, damit kein Finger ins Seil gerät. Der wäre nämlich ab. Es ist soweit. Tom überprüft ein letztes Mal die Knoten an seinem Klettergurt und lässt den Stahlkarabiner mit einem lauten Klick ein-

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rasten. Er wird heute zuerst springen. Um besser sehen zu können, klettern Johannes und ich von der Brücke auf einen der Betonpfeiler. Als ich einmal kurz mit dem Fuß ausgleite, fährt mich Johannes an: »Konzentrier’ dich gefälligst!« Verdutzt schaue ich ihn an, dann fangen plötzlich meine Knie an zu zittern. Mir wird zum ersten Mal klar, was wir hier eigentlich machen. »Du darfst jetzt noch keine Angst haben.« Johannes reicht mir die Hand und zieht mich runter auf den festen Betonboden. »Erst kurz vor dem Sprung darfst du dir erlauben, Angst zu haben. Sonst kannst du den Aufbau nicht sicher vorbereiten.« Tom gibt uns ein Handzeichen, nimmt Anlauf und ein gellender Schrei ertönt. Tom stürzt in die Tiefe. Mein Herz setzt aus. Knallt er nicht gleich gegen den Brückenpfeiler? Aber schon greift das Seil und lässt ihn wie auf einer Schaukel unter der Brücke ausschwingen. Tom fängt laut an zu lachen und zu kreischen. Das Echo hallt weit durch das Flusstal. »Sobald du merkst, dass das Seil greift, fängt alles im Körper an zu jubeln.« Johannes lacht erleichtert und klatscht in die Hände. »So als ob tausend Schmetterlinge in deinem Bauch eine Party feiern.« Aber vorher muss es doch furchtbar sein. »Klar«, sagt Johannes, »man denkt, gleich ist alles zu Ende.« Es sind nur ein bis zwei Sekunden. Zwei Sekunden freier Fall, in denen der Körper wie schwerelos in die Tiefe rast. Zwei Sekunden Todesangst. Erst dann – wenn das Seil zurückschnurrt, die Gefahr überwunden und alles gut gegangen ist – schlägt die Angst in Glück um. In die irre Freude darüber, überlebt zu haben. Ist das nicht paradox? Das Leben aufs Spiel zu setzen, um sich lebendig zu fühlen? Eine Wette mit Gott. Und um einen verdammt hohen Einsatz. Ist es das wert? Andererseits heißt es aber auch: Wer wagt – gewinnt. Und wer nichts wagt, der hat schon verloren. Vielleicht, denke ich, ist genau das der Reiz an all den Mutproben von Bungee Jumping bis Russisch Roulette. Der Gegner ist klar: Die eigene Angst. Entweder ich springe jetzt da runter oder ich lasse es sein. Eine dritte Alternative gibt es nicht. »Tu was du fürchtest, und die Furcht stirbt.« Johannes nickt mir aufmunternd zu, während er in seinen Klettergurt steigt und ihn an der Hüfte festzieht. Er ist als nächstes an der Reihe. Sein Lächeln wirkt leicht verkrampft. »Das ist nicht dein Ernst, oder?« rutscht es mir raus und sofort schäme ich für meine Frage. Aber ich will es wirklich wissen. Und Johannes ist jenseits von Koketterie, er schaut mir direkt in die Augen. »Es ist wie eine Wand, die vor dir steht. Aber über diesen Reflex musst du drübergehen.« Alles in meinem Körper protestiert. »Wa­ rum um Himmels willen? Warum musst du unbedingt da durch?« Jetzt lacht er offen. »Weil ich die Belohnung danach kenne.« Und wenn er gesprungen ist, dann bin ich an der Reihe. Der Countdown läuft. Was für eine einsame Entscheidung, denke ich. Zu bestimmen, jetzt genau ist es soweit. Jetzt springe ich. Man wird ja nicht – wie beim Fallschirmspringen – aufgefordert, endlich die Maschine zu verlassen. Woher soll ich also wissen, wann die Zeit gekommen ist? Plötzlich donnert ein Zug über unsere Köpfe hinweg. Ein Waggon nach dem anderen rattert über die Brücke, kleine Schottersteine fallen zwischen dem Eisengitter durch. Schützend halte ich meine Hand über die Augen. Dann ist es wieder still. Ich höre, wie Johannes tief durchatmet. »Ich mach’s kurz und schmerzlos,« sagt er, nimmt zwei Schritte Anlauf – und springt. In dem Moment weiß ich, dass ich nicht springen werde. Ich habe genug Angst in meinem Leben.


Abpfiff Finale, das kรถnnen wir. Keine Nation stand รถfter im Endspiel der Weltmeisterschaft als Deutschland. Das Schicksal bemerkt uns immer erst kurz vor Schluss. Also bitte alle mal zusammenreiร en, wir drehen das Spiel noch, in den letzten Minuten.


Elfmeterkiller


Der Mensch hat eine Aufmerksamkeitsspanne von 90 Minuten. Danach müssen Ergebnisse her! Zur Not ändern wir einfach die Regeln. text: Sebastian Pranz

Das Ende wird im Jahr 1970 erfunden. Auf der Vollversammlung des Bayrischen Fußball-Ver­ban­ des in München fasst sich Karl Wald ein Herz und bittet die versammelten Funktionäre um Ge­ hör. Der Schiedsrichter aus dem bayrischen Penz­ berg ist mit einer Idee angereist, die den Fußball verändern wird. Sie passt auf ein Blatt Papier. In ihrem Kern besagt sie, dass bei einem Entscheidungsspiel, das unentschieden endet, der Sieger durch Schüsse von der Strafstoßmarke ermittelt werden darf. Heute sprechen wir vom Elfmeterschießen und denken dabei an vergossene Tränen, verschüttetes Bier und plötzlichen Jubel. Wir den­ ken an Italien 1990, als Olaf Thon Deutschland ins Finale schießt und sich auf den Straßen ein vereintes Volk in den Armen liegt. Im Sitzungssaal des Bayrischen Fußball-Verbandes ist man sich zunächst nicht sicher, was man denken soll. Der Vorsitzende versucht, den Vorschlag vom Tisch zu wischen und zur Tagesordnung überzugehen. Karl Wald wird eindringlicher und erhält von den anwesenden Schiedsrichtern spontanen Applaus. Schließlich zieht sich der Spielausschuss zu einer Beratungspause zurück und entscheidet positiv. Das »Schießen von der Strafstoßmarke zur Ermittlung eines Siegers« erobert von Bayern aus den Deutschen Fußball und wird im Jahr 1976 auch von der FIFA anerkannt. Vor dem Elfmeterschießen war der Fußball ein anderes Spiel. Konnte eine Entscheidung nicht innerhalb der regulären Spielzeit herbeige­führt werden und brachte auch ein kurzfristig anberaumtes Wiederholungsspiel keinen Sieger hervor, ließ man das Los entscheiden. Das perfekt austarierte System des Wettkampfes, in dem immer der Stärke­ re gewinnt, wird durch das Glück aus dem Gleich­ gewicht gebracht. Die Annalen sind voll von tragischen Helden und unverdienten Siegern. Voller erbitterter Kämpfe, an deren Ende der Zufall größer ist als die Leistung. Besonders hart hat das Schicksal im Jahr 1965 in Rotterdam zugeschlagen. Der 1. FC Köln steht im Viertelfinale des Eu-

ropapokals der Landessieger dem FC Liverpool gegenüber. Zwei vorhergehende Spiele endeten bereits mit 0:0, die dritte Begegnung musste einmal wegen Regens verschoben werden. Im Entscheidungsspiel läuft es nicht gut für den FC – ein Führungstreffer, den Stürmer Heinz Hörnig in der Verlängerung erzielt, wird nicht anerkannt. Als es nach 120 Minuten 2:2 steht wirft der Schieds­ richter die Münze. Das Geldstück bleibt senkrecht im nassen Schlamm stecken. Nach einem weiteren Wurf ist der FC Liverpool im Halbfinale. Das Schicksal ist kein guter Berater. Und erst recht kein Kölner. Der Fußball ist seit der Einführung des Elfmeterschießens kein gerechteres Spiel geworden. Im Duell zwischen Torwart und Schützen entscheiden nicht selten die besseren Nerven. Aber an der Geschichte des Spielendes kann man ab­­lesen, welches Spiel wir sehen möchten. Wir glauben an die Leistung und die Strategie, den schönen Fußball und die menschliche Größe. Und das perfekte Maß für diese Tugenden sind nun mal 90 Minuten. Dieser Rahmen markiert den Unterschied zwischen Vorher und Nachher, zwischen Sieger und Verlierer. Keine Grauzonen, keine Hintertüren: Der Fußball ist ehrlich, das Leben ist es nicht! Die Geschichte des Endes geht übrigens weiter. Vor Kurzem hat Bayern-Trainer Louis van Gaal einen neuen Vorschlag unterbreitet. Während der Verlängerung werden im Fünfminutentakt Spieler vom Feld genommen. Am Schluss stehen sich Teams von je sechs Spielern gegenüber. Van Gaal spricht vom Gladiatorenspiel. Ob sich der Vorschlag durchsetzen wird, ist unklar. Aber man weiß nie. Heldengeschichten haben immer ein gutes Ende. Linke Seite: Jens Lehmann vertraut im Elfmeterschießen des Viertel­ finales der WM 2006 lieber auf die Statistik als sich auf sein Glück zu verlassen. Auf dem Zettel, den Torwarttrainer Andreas Köpke ihm zugesteckt hat, stehen die Schussvorlieben der argentinischen Spieler. Lehmann hält zweimal und Deutschland ist im Halbfinale. Dort verliert die Nationalelf gegen Italien. (Bild: imago/Sven Simon)


‘n abend allerseits! Heribert Faßbender ist der schnellste deutsche Kommentator. Zum Termin kommt er allerdings mit leichter Verspätung, weil es in Köln-Ehrenfeld mal wieder keine Parkplätze gibt. Ein Gespräch über die schönste Arbeit der Welt. Interview: Markus Kuhlen Illustr ation: Uli Knörzer

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Herr Faßbender, spielen Sie für uns doch mal Orakel: Was wird der erste Satz sein, den der TV-Reporter nach Abpfiff des WM-Finales in Johannesburg sagt? Hoffentlich: Die erste WM in Afrika war ein voller Erfolg. Die Südafrikaner waren prima Gastgeber. Wahrscheinlich: Mit Europameister Spanien wurde das beste Team der vergangenen Jahre nun auch Weltmeister.

Im Original kommentierten sie damals: »Da kommt der Ball auf Müller, der dreht sich um die eigene Achse, schießt und Toooor.« Für diesen Moment Fußballgeschichte haben sie gerade mal 2,2 Sekunden benötigt – und sind einer wissenschaftlichen Untersuchung nach der schnellste deutsche Kommentator. Das hat mich damals überrascht. Ich habe mich nie für einen Schnellsprecher gehalten. Aber an diese Szene erinnere ich mich genau, die habe ich heute noch drauf – in der Geschwindigkeit aber wohl nur nach drei Espressi.

Können Sie sich erinnern, was ihr erster Satz nach Deutschlands WM-Sieg 1974 war, den sie ja im Radio kommentiert haben? Nein. Aber ich kann mich natürlich noch an die Szene zum entscheidenden Tor erinnern: Bonhof bekommt den Ball auf rechts, flankt in die Mitte zu Müller, der dreht sich und schießt das 2:1.

In Hörfunk und Fernsehen haben Sie sieben WM- und EM-Finalspiele kommentiert. War 1974 für Sie der Höhepunkt? Sportlich gesehen war 1974 natürlich der Höhepunkt. Weltmeister im eigenen Land, das ist nicht zu toppen. Die Euphorie hielt sich allerdings in Grenzen – anders als 1954. Damals lag sich eine ganze Nation in den Armen. Für einige Politologen und Historiker war das die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik.

Abpfiff


Wie sind denn ihre Erinnerungen an das Finale 1954? Damals war ich 13 Jahre alt. Mit Klassenkameraden ging ich zu einem Bauern, den ich eigentlich gar nicht richtig kannte. Aber der besaß eine große Fernsehtruhe. In seinem Wohnzimmer waren bestimmt 60 Menschen, und ganz vorne war noch ein Platz frei. Da habe ich mich hingehockt. Ich saß zwei Meter vor der Truhe – und habe das dritte Tor von Helmut Rahn sozusagen hautnah erlebt. Das WM-Finale vor dem Fernseher ist eine Situation, die wohl jeder kennt. Sie hatten das Privileg, Endspiele vor Ort kommentieren zu dürfen. Nehmen Sie uns doch mal mit in die Reporterkabine. Wie sah es auf Ihrem Tisch aus? Übersichtlich. Das Wichtigste waren die Mannschaftsaufstellungen in numerischer Reihenfolge, auf denen ich mir die wichtigsten Fakten notierte. Nach den obligatorischen Gesprächen mit den Trainern hatte ich die taktischen Aufstellungen im Kopf. Also keine Berge an Notizzetteln? Die gab es bei mir nicht. Als Radioreporter war ich übrigens in der Regel allein, außer bei großen Endspielen. Beim Fernsehen saß meistens ein geschätzter Kollege neben mir, aber keiner, der mir Überflüssiges aus der Datenbank erzählt hat. Auch kein Schiedsrichter, der bei Regelfragen soufflierte. Und wie haben Sie sich am Tag eines Finales auf das Spiel vorbereitet? Wie sah zum Beispiel der Tagesablauf beim Endspiel 1974 aus? Ich weiß noch, dass ich in München im Hotel Vier Jahreszeiten untergebracht war. In demselben Flügel, in dem die Fürstenfamilie von Monaco wohnte. Am Vorabend des Finales habe ich ausführlich mit dem damaligen Nationaltrainer Helmut Schön sprechen können. Auch die Pressekonferenz der Niederländer war Pflichtprogramm, Smalltalk mit Rinus Michels inklusive. Am Spieltag selbst hatte ich dann telefonischen Kontakt mit dem DFB -Pressesprecher, um letzte Infos zu erfahren. Und dann habe ich versucht, 30 Minuten Mittagsschlaf zu halten. Dabei durfte mich niemand stören. Danach war es wichtig, sehr früh zum Stadion zu fahren, früh am Reporterplatz zu sein, eine Stunde vor Spielbeginn das Mikro zu überprüfen. Nach dem Spiel ist man natürlich aufgekratzt. Essen mit Freunden, Nachkarten, auch das ein oder andere Getränk. Irgendwann kippt das aber, bei mir so nach drei bis vier Stunden. Da ist die Birne plötzlich leer. War das dann für Sie ein reiner Arbeitstag? Oder waren Sie auch Fan? Das Endspiel habe ich richtig genossen, Fan war ich als Reporter nie. Natürlich habe ich mich für die Teams gefreut, wenn sie Erfolg hatten. Zum Beispiel wie am Anfang meiner Reporterlaufbahn, als die Mönchengladbacher Fohlen mit Günter Netzer zahlreiche Titel sammelten. Und wie war die Beziehung zwischen dem Spieler Günter Netzer und dem Reporter Heribert Faßbender? Obwohl wir uns privat duzten, waren wir am Mikro per Sie. Bei einem seiner ersten Interviews hat er geantwortet: Ich bin sehr dankbar, dass Sie mir diese Frage stellen. Das schmeichelt. Als er das beim nächsten Mal wieder sagte, habe ich gestutzt. Und als ich den Satz später in einem Interview mit einem Reportkollegen gehört habe, habe

ich gedacht: Junge, dich hab ich durchschaut – aber auch weiterhin geschätzt. Ich habe Günter Netzer dann ja auch bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 als WM-Analysten zur ARD geholt. Wie kann man sich denn generell das Verhältnis zwischen Medien und Sportlern in der damaligen Zeit vorstellen? War ein Reporter damals näher dran? Ich erzähle ihnen mal ein Beispiel. Beim Europapokal-Halbfinale Borussia Dortmund bei West Ham United 1966 hatte ich in London den Pressebus verpasst. Dann hielt der Mannschaftsbus der Borussia neben mir und Dortmunds Trainer Willi Multhaup steckte den Kopf aus dem Fenster: »Heribert, fahr mit uns.« Ich saß dann zwischen Siggi Held und Lothar Emmerich, der in den letzten Minuten des Spiels zwei Tore beim sensationellen 2:1 der Borussia schoss. Eine solche Mitfahrgelegenheit ist für heutige Reporter nicht mehr drin. Hat es früher mehr Spaß gemacht? Es ist heute schwieriger geworden, nah ranzukommen und eine Vertrauensbasis aufzubauen, weil es viel mehr Sportjournalisten gibt. Der Mediendruck für alle Beteiligten ist heutzutage viel größer. Hat sich mit der Vielzahl der Journalisten denn auch die Qualität geändert? Das ist eine gute Frage. Mit der Antwort sollen sich meine Nachfolger auseinandersetzen.

Das Endspiel habe ich richtig genossen.

Wir können kein Interview mit Ihnen führen, ohne über Ihr großes Markenzeichen zu reden: das »‘n Abend allerseits«. Woher kommen diese Worte? Haben Sie sich zu Hause in ein stilles Kämmerlein gehockt und überlegt, wie sie möglichst pfiffig die Sportschau eröffnen können? Ach was. Vor meiner Zeit als WDR-Sportchef war ich drei Jahre lang Leiter des WDR-Landesstudios Düsseldorf mit einer eigenen landespolitischen Sendung: »Blickpunkt Düsseldorf«. Die lief nach der Sportschau und dauerte nur 15 Minuten. Ich wollte eine möglichst knappe Begrüßung, die alle anspricht: Groß und Klein, Jung und Alt, Männlein und Weiblein. Im Rheinland sagt man »‘n Abend zusammen«, das war mir zu salopp, also wurde es zum »‘n Abend allerseits«. Ich habe nie behauptet, das sei besonders originell. Es ist eine Begrüßungsfloskel, auf die es eine erstaunliche Resonanz gab. Also blieb es bei »‘n Abend allerseits«. Der Satz blieb bei den Menschen hängen. Faßbender und »‘n Abend allerseits« sind fest miteinander verbunden. Ja, das blieb hängen. Noch heute begrüßen mich wildfremde Menschen auf der Straße, in der Kneipe oder im Stadion mit »‘n Abend allerseits«.


Dieses Markenzeichen hat auch dazu geführt, dass sie als Sportreporter einen enorm hohen Bekanntheitsgrad erreicht haben. Das ging sogar so weit, dass namhafte Kollegen gedacht haben, ich würde jedes Wochenende die Sportschau moderieren. Dabei habe ich das im Schnitt nur einmal im Monat gemacht, samstags und sonntags. Der Samstag gehörte überwiegend dem Fußball, der Sonntag den anderen Sportarten. Im Urlaub traf ich mal an einem Samstagnachmittag auf unserer Ferieninsel Juist den damaligen NDR-Programmdirektor Jürgen Kellermeier. Der hat mich ganz entgeistert gefragt: »Mensch Herr Faßbender, müssen Sie nicht zur Sportschau?« Verbunden mit dem hohen Bekanntheitsgrad war auch viel Kritik. Als klar war, dass sie 2002 noch mal die WM machen, sprach eine Zeitung vom »WM-Schock«. Wie steckt man das weg? Wenn einer wie ich mehr als 40 Jahre im Radio und im Fernsehen am Mikrofon war, dann muss er damit rechnen, dass es neben vielen anderen auch Leute gibt, denen das nicht – oder nicht mehr – gefällt. Damit hatte ich kein Problem. Ärger gab es auch 1990 nach dem legendären Achtelfinalspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden. Frank Rijkaard spuckte Rudi Völler an, am Ende der unübersichtlichen Szene sehen beide die Rote Karte. Und Sie haben in Bezug auf den argentinischen Schiedsrichter gesagt: »Schickt den Mann in die Pampa.« Guter Mann, das ist 20 Jahre her! Für diese Reportage gab es zunächst viel Zustimmung mit dem Tenor: »Endlich einer, der Klartext redet.« Dann gab es eine gewisse Aufgeregtheit, weil sich ein weithin unbekannter Staatssekretär damals offensichtlich profilieren wollte. Darauf sprangen dann einige Zeitungen. Die Fakten haben aber Millionen Menschen damals im Fernsehen gesehen. Frank Rijkaard hat Rudi Völler in den Nacken gespuckt. Damals gab es schon den Vorläufer zur heutigen Superzeitlupe. Man sah, wie dieser rotierende gelbe – Verzeihung! – »Rotz« bei Völler in den Nacken fliegt. Der argentinische Schiedsrichter Loustau stand ganz in der Nähe. Er zeigte Täter und Opfer rot. Übrigens: Die Pampa ist das wirtschaftliche Kernland Argentiniens, das ich seit der WM 1978 kenne. Wo ist das Problem? Chauvinismus war nie meine Sache. Sie haben viel erlebt. Wann schreiben Sie Ihre Biografie? Schau’n mer mal.

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Was würde man denn über den ganz jungen Heribert Faßbender lesen? Sind Sie mit dem Ball durch die Straßen gerannt, oder haben Sie am Rand gestanden und kommentiert? Von Kommentieren keine Spur, als kleiner Junge wollte ich immer selbst Fußball spielen. Mein erstes Idol war Fritz Walter, den ich bei meiner ersten Fußballweltmeisterschaft 1966 in Großbritannien persönlich kennenlernen durfte. Beim Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft 1951 zwischen Preußen Münster und dem 1. FC Kaiserslautern tippten sie bei uns in Nordrhein-Westfalen alle auf den Münsteraner Supersturm. Ich allerdings habe auf die WalterBrüder gesetzt. Der Mann beim Toto hat mir noch dringend davon abgeraten. Aber der 1. FC Kaiserslautern wurde Deutscher Meister – (schmunzelt) sie erkennen also meine seherischen Fähigkeiten. Ihr Weg zum Sport war aber nicht ganz gradlinig. Sie haben zunächst Rechtswissenschaften studiert, bevor es mit dem Fußball richtig losging. Wie war denn Ihr Weg auf den Reporterstuhl? Ich wollte damals Anwalt oder Diplomat werden. 1963 lernte ich dann beim Sportpressefest in Dortmund Kurt Brumme kennen, den späteren Hörfunksportchef des WDR. Der fragte mich, ob ich Lust hätte, mal eine Probereportage zu machen. Ich hatte! Also durfte ich mich zehn Minuten beim Spiel Borussia Dortmund gegen Rot-Weiß Oberhausen ausprobieren. Ein paar Tage später rief Brumme mich an und schickte mich zu meiner ersten Live-Reportage von Schalke gegen den 1. FC Köln. Das war noch zu Zeiten der alten Oberliga West. Ihr erstes Spiel am Mikrofon. Sie müssen sich doch wahnsinnig gefreut haben. Zunächst mal hatte ich ein Problem. Dummerweise musste ich an diesem Mittwoch an der Münchener Uni eine Strafrechtsklausur schreiben. Also bin ich mittags mit meinem Fiat 500 mehr als 600 Kilometer nach Gelsenkirchen gefahren. Ich kam »auf den letzten Drücker«. Der Pförtner hat mich erst gar nicht wahrgenommen. Als ich ihm den großen Passierschein gezeigt habe, hat er nur gefragt: Wo hast Du den denn geklaut? Schließlich durfte ich doch über eine Leiter auf das baufällige Stadiondach klettern. Dort stand dann ein Mikrofon für meine erste Radioreportage. Der 1. FC Köln hat das Spiel durch ein Tor von Hans Schäfer kurz vor Schluss mit 1:0 gewonnen. Mein juristisches Staatesexamen habe ich trotzdem bestanden.


Und ihr letztes Spiel am Mikro? Das war das WM-Halbfinale 2002 Deutschland gegen Südkorea. Südkorea war taktisch und konditionell gut, sie hatten Guus Hiddink als Trainer. Meiner Meinung nach auch heute noch einer der besten Trainer der Welt. Ihr letzter TV-Auftritt war die Abschlussfeier der Olympischen Spiele 2004. Ein sehr emotionaler Moment für Sie? Das hatte ich so geplant. Danach war ich noch zwei Jahre WDR-Sportchef und 2006 ARD -Teamchef für die Fußball-, Reit- und Hockeyweltmeisterschaften. Knapp 44 Jahre beim WDR waren eine tolle Zeit. Und was machen Sie heute? Jetzt habe ich wieder mehr Zeit, selbst Sport zu treiben: Joggen, Tennis und neuerdings Golf – und für die Familie. Ich muss mir nichts beweisen, aber ich möchte etwas zurückgeben: in der Sportstiftung NRW und – einer WDR-Tradition folgend – als Präsident des Verbandes Westdeutscher Sportjournalisten. Auf Einladung der Chinesen habe ich das Olympische Komitee von Peking beraten. Auf Initiative des südafrikanischen Botschafters in Berlin war ich zu Beratungsgesprächen in Südafrika. Hier und da halte ich Vorträge oder übernehme eine Moderation – aber alles in Maßen. Und dann bin ich noch im Gesellschafterausschuss von Bayer 04 Leverkusen. So sind Sie dem Fußball also treu geblieben? Bei Bayer schließt sich der ein oder andere Kreis. Beispielsweise zu Rudi Völler, der dort Sportdirektor ist. Aber auch zu Bernd Schneider. Dem hab ich beim WM-Spiel Deutschland gegen Paraguay 2002 ja mal ein Tor geschenkt. Bernd hatte einen Freistoß geschossen, der von einer durchsichtigen Plastikwand hinterm Tor gegen das Netz knallte. Wie Tausende andere im Stadion dachte ich, der Ball ist drin und rief: »Tooor.« Dann sah ich, dass der Ball von außen ans Netz gegangen war. Ich habe mich sofort korrigiert und gehofft, dass jetzt keiner aus dem Bett gefallen war. Aufgrund der Zeitverschiebung war es in Deutschland ja gerade mal früher Samstagmorgen. Vielleicht ist mir das auch passiert, weil ich dem bescheidenen Bernd den Treffer gegönnt hätte. Der hat 2002 eine riesige WM gespielt. Damals waren Sie Reporter, heute sind Sie Beteiligter: Erleben Sie Fußball jetzt anders?

Rudi Völler hatte es mir damals prophezeit: Du wirst Fußball jetzt aus einer ganz anderen Perspektive erleben. All die Jahre war ich nah dran, aber ich wollte als Reporter nie dazugehören. Immer dabei, aber nie dazugehören: Diese Devise teile ich mit Hanns-Joachim Friedrichs. Jetzt erlebe ich, wie viel von einem Sieg abhängen kann. Da ist die Distanz dann weg. Wie schauen Sie denn die Fußball-WM? Wenn ich im Lande bin, zu Hause oder mit Freunden auf einem schönen 16:9-Fernseher, vielleicht schon digital. Im Wohnzimmer oder im Arbeitszimmer, wenn meine Frau etwas anderes sehen möchte. Die WM ist immer noch etwas ganz besonderes, da schaue ich bestimmt auch manche Spiele mit Freunden.

All die Jahre war ich nah dran, aber ich wollte als Reporter nie dazugehören. Herr Faßbender, zu Beginn haben Sie uns vorausgesagt, dass Spanien Weltmeister wird. Jetzt müssen Sie uns aber auch verraten, wie weit Deutschland kommt. Das ist schwierig, wir haben eine Mannschaft mit vielen Fragezeichen. Ich sag mal, wir überstehen die Vorrunde, dann haben wir einmal Losglück, und danach müssen wir beweisen, dass wir eine Turniermannschaft sind – am besten bis ins Endspiel.

Heribert Faßbender, Jahrgang 1941, ist das Urgestein der deutschen Fußballberichterstattung. Er war von 1982 bis 2006 Sportchef des WDR, moderierte 20 Jahre lang die Sportschau, saß bei neun Endspielen von WM und EM am Mikrofon. Die Fans erkannten ihn immer schon an den ersten Worten: »‘n Abend allerseits«.


Einer geht noch! Eine Ode an den Nachtisch text: Isabel Lezmi

»Nein danke, ich nehme nur einen Espresso.« Mit diesem Satz bringt man jedes Menü um seinen krönenden Abschluss. Nichts gegen den starken italienischen Kaffee, aber ein fulminantes kulinarisches Finale sieht definitiv anders aus. Um das süße Erlebnis treffend zu beschreiben, müssen wir sprachlich allerdings bei unseren Nachbarn wildern. Das französische Dessert zergeht auf der Zunge wie eine Crème brûlée – anders als der Nachtisch. Ein gutes Dessert ist immer ein Gaumenschmeichler am Ende einer langen Menüfolge. Nach einer Vorspeise, einem deftigem Hauptgang und vielleicht auch noch diversen Zwischengängen, besteht die Kunst darin, die Lust am Essen bis zum Letzten zu erhalten. Beim Dessert kommt das unersättliche Geschmackszentrum voll auf seine Kosten: Es darf cremige Mousse au Chocolat am Gaumen schmelzen lassen, locker leichten Biskuit kosten und kühles Sorbet schlecken. Genießerisch langsam schmeckt man sich durch Gefüllte Zwetschgen mit Gewürztraminersabayon und Walnuss-Krokanteis oder Marinierte Ananas kreolische Art mit gefülltem Schokoladenkrokant und Wodka-Limonensor­bet. Eilig hat es niemand mehr, denn der Magen fordert schon lange nicht mehr knurrend Nach­schub. Löffel- und häppchenweise geht das deshalb am besten. Aus diesem Grund kommen die meisten Desserts in Miniaturformat daher und präsentieren sich als kostbare Kleinigkeiten. Ein ambitionierter Dessertteller hat immer einen

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hohen ästhetischen Anspruch. Er will nicht nur schmecken, sondern auch gut aussehen. Es wird filigran getürmt, kreativ drapiert und sensibel kombiniert, damit das Dessert auch optisch ein Genuss ist. Während der Koch beim Hauptgang mit Fleisch farblich an krosses Braun oder wahlweise zartes Rosé gebunden ist, reicht die Farbpalette beim fruchtigen Dessert von Kirschrot über das leuchtende Gelb reifer Mangos bis hin zum dunklen Lila sommerlicher Heidelbeeren. Doch das Obst ist erst der Anfang: Baiser, Parfait, Sorbet, Soufflé, Mousse, Pudding, Crêpes, Törtchen, Sirup und Kompott sind die schönsten Herausforderungen für unsere Geschmacksnerven. Dabei kann uns allein schon der Name einer Nachspeise anmachen. In die klangvolle Sabayon möchte man am liebsten gleich eintauchen, während bei der Übersetzung lockere Weinschaumcreme mit Marsala der Dessertlöffel nur verhalten zuckt. Auch die Paradiescreme verführt uns zuallererst mit Worten. Die zuckersüße Welt des Desserts bietet eine Fülle an intensiven Geschmackserlebnissen. Italienische Panna cotta, österreichische Topfennockerln, englisches Trifle, französische Crème brûlée, deutscher Grießpudding bieten eine ge­schmack­volle Reise durch Europa. Und wer einmal davon gekostet hat, weiß, dass ein Espresso kein Dessert ist! Er ist wie der Schnaps und das Likörchen ein ›spätes‹ Getränk und taugt somit als kulinarisches Schlusslicht. Ein Espresso ist der perfekte Begleiter zu einem echt süßen Finale.


Erfolgsrezepte Oliver Schneider hat sich schon mal in der Küche der potenziellen Turniersieger umgeschaut. Vier Favoriten und ein Heimspiel. rezepte: Oliver Schneider Illustr ationen: Franca Neuburg

Brasilien

Tarta Paulista Löffelbiskuits 1 Dose Milchmädchen (gezuckerte Kondensmilch) ½ l Milch 3 Eier 250 g

Kakaopulver 8 EL Zucker 200 ml Crème fraîche Saft von einer halben Zitrone

1 EL

In einem Topf Milchmädchen, die Eigelbe und die Hälfte der Milch verrühren, zum Kochen bringen und ununterbrochen weiterrühren. Ein paar Minuten kochen lassen. Die Creme in eine Glasform gießen und die Löffelbiskuits dicht beieinander darauf legen. Den Rest der Milch mit dem Kakao vermischen, zum Kochen bringen und über die Löffelbiskuits geben, um sie anzufeuchten. Die Eiweiße steif schlagen, nach und nach den Zucker und zuletzt die Crème fraîche mit dem Zitronensaft dazugeben. Auf den abgekühlten Löffelbiskuits gleichmäßig verteilen und einfrieren. Zwei Stunden vor dem Servieren herausnehmen und mit Kakao bestreuen.


Deutschland

Schokoladenpudding mit Orange und Ingwer Butter + Butter für die Form 200 g Zucker 5 Eier, getrennt 250 g Schokolade (86 %) 2 EL Mehl 200 g

geriebener Ingwer 2 EL Orangenlikör geriebene Schale von 1 Orange Mark einer ½ Vanilleschote 2 cm

Puddingform gut ausfetten – auch den Deckel. Butter schaumig rühren, Zucker und Eigelbe im Wechsel dazugeben, so lange rühren, bis sich der Zucker gelöst hat. Dann die im Wasserbad geschmolzene, etwas abgekühlte Schokolade, Ingwer, Orangenabrieb, Vanille und den Orangenlikör unterrühren, zum Schluss das Mehl. Eiweiß sehr steif schlagen und vorsichtig unterheben. Puddingform mit dem Teig füllen und gut verschließen. 1½ Stunden im Wasserbad leise köcheln lassen. 10 Minuten ruhen lassen, Form öffnen, Ränder lösen und stürzen. Warm, mit frisch geschlagener, ungesüßter Sahne servieren.

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Spanien

Flan 250 g 4

Eier

Zucker

2

Eigelb Milch

½l

Aus der Hälfte des Zuckers und einem ⅛ l Wasser einen goldbraunen Karamel kochen und in vier Förmchen gießen. Der Boden sollte bedeckt sein. Eier und Eigelb mit dem restlichen Zucker verrühren. Milch zum Kochen bringen, vom Herd nehmen und etwas abkühlen lassen, unter die Eicreme rühren und durch ein Haarsieb in die Förmchen geben und verteilen. Im vorgeheizten Backofen bei 150 °C im Wasserbad ca. 45 Minuten stocken lassen. Aus dem Wasserbad nehmen, auskühlen lassen und in den Kühlschrank stellen. Vor dem Servieren Förmchen kurz in heißes Wasser tauchen, den Rand mit einem Messer lösen und Flan auf Dessertteller stürzen.


England

Himbeertrifle Zutaten für den Teig

Zutaten für die Füllung

Eier Zucker 100 g Mehl 50 g Speisestärke 5–6 EL heißes Wasser 1 gestrichener TL Backpulver

500 g frische oder gefrorene Himbeeren evtl. etwas Zucker für die Himbeeren 2 EL Speisestärke 1 EL Zucker ¼ l Milch 1 Vanilleschote 1 Eigelb 4 EL Himbeergeist 8 EL Himbeersaft Schokoladenraspel zum Garnieren

3

150 g

Für den Teig die Eier mit Wasser ungefähr 3 Minuten schaumig schla- Südafrika (Gastgeber-Dessert) gen. Dann mit Zucker noch weitere 5 Minuten schlagen. Mehl, Speisestärke und Backpulver gut mischen und in die Masse sieben. Jetzt nur noch vorsichtig unterheben und auf ein gefettetes oder mit Backpapier ausgelegtes Blech geben. Für die Sauce 200 g Puderzucker Im vorgeheizten Backofen (ca. 150 °C) 12 –15 Minuten backen. 2 Eier Abkühlen lassen. Wer es eilig hat, kann auch fertigen Tortenboden, 50 g Aprikosenmarmelade 250 ml Sahne Löffelbiskuits oder Sandkuchen nehmen. 200 g Mehl 100 g Zucker Gefrorene Himbeeren auftauen lassen und mit Zucker (nach Prise Salz 125 ml Wasser Geschmack) vorsichtig verrühren. Frische Himbeeren müssen nicht Prise Salz 1 TL Natron gesüßt werden. Die Stärke, 1 EL Zucker und 4 EL Milch vermischen. 50 g Butter Vanilleschote aufschneiden und das Mark herauskratzen. Die restliche 125 ml Milch Milch mit der Vanilleschote und dem Mark aufkochen. Anschließend 1 TL Weißweinessig die Vanilleschote entfernen. Die angerührte Stärke zur Milch geben und unter ständigem Rühren nochmals aufkochen lassen. Den Topf Backofen auf 180 °C vorheizen. Gugelhupfform gut einfetten. Pudervom Herd nehmen und das Eigelb unterrühren, dabei darf die Milch zucker mit den Eiern schaumig schlagen. Aprikosenmarmelade durch nicht mehr kochen! ein Sieb streichen und untermischen. Mehl mit Salz und Natron miBiskuit in Stücke teilen und auf dem Boden von Dessertschalen schen. Butter und Milch erwärmen. Mehl abwechselnd mit Essig und oder bauchigen Weingläsern verteilen. Auch eine große Dessertschüs- der Butter-Milch-Flüssigkeit unter die Eier ziehen. In die vorbereitete sel ist möglich, dann den Biskuit aber in der Größe des Schüsselbo- Form gießen und 40 Minuten backen, bis der Pudding schön aufgedens zuschneiden. Essen keine Kinder mit, kann der Kuchen jetzt mit gangen ist und ein Zahnstocher sauber herauskommt. einer Mischung aus Himbeersaft und Himbeergeist getränkt werden, Alle Saucenzutaten in einem kleinen Topf gut mischen und 15 – 20 mit Kindern nur Saft nehmen. Dann ein paar Himbeeren und einen Minuten simmern. Die Sauce darf nicht kochen! großen Löffel Vanillecreme darüber geben. Diese Schichtung zweiDie Form aus dem Ofen nehmen, mit einer Gabel mehrfach einbis dreimal wiederholen. Zum Schluss mit Himbeeren, Schokoras- stechen und die warme Sauce darübergießen. Mit der restlichen Sauce peln und evtl. Minzeblättchen dekorieren und kalt stellen. servieren.

Malva Pudding


FInal Countdown Vom eigenen Tod zu singen ist riskant. Denn irgendwann gibt das Leben einem Recht. John Denver, † 12. Oktober 1997

Leaving On a Jetplane »Cause I‘m leavin‘ on a Jetplane Don‘t know when I‘ll be back again Oh babe, I hate to go«

Seinen ersten großen Hit hatte John Denver nicht mal selbst: Die Coverversion von »Leaving On a Jetplane« von Peter, Paul & Mary wurde im Jahr 1969 ein Welterfolg. Knapp 30 Jahre später kommt das Stück noch mal zu tragischer

Bedeutung: Denver, ein begeisterter Hobbyflieger, stürzt mit seinem Leichtflugzeug über dem Meer ab, als er versucht, einen schlecht platzierten Tank­knopf in der Maschine zu betätigen.

Janis Joplin, † 4. Oktober 1970

Buried Alive in the Blues »I’m buried alive, oh yeah, in the blues I’m buried alive, somebody help me, in the blues«

Ihre letzte Platte sollte für Janis Joplin die erfolgreichste werden. Auf dem Album »Pearl« sind Stücke wie »Mercedes Benz« oder »Me and Bobby McGee«. Auf dem Song »Buried Alive in the Blues« fehlt allerdings die Tonspur mit Joplins

Gesang. Nachdem sie im Studio die Bänder für den nächsten Aufnahmetag abgehört hatte, starb die 27-Jährige in ihrem Hotelzimmer an einer Überdosis Heroin.

Falco, † 6. Februar 1998

Out of the Dark »Kein Weg zurück, das weiße Licht rückt näher, Stück für Stück. Will mich ergeben, muss ich denn sterben, um zu leben?«

Falco hatte schon immer einen Hang zur Selbst­ inszenierung. In seinem Tod sah man daher zunächst den perfekt in Szene gesetzten Abgang: Kurz nach der Vollendung seines Albums »Out Of The Dark (Into The Light)« kommt er bei einem

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selbstverschuldeten Autounfall in der Domenika­ nischen Republik ums Leben. Den prophetischen Titeltrack des Albums schrieb er allerdings nicht selbst – er stammt aus der Feder seines Produzenten und entstand bereits Jahre vorher.


hits von oben Costa Cordalis hat ein einfaches Erfolgsprinzip. protokoll: Sebastian Pranz Illustr ation: Uli Knörzer

»Ich bin mir sicher, dass mit dem Tod ein neues Leben beginnt – das wäre ja viel zu schade, wenn der liebe Gott das Leben nur auf ein paar Jährchen beschränken würde. Ich denke, das Leben ist die Meisterschaft zum Finale – es sollte voller Freude sein. Mit 16 Jahren kam ich von Griechenland nach Deutschland. Seit ich Filme von Peter Alexander gesehen hatte, war es mein Traum, hierher zu kommen und Musik zu machen. Ich fuhr mit dem Zug in der zweiten Klasse und kam im Hauptbahnhof in Frankfurt an. Ich konnte ein paar Brocken aussprechen: ›Onne Disch kann isch nischt lebben!‹ Ich fragte einige Leute, ob man hier irgendwo singen könne. Man empfahl mir die Cabana-Bar in der Lorey-Passage. Der Besitzer war Grieche, und ich durfte bei ihm anfangen. Mit der Gitarre ging ich von Tisch zu Tisch und erfüllte jeden Wunsch. Ich sang in 24 verschiedenen Sprachen: Spanisch, Englisch, Jiddisch, Griechisch usw. Durch die Musik habe ich viele dieser Sprachen auch sprechen gelernt. Ich höre keine Grammatik – ich höre nur den Klang der Sprache. Wann immer es geht, versuche ich die Menschen, denen ich begegne, in ihrer Muttersprache anzusprechen. Das macht sie glücklich. Ich versuche auch in extremen Situationen ich selbst zu sein. Damit spare ich Energie, wenn andere mich angreifen, mich beleidigen oder schimpfen. Ich habe zum Beispiel als Skilangläufer bei großen Volksläufen mitgemacht – 90 km in Schweden. Bis zum 60. Kilometer schimpfen alle und versuchen, sich gegenseitig aus den Spuren zu verdrängen. Von

da an ist alles mucksmäuschenstill. Ich weiß, dass ich meine Energie brauche für meine Auftritte, für meine Musik. Ich weiß, dass ich selbst bei einem Konzert nicht das Wichtigste bin. Ein Hit ist eine Super-Idee, die von oben kommt. Zugunsten der Menschheit. Ich transportiere das, aber der Hit kommt von oben. Wenn ich mich auf ein Konzert vorbereite, stelle ich mir einen Adler vor, der seine Flügel ausbreitet und das Publikum unter seine Fittiche nimmt. Oder auch ein großes Herz, in dessen Mitte das Publikum steht. Nach dem Konzert sitze ich stundenlang, bis der letzte Fan sein Autogramm bekommen hat. In der Musik muss jeder ein kleiner Philosoph sein, denn wir befassen uns mit dem Interessantesten, was es auf der Welt gibt. Und das ist der Mensch.« Costa Cordalis, Jahrgang 1944, widmet sich seit über 40 Jahren dem deutschen Schlager. Bekannt wurde er im Jahre 1976 mit dem Stück »Anita«. Costa lebt mit seiner Familie auf Mallorca.


heiliger rasen Beim Hamburger SV kann man auch nach dem Tod noch Mitglied sein. Text: Doro Adrian Fotos: Adriane Krakowski



Fan Hauke in der Arena des HSV.

Der HSV hat den ersten Fanfriedhof in Europa. Das HSV-Grabfeld ist seit September 2008 Teil des Friedhofs Altona. Der Eingang ist als großes Fußballtor gestaltet, die Rasenfläche ist einem Stadion nachempfunden. Die Westtribüne des Fußballstadions ist in Sichtweite, die Spiele in Hörweite. Näher dran geht nach dem Ableben nicht mehr. »Na klar will ich dort beerdigt werden!«, sagt der 41-jährige Hauke. »Das berührt mich richtig, dass es den Fanfriedhof gibt. Ich fänd’s toll, da zu liegen!« Nach ein paar Bier vor dem Auswärtsspiel seiner Jungs plaudert er locker über seine Liebe zum Verein, über dieses Fußball-Feeling, das man einfach haben müsse. Für seinen Verein ist er schon nach Tunesien gereist, kein Freundschaftsspiel hat er bisher verpasst. Den HSV habe er deshalb auch schon mal unter »Religionszugehörigkeit« eingetragen. Der Hamburger Sportverein wurde 1887 gegründet, in seiner jetzigen Form und als Zusammenschluss von drei Vereinen im Jahr 1919. Er ist somit der älteste noch existierende Fußballverein Deutschlands, seit Gründung der Bundesliga im Jahr 1963 spielt er ununterbrochen in der ersten Liga. Um die 800 Fanclubs gibt

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Rechte Seite: Unter dem echten Stadionrasen ist Platz für Gräber, die ›Einzelspieler‹ oder ›Doppelpass‹ heißen.

es, mit allerlei gewöhnlichen und einfallsreichen Namen, darunter »Glaube, Liebe, Hamburg« oder auch »Die Gläubigen der heiligen Raute«. Bezeichnend für die Fankultur des HSV ist es, dass sehr viele Fans zu den Auswärtsspielen fahren. Die zehn Prozent der Karten, die beim Auswärtsspiel den Hamburgern verkauft werden, sind fast immer ausgeschöpft – zwischen 2500 in Freiburg und 8000 in Berlin. Eine Besonderheit ist zudem, dass sich viele Fans auch vereinspolitisch engagieren, im Aufsichtsrat oder im Vorstand mitarbeiten. Fast 60.000 Fans sind inzwischen im Supporters Club, eine Vereinigung fördernder HSV-Mitglieder, der einen großen Teil der Kosten für das Grabfeld übernommen hat. Ohne eine solch starke Fankultur und eine ausgeprägte Liebe des Einzelnen zum Verein wäre ein Fanfriedhof hinter der Westtribüne wohl auch kaum denkbar gewesen. Ähnlich wie für Hauke ist auch für den 27-jährigen Jojo die Liebe zum HSV ein zentrales Element in seinem Leben. Auch er gehört zu den mitreisefreudigen, treuen Fans. Im Stadion steht er direkt an der Absperrung, er ist »Einpeitscher« beim HSV. Mit dem Rücken zum Rasen, dem Megafon in der Hand, dem Gesicht in Richtung Fans stimmt er Gesänge an, dirigiert das Klatschen, erst langsam, dann schneller, gibt Rufe vor – und alle Hände in die Luft! Fahnen schwingen, blau-weiß-schwarzer Rauch steigt empor, schwebt über dem Fanblock. Bei manch anderem Verein, der in der Bundesliga aufsteigt, weil ein Konzern Geld hineinbuttert, heißt so etwas »Sektion Stimmung«. Anders als die hiesige, gewachsene Fankultur. Fan zu sein, bedeutet für Jojo weniger, es nach außen zu zeigen durch Trikots, Buttons oder Schals – »das ist ja immer so das Klischee« – sondern, »es im Inneren zu tragen. Und das Fan-Sein mit zu produzieren. Für Gleichgesinnte


da zu sein.« Der Vater war Fan, der Bruder war Fan, mit elf der erste Stadionbesuch, »und dann hat man das eben so angenommen.« Jojo war fasziniert. Nicht in erster Linie vom Spiel, sondern von dieser Masse an Leuten, die so unterschiedlich seien und die alle dieses gemeinsame Interesse hätten, dieses Ziel, dass die eigene Mannschaft weiterkommt. Im Fußball sieht er die Möglichkeit, Emotionen zuzulassen, rauszulassen. »Das braucht die Gesellschaft«, meint er, »dadurch sind die Leute ausgeglichener.« Der Gedanke an das eigene Sterben ist noch weit weg. Aber die Idee mit dem Fangrabfeld findet er gut. »Schließlich ist der HSV für viele so etwas wie eine Ersatzfamilie. Ich finde das ‘ne schöne Vorstellung, mir ist das irgendwie symphatisch. Man kann von da aus das Stadion hören und Freunde sind alle zwei Wochen in der Nähe.« Wenn man echter Fan ist, dann für immer, meint Jojo. Partei, Freundin und Klamottenstil könne man wechseln – den Verein nicht. »Wenn man diese Entscheidung mitgegeben bekommen hat, dann bestimmt sie das Leben, und was das Leben bestimmt, das kann doch auch danach noch ein Thema sein.« Auch andere der Fans, die heute ihren Verein begleiten, sind dem Friedhofsthema gegenüber offen. Ein weiblicher Fan hingegen sagt, »nee, das wäre dann doch zuviel des Guten«. So weit gehe die Fanschaft nicht. Ein anderer bemerkt: »Irgendwo ist doch auch mal eine Grenze erreicht.« Einige Reihen weiter hinten verfolgt Christian Reichert das Spiel. Er war lange HSV-Vorstandsmitglied, kümmerte sich um die Fans. Immer mal wieder gab es die Anfrage, ob es nicht möglich sei, nach englischem Vorbild nach dem Tod seine Asche auf dem Fußballplatz verstreuen zu lassen. Das geht in Deutschland aufgrund des Fried-

hofszwangs nicht. Je nach Bundesland sind die Verordnungen unterschiedlich, in einigen Bundesländern darf Asche auf dafür vorgesehene Flächen auf Friedhöfen verstreut werden. Doch durch diese Anfragen der Fans stand der Wunsch im Raum, auch nach dem Tod noch möglichst nah bei ihrem Verein zu sein. Als der Friedhofsgärtner Lars Rehder dann mit der Idee eines Fanfriedhofs auf Christian Reichert zukam, war er sofort dafür zu haben. Vom Verein kam nicht nur Unterstützung, »Sterben ist nun mal kein hippes, cooles Thema, das zu der Hochglanzwelt passt, die Marketingstrategen rund um den Fußball zeichnen wollen.« Als die Planungen konkreter wurden, habe Reichert gemerkt, wie verspannt die Deutschen mit dem Thema umgingen, »ein absolutes Tabuthema, immer noch!« Die ausländischen Medien seien da viel offener gewesen. Es gab Berichte unter anderem in polnischen, russischen, serbischen Fernsehsendungen. Besonders sachlich hätten die britischen Sender berichtet. Den amerikanischen Sportsender ESPN interessierte in dem Zusammenhang die ausgeprägte deutsche Fußballkultur im Allgemeinen. Den HSV-Friedhof hat der Sender in einer Reportage mit dem Titel »Fans forever« fast schon als eine logische Konsequenz aus dem intensiv gelebten Fan­ gefühl betrachtet. Die deutschen Medien hingegen berichteten fast ausnahmslos unter dem Aspekt »Wie verrückt muss man denn eigentlich sein?« »Aber ist es nicht genauso verrückt«, sagt Reichert, »sich bei einer Kirche beisetzen zu lassen, zu der man im Leben gar keinen Bezug hatte?« Nein, eine Religion sei der Fußball nicht. »Aber er ersetzt für viele doch das, was früher Religion ausgemacht hat. Ein Gemeinschaftsgefühl, ein gemeinsames Thema, einen Ort, an dem man sich immer wieder trifft.« Seine Mutter ist vor knapp 20 Jahren gestorben,


Im Programm der ansässigen Bestatter: die HSV-Urne, gegen Aufpreis auch mit den Unterschriften der Spieler.

liegt 350 Kilometer entfernt beerdigt. »Hier weiß man wenigstens, die Kumpels sind alle 14 Tage in der Nähe und kommen dann vielleicht auch mal vorbei.« Interesse zeigten vor allem jüngere Fans, bei denen es ja hoffentlich noch ein bisschen dauere. Die älteren hätten oft schon woanders ein Grab, bei Verwandten, beim Partner. Es dürfte also noch ein wenig dauern, bis sich der Fanfriedhof füllt. Da es heutzutage bei Weitem nicht mehr selbstverständlich ist, wer sich wo beerdigen lässt und immer mehr Menschen sich für eine anonyme Bestattung entscheiden, müssen Friedhofsbetreiber und -gärtner sich etwas einfallen lassen, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu erarbeiten: Zum Beispiel die Zielgruppe der HSV-Fans ins Visier nehmen und ihnen in Aussicht stellen, die eigene Fankultur sprichwörtlich mit ins Grab nehmen zu können. »Klar, erst mal war das eine Geschäftsidee«, sagt der Friedhofsgärtner Lars Rehder, »ich hatte ein Interesse daran, dass die Leute noch bestattet werden und nicht ihre Asche in die Ostsee schmeißen lassen.« Und auf dem Altonaer Friedhof war noch Platz, mit Blick auf das Stadion. Geradezu perfekt für einen Fanfriedhof, für ein HSV-Grabfeld. Das Gräberfeld wurde sorgfältig geplant und fantasievoll angelegt. So, dass Leute gerne vorbeikommen, sich auf die Bank setzen, reden. Auch das gehöre zur Friedhofskultur, so Rehder. Der Fanfriedhof hat verschiedene Tribünen, ähnlich wie das Stadion. Ungefähr 500 Plätze gibt es dort, je nachdem, wie viele Menschen in Urnen oder Särgen beigesetzt werden, da will sich Lars Rehder nach dem Markt richten. Eine Bestattung gab es bislang, eine Urne liegt nun im Mannschaftsgrab, es heißt Team und ist vergleichbar mit der Stehkurve: Der

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Bestattete liegt also in der Regel neben unbekannten Nachbarn. Die Raute im Herzen ist auch eine Urnenbestattungsstelle, dort können beispielsweise Ehepartner nebeneinander liegen. Der Werbeprospekt des Grabfeldes berichtet außerdem noch vom Einzelspieler und dem Doppelpass. Bestattungsunternehmen können beim HSV die Lizenz erwerben, mit HSV-Bestattungen zu werben. Das Geld investiert der Verein dann wieder in das Grabfeld. Die Raute auf der Urne, die Raute auf dem Sarg, das darf dann in die Broschüre und ins Schaufenster. Sogar eine Motto-Bestattung Schlusspfiff bietet ein Unternehmen an, Stadionhymne inklusive. Bestattermeister Michael Carbuhn wäre das »zu ironisch«. Auch er hat die Lizenz erworben, aber »das ist alles noch mit Pietät, sag ich mal, es hat alles noch mit Würde zu tun.« Über die ethischen Fragen hätten sie viel gesprochen, seine Frau und er, und sich gegen solche ›Motto-Beerdigungen‹ entschieden. Wichtiger sei ihm, dass jede Bestattung individuell ist, so wie es jeder Mensch und auch jeder Fan sei. Wenn der HSV zum Leben des Verstorbenen gehört habe, dann könnte eben ein HSV-Sarg oder eine HSV-Urne das Richtige sein. Wie sehr die Verbindung zum Verein dann auch die Bestattung und das Grab prägen soll, entscheiden die Angehörigen. Schließlich gebe es auch Fälle, in denen eine Familie beispielsweise sowieso schon viel auf ihren Vater verzichtet habe, weil er ständig im Stadion war. Wenn der Verein dann auch noch den Tod bestimme, könne das schmerzhaft sein. Den HSV-Friedhof findet er gut, die Nähe-Idee fasziniere ihn. Es sei schön, dass der Fan dem Stadion auch nach seinem Tod derart nahe sein könne.


So naheliegend die Geschäftsidee des HSV-Fanfriedhofs für viele Hamburger zu sein scheint, so fern liegt sie manch anderen, die sie mit Skepsis betrachten. Was für viele Menschen im Leben schon lange gilt, nämlich, dass sie fernab des Einflussbereichs der Kirche stehen, ist doch für das Sterben ein großer Schritt. Schließlich spielte die Kirche in unserer Kultur jahrhundertelang bei den letzten Fragen eine entscheidende Rolle und prägte mit den christlichen Symbolen den rituellen Rahmen des Abschieds von einem Menschen. Die ewige Ruhe war Gestaltungsbereich der Kirche. Die Kirche habe aber doch kein Monopol darauf, die Leute unter die Erde zu bringen, meint Christian Reichert. Ein Monopol vielleicht nicht, aber sie habe doch sehr viel mehr darüber zu sagen, was nach dem Tod kommt als der Fußball, meint der evangelische Pfarrer Andreas Koch. Er ist selbst Fußballfan, seit 25 Jahren hat er eine Dauerkarte für den VfB Stuttgart. Doch sich auf einem Fangräberfeld bestatten zu lassen, käme für ihn »genauso wenig in Frage, wie in VfB-Bettwäsche zu schlafen!« Er geht regelmäßig und gerne ins Stadion, freut sich an guten Spielen, findet es schön, seinen Verein über Jahre hinweg emotional zu begleiten. Doch den Wunsch, nahe bei seinem Verein beerdigt zu sein, empfindet er als »übersteigertes Fan-Sein«, bei dem Menschen eine Sinnlücke in ihrem Leben mit dem Sport und dem Fußball füllen wollen. Wenn jemand Fußball als Religion begreift und lebt, als sinnstiftendes Element in seinem Leben, dann betrachtet er dies als Anfrage an ihn als Repräsentanten der Kirche und an die Kirche überhaupt, darüber zu sprechen, was dem Leben noch Sinn geben könnte. »Fußball ist in dem Augenblick, wo in meinem Leben der Abpfiff ertönt, etwas, das mir nicht mehr weiterhilft.« Die Idee des HSV-Friedhofs mag aus geschäftlicher Sicht neu erscheinen, aus historischer Sicht ist sie das jedoch bei Weitem nicht. Den Wunsch, mit Gleichgesinnten begraben zu werden, gab es schon im Mittelalter, schon damals ließen sich Menschen nach ihren Zugehörigkeiten bestatten. Gemeinschaftsfriedhöfe lassen sich bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgen, es gibt sie so lange, wie es die Bestattungskultur gibt. Bestimmte Gruppen bildeten schon immer soziale Netzwerke, die zum Teil noch über den Tod hinaus halten. Früher waren das Genossenschaften, Zünfte, Gilden oder Klöster. Zum Beispiel kauften die Zunft der Weber und die Gilde der Schuhmacher eine große Gruft in einer Kirche und ließen sich dort bestatten. Vor dem Hintergrund dieser bestattungskulturellen Vorgeschichte erscheint der Wunsch, seine Zugehörigkeit über den Tod hinaus zu zeigen, weder als skurril noch als ungewöhnlich. Für Prof. Reiner Sörries*, dem Direktor des Museums für Sepulkralkultur in Kassel, ist er vielmehr historisch gewachsen. Erst als das Bürgertum im 19. Jahrhundert erstarkte, so Sörries, kam die »Sitte des eigenen Grabes« auf. Davor war ein Einzelgrab ein Privileg der Adeligen. Doch dann wurde es schick, zu zeigen, wer man war, auch anhand eines entsprechenden Grabes, der Grabstein wurde zum Statussymbol. Heute hat das Grab diese Bedeutung nicht mehr. Angehörige liegen oft weit entfernt begraben, ein Besuch auf dem Friedhof wird dadurch schwer. Eine zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft zeigt sich auch im Sterben: Wenn es niemanden gibt, der das Grab pflegt, ist es einfacher, sich anonym bestatten zu lassen. Die Grabpflege besteht dann lediglich aus Rasenmähen. Eigentlich doch schade, finden manche, und entdecken das Gemeinschaftsgrab wie-

der. Individuell genug, um zu zeigen, was einem im Leben wichtig war, und unkompliziert genug in der Pflege. Die erledigt bei einer Gemeinschaftsgrabstätte der Friedhofsgärtner oder der Angehörige des Vereins, der ein Gemeinschaftsgrab unterhält. Zwar ist der HSV bislang der einzige Sportverein in Deutschland, der ein eigenes Gräberfeld hat, doch auch andere Vereine haben die Gemeinschaftsgräber wiederentdeckt: zum Beispiel memento, ein Hamburger Selbsthilfeverein von an Aids erkrankten Menschen. Oder ein atheistischer Verein in Berlin, der einen humanistischen Bestattungshain hat. Auch der Verein der St. Michaelis-Gemeinde in Hamburg hat vor einigen Jahren ein Gemeinschaftsgrab erworben, das unter dem Motto steht: »Gemeinsam wollen wir leben, im Sterben einander beistehen und im Tod beieinander bleiben.« Neben Gemeinschaftsgräbern zeigen auch einzelne außergewöhnliche Grabstätten, was Menschen in ihrem Leben wichtig war und wie sie gerne in Erinnerung bleiben möchten. Auf dem Kölner Friedhof Melaten beispielsweise steht ein Grabstein in Handyform. Vermutlich liegt hier ein Viel-Simser und -Telefonierer, der immer erreichbar war. Der Radiosender bigFM verlost gerade in Zusammenarbeit mit dem Bund deutscher Friedhofsgärtner das Supergrab. Hörer schicken ihre Vorschläge ein, der kreativste gewinnt. Der Angler träumt von einem kleinen See, der Golfer von einer Golfbahn, eine 16-Jährige träumt von einem neu gestalteten Grab für ihre Mutter voller Elfen. Der eingefleischte HSV-Fan liegt im Motto-Grab also nicht nur inmitten Gleichgesinnter, sondern außerdem voll im Trend. Bleibt die Frage, welche Peer-Groups in Zukunft noch auf die Idee kommen, sich gemeinschaftlich bestatten zu lassen. Oldtimer-Fans, DSDS-Anhänger oder Wandervereine? Vielleicht ist es aber doch ein selten starker Kitt, der die Fans des ältesten deutschen Bundesligisten zusammenhält. Und der auch Horst Eberstein dazu bringt, dort liegen zu wollen, wenn die Zeit gekommen ist. Er ist schon 80 und hält seinem Verein ebenso lang die Treue wie seiner Frau, seit 55 Jahren. »Warum denn nicht?«, ist seine Antwort auf die Frage nach dem ›Warum‹. Eberstein taucht in vielen Zeitungsartikeln zum HSV-Grabfeld auf, er war auch schon in der Tagesschau. »HSV-Urgestein« wird er dort genannt. Als die Idee geboren wurde, war er einer der ersten, der nach seiner Meinung gefragt wurde, er fand es gleich »eine prima Idee«. An Norderstedt, wo er wohnt, hat er schließlich keine Bindung. Warum sollte er sich dort beerdigen lassen? Ganz anders ist das mit dem HSV, bei dem er jahrzehntelang ehrenamtlich mitgearbeitet hat. »Gedanklich hab ich gleich gesagt: Das wird mal mein Grab.«

* FROH! hat mit Prof. Dr. Reiner Sörries gesprochen. Das Interview findest Du online unter: www.frohmagazin.de/finale/soerries


am ende der anfang Gesine Schwan hat von ihrem eigenen Ende geträumt. Ihre Prioritäten haben sich seitdem verschoben. protokoll: Sebastian Pranz

»Ich erinnere mich an eine Situation aus den letzten Lebensmonaten meines ersten Mannes. Diese Zeit vor dem Tod war sicherlich die schmerzlichste, auch für ihn. Man kann sich nichts Defi­nitiveres vorstellen als den eigenen Tod. Die Ärzte überließen meinem Mann die Entscheidung, wann sie die Wasserzuführung abstellen sollten. Das fand ich ungemein hart und eigentlich auch gegen die Verabredung. Wir hatten im Gespräch mit den Ärzten gesagt, dass wir keine vorzeitige Beendigung des Lebens wollen, aber auch keine künstliche Verlängerung um der Verlängerung willen. Ich meine bis heute, dass die Entscheidung über Einzelmaßnahmen in Bezug auf einen Tod, der so unmittelbar bevorsteht, in den Händen der Ärzte liegen sollte. Es bedurfte langer Gespräche, auch von befreundeten Ärzten mit den damals ärztlich Verantwortlichen, um dem schließlich zu entsprechen. Monate später, als mein Mann schon nicht mehr lebte, habe ich einen Traum gehabt: Ich träumte, dass ich selbst diejenige war, die auf dem Sterbebett lag und sich entscheiden musste. Mit einem Mal spürte ich sehr deutlich, dass es noch einmal etwas ganz anderes ist, ob man berät oder mitentscheidet für den Menschen, den man liebt, oder ob man für sich selbst entscheidet. Und ohne dass ich eine Vorstellung vom Tod hatte, spürte ich in diesem Moment doch eine ganz tiefe Empfindung von dem, was das heißt: definitives Ende, unwiderruflich! Diese Frage ist mir geblieben: Was mache ich, wenn ich nur noch zwei Monate zu leben hätte?

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Was ist wichtig in meinem Leben? Ich empfinde das als eine Erleichterung, eine Befreiung von Zielen, die sich auf kurzfristig Diesseitiges beziehen. Dieses Wissen ist keiner moralischen oder ethischen Entscheidung entsprungen – es hat sich existenziell aus dieser Todeserfahrung ergeben. Nicht, dass ich mein diesseitiges Engagement weniger ernst nähme. Aber alle Dinge, die mit gesellschaftlicher Anerkennung zu tun haben, verlieren vor dem Hintergrund des Todes an Bedeutung. Wenn man in eine Lebensphase eintritt, wie ich in die meine, dann ändert sich die Einstellung zum Sterben ohnehin. Ich ertappe mich inzwischen dabei, dass ich Todesanzeigen lese. Nicht mit Schrecken, sondern mit der Hoffnung, dass hier ein erfülltes Leben zu Ende geht, dessen Abschluss der Tod bildet. Meine Grundhaltung ist, dass es danach weitergeht. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass man noch in den Erinnerungen der Lebenden weiterlebt. Allerdings habe ich nicht das Bedürfnis, mir vorzustellen, wie das Leben nach dem Tod genau aussieht. Ich glaube, die Kategorien, in denen wir denken, sind nicht die einzig möglichen: Man kann sich nicht vorstellen, dass diese Welt endlich oder unendlich ist; man kann ihren Beginn ebenso wenig denken wie das ›Davor‹. Gerade dieses Unvermögen weitet die Möglichkeiten einer offenen Zukunft. Das beruhigt mich. Ein Ende viel kleineren Umfangs habe ich im Sommer letzten Jahres erlebt. Ich habe nach 40 Jahren die Wohnung aufgelöst, in der ich mit meinem verstorbenen Mann gelebt hatte. Jetzt bin ich nach fünf Jahren Ehe endgültig in das Haus meines zweiten Mannes gezogen. Jedes Ende bedeutet auch die Eröffnung eines neuen Horizontes!« Prof. Dr. Gesine Schwan, Jahrgang 1943, ist ehemalige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Mitgründerin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin. In den Jahren 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin, unterlag aber Horst Köhler. Seit 2004 ist sie mit Peter Eigen verheiratet. Ihr erster Mann, der Politikwissenschaftler Alexander Schwan, starb im Jahr 1989.


Schlusstakt Im Tod zeigt sich das Leben noch mal von allen Seiten. Eine Annäherung. Text: Stefanie Schardien

Im Konzertsaal ist es mucksmäuschenstill. Ein langer Abend liegt schon hinter dem Publikum und nun warten alle, fast etwas ermattet nach der Anstrengung, aber glücklich erfüllt, auf das letzte Stück. Dann folgt er, der letzte Satz der Symphonie und reißt jeden mit. Alle Themen klingen noch einmal an und bauen sich zu einem großen Ganzen zusammen. Die Musik klingt noch intensiver, rund und voll. Was für ein grandioses Ende. Der absolute Höhepunkt des Abends, ein großartiger Abschluss. Oft empfindet man die Schlusssätze in der Musik, den letzten Song im Konzert als etwas Besonderes. Das Ende gewinnt eine ganz eigene Bedeutung. Im Leben eines Menschen ist das ähnlich, aber: ein letzter Satz in der Symphonie, ein abschließender Tusch? Ist das Sterben ein Finale des Lebens? Es erscheint ungewöhnlich und manchem vielleicht sogar ungehörig, diesen Begriff, der wie für Musikstücke reserviert klingt, auf das Lebensende anzuwenden. Schlicht betrachtet und geradeaus übersetzt spricht aber nichts dagegen, das Sterben einmal aus einer solchen Perspektive anzuschauen – zumindest versuchsweise. Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Sterben, auch wenn es am Ende stattfindet, sehr drastisch von packenden Abschiedsstücken im Konzert. Wohl kaum jemand – soweit eine aus der Statistik meiner Erfahrung geronnene Einsicht – würde das Lebensende so voller Freude erwarten, erst recht nicht genießen. Zu viele Unsicherheiten und Ängste verbinden sich damit,

und darum passt sie nicht so recht her, die Rede vom finale furiosum. Vor dem Gedanken an die letzten Momente eines, erst recht seines eigenen, Lebens drückt man sich lieber. Wer stirbt schon gern? Dass danach gar nicht gefragt wird, führt gleich zu einem weiteren Unterschied: kann man sich doch die Teilnahme am Sterben nicht aussuchen. Das Ticket zu diesem Pflichttermin bekommt man quasi frei Haus mit der eigenen Geburt. Das Sterben lässt sich nicht einfach feiern wie andere wichtige Momente im Leben. Es hat seine nicht-schönen und traurigen Seiten. Häufig wird es begleitet von vorausgehenden Krankheiten, von Schmerzen und immer wieder auch von Einsamkeit. All dies sind keine neuen Phänomene. Mag manche Verfallstheorie dem heutigen Sterben bescheinigen, es sei anonymer und asozialer, und dazu verächtlich mit dem Finger auf die dann sogenannte ›Apparatemedizin‹, auf das ›abgeschobene‹ Sterben in Krankenhäusern und Vereinsamung im Alter zeigen, so muss der wahre Kern daran doch von einigen Lagen an Familienmythen und Vergangenheitsverklärung befreit werden. Die Vorstellung von der lebenssatt und glücklich im Kreise ihrer Lieben die Augen schließenden alten Frau für die Normalität des seligen Damals zu halten, sagt viel über unsere Wünsche für das Sterben aus – eine allgemeine Realität war das nie. Früher starb man an mittlerweile leicht heilbaren Krankheiten, dafür müssen heute schwierige medizinische Entscheidungen am Lebensende getroffen werden. Früher bestand eine größere Chance, von Familienangehörigen betreut zu werden; heute bieten Palliativstationen und Hospize alternative Betreuungskonzepte – beides mal mehr, mal weniger herzlich. Mögen sich die dunklen Seiten des Sterbens im Lauf der Zeiten etwas verschieben: restlos abschaffen lassen sie sich kaum. So bleibt an ihnen wenig herumzudeuteln. Sie zu leugnen oder schön zu reden, verrät vielmehr all diejenigen, die sie durchleben und darunter leiden. Verglichen mit der sich nochmals aufschwingenden und zusammenfassenden Coda einer Sonate hat das Sterben auch weniger Höhepunkt-Charakter. Im Blick auf das ganze Leben würde man andere


Zeiten und Momente wohl eher so markieren wollen: die Geburt eines Kindes, die Arbeit im lang ersehnten Traumjob, ein glückliches Zusammenleben mit einem tollen Partner, Phasen, in denen man fit ist und sich stark fühlt. Das sind Hochzeiten des Lebens – zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten fallen uns gleich aber jene Menschen ein, die Krisen oder Krankheiten überwunden haben. Sie berichten gar nicht so selten, dass ihnen rückblickend genau diese Zeiten zu den besonders prägenden und zentralen ihres Lebens geworden sind: Selten lerne man sich selbst, die eigenen Ängste und Hoffnungen, so gut kennen. Selten trete so deutlich hervor, was eigentlich zählt und trägt. Beziehungen werden erprobt und im guten Fall gefestigt. So oder ähnlich erhoffen sich das viele Menschen auch für ihr Sterben. Gleich-

Wie die von der Frau, die sich mit ihrem Sohn noch am Sterbebett gestritten hat. Oder von dem jungen Familienvater, der nach einer Lungenembolie einfach tot umgefallen ist. Da passt nichts zusammen, das Leben sortiert sich nicht, es fehlt die Abschlussbilanz. Einfach hinaus schleicht es sich, das Leben, und lässt Bruchstücke zurück, die sich nicht puzzeln lassen wollen. Gleichzeitig entdeckt man aber ein gewisses gesellschaftliches Bemühen, dem Sterben doch Finalcharakter zu verleihen. Die letzte Phase des Lebens wird immer mehr zu etwas, für das es Vorbereitungen zu treffen gilt, das organisierbar und in seinem gelingenden Verlauf taxierbar ist. Das Vertrauen auf die Optimierbarkeit jeder Lebenslage und auf die entsprechenden Berater gehört zu den Signaturen unserer Zeit. Es überrascht kaum, dass sich diese Hoffnung auch auf Sterben und Tod richtet. Entgegen der irgendwie gefühlten Überzeugung, das Sterben werde verdrängt, scheint in jüngerer Zeit ein Gegentrend eingesetzt zu haben: Bereits 1969 schlüsselte die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross die Umgangsweisen mit dem absehbaren Tod in Phasen auf und hatte damit – nach einer Zeit des Nachweltkriegsschweigens – das Sterben wieder zum Beobachtungsgegenstand erklärt. Mittlerweile haben sich die Regale der Buchhandlungen mit Ratgebern gefüllt, die das »Geheimnis Sterben“ aufdecken wollen, Hilfestellung zum Umgang mit sterbenden Eltern geben oder sehr direkt fordern, man solle »Dem Tod ins Gesicht sehen“. Im Fernsehen finden sich überdies zahlreiche Dokumentationen, Talkshows oder Spielfilme, die unterschiedliche Facetten des Sterbens in den Mittelpunkt rücken, und Infoabende, etwa zum Thema »Patientenverfügung“, finden sich in jeder mittleren Kleinstadt. Das Sterben scheint zunehmend aus dem Bereich des Fremden und Ungewissen in den Bereich unseres Handlungsspielraums geholt zu werden. Das Lebensende als Kunststück. Ars moriendi, die Kunst zu sterben, so hießen schon im Mittelalter erbauliche Texte oder Bilderfolgen, die den Sterbenden zur Buße anleiten und so zum guten Sterben verhelfen sollten. Auch die zunehmende Liberalisierung von aktiver Sterbehilfe in den Nachbarländern, etwa den Niederlanden oder Belgien, hat die Diskussionen um das Lebensende in dieser Richtung befeuert. Hinter der Forderung nach einem Recht auf die eigene Tötung ste-

Man kann sich die Teilnahme am Sterben nicht aussuchen. Das Ticket zu diesem Pflichttermin bekommt man quasi frei Haus mit der eigenen Geburt. zeitig scheint es aber eher zu selten erreichten Idealbildern zu gehören, dass sich das Lebensende doch möglichst als eine solch zentrale Zeit empfinden ließe: Dass alles Ungesagte ausgesprochen und Streit beigelegt werde, alles bislang Uneindeutige dieser Welt sich plötzlich erkennen lasse und sich die Puzzleteile des zurückgelegten Lebens zu einem ganzen Bild fügten. Leider enttäuscht die Realität schon wieder: Wie viele Menschen gibt es, bei denen es anders gelaufen ist? Solche Geschichten klingen dann eher so wie die von dem Nachbarn, der unbewusst unter starken Schmerzmitteln gestorben ist.

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hen zweifellos immer wieder furchtbare Schicksale. Was sich aber Die Bilder zeigen Menschen, die natürlich zweiauch dahinter verbirgt, ist der Wunsch, bis zum letzten Moment fellos im Sterbeprozess angekommen sind. Wer die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten. Ein niederländi- ins Hospiz geht, weiß um seinen absehbaren scher Arzt erzählte mir – mit einer Mischung aus Verwunderung Tod, aber das Sterben wird gelebt. Manche Menund Gruseln – von einem Fall, den er begleitet hatte: Der unheilbar schen sehen müde und schwach aus, gezeichnet erkrankte ältere Mann hatte seine ganze Familie geladen und den von ihrer Krankheit, andere wirken fast rosig, so Nachmittag über ein rauschendes Fest gefeiert. Den feierlichen Ab- als blühten sie auf. Manche lächeln gelöst, andere schauen ernst. Kerzen für einen verstorbeschluss bildete die Verabreichung des tödlichen Medikaments. nen Gast wechseln sich ab mit Fotos einer Hochzeitsfeier von zwei Menschen, die sich im Hospiz noch kennen- und lieben gelernt haben. Weder ist das Sterben an solchen Orten, die es auch außerhalb der Hospize geben kann, nur traurig noch wird es zu Das Bild, das so vom Sterben entsteht, bleibt mehrdeutig. Gewiss, einem Kunststück stilisiert. Ein furioses Finadie neue Sprachfähigkeit über das Sterben ist begrüßenswert, eben- le mag das nicht sein. Vielleicht eher ein letzso wie der Wille, sich um seine Gestaltung zu bemühen. Nur: Wer ter Satz, in dem Töne des Lebens noch einmal dem Sterben restlos abtrotzen will, dass es sich organisieren ließe, anklingen können und der zugleich in seiner und wer meint, dass man seiner habhaft werden müsste, der gerät in eigenen, besonderen Bedeutung angenommen den Druck, bis zum Ende des Lebens den Homo faber zu geben, den wird. Partituren gibt es keine. Bei einigen mag Macher und Organisator. Wenn es mal zu Ende geht mit mir, sagte dieser Schluss laut klingen, bei anderen ganz mir beizeiten ein Patient im Krankenhaus halb mit Augenzwinkern, leise. Und mancher mag in den letzten Tönen dann will ich nicht mehr entscheiden müssen – dann will ich meine dieser Welt etwas anderes hören – den Auftakt Ruhe. Übrigens mahnte sogar auch Martin Luther in seinem »Sermon zu einem neuen Leben. von der Bereitung zum Sterben« an, es mit der Ars moriendi nicht zu übertreiben. Man solle sich im Leben auf den Tod vorbereiten, aber es im Sterben damit gut sein lassen. Da der Tod dann »schon von selbst nur allzu stark da ist, ist es gefährlich und nichts nütze«. Das Ende des Lebens vor dem Sog gesellschaftlicher Organisations- und Optimierungszwänge zu bewahren, scheint heute wieder zu einer nicht unwichtigen Aufgabe zu werden. Anstrengend ist das Sterben häufig sowieso. Noch mehr An- und Überforderungen braucht es nicht. Wird es also nichts mit dem Versuch, das Sterben aus anderer Perspektive zu betrachten? Lässt sich dem Sterben nichts Hoffnungsfrohes abgewinnen, das in die Nähe eines Lebensfinales käme? Eine Erinnerung an meine erste Begegnung mit einem Hospiz taucht auf. Die Mitarbeiterin zeigt mir Dias aus dem Hospiz. Eine der wichtigsten Lektionen, die sie mir sofort beibringt: »Das ist hier kein Sterbehaus, wie viele Menschen Hospiz übersetzen. Das ist ein Lebehaus.«

Einfach hinaus schleicht es sich, das Leben, und lässt Bruchstücke zurück, die sich nicht puzzeln lassen wollen.


Comeback Heino war nie wirklich weg TEXT: Kay Lehmkuhl

Ein letztes Mal wollte er das Blühen des Enzians, die Kernigkeit der Haselnuss und das Polenmädchen besingen. Der in Düsseldorf-Oberbilk geborene Heino plante eine Abschiedstournee, ein würdiges Finale seiner Bühnenkarriere – es kam anders. So viele Größen des nationalen Showgeschäfts sind gegangen, hatten der Bühnenwelt abgeschworen und erklärt, einen würdevollen Abgang finden zu wollen – und sind dann doch zurückgekehrt. Irgendetwas war ihnen eingefallen, das sie dem Publikum unbedingt noch sagen oder singen wollten. Der Rücktritt vom Rücktritt – Westernhagen und Carpendale, plötzlich waren sie wieder da. Groß angekündigt wurde auch 2005 der finale Bühnenabgang von Heinz-Georg Kramm. Kramm ist Heino, eine Volksmusikikone. Von seinen Fans glühend verehrt, war sein Erscheinungsbild immer auch eine Steilvorlage für Satiriker und Parodisten. Das strahlend blonde Haar, die dunkle Brille, der Bariton – man hätte ihn als Figur auch wunderbar in der Muppet Show platzieren können. Das mit heutigem Blick reichlich skurril anmutende Äußere kann aber nicht verdecken, dass der Musiker Heino rund 50 Millionen verkauft hat. Natürlich sind Verkaufszahlen kein Qualitätskriterium, dennoch wird wahrscheinlich kein deutscher Künstler jemals wieder in diese Absatzregionen vordringen. Den großen Abgang hatte er sich verdient. Sein damaliges Alter von 66 Jahren ließ zudem ver-

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muten, dass es sich nicht um eine MarketingPosse handelte. Mit 66 fängt das Bühnenleben eben meist doch nicht an, in den meisten Fällen endet es bereits vorher. Zum finalen »Schwarzbraun ist die Haselnuss« kam es nie. Die Gesundheit des Barden streikte. Es folgten neu angesetzte und dann doch wieder abgesagte Konzerttermine, ein Rechts­streit mit der Gothaer Versicherung und in diesem Zusammenhang relevante Falschangaben über den Gesundheitszustand Heinos. Ein Abschied als Desaster. Seine Lieder thematisierten stets die heile Welt. Völlig unharmonisch sieht am Ende der langen Bühnenkarriere die künstlerische Realität aus. Brüche und auch private Schicksalsschläge gehören zu vielen Künstlerbiografien. Das Show­ geschäft hat viele seiner Akteure gefressen und deformiert wieder ausgespuckt. Gegen ein solches Ende wehrt sich der von einer großen Tages­ zeitung angesichts der kommandohaften Intonation und dem ungebrochen Sonoren seiner Stimme einmal als singende Miele-Waschmaschine titulierte Heino. Ein letzter Waschgang könnte nun den Mann, der selbst auf seinem Personalausweisbild die Brille mit den schwarzen Gläsern trägt, von der Showbühne gespült haben. Bis Ende Januar 2010 war Heino ein vermutlich weiteres letztes Mal auf Tour. Unter dem Titel »Es ist nie zu spät« gab er festliche Kirchenkonzerte in Europa zum Besten. Die Haselnuss wurde in diesem Rahmen nicht besungen.


Nachspielzeit Das war noch gar nicht das Ende. Am Horizont des Möglichen hat sich ein kleines Fenster geöffnet. Durch die Lücke passt gerade mal ein Ball.


Unsterblich Wenn Menschen ihre Haustiere ausstopfen lassen, muss Liebe im Spiel sein. Ein Besuch bei Herrchen und Frauchen. fotos: Kathryn Baingo

Dani â€

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nachspielzeit



Madeliefje † und Leo-Löwe †



Huey †, Poobear †, Dickerchen † und Max †



Mucki †



gegen Unendlich Alles geht zuende. Aber manchmal dauert es ganz schรถn lange. Einige Fallbeispiele. text: Sebastian Pranz

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nachspielzeit


Bunker

Cricket

Ein Bunker ist dafür da, auch dann noch zu halten, wenn alles andere in Schutt und Asche zerfällt. Dafür sorgen tonnenweise Stahl­beton, ABC-Schleusen und Stahltüren, zur Not tun es aber auch einige Festmeter Holz, ein Erdloch und 100 Meter Metall-Draht. In den 1960er und 1970er Jahren waren Bunker ganz groß im Kommen. Die zunehmend abgekühlten Beziehungen zur Sowjetunion führten dazu, dass man sich auch in Deutschland auf Ernstfallszenarien einstellte. So veröffentlichte das Bundesministerium für Wohnungsbau schon im Jahr 1961 Richtlinien für den Schutzraumbau in privaten Häusern und versprach entsprechende Fördermittel für Privatleute, die sich für den Ernstfall vorbereiten wollten. Menschen in ganz Deutschland sammelten Unterschriften in ihrer Nachbarschaft und ließen sich von der zuständigen Behörde die Fördergelder ausschütten. Bücher wie Der kluge Mann baut tief oder die staatlich geförderte Schutzraumfibel informierten den gewillten Heimwerker über die Details. Die Bedrohungsszenarien haben sich geändert, die politische Lage ist weltweit unübersichtlicher geworden. Den Ernstfall kann man sich heute nicht mehr als schrittweise Eskalation vorstellen, bei der jeder genug Zeit hat, in Deckung zu gehen. Die Bunker gibt es noch, es wird sie auch in 200 Jahren noch geben. Der kluge Mann von damals trocknet dort heute seine Wäsche oder lagert Wein.

»Der Ball ist rund und das Spiel dauert 90 Minuten.« Was für den Fußball gilt, gilt für Cricket noch lange nicht. Denn ein gutes Cricket-Match kann sich gut und gerne vier Tage hinziehen. Die Spielart des Test-Crickets bringt es sogar auf bis zu fünf Tage, mit drei rund zweistündigen Spielabschnitten. Das Spiel hat seinen eigenen Rhythmus. Es gliedert sich in abwechselnde Phasen aus Angriff und Verteidigung, wobei im Mittelpunkt Schlagmann und Werfer stehen. Die Spieler der Feldmannschaft versuchen den geschlagenen Ball möglichst schnell in die Feldmitte zurückzuspielen, die Mannschaft des Werfers hält sich nicht im Feld auf. Cricket ist also eine Sportart, bei der ständig ein Großteil der Spieler unbeschäftigt ist. Und sicherlich ist Cricket auch der einzige Wettkampf, der eine offizielle Teepause vorsieht. Daher ist es wohl kein Zufall, dass das Spiel außer in England vor allem in Indien und Pakistan beliebt ist, wo es sich sozusagen nahtlos in die bestehende Tagesstruktur integriert. Cricket ist kein Zuschauersport, sondern Ausdruck einer Lebenskultur. Das IOC hat gerade darüber beraten, welche Sportarten bis zum Jahr 2016 in das Programm der olympischen Spiele aufgenommen werden. Heiße Kandidaten sind Squash, Softball und Golf. Gegen Cricket hat man sich ausdrücklich ausgesprochen. Vielleicht dauert es einfach zu lange. Oder es gibt im olympischen Dorf nicht genügend Teeküchen.


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Mercedes 240D

Orgel

Das Auto ist der treueste Freund des Menschen. Erst recht ein Mercedes 240D! Der Wagen wurde im Jahr 1975 vorgestellt und kostete mit knapp 20.000 DM etwa dreimal so viel wie der Golf I. Der musste allerdings auch ohne verchromte Zierleisten, unterdruckgesteuerte Zentralverriegelung und eine Doppelquerlenker-Vorderachse auskommen. Das Geld war also gut angelegt, besonders wenn man den Kauf langfristig betrachtet. Denn was seine Lebenserwartung angeht, ist der 240D ein einsamer Rekordhalter. Er hat eine hervorragende Pannenstatistik und ist darüber hinaus äußerst wartungsfreundlich. Sein Herzstück ist ein Dieselmotor, der eine relativ geringe Leistung von 65 PS mit einem Hubraum von 2,4 Liter verbindet. Man ist also eher langsam unterwegs, aber dafür lange. Zum Beispiel der griechische Taxifahrer Gregorios Sachinidis aus Thessaloniki: Sein Modell in der Farbe Magnetitblau kaufte er Anfang der 1980er Jahre mit einem Kilometerstand von 220.000. Mit drei Ersatzmotoren, die er insgesamt elf Mal tauschte, erreichte er insgesamt eine Kilometerleistung von 4.600.000 Kilometern. Der Mercedes ist also ein Auto fürs Leben. In Deutschland wird er als Garagenwagen von Vater an Sohn weitergegeben, in Marokko kämpft er sich bei 40° Celsius den Mittleren Atlas hoch, in Kenia verkehrt er als Busch-Taxi. Allerdings hat Mercedes die Produktion im Jahr 1986 eingestellt. Die Produktion des Motorentyps wurde in einem Lizenzvertrag an den indischen Automobilhersteller Bajaj übertragen. Das Herz des 240D schlägt also weiter. In Gemüselastern und Kleinbussen.

Der amerikanische Künstler und Komponist John Cage war immer für eine Überraschung gut. Er komponierte ein Klavierstück, in dem kein Klavier gespielt wird, und machte einen Film, in dem ausschließlich Scheinwerferspots in einem leeren Raum zu sehen sind. Außerdem schrieb er das am längsten dauernde Musikstück der Welt. ORGAN²/ASLSP entstand im Jahr 1985, ursprünglich noch für Klavier, wurde aber im Jahr 1987 für Orgel umgeschrieben. Die zufällig errechnete Tonfolge, aus der das Stück besteht, ist vom Komponisten mit der Tempoangabe »as slow as possible« versehen – was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Während die Uraufführung in Metz, wohl unter Berücksichtigung der Hörgewohnheiten des anwesenden Publikums, nur 29 Minuten dau­­erte, läuft seit dem Jahr 2001 eine ambitioniertere Aufführung: Im ostdeutschen Halberstadt will man das Stück mit einer Gesamtdauer von 639 Jahren aufführen. Die Tonwechsel werden vom geneigten Publikum mit großem Interesse verfolgt – im vergangenen Jahr kamen die Töne d‘ und e‘‘ dazu, in den Jahren 2010 – 2012 werden vier weitere Tonwechsel erfolgen. Die Orgel, auf der das Stück ertönt, ist von einem Plexiglaskasten umschlossen. Ein Kompromiss mit den Anwohnern, 639 Jahre Musik kann man keinem zumuten. Die ersten anderthalb Jahre war es allerdings ruhig in Halberstadt. Denn Cage beginnt sein Werk mit einer Pause.

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Plastination

Universum

Der Wunsch des Menschen nach Unsterblichkeit ist beinahe so alt wie der Mensch selbst. Bereits im alten Ägypten präparierte man die Verstorbenen mit antiseptischen Stoffen und entnahm ihre Organe, um die Selbstverdauung des Körpers zu unterbrechen. Seit dem 19. Jahrhundert und der Entwicklung des Formalins ist auch die längere Konservierung der Organe und ganzer Körper möglich, die als Nasspräparate aufbewahrt werden. Die Plastination ist eines der jüngsten Verfahren, sie wurde im Jahr 1977 vom Heidelberger Anatom Gunther von Hagens entwickelt und ermöglicht eine vollständige Konservierung des Körpers, wobei die Körperfasern in ihrer Struktur bewahrt werden und ein besonders lebendiges Präparat entsteht. Es überrascht nicht, dass die ›lebensnahe‹ Darstellung toter Körper eine Faszination ausübt, die weit über ein fachliches Interesse hinausgeht. Im Zuge der Ägyptischen Expedition Napoleons traf man sich in Europa zu exklusiven Partys, deren Höhepunkt das gemeinsame Auswickeln einer Mumie darstellte. Und in den anatomischen Theatern dieser Zeit führte man öffentliche Sektionen an menschlichen Leichnamen durch. Auch Gunther von Hagens Körperwelten richten sich an den medizinischen Laien. Er kann die Toten hier bei Dingen beobachten, die eigentlich den Lebenden vorbehalten sind: beim Sport, beim Musizieren und selbst beim Liebesakt. Ein gewisser Marketingeffekt mag durchaus im Interesse der Veranstalter liegen: Nach Umfragen des Instituts für Plastination ist ein Gutteil des Publikums nach dem Besuch der Ausstellung zu einer eigenen Körperspende bereit.

Als der amerikanische Astronom Vesto Slipher im Jahre 1912 weit entfernte Galaxien beobachtete, stellte er fest, dass deren Licht ins Rote verschoben dargestellt wird. Sliphers Beobachtung, die letztlich erst 15 Jahre später auf der Grundlage von Einsteins Relativitätstheorie interpretiert werden konnte, zeigt, dass sich die Galaxien im Raum entfernen, wobei sich die Wellen des ausgestrahlten Lichtes verschieben. Ohne es zu wissen, beobachtete Slipher einen Dopplereffekt, also gewissermaßen das visuelle Pendant einer sich entfernenden Schallquelle. Die Welt ist nach dieser Entdeckung eine andere. Oder zumindest ist sie das in den Augen eines Astrophysikers. Denn mit ihr kam die Erkenntnis, dass das Universums nicht statisch ist, sondern sich ausdehnt. Damit rückte nicht nur die Möglichkeit eines Urknalls in das Bewusstsein der Wissenschaft, sondern auch die Vermutung, dass es mal ein Ende haben könnte mit dem Universum. Denn was sich bewegt, ist irgendwann auch am Ziel. Aktuell geht man von drei Szenarien aus: Die Theorie des Big Crunch nimmt an, dass die Bewegungsenergie, die das Universum bei der Entstehung von Zeit, Raum und Materie mit auf den Weg gegeben bekommen hat, letztlich nicht ausreicht, um die Anziehungskräfte der Materie zu überwinden. Das Universum fällt also in einer Art umgekehrtem Urknall wieder in sich zusammen. Der Big Rip basiert auf der Annahme, dass sich das Universum mit zunehmender Geschwindigkeit ausdehnt und dabei irgendwann die Atome mitsamt ihren Kernen zerreißen. Das Big Whimper schließlich geht von einer ewigen Raumexpansion aus, bei der am Ende nicht mehr als einige matt strahlende Photonen übrig bleiben. Die gute Nachricht ist: Es bleibt noch ein wenig Zeit. Je nach Szenario beginnt das Ende in 30 bis 50 Milliarden Jahren.


Ach, Maria ... In der Kirchengeschichte wird Maria Magdalena als Heilige dargestellt. Oder als Hure. Schwester Jordana hat ihr einen Brief geschrieben, von Frau zu Frau. Text: Sr. Jordana Schmidt

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Liebe Maria Magdalena, in der Bibel steht, dass Jesus dich von sieben Dämonen geheilt hat. Sieben! Das ist schon eine ganze Menge! Du musst sehr besessen gewesen sein. Warst du krank? Oder verrückt? Manche glauben, du seiest eine Prostituierte gewesen. Eine, die alles haben wollte, nie genug bekam. Eine, mit der man sich nur heimlich traf, aber nicht zu kennen vorgab, wenn man ihr begegnete. Das hört sich für mich nach großer Einsamkeit an. Eine Frau auf der Suche. Nach Zärtlichkeit. Liebe. Zugehörigkeit. Angenommen sein. Und dann triffst du Jesus. Von da an bist du keine Suchende mehr. Deine Sehnsucht wird erfüllt. Weil er dich liebevoll ansieht. Nicht mit Abscheu oder Verlangen. Einfach nur auf dich schaut. Ein Blick, der in dir alle Mauern des Misstrauens sprengt. Du kannst ihm dein ganzes Herz schenken. Das ist der Augenblick deiner Heilung von den unendlich vielen Quälgeistern in dir, deinen Dämonen, die dir einredeten, alles zu brauchen, nicht zu genügen. Solche Dämonen kenne ich auch. Unzufriedenheit heißen sie bei mir. Oder hoher Anspruch. Etwas, das mich nicht zur Ruhe kommen lässt und Mauern zwischen mir und Gott, zwischen mir und meinem Gegenüber aufbaut. Mich gefangen nimmt. Von daher ist das Bild der Dämonen gar nicht so schlecht. Nach dieser Begegnung folgst du ihm überallhin. Nichts schreckt dich ab. Weder die Verurteilung zum Tod noch Hass und Spott der Leute bringen dich auf Abstand. Unter dem Kreuz harrst du aus und bist bei Jesus in seinen letzten Minuten. Und dann stirbt der, den du liebst. Das muss schlimm für dich sein. Kommen sie dann wieder? Die Dämonen? Und drücken dich zu Boden? Depression würde man heute sagen. In der Bibel steht, dass du auch nach seinem Tod bei ihm bleiben willst und früh am Morgen schon zum Grab gehst. Ob tot oder lebendig, du willst ihn in deiner Nähe wissen. Und dann ist er weg. Der Stein weggerollt und das Grab leer. Vor dem Grab brichst du zusammen. Verzweifelt und erschöpft. Denkst du dann an all die Stunden, die ihr zusammen hattet? An das, was du gesehen hast, die Heilung des Blinden oder des Aussätzigen, die Auferweckung der Toten – Lazarus und das Kind des Jairus, der tote Jüngling … alles das hat dir seine Kraft gezeigt, seine göttliche Kraft. Du hast sie selber an dir gespürt. Nicht so spektakulär wie eine Totenerweckung – oder vielleicht doch? Heute sind unsere Kirchen mit Bildern von dir ausgemalt. Sie zeigen dich als Heilige. Wäre das Wunder nicht viel größer, wenn sie dich auch als Sünderin, als Prostituierte zeigen würden? So, wie du warst, bevor du ihn kennengelernt hast? Das macht mir Mut. Das ist eine frohe Botschaft – und eine Heilsgeschichte. Eine, mit der ich mich identifizieren kann.


Und dann, vor dem Grab, bist du wieder die Suchende. Den, den deine Seele liebt, suchst du. Du willst ihn finden. Unbedingt! Du läufst zurück nach Jerusalem und fragst die Jünger. Aber auch die wissen es nicht. Als du zurückkehrst zum Grab, fragst du den Nächstbesten, der kommt, du flehst ihn an, er möge dir sagen, wo er ist, wohin man den toten Körper von Jesus gebracht hat. Du siehst nicht, du spürst nichts. Und merkst nicht, dass Jesus selbst es ist, der mit dir spricht. Weil der Schmerz dich gefangen hält. Das kenne ich. Wenn ich am Boden bin, hilft nichts. Dann bin ich nicht offen für gute Ratschläge und gut gemeinte Worte. Ich kann auch nicht erklären, was ich suche – weil ich es nicht weiß. Und dann kommt für mich der schönste Augenblick in der ganzen Bibel. Jesus sagt einfach nur »Maria«. Vielleicht mit Nachdruck, als ob er dir sagen will, »Frau, schau hin, wer vor deinen Augen steht!« Oder auch ganz still und sanft, so dass es dein Herz erreicht – genau die Stelle, wo noch die alten Narben sind. Er ist es, der dich ruft. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, wenn ich mir das vorstelle. Du, verzweifelt am Boden, und dann das eine Wort und alles hat seinen Sinn, alles ist klar und lebt wieder – auch in dir. Maria! Was dann kommt, das finde ich so typisch du … impulsiv und mutig. So wie du einfach zu Jesus gegangen bist, als er im Haus des angesehen Simon war. Egal was man von dir denkt. Du willst dich auf ihn stürzen, weil du dich freust, weil du ihn jetzt nicht mehr loslassen willst, weil dir in der dunklen Zeit des Todes klar wurde, was du alles verpasst hast, was du noch mit ihm reden und tun wolltest. So geht es mir jedenfalls immer wieder, wenn ich einen lieben Menschen viel zu früh verloren habe. Dann male ich mir aus, was ich alles hätte machen können und nicht getan habe. Und die Verzweiflung über die Unabänderlichkeit des Todes, der Abwesenheit für immer, drückt mich zu Boden. Ich wünschte mir auch eine zweite Chance bei manchen, so wie du sie mit Jesus bekommen hast. »Rabbuni«, rufst du, »lieber Meister!« Jesu Reaktion auf deine Freude verstehe ich nicht so gut. Warum durftest du ihn nicht umarmen und festhalten. Wenigstens kurz. Er müsse erst zum Vater. Warum? Manchmal sehe ich darin den Aufruf, dass Liebe frei lassen muss, damit Leben möglich ist. Dass Jesus sich nicht festlegen oder zurückhalten lassen wollte, nicht nahekommen konnte, vielleicht weil er sonst anders geblieben wäre? Weil es ihm sonst wieder schwer gefallen wäre, zu gehen? Ich weiß es nicht. Ich hätte ihn genau wie du umarmen wollen. Du hast ihn nicht festgehalten. Stattdessen lässt du dich senden von Jesus. Zu den Männern, den Aposteln sollst du wieder zurückgehen, um ihnen zu sagen, dass Jesus lebt! Ich finde es klasse, dass Jesus eine Frau die Botschaft der Auferstehung als Erste verkünden lässt. Und dann gerade dich, die jahrelang mit Männern keine guten Erfahrungen gemacht hat. Er hätte es auch anders machen können. Hat er aber nicht. Eine Frau sagt den großen Aposteln, die sich in ihren Häusern verkrochen haben, dass Jesus lebt. Geglaubt haben sie dir nicht richtig. Du warst halt eine Frau. Da hat sich in den 2000 Jahren Kirche leider nicht so viel geändert. Die Geschichte am Grab macht mich stark und bestätigt mich. Und ich wünschte mir noch mehr Selbstbewusstsein als Frau, heute, in dieser Männerkirche. Du warst etwas Besonderes für Jesus. Eine Geliebte. Nicht so, wie es im Da Vinci Code dargestellt wird, du warst einfach geliebt. Als Maria Magdalena! 96 : 97

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Ich lese deine Geschichte am Grab immer wieder gerne. In meinem Orden der Dominikanerinnen von Bethanien bist du die Patronin. Weil du erlebt hast, dass in den Augen von Jesus nicht mehr gezählt hat, was war, sondern was ist. Deine Liebe hat den gleichen Wert wie die von der anderen Maria, der Mutter von Jesus, die »die Reine, ohne Sünde« genannt wird. Euch zwei Frauen auf Augenhöhe – gleich geliebt, das ist revolutionär! Das hat unser Ordensgründer Pater Lataste verstanden und deswegen einen Orden gegründet, in dem ehemalige strafgefangene Frauen das gleiche Recht auf ein Ordensleben bekommen sollten, wie die sogenannten Unbescholtenen – wie sie 1869 noch hießen. Weißt du, Maria Magdalena, heute leben so viele Menschen ohne das Bewusstsein, dass sie geliebt sind. Ich wünschte mir, dass sie so eine Erfahrung machen, wie du sie am Grab hattest – beim Namen gerufen, ganz und gar erkannt und geliebt. Mit allen Ungereimtheiten ihres Lebens und allen Schwächen und Macken. Die hattest du auch. Aber darauf kommt es eben nicht an. Das ist auch meine tiefste Sehnsucht. Ich will auch angesehen werden – in Liebe. Will das Leben in Fülle spüren, auch wenn es Dunkelheit gibt. Ich will in der Gewissheit der Liebe mutig sein und manchmal auch ein bisschen frech wie du, als du erst dachtest, Jesus sei ein Gärtner. Ich will in der Gewissheit einer Geliebten Menschen überzeugen, dass sie ebenfalls gemeint und geliebt sind. Und dass der Tod für keinen und in keiner Zeit das Ende der Beziehung bedeutet. Dass alles weitergeht. Anders, aber nicht beendet. Ach, Maria Magdalena, zum Glück warst du so »Eine«. Eine, die von sieben Dämonen besessen war. Und eine, die ehrlich war, bereit zuzupacken und für ihre Überzeugungen einzustehen. Das macht mir Mut. Und hoffentlich noch ganz vielen anderen Menschen.


Natürliche Zahlen gibt es unendlich viele. Auch wenn es eigentlich nichts gibt, das man damit zählen könnte. Ein Rechenbeispiel. Text: Sven Groß

Die Welt der Mathematik besteht nicht allein aus Zahlen, wie man meinen könnte, wenn man an seine Schulzeit zurückdenkt. Die Mathematik ist ein Gedankenlabor, in dem abstrakte Gebäude im Kopf erschaffen, untersucht und verworfen werden, und dazu braucht es nicht mehr als Papier und Stift oder Tafel und Kreide – und eben die Kraft der Gedanken, sich auf dieses waghalsige Experiment einzulassen. So entstehen wunderschöne Dinge im Kopf mit wohlklingenden Namen wie Ringe, Ideale, Körper, Gruppen, Algebren und Moduln. Und manchmal entstehen eben auch Zahlen. Der italienische Mathematiker Giuseppe Peano (1858–1932) beschreibt die natürlichen Zahlen (1, 2, 3, 4, 5, ...) durch fünf einfache grundlegende Feststellungen, sogenannte Axiome. »Mehrdeutigkeit von Sprache ist die Haupt­ ursache von Problemen in der Philosophie«, stel­­ l­te Peano fest und versuchte deswegen, in der Mathematik klare und eindeutige Begrifflichkeiten zu finden. In mehreren bis dahin anerkannten Standarddefinitionen fand er grundlegende Fehler, die ihm aufgrund seiner äußerst präzisen Denkweise auffielen. Durch die Einführung formaler Axiomensysteme wollte er die Mathematik auf soliden Boden stellen und eine saubere Beweisführung ermöglichen, wie sie auch heute noch das tägliche Brot des Mathematikers darstellt. Damit machte er sich allerdings nicht nur Freunde. Als er sein streng logisch aufgebautes Grundlagenwerk Formulario Matematico auch

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in seinen Vorlesungen verwendete und seine Studenten damit völlig überforderte, kostete ihn das am Ende seinen Job an der Militär­ akademie in Turin. Berühmt geworden sind aber seine Peano-Axiome zur Beschreibung der natürlichen Zahlen. Die ersten beiden Peano-Axiome lauten: a) Die 1 ist eine natürliche Zahl. b) Jede natürliche Zahl hat genau einen Nachfolger, der ebenfalls eine natürliche Zahl ist. Diese beiden Axiome sorgen dafür, dass es durch a) einen Anfang gibt, aber wegen b) kein Ende. Und schon haben wir die Unendlichkeit konstruiert, und das auf ganz einfache und klare Weise, in der sich die Mathematik in ihrer ganzen Ästhetik und Schönheit präsentiert. In unserer erfahrbaren physischen Welt gibt es keine Unendlichkeit. Auch wenn uns große Zeitspannen oder räumliche Entfernungen so erscheinen mögen, sind sie letzten Endes doch endlich. Im Gedankenlabor der Mathematik hingegen ist die Unendlichkeit leicht nachzuvollziehen. Weil jede natürliche Zahl einen Nachfolger hat – auf die 1 folgt die 2, auf die 43678 die 43679 und immer so weiter –­ gibt es eben unendlich viele davon. Genauer gesagt, abzählbar unendlich viele, denn die Mathematik kennt noch weitere Kategorien der Unendlichkeit. Die Unendlichkeit führt zu teilweise abstrusen Eigenschaften. Zum Beispiel ist die Menge der geraden Zahlen (2, 4, 6, 8, ...) genauso mächtig wie die der natürlichen Zahlen. Der Beweis ist einfach und besteht darin, dass jeder natürlichen Zahl eineindeutig (durch Multiplikation mit 2) eine gerade Zahl zugeordnet werden kann – und umgekehrt. Was intuitiv paradox erscheinen mag, denn die geraden Zahlen umfassen ja nur eine Teilmenge, genauer gesagt die eine Hälfte der natürlichen Zahlen, liegt bei näherer Betrachtung schlicht an der Unendlichkeit: denn Unendlich geteilt durch zwei bleibt eben Unendlich.



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Bhutan – Montserrat 4:0 (1:0)

Zum Zeitpunkt der Fußball-WM 2002 belegen das buddhistische Königreich und der karibische Inselstaat die letzten beiden Plätze der FIFA-Weltrangliste. Im sogenannten »anderen Finale«, das am gleichen Tag wie das WM-Endspiel Deutschland – Brasilien stattfindet, verteidigt Bhutan Platz 202 erfolgreich. Den Pokal teilen sich beide Mannschaften.

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