FROH! 6: UNTERWEGS

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FROH!

UNTERWEGS



Ich hatte Genf vor drei Tagen verlassen und fuhr in gemächlichem Tempo. In Zagreb fand ich einen postlagernden Brief von Thierry vor: „Tavnik, Bosnien, den 4. Juni Heute früh strahlende Sonne, sehr heiß. Ich bin in die Berge zeichnen gegangen. Margeriten, grüne Kornfelder, stiller Laubwald. Auf dem Rückweg begegne ich einem Bauern auf einem Pony. Er steigt ab und rollt mir eine Zigarette, die wir am Wegrand kauernd rauchen. Mit meinen paar Brocken Serbisch kriege ich heraus, dass er Brote nach Hause bringt, dass er tausend Dinar ausgegeben hat, um ein Mädchen mit dicken Armen und großen Brüsten zu besuchen, dass er fünf Kinder und drei Kühe besitzt, dass man sich vor dem Blitzschlag hüten muss, der voriges Jahr sieben Leute getötet hat. Später bin ich auf den Markt gegangen. Heute findet er statt. Säcke aus einem ganzen Ziegenfell, Sensen, die einem Lust machen, ganze Roggenfelder abzumähen, Fuchsfelle, Paprika, Pfeifchen, Stoffschuhe, Käse, Schmuckstücke aus Blech, Korbwaren aus grünen Binsen, die von schnurrbärtigen Männern rasch fertig geflochten werden, das alles beherrscht von einem Publikum aus Einbeinigen, Einarmigen, Triefäugigen, Zittrigen und Lahmen auf ihren Krücken. Abends habe ich ein Glas unter den Akazien getrunken, um den Zigeunern zuzuhören, die sich selbst übertrafen, und auf dem Rückweg einen großen Klumpen ölige, rosa Mandelmasse gekauft. Das ist der Orient!“ Ich sah mir die Karte an. Darauf ein kleines Städtchen, von Bergen umgeben, im Herzen von Bosnien. Von dort wollte er nach Belgrad hinunter, wo er auf Einladung der „Vereinigung serbischer Maler“ seine Zeichnungen ausstellen sollte. Und ich sollte mich dort in den letzten Julitagen mit dem Gepäck und dem alten Fiat einfinden, den wir aufgemöbelt hatten, um die Reise fortzusetzen: Türkei, Iran, Indien, vielleicht noch weiter. Wir hatten zwei freie Jahre vor uns und Geld für vier Monate. Unser Programm war vage, aber bei solchen Unternehmungen ist es das Wichtigste, dass man überhaupt einmal losfährt.

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cover Kodachrom-Dia aus dem Jahr 1976, aufgenommen im Süden Afghanistans. Aus einer Sammlung privater Fotografien, die auf dem Hippie Trail entstanden sind. Foto: Patricia Young

2, 99 Mittelalterliche Handelsrouten. Aus William Shepherd: „Historical Atlas“ (Henry Holt and Company). New York, 1911 Abdruck mit freundlicher Genehmigung der University of Texas Libraries, Austin, Texas

3, 15, 29, 47, 65, 83, 98 Reisebericht des schweizerischen Schriftstellers Nicolas Bouvier, der vom 31. Juli 1953 bis zum 3. Dezember 1954 von Genf nach Kabul gereist ist. Aus Nicolas Bouvier: „Die Erfahrung der Welt“ (Lenos Verlag). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Lenos Verlags


6  Nimm mich mit  Die Packliste 9  Wann sind wir’n da?  Der Proviant 12 Landflucht Erste Fahrversuche 16  „Die ersten Jahre sind an mir vorbei gerauscht.“  Durchstarten mit Katrin Bauerfeind 19  Wo sind all‘ die Blumenkinder hin?  Eine Spurensuche 24 Vor uns die Zukunft  Über einen kontemplativen Revolutionär 30 RUN Bewegte Bilder 40 Rätsel für die rückbank  Spaß für Jung und Alt 42  „Hauptsache ein bisschen rumfahren.“  Cruisen mit Philipp Poisel 46 A nach B  Manche Autos sind mehr als nur Fahrzeuge 48  „Der Reisende ist jemand, der verschwindet.“  Zugfahren mit Roger Willemsen 52  Leben aus dem Koffer  Verlorenes und Wiedergefundenes 54 Alter Falter!  Kleine Schmetterlingskunde 57 Ruhezone Bitte nicht stören! 64 Kleiner Streuner  Aus den Augen einer Katze 68 Das Fernweh bleibt  Eine Auslegung 70 Flug-Linien Zeichnungen von Jorinde Voigt 76 Seitenblick Was einen beim Lesen stört 84  „Heute kann ich sagen: das ist mein Leben!“  Reise ins Ich mit Margarete Mitscherlich 87 Auf leisen Sohlen  Fußweg in eine bessere Zukunft 93  ferien für dich  Zum Schluss was Gutes 94 Should I stay or should I go  Küchenpsychologie 96 Wegbegleiter Unsere Reisegruppe


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Nimm mich mit! Eine Reise ist nur so gut wie ihr Gepäck. text: Michael Schmidt FOTO: Andreas Mass

3 Tuchfühlung

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4 Naturschurzgebiet

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1 Taschenpost

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2 Geldspeicher

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Gut, das s Du dab ei bist! 8 | 9


Wann sind wir’n da? Essen zum Einstecken. Rezepte: Oliver Schneider Illustration: Franca Neuburg

PoGaça

Esfiha

Türkische Teigtaschen

Brasilianische Teigtaschen

Für den Teig:

Für die Füllung:

Für den Teig:

Für die Füllung:

700 g Mehl ½ Würfel frische Hefe ½ TL Zucker 200 ml Joghurt 200 ml Öl 2 Eier, 1 Eigelb trennen 2 EL Milch 1 Prise Salz

250 g Schafskäse 1 Bund gehackte Petersilie

500 g Weizenmehl 30 g frische Hefe 2 EL Zucker 1 EL Salz 1 EL Ghee oder Butter Wasser

400 g Hünchenbrust, in feine Streifen geschnitten 1 Bund Lauchzwiebeln, in feine Ringe geschnitten 1 Bund Petersilie, fein gehackt 1 Bund Pfefferminz, fein gehackt 1 kleine Zwiebel, fein gewürfelt 4 Tomaten, in kleine Würfel geschnitten Saft einer Limette 1 EL Butter oder Olivenöl Salz, Pfeffer

Hefe mit Zucker und 2 EL lauwarmer Milch mischen und mit den restlichen Zutaten (außer dem Eigelb) zu einem weichen, geschmeidigen Teig verkneten. Diesen an einem warmen Ort ruhen lassen, bis er das doppelte Volumen hat. Schafskäse mit Hilfe einer Gabel zerbröseln und mit gehackter Petersilie mischen. Den Teig in etwa tischtennisballgroße Bällchen aufteilen und dann zu flachen Kreisen ausrollen. Auf eine Hälfte der Kreise 1 EL der Füllung legen, dann die andere Hälfte umklappen, sodass die Füllung nicht mehr sichtbar ist. Die halbmondförmigen Taschen an den Rändern fest andrücken und auf das Blech legen. Das Eigelb verquirlen und auf die Teigtaschen streichen. Sesam oder Schwarzkümmel darüberstreuen. Auf ein mit Backpapier ausgelegtes Blech geben und bei 200 °C (180 °C Umluft) ca. 20 Minuten (bis sie schön braun sind) backen.

Die Zutaten für die Füllung in einer Schüssel vermengen und während der Herstellung des Teiges gut durchziehen lassen. Mehl und Salz in eine Schüssel sieben, Mulde eindrücken. Hefe mit Zucker in ca. 300 ml warmem Wasser verrühren, dann die gesamte Masse kneten, bis ein weicher Teig entsteht. Zugedeckt an einem warmen Ort ca. 30 Minuten gehen lassen. Zu Würsten formen und glatt ausrollen, sodass Teigbahnen entstehen, die in Vierecke geteilt werden. Die Füllung in die Mitte der Vierecke geben, die Ecken nach oben klappen und gut zusammendrücken. Auf ein mit Backpapier ausgelegtes Blech legen und bei 200 °C (180 °C Umluft) ca. 20 Minuten (bis sie schön braun sind) backen.


Samosa

Empanadillas

Indische Teigtaschen

Spanische Teigtaschen

Für den Teig:

Für die Füllung:

Für den Teig:

Für die Füllung:

500 g Mehl 60 ml Pflanzenöl Wasser nach Bedarf

4 EL Ghee 1 TL Kreuzkümmelsamen 600 g Kartoffeln, geschält und in Würfel geschnitten 200 g frische Erbsen 1 TL gemahlene Kurkuma Salz nach Geschmack ½ TL Chilipulver 1 EL geriebener frischer Ingwer 4 EL gemahlene Granatapfel­ kerne Pflanzenöl zum Frittieren

120 ml trockener Weißwein 25 g Butter 25 g Schmalz 300 g Mehl Pflanzenöl zum Frittieren Salz

1 Zwiebel, fein gehackt und in Olivenöl glasig gedünstet 3 EL Tomatenmark 200 g Thunfisch aus der Dose im eigenen Saft 1 hartgekochtes Ei, gewürfelt 2 eingelegte geröstete Paprika, in Streifen geschnitten 1 Sardellenfilet Pfeffer, frisch gehackte Petersilie

Das Mehl mit dem Salz und Öl vermischen. Mit Wasser auffüllen, bis sich die Masse zu einem geschmeidigen Teig verkneten lässt. Beiseite stellen. Für die Füllung das Ghee in einem Wok erhitzen und die Kreuzkümmelsamen darin sautieren. Die Kartoffeln, die Erbsen, das Kurkumapulver, das Salz, das rote Chilipulver und den geriebenen Ingwer hinzufügen und köcheln, bis das Gemüse gegart ist. Die gemahlenen Granatapfelkerne unterrühren und 5 Minuten ohne Deckel köcheln. Vom Herd nehmen und abkühlen lassen. Den Teig in 10 gleich große Portionen teilen. Jeweils zu flachen Kreisen mit einem Durchmesser von 16 cm ausrollen. Die Teigkreise von der Mitte zum Rand einschneiden und dann auf der Handfläche vorsichtig zu einem Tütchen formen. Die Tütchen mit je einem Esslöffel der Füllung füllen, dann das offene Ende fest zusammendrücken, sodass eine dreieckige Teigtasche entsteht. Mit den restlichen Teigkreisen ebenso verfahren. Das Öl in einem Wok erhitzen. Immer nur wenige Teigtaschen auf einmal hineingleiten lassen und bei mittlerer Hitze goldbraun frittieren. Heraus­ nehmen und auf Küchenpapier abtropfen lassen.

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Den Wein mit 120 ml Wasser, Butter und Schmalz in einen Topf geben und unter Rühren sanft erhitzen, bis das Fett geschmolzen ist. Wenn die Mischung heiß ist, aber nicht kocht, den Topf vom Herd nehmen. Mehl und 1 Prise Salz hineinsieben und mit einem Holzlöffel sorgfältig rühren. Den Teig auf eine leicht bemehlte Arbeitsfläche geben und kneten bis er glatt ist. Zu einer Kugel formen und in einer Schüssel abgedeckt 2 Stunden ruhen lassen. Den Teig auf einer leicht bemehlten Arbeitsfläche 3 mm dick ausrollen. 30 – 36 kleine Portionen Füllung (2 TL) in regelmäßigen Abständen auf eine Teighälfte setzen und die andere darüberklappen. Den Teig mit einem kleinen Rand um jede Füllung ausschneiden, entweder mit einem Teigrädchen oder mit einer Ausstechform. Die Teigränder fest zusammendrücken, damit die Empanadillas beim Frittieren nicht aufgehen. Das Frittieröl auf 180­­­ – 190 °C erhitzen und die Empanadillas portionsweise hineingleiten lassen und in 6–8 Minuten goldbraun frittieren. Auf Küchenpapier abtropfen lassen und leicht salzen.


Fatayer bi Lahim

Gyoza

Libanesische Teigtaschen

Japanische Teigtaschen

Für den Teig:

Für die Füllung:

Für den Teig:

Für die Füllung:

350 g Mehl ½ TL Salz 20 g frische Hefe 1 TL Zucker

1 kleine Zwiebel, fein gewürfelt 1 EL Ghee oder Butterschmalz 500 g Lammhackfleisch 3 EL Pinienkerne 1 TL Zimt-, Piment und Paprikapulver (edelsüß) schwarzer Pfeffer, frisch gemahlen Salz Pflanzenöl 1 Eigelb

250 g Mehl 100 ml Wasser 1 Ei 5 Tropfen Kansui (besonders kalium- und natriumkarbonathaltiges Wasser) ½  TL Salz

150 g Hackfleisch oder Tofu 1 TL Sojasauce 1 TL Chiliflocken 1 kleine Karotte 2 Knoblauchzehen 1 kleines Stück Ingwer 100 g Kohl Öl zum Braten

Mehl und Salz in eine Schüssel sieben, Mulde eindrücken. Hefe mit Zucker in 200 ml warmem Wasser verrühren, alles zusammen kneten, bis ein geschmeidiger Teig entsteht. Zugedeckt an einem warmen Ort 30 Minuten gehen lassen. Pinienkerne in einer schweren Pfanne rösten, bis sie eine schöne braune Farbe angenommen haben. Ghee in der Pfanne erhitzen, Zwiebel bei mittlerer Hitze glasig dünsten. Das Fleisch hinzufügen und beim Anbraten mit dem Kochlöffel zerkrümeln. Wenn der Saft verdampft ist, Pinienkerne und Gewürze unterrühren und 5 Minuten mitrösten. Mischung mit Salz abschmecken und abkühlen lassen. Backofen auf 225 °C vorheizen, Backblech mit Öl einpinseln (oder Backpapier verwenden). Teig nochmals kneten, zu einer Rolle formen und halbieren. Jede Hälfte dünn ausrollen und Kreise von ca. 10 cm Durchmesser ausstechen. Eigelb mit 1 EL Wasser verquirlen. In die Mitte der Kreise 1 TL Füllung geben, mit etwas Wasser beträufeln. Ränder leicht mit Eigelb einpinseln. Die Ränder so umschlagen, dass ein Dreieck entsteht und ein Teil der Füllung in der Mitte noch zu sehen ist. Auf das Backblech legen, mit dem restlichen Eigelb bepinseln und nochmal ca. 10 Minuten gehen lassen. Auf der mittleren Schiene ca. 15 Minuten (bis sie schön braun sind) backen.

Mehl in eine Schüssel geben. Ei mit dem Salz, Kansui und 50 ml Wasser verquirlen. Ei-Mischung in die Schüssel geben und mit dem Mehl verkneten. Nach und nach das restliche Wasser hinzugeben und ver­ kneten, bis ein geschmeidiger Teig entsteht. Dann den Teig zu einer Kugel formen, zudecken und eine halbe Stunde ruhen lassen. Den Teig nochmals kurz durchkneten, dann auf einer leicht bemehlten Fläche 2 mm dick ausrollen. Kreise mit 8 cm Durchmesser ausstechen. Teigreste wieder durchkneten, ausrollen und ausstechen bis der gesamte Teig aufgebraucht ist. Kohl in dünne Streifen schneiden, Karotte fein raspeln, Knoblauch klein hacken und den Ingwer fein reiben. Das Hackfleisch in eine Schüssel geben, mit Sojasauce und Chiliflocken mischen. Anschließend Karotte, Knoblauch, Ingwer und Kohl hinzugeben und gut vermischen. Die Füllung ist jetzt fertig. Man kann sie nun sofort verwenden oder besser über Nacht in den Kühlschrank stellen und gut durchziehen lassen. Einen Teelöffel der Füllung in die Mitte eines Teigkreises setzen, den Rand mit Wasser bestreichen und das Ganze gut zusammendrücken. In einer Pfanne etwas Öl erhitzen und die Teigtaschen nebeneinander in die Pfanne setzen. Soviel Wasser auffüllen, dass es zu einem Drittel der Höhe der Gyōza zu einem Drittel damit bedeckt sind. Zugedeckt bei mittlerer Hitze garen, bis das Wasser verdampft ist und die Unterseiten der Teigtaschen die Farbe wechseln. Den Deckel abnehmen und etwas Öl über die Gyōza träufeln. Weitergaren, bis die Unterseiten knusprig sind, dann die Teig­ taschen wenden und auch die andere Seite bräunen. Aus der Pfanne nehmen und abkühlen lassen.


Landflucht Wer in der sächsischen Provence lebt, sollte einen Führerschein haben. Drei Pflichtfahrten. Text: Marc Oliver Rühle Illustration: Julia Krusch

Überlandfahrt Mein Bus hält. Ich muss eingenickt sein. Im Schlaf verging die Strecke. Nun bin ich da. Das Dreiländereck. Wenn man über die Grenze will, kann man zwischen Tschechien und Polen entscheiden. Gegenüber der Haltestelle winken Gerda und Johannes aus ihrem Opel. Kaum eingestiegen, startet Gerda den Motor. „Mit 66 Jahren fängt das Leben an“, sagt sie. Johannes lacht und gesteht, „jetzt sind Gerda und ich ja schon über 80 Jahre alt.“ Aber dank Gerda rollt der Wagen. Wir fahren nun zu Kaffee und Kuchen in die Wohnung der beiden Bäckers­ leute im Ruhestand. „Sie hat das nur für mich gemacht“, sagt Johannes. Gerda rullt daraufhin etwas im Oberlausitzer Dialekt, ich erschließe mir daraus einen Ausdruck von Freude und Stolz. „Ganz schön triezen lassen habe ich mich, junger Mann“, sagt Gerda. „Ein ganzes Jahr haben sie mich gequält. Ich halte das durch, habe ich mir immer selbst Mut gemacht. Die Leute haben sich schon amüsiert, oh Gerda, die Bäume müssen aus Gummi sein. Wir sind ja nur 100 im Ort, da bleibt nichts geheim.“ Mit 66 Jahren hatte sie dann den Führerschein und alle 100 haben gestaunt, als man sie am Steuer sah. Gerda biegt schwungvoll in eine Straße ein, von der Bäckerstube auf den Fahrersitz. „Und schon sind wir da“, freut sich Gerda. Wir sitzen am Tisch, Gerda gießt Milch aus dem Kännchen. „Wie sollte ich bloß den Führerschein machen, wenn ich den ganzen Tag Brötchen backe?“ Als Johannes 1994 im Krankenhaus in Ebersbach lag, lief sie öfter den Weg auf der Hauptstraße zurück, weil kein Bus mehr fuhr. Fast vier Kilometer. Nur der Kottmar mit seiner Spreequelle, an dessen Südhang ihr Dörfchen liegt, begleitete Gerda auf ihrem Fußmarsch über den Ebersbacher Flur, vorbei an den Wiesenpiepern und einem Bauernhof. „Das kann ich auf Dauer nicht alles erlaufen, dachte ich mir damals.“ 12 | 13


Autobahnfahrt Der blaue Himmel lässt die feuchte Fahrbahn funkeln. Der Schnee geht, Karin beschleunigt. Sie strauchelt sich aufgeregt auf die Autobahn. Am Ende der Auffahrt zur A4 in Richtung Görlitz drückt sie durch und presst uns vor einen Fernkraftfahrer. Karin lacht aus reiner Verzweiflung und Holger arbeitet auf Hochtouren. Greift ihr ins Lenk­ rad. Ich drehe mich um, blicke durch die Heckscheibe und lese den Namen des Truckers in großen Lettern. M A R C O hinter uns ist ge­duldig in die Eisen gegangen. Wie verständnisvoll Menschen reagieren können, wenn man als Anfänger gekennzeichnet ist, denke ich. „Du musst Entscheidungen treffen und diese dann ausführen, sonst fängst du an zu schwimmen.“ Holger redet Karin und uns aus dem nervösen Manöver und wir beginnen jetzt gut im Rückenwind auf der Strecke zu liegen. Holger will drüben gleich tanken. „Wenn man schon mal in der Nähe ist“, rechtfertigt er. Karin fährt und lebt in diesem Tempo nur für Bernhard und Marie. Mann und Tochter. Bernhard darf nicht wissen, dass sie heimlich den Führerschein macht. Marie ist noch zu klein, um überhaupt irgendetwas verraten zu können. Zum einen soll es eine Überraschung sein. Zum anderen ein Befreiungsschlag. „Selbst entscheiden, wo und wann. Endlich Marie alleine vom Kinder­ garten abholen, so wie ich will ankommen und fortgehen“, schwärmt Karin. „Wenn man in der Großstadt geboren wird, kann man nicht auf dem Land ausgesetzt werden. Doch genauso fühle ich mich, wenn mein Mann aus der Garage rollt.“ Allein gelassen. Von einem Viertürer und Bernhard. Alles ging so schnell mit Karin, jetzt nimmt sie selbst das Tempo auf. Holger will, dass sie den Tacho auf 240 Stundenkilometer treibt und die linke Spur nutzt, „um Platz zu schaffen“, wie Holger das nennt. Karin wirkt sichtlich erleichtert, ihr eigener Herr zu sein. Hier

auf der A4. „Mit dem Dienstwagen meines Mannes, der ja eigentlich unser Auto ist, dürfte ich selbst mit Führerschein nicht fahren und schon gar nicht so schnell! Deswegen möchte ich mir auch einen kleinen Gebrauchtwagen zusammensparen“, sagt sie. Karin wird es sicher schaffen, so wie sie auch diesen Führerschein vom Haushaltsgeld abgezwackt hat. Ihre Locken wackeln empört, wenn sie davon erzählt. So wie Karin gerade das Rechtsfahrgebot missachtet, so frei und unbedacht, so korrekt und genormt stelle ich mir Bernhard vor. Holger dreht das Radio lauter. „Ich war noch nie ohne Bernhard in Görlitz“, verkündet Karin. Trotz Katzensprung und frisch verlegtem Asphalt. „Aus Verzweiflung bin ich manchmal mit dem Bus, der vor unserem Einfamilienhaus hält, bis zur Endstation gefahren und dort durch die Siedlung spaziert, durch Querstraßen und an einem Einkaufszentrum vorbei.“ Sie berichtet davon wie von einem Abenteuer. „Dort habe ich einen Käse als Souvenir gekauft, den es im Sortiment unseres Ortes nicht gibt, und habe mich wieder in den Bus gesetzt.“ Die Monatskarte könne man ja ruhig mal ausnutzen, sagt Karin, als müsse sie sich vor uns rechtfertigen.


Nachtfahrt Nur das Aufflackern der Mittelstreifen, die sich vor uns abrollen, und das monotone Rauschen der knapp 100 Stundenkilometer sind leichte Reize. Wir absolvieren gemeinsam Roberts Nachtfahrt. Die letzte Pflichtfahrstunde vor der Führerscheinprüfung. Das heißt, Robert fährt, Fahrlehrer Zschoche gibt ab und an und immer seltener Hinweise, und ich sitze auf der Rückbank, schaue in die Finsternis der Land­ straße hinter der Fensterscheibe. Eigentlich schweigen wir, denn die Strecke in Richtung der Lebkuchenstadt Pulsnitz ist kaum befahren und nicht zu kommentieren. Dieser Sonntagabend lässt die Autos stumm und blind in den Einfahrten und Seitenstraßen der kleinen, grauverputzten Ortschaften zurück. Manchmal noch mit Standlicht. Im Sommer sagen manche Besucher sächsische Provence zu dem Gebiet, was sie nordöstlich von Dresden durchfahren. Mit weiten Wiesen und hohen Kornfeldern. In den Schänken gibt es Cordon Bleu und Radeberger. Immerhin aus der unmittelbaren Region. Die Einheimischen können mit dem Vergleich wenig anfangen. Sie sind nie in Frankreich gewesen, vielleicht mal in den polnischen Masuren. Aber um ihre Heimat damit zu vergleichen, fehlen hier die Seen. Robert muss kaum schalten, er funktioniert gut, Zschoche wirkt fast wehmütig in seinen Bart versunken, sodass ich das Gefühl habe, meine Fragen würden nur stören. Robert scheint das Fernlicht zu genießen, wie es die triste Winterlandschaft ohne Schnee immer wieder anschneidet, je nach Kurvenverlauf und Streckenabschnitt. Naht ein Dorf, reflektieren vorab Schriftzüge von Werbetafeln oder Logos auf Emailleschildern. Nach dem Ortsausgang umschließen uns die Wälder, denen wir begegnen. Stoisches, dichtes Tannengrün lässt uns durch Tunnel fahren. Fast beneide ich Robert für dieses Fahrempfinden. 14 | 15

„Fühlst du dich jetzt frei?“, hätte ich ihn gern gefragt. Robert schaltet derweil in die Fünf. Zschoche weist auf möglichen Wildwechsel hin und welche Möglichkeiten je nach Abstand zum Tier bleiben. „Reicht die Entfernung, dann Lichthupe“, sagt er. „Ansonsten Lenkrad festhalten und durch, so ist das Leben.“ Ich stelle mir die Rehe dazu vor und wie der Teer ihnen die Reviere durchtrennt. In den Städten, die Robert bald selbstständig erfahren kann, haben sich die Tiere an den Verkehr gewöhnt. Aber Robert muss sich nicht an die Stadt gewöhnen, er kann ja zurückfahren. Jederzeit, über Land, in sein Heimatdorf. Wir sind eine großzügige Schleife aus Bundes- und Landstraßen gefahren. Zschoche ist zufrieden. Robert sicher. „Sollen wir dich an der Haltestelle absetzen? Der letzte Bus müsste gleich kommen!“ „Ja“, sage ich und ärgere mich ein wenig darüber. Es ist so schön warm hier drinnen. Robert kennt die Fahrpläne, bald wird er sie vergessen. Auch das Gefühl, den letzten Bus verpasst zu haben und nach Hause trampen zu müssen. „Danke!“ Dumpf schlägt die Tür zu und verschließt die Karosserie. Mein Atem raucht in der kalten Luft und ich reibe meine Hände aneinander. Der Bus hält. Ich bin der einzige Fahrgast. Ich habe selbst noch keinen Führerschein. Auch bei der letztmöglichen, dritten praktischen Fahrschulprüfung fiel ich durch. Zwei Tage vor meinem Auslandsjahr. Nichts konnte mich damals aufhalten – auch die rote Ampel nicht, die ich überfuhr. „Sie haben ja jetzt ein Jahr Zeit, darüber nachzudenken“, hatte der Fahrlehrer gesagt. Und dabei ist es geblieben.


Auf der Straße nach Ordu. 20. Stunde am Lenkrad

Jetzt bin ich an der Reihe zu schlafen. Im Wagen schlafen, schlafen, sein Leben träumen. Der Traum ändert bei jedem Stoß Richtung und Farbe; er führt seine Geschichte schnell zu Ende, wenn eine tiefere Querrinne oder ein jäher Gangwechsel einen schüttelt oder wenn sich tiefe Stille herabsenkt, weil der Fahrer den Motor abschaltet, um ebenfalls auszuruhen. Man drückt den schmerzenden Kopf gegen die Fensterscheibe, sieht im Morgennebel eine Böschung, Baumgruppen, einen Flussübergang. Ein Hirtenmädchen in bunten Lederpantoffeln mit einer Haselgerte in der Hand treibt eine Schar Büffel vorbei, deren heißer, stark riechender Atem einen vollends aufweckt. Es ist schön, in einer solchen Wirklichkeit aufzuwachen. Die kleine Hirtin nähert ihren Kopf vorsichtig, fluchtbereit dem Fenster. Sie ist zwölf oder dreizehn Jahre alt und trägt ein rotes Tuch um den Kopf und eine Silbermünze um den Hals. Die beiden unrasierten Kerle verblüffen sie maßlos.

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„Die ersten Jahre sind an mir vorbei­­ gerauscht“ Katrin Bauerfeind in der Black Mamba. Interview: Sebastian Pranz Foto: Frederic Lezmi

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K atrin, wohin gehen wir jetzt – Mexiko, China oder die Zukunft?

Ich kenne weder Mexiko noch China. Aber Zukunft ist auch geil. Oh, die Zukunft gibt’s auch nicht mehr, sehe ich gerade. Da ist jetzt „R ace for Atlantis“.

Ja schade, dann ist nix mit Zukunft. laufen wir doch am Free-Fall-Tower vorbei, dann kommen wir durch Afrika zurück nach Berlin.

Das klingt nach einer schönen Reise. Es soll ja ganze Busladungen asiatischer Touristen geben, die Deutschland vor allem aus dem Phantasialand kennen.

Auf der Karte, die ich an der Kasse bekommen habe, ziehe ich eine Linie, die Berlin mit Mexiko und China verbindet. Zunächst geht es aber nach Afrika. Im Phantasialand hat man alles nah beieinander. Ich treffe Katrin Bauerfeind vor der Black Mamba, dem schnellsten Fahrgeschäft hier im Park. In den Loopings wirkt eine Beschleunigung, die etwa dem Start einer Saturn-Rakete entspricht. Katrin zieht ihre Stilettos lieber aus und fährt barfuß. Nach der Fahrt laufen wir durch eine Welt aus Plastik. Die Sonne scheint, neben uns hören wir Brüllaffen, die durch das Raumklangsystem streifen. Als wir in Berlin sind, müssen wir feststellen, dass es das Brandenburger Tor nicht mehr gibt. Stattdessen steht dort ein Kettenkarussell. Auch gut!

Ich hab ja die Sendung Deutschland von A bis Z gemacht, die baute auf zwei Sendungen über die Schweiz und Österreich auf. Da war es einfach: Wir sind mit unseren Klischees angereist und haben geschaut, was da dran ist. Sprechen die Schweizer wirklich langsamer als wir? Gibt’s in Österreich wirklich nur Germknödel? Aber in Deutschland war das mit Abstand am schwierigsten, denn wir waren ja Teil des Klischees. Ich glaube, ich würde gerne mal eine Tour durch die deutsche Provinz machen. Irgendwie kennt man das ja gar nicht. Wie ist das, wenn Du reist? Machst Du Dir einen festen Plan, wann Du wo bist?

Mein Problem ist, ich kann mich nicht entscheiden. Ich will mir immer bis zum Schluss alle Optionen offenhalten. Manchmal fällt mir spätabends ein, dass ich eine Freundin besuchen könnte. Und dann setze ich mich ins Auto und fahre einfach los. Das kommt immer wahnsinnig spontan rüber, aber eigentlich ist es so, dass ich mit meiner Entscheidung warte, bis nichts anderes mehr geht.


Funktioniert so auch Deine K arriereplanung?

Du meinst, dass ich mir alle Optionen offenhalte? Also nach meiner Arbeit bei Ehrensenf hätte sich sofort eine Schublade geboten, in die ich hätte reinklettern können. Und entsprechende Angebote hatte ich auch. Aber ich wollte was Neues ausprobieren, hab lieber Reisereportagen gemacht und Polylux moderiert. Bevor ich mich auf eine Farbe festlege, wollte ich noch mal den Regenbogen entlangspazieren. Wir sitzen in einem Café in Alt-Berlin und trinken Cola. Katrin raucht. Wenn sie sich besonders ereifert, fällt sie in leichtes Schwäbisch. Die Antworten unterbricht sie immer wieder, um Raum für ihr tiefes Lachen zu schaffen. Du hast mal gesagt, dass Du im Fernsehen etwas über Dich selbst lernen willst. Und? funktioniert das?

Na ja, ich lerne schon viel, weil ich mich ständig mit mir selbst auseinandersetze und Rollen ausprobiere. Aber das ist auch die große Gefahr. Irgendwann denkt man nur noch über seine Wirkung nach, beschäftigt sich mit den Reaktionen der Zuschauer, der Presse oder dem Quotendruck – und dann kreist man nur noch um sich selbst. Und wie kommst Du da wieder raus?

Ich sage mir, dass sich die Welt nicht um mich dreht. Auch wenn sich das vielleicht in dem Moment so anfühlt. Der Typ drei Tische weiter weiß wahrscheinlich überhaupt nicht, wer ich bin und kümmert sich auch einen Dreck darum, was gestern in der Presse stand. Manchmal hilft es auch, einfach mal auf einen hohen Berg zu klettern und in die Weite zu schauen. Dein Leben hat ja in den letzten Jahren ziemlich an Fahrt aufgenommen. Was würdest Du sagen: Achterbahn oder Free-Fall Tower? Es gibt auch noch ,Bienchenjagd‘.

Die ersten Jahre sind völlig an mir vorbeigerauscht. Das war schon eher Black Mamba – da hast du zwar zehn Loopings, aber dir wird auch ziemlich schummrig. Ich hab zum Beispiel Diplom gemacht, musste aber abends schon wieder auf Sendung sein. Meine Diplomfeier bestand darin, dass ich besoffen Ehrensenf moderiert hab. Und so ging das weiter – mein physisches Tempo war eigentlich zu schnell für den Kopf. Was total schade ist, weil ich die guten Momente nicht ausreichend gewürdigt habe. Andererseits wollte ich natürlich alles mitnehmen, denn es war ja auch wahnsinniges Glück. Ich habe mir einige Interviews angeschaut, die Du gemacht hast. Am meisten hat mich eigentlich das Gespr äch mit Christoph Schlingensief beeindruckt. Wie war es für Dich, mit ihm über seinen bevorstehenden Tod zu sprechen?

Ich habe wahrscheinlich noch nie so wenig gesagt in einem Interview. Das Kamerateam, die Beleuchter und Kabelträger – alle waren mucks18 | 19

mäuschenstill. Viele haben mir danach gesagt, dass sie irritiert waren. Aber eigentlich war es das Ehrlichste, was er mir in diesem Moment bringen konnte, zu sagen, dass er Angst hat zu sterben und bleiben möchte. Hast Du schon mal darüber nachgedacht, was nach dem Fernsehen kommen könnte?

Klar, ich bin wahrscheinlich die Person mit den meisten Plan Bs. Das Problem ist nur, da ist einer so unrealistisch wie der andere. Was könnte denn unrealistischer sein als das, was Du gerade schon machst?

Ich glaube, ich wäre zum Beispiel eine gute Lehrerin geworden. War sogar mal für evangelische Theologie in Tübingen eingeschrieben. Eine Zeit lang dachte ich, jetzt werde ich Flugbegleiterin oder mache ein eigenes Café auf. Ich könnte mir auch vorstellen, Schaffnerin zu sein – die Ansagen mache ich dann im Dialekt des Ortes, wo der Zug grad hält. Also klassisches Entertainment, nur im Zug. Warum hast Du denn überhaupt das Bedürfnis einen Plan B zu haben?

In dem Job kann es schnell passieren, dass dich keiner mehr sehen möchte. Und als Frau ist statistisch gesehen doch mit 40 Schluss. Aber am Ende hab ich dann trotzdem keine Idee, was besser wäre als das, was ich gerade mache. Bisher war es in meinem Leben immer so, dass alles zur richtigen Zeit passiert ist. Für meine schwäbische Herkunft bin ich auch schon sehr wagemutig – als ich mein Praxissemester bei Ehrensenf gemacht habe, hatte ich auch eine Zusage vom Herrn Daimler. Das wäre die sichere Schiene gewesen. Aber ich hatte so Bauchschmerzen damit, dass ich mich irgendwann dagegen entschieden habe. Fahren wir noch was?

Na sicher! Der Park hat sich geleert, in China wird ein lastwagengroßer Drachen in die Garage bugsiert. In Mexiko treffen wir dann unseren Fotografen wieder, der während des Gesprächs eine ganze Weltreise gemacht haben muss. Katrin erzählt uns, dass sie als Abiturientin schon Lose auf dem Jahrmarkt verkauft hat: „Hier noch mal Hauptgewinn abgreifen“, sagt sie. Ich stelle sie mir als Schaustellerin vor, und irgendwie klappt das ganz gut. Ein weiterer Plan B? Die Frage wird sich vermutlich nicht stellen. Ihre Zukunft hatte ja gerade erst Neu-Eröffnung.

Katrin Bauerfeind, Jahrgang 1982, wurde in den letzten Jahren als die Neuentdeckung der deutschen Fernsehlandschaft gefeiert. Sie mode­ rierte u.a. das ARD-Magazin „Polylux“ oder für 3sat die Reisesendung „1-2-3 Moskau“. Seit 2009 hat sie ihre eigene Sendung „Bauerfeind“, ein Popkulturmagazin auf 3sat, und ist sie fester Teil des Teams in Harald Schmidts Late Night Show.


Wo sind all‘ die Blumenkinder hin? Eine ganze Generation wollte lieber woanders sein. Text: Maren Niemeyer


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Vorhergehende Seite: Schwarzes Brett mit Nachrichten der Reisenden Gegenüberliegende Seite: Idris Çolpan vor dem Eingang des Pudding Shop. FotoS: puddingshop.com

Undatierte Aufnahmen.

Joschka Fischer war hier. Bill Clinton, Cat Stevens, Klaus Hoffmann, Philippe Starck und Stefan Loose auch. Als sie noch jung waren, irgendwann zwischen 1965 und 1979. Mit ihnen pilgerten Hunderttausende junge Rucksackreisende aus Westeuropa auf dem Hippietrail: Über Marokko, Ibiza, Kreta, Istanbul, Iran und Afghanistan nach Goa und Kathmandu, dem Ziel der Träume. Sie reisten in VW-Bussen und klapprigen Mercedes-Kombis, mit dem Mofa und dem Reisebus. Für viele wurde es das Abenteuer ihres Lebens. Im Istanbuler Stadtteil Eminünö, in der Nachbarschaft der berühmten Hagia Sophia und der Blauen Moschee, war der Hotspot der jungen Reisenden. Auch heute steht noch mit leuchtenden, bunten Buchstaben das Wort „Pudding Shop“ über dem Eingang. Als Idris Çolpan und sein Bruder Namik 1957 ihren Café-Imbiss im Herzen Istanbuls eröffneten, war der türkische Reispudding die Spezialität des Hauses. Sie ahnten damals nicht, dass er wenige Jahre später zum Na­mens­geber für die inoffizielle Reisezentrale des Hippietrails werden würde. Der Ort des kleinen Cafés war ideal, er lag genau auf der Strecke zwischen dem Abendland und Asien, hatte einen großen Parkplatz für die VW-Busse vor der Tür und zwei Wirte, die ein Herz für die langhaarigen Reisenden hatten. Hier wurden Reisepässe und Tickets verkauft, gebrochene Herzen geheilt und Verabredungen getroffen. Auf einem großen Schwarzen Brett an den Wänden des Lokals hingen hunderte Zettel in vielen Sprachen. „Bye bye Gisela aus Köln, du kannst meinen Schlafsack behalten. See you Christmas in Goa – Doug“. Mündlich wurden alle relevanten Tipps weitergegeben: Wo kann schnelles Bargeld mit Blutspenden verdient werden, welche Straßen und Pässe sollte man wegen gefährlicher Räuberbanden besser meiden. Und nebenbei wurde dringend vor der iranischen Drogenpolizei gewarnt, die selbst im Bulli-Ersatzreifen die Haschischvorräte aus Marokko aufspürte und so manchen Hippietraveller für mehrere Jahre hinter iranische Gitter brachte.


Die jungen Globetrotter aus Westeuropa brachen auf, um dem Muff und der Spießigkeit ihrer Heimatländer zu entkommen. Ihr Motto: „High sein, frei sein, überall dabei sein“. Die strapaziöse Reise dauerte dabei nicht selten mehrere Jahre: „Oft musste man wochenlang vor einem Postamt in der Türkei oder Afghanistan ausharren, denn die telegrafische Postanweisung war der einzige Weg, um sich von zu Hause Geld schicken zu lassen“, erzählt Stefan Loose. Er war damals mit einem Freund unterwegs und wurde später zu einem der erfolgreichsten Alternativ-Reisebuch-Verleger Deutschlands. Die Blumenkinder wurden unbeabsichtigt zu Pionieren des Alternativreisens. Sie kreierten mit der „Individualreise“ eine neue Form des Massentourismus, deren Anteile am Reisemarkt nach wie vor weiter wachsen. Die Backpacker von heute treffen sich auf eingefahrenen Routen, reisen in mit GPS ausgerüsteten Pickups, mit Kreditkarte und Satellitentelefon in der Tasche. Immer auf der Suche nach dem neuesten Entdecker-Thrill: Jordanische Wadis, senegalesische Wüstendörfer, die Halong-Bay in Vietnam, Trekking im Himalaja und Rafting im Dschungel Amazoniens. Wie ihre Vorgänger suchen sie das Abenteuer – allerdings mit Funktionskleidung und Zusatzversicherung für den Krankenrücktransport. In Çolpans Pudding Shop ist es heute ruhig geworden, nur die Wand mit den vielen Fotos der Hippieveteranen erinnert noch an die glorreichen Zeiten. Damals waren die beiden Brüder die Herbergsväter des Hippietrails und retteten so manchen gestrandeten Globetrotter aus größter Not, wie Idris Çolpan erzählt: „Einmal kam ein verzweifelter junger Mann zu mir, der versucht hatte in allerletzter Minute hier vor der Tür den Bus nach Indien zu erwischen, doch alle Plätze waren voll. Er war fix und fertig, da habe ich ihm einfach einen Stuhl hier aus dem Lokal angeboten, sodass er sich auf das Busdach setzen konnte. Vier Monate später hat er den Stuhl auf dem Rückweg tatsächlich zurückgebracht.“ Vor einigen Jahren klopfte es mal ans Fenster: Çolpan schaute nach draußen und sah den deutschen Außenminister Joschka Fischer. Er hat freundlich gewunken. Reingekommen ist er nicht. 22 | 23


Rechte Seite: Oben: Paleohora, Kreta, 1973. Wegen der Hitze des Hochsommers haben junge Reisende ihre Fahrt unterbrochen. Mitte: Yoga Asanas unter einem Banyan Baum in Arumbel, Goa, Indien 1983. Unten: Party am Panjali-Strand, Goa. Die Hippies erschlossen den s端dindischen Bundesstaat als erste westliche Touristen. Goa, Indien 1983. FotoS: Allan Kessing

Diese Seite: Party im Pudding Shop. FotoS: puddingshop.com Undatierte Aufnahmen.


Vor uns die Zukunft Ernesto Cardenal ist Priester, Poet und Revolutionär. Sein ehemaliger Verleger Hermann Schulz über die lange Reise einer Freundschaft. Text: Hermann Schulz Illustration: Dominik Kirgus (großgestalten)

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hatte. Über ihn erreichte ich den Autor auf den Solentiname-Inseln im Großen See von Nicaragua. Cardenal antwortete sofort: Er war ein­verstanden, dass wir seine Psalmen auf Deutsch herausbrachten. Die Gutachten, die ich er­stellen ließ, fielen nicht günstig aus; ich war plötzlich auch unsicher. Wir riskierten es trotzdem.

Seit fast fünfundvierzig Jahren kenne ich ihn. Wir sind uns in dieser Zeit, zwischen 1969 und 2011, ungezählte Male begegnet: auf den Solenti­name-Inseln im Großen See von Nicaragua (dem Cocibolca), in Deutschland, Managua, Greytown, Amsterdam, Paris, Assisi, Guadalajara und Costa Rica. Wir trafen uns mit Arafat, Günter Grass, Mario Vargas Llosa und Fidel Castro. Mit Bischöfen, Dichtern und Politikern, auf Kirchentagen und Kongressen. Aber vor meinem inneren Auge sehe ich ihn beim Angeln in einem schwankenden Boot. Ich sehe ihn, wie er grüne Äpfel auf deutschen Wiesen aufliest oder in seinem stillen Garten an seinen Holzskulpturen arbeitet. Heute ist Ernesto Cardenal 86 Jahre alt, reist als Dichter und Prophet, wie er sich selbst manchmal bezeichnet, immer noch un­ ermüd­lich durch die Welt. Er liest seine Gedichte, die von der Macht der Liebe handeln, vom Gottesreich auf Erden, von den Wurzeln unserer Mystik in alten Kulturen, von der Heilig­­­­keit der Revolution und von der Schön­ heit. Ihn als Verleger und Freund begleiten zu können, war ein Abenteuer in mehr­facher Hinsicht. Es begann mit der Entdeckung: 1965 schickte mir der Rundfunk­journalist Arnim Juhre einen Ausriss der „Zürcher Tat“ mit einem Psalm und wenigen (falschen) Zeilen über einen bis dahin unbekannten Autor. Es waren Abenteuerlust und Neugier, diese Spur zu verfolgen. Über ein Jahr dauerte es, bis ich die Adresse des Übersetzers Stefan Baciu, eines Rumänen, der in Hawaii lebte, ermittelt

Der damalige Verlagsleiter und spätere Bundespräsident Johannes Rau hatte meine Bemühungen um den exotischen Autor nur am Rande mitbekommen. Als ich ihm die kompletten 24 Texte vorlegte, äußerte auch er sich skeptisch. „Aber wenn Sie meinen …“, beschied er mich in seiner lakonischen Art. 1967 kamen die Psalmen unter dem Titel „Zerschneide den Stacheldraht“ auf den deutschen Markt; inzwischen war ich selbst Verlagsleiter. Wie selten ein Buch, kamen die Psalmennachdichtungen zur rechten Zeit; die Studentenbewegung hatte auch in Kirche und Gesellschaft einiges in Bewegung gebracht. In den ersten beiden Jahren wurden rund 25.000 Exemplare verkauft; ungewöhnlich für Gedichte. Ich hatte mir als junger Verleger vorgenommen, jeden Autor des Ver­lages persönlich zu kennen, und buchte mit geliehenem Geld die Reise, die nicht weniger abenteuerlich war als die Entdeckungsgeschichte. Ich sprach noch kein Spanisch, hatte keine Ahnung von den politischen Verhältnissen des Landes – und in Managua nur eine Telefonnummer, die mir Ernesto geschickt hatte: die seines Cousins Pablo Antonio Cuadra, bei der Tageszeitung „La Prensa“ für Kultur zuständig. Weil Pablo Antonio kein Englisch sprach, brachte er seine Sekretärin Rosario Murillo mit zum Flughafen, die heute Ehefrau des Präsidenten Daniel Ortega ist. Telefon nach Solentiname gab es nicht, wohl aber andere geheimnisvolle Kommunikationswege. Ich flog in einem Viersitzer über den Großen See nach Osten und landete auf einer Wiese im Dschungel. Eine Gruppe kubanischer Männer, die die Güter des Diktators Somoza leiteten, hatte die Landung des Vier­sitzers mitbekommen. Sie brachten mich in eine Hütte und fragten mich aus. Irgendwann kam ein bärtiger junger Mann über die Wiese, um mich abzuholen und mit mir über den See zu den Inseln zu fahren. William Agudelo aus Kolumbien, auch er ein Dichter. Immerhin sprach er ein paar Brocken Englisch. Er war Schüler Cardenals im Priesterseminar in Medellin in Kolumbien gewesen und mit ihm nach Solentiname gereist, um hier gemeinsam neue Formen des Zusammenlebens zu suchen. Thomas Merton, Abt eines Trappistenklosters in Kentucky, wo Cardenal zwei Jahre verbrachte, hatte dazu die Anregung gegeben. Als Agudelo Cardenal gestand, der Zölibat käme für ihn nicht in Frage, er sei in Teresita verliebt, hatte er nichts dagegen, dass auch Paare der klosterähnlichen Gemeinschaft von Solentiname angehören könnten.


Ich war nicht der einzige ausländische Gast auf der Insel: ein argentinischer Verleger mit Namen Carlos Lohlé hatte in einer Buchhandlung in Amsterdam die deutschen „Psalmen“ gekauft und war gekommen, um mit Cardenal die Herausgabe seiner Bücher in Latein­ amerika zu besprechen. Auch wenn mir seine Sprachkenntnisse nützlich waren – sympathisch fand ich ihn nicht. Leider stellte sich später heraus, dass er Ernesto um viel Geld betrog. Sie kamen früh am Sonntag, um mit ihrem Priester Ernesto Cardenal die Messe zu feiern. Das Zusammensein mit viel Rum und Musik dauerte bis in die Abendstunden.

Solentiname war und ist ein Naturparadies. Nirgendwo auf der Welt habe ich eine so liebliche Vielfalt tropischer Vegetation erlebt, nir­gend­­ wo sonst war die Natur so belebt von Vogelarten, Käfern, Reptilien, Fischen und Moskitos. Und einer sanften Bevölkerung von Bauern und Fischern. Die kleine Kirche hatten diese Indios bunt-naiv aus­ge­malt. Sie kamen früh am Sonntag auf Trampelpfaden oder mit Ruder­­booten, um mit ihrem Priester Ernesto Cardenal die Messe zu feiern. Jeder hatte Speisen und Getränke dabei, das Zusammensein mit viel Rum und Musik dauerte bis in die Abendstunden. Als ich müde im Dunkeln unter dem Strohdach lag, hörte ich das Konzert der Zikaden, das Krächzen des Guadabarranco, ferne Gitarrenklänge und Gelächter vom Ufer. Die gemeinsame Morgenandacht der insgesamt sechs Mitglieder der Gemeinschaft – neben den Agudelos noch einige junge Männer aus Solentiname – bestand aus einer Lesung aus Edgar P. Snows Reportage „Roter Stern über China“ und einem Gespräch darüber, dass man auch Nicaragua eine Revolution wünsche. Geschlossen wurde mit einem Gebet. Niemand fragte mich, ob ich Protestant oder Katholik sei, als ich später am Abendmahl teilnahm. Cardenal gab mir sein gerade erschienenes Buch „Vida en el amor“ (Das Buch von der Liebe) und sagte verschwörerisch, er würde nach Kuba reisen; Fidel Castro habe ihn eingeladen. Das „Buch von der Liebe“ erschien auf Deutsch, übersetzt von Anneliese Schwarzer, später sein Buch „In Kuba“. Nicht nur Cardenals Bücher wurden auf unserem Buchmarkt schnell ein Begriff: Das Interesse an einem Mann, der mit den Ärmsten der Armen neue Formen des Zusammenlebens erprobt, der vom Reich Gottes auf Erden spricht und sich zum Kommu­ nismus bekennt, war groß, ja seine ganze Erscheinung wirkte ebenso faszinierend. Er wurde zur Kultfigur! 26 | 27

Als Verleger hatte ich die Literatur der sogenannten ‚Dritten Welt‘ als spannende Herausforderung entdeckt. Wie sollte ich angemessen ein solches Programm vertreten und betreuen, ohne wenigstens ein unter­ entwickeltes Land wirklich zu kennen? Also reiste ich drei Jahre später (1972) zehn Wochen durch Nicaragua, zu Fuß, auf Pferden, Schiffen, mit Bussen und Bahnen, von Nord nach Süd, von Ost nach West. Zum Abschluss dieser Reise fuhren Cardenal und einige aus seiner Gemeinschaft mit mir und meiner Begleitung auf dem Rio San Juan bis zum Atlantik; unvergesslich die Tage und Nächte in der Geisterstadt Greytown (San Juan del Norte) und die Sinne verwirrende Atmosphäre auf dem tropischen Fluss im Regenwald. Am letzten Tag führten Anneliese Schwarzer und ich mit dem Dichter das Gespräch „Von der Heiligkeit der Revolution“, das als Buch in vielen Sprachen verbreitet wurde. Wenige Monate nach meiner Abreise wurde Managua durch ein Erdbeben völlig zerstört, 15.000 Tote waren zu beklagen. Über meine Reise schrieb ich das Buch „Ein Land wie Pulver und Honig“, zu dem der Romancier Sergio Ramírez, nach 1979 Vizepräsident der Revolutionsregierung, das Vorwort schrieb; er übertrug es auch ins Spanische und gab es gemeinsam mit Pablo Antonio Cuadra (PAC) heraus („Una tierra de pólvora y miél“); es erreichte mehrere Auflagen. Im Jahr 1973 lud ich Cardenal zu einer Lesereise nach Deutschland ein. Seine Mutter Esmeralda erzählte mir später, ihr Sohn habe die Kleiderfrage für Deutschland mit ihr besprochen. „Hier bei uns gehst Du immer in Jeans, dem weißen Bauernhemd, Baskenmütze und Sandalen. Das machst Du in Deutschland genauso!“ Der Sohn ge­ horchte, und war damit gut beraten, denn auch seine bäuerlich-mönchische Erscheinung faszinierte die Medien. Drei Wochen reisten wir durch Deutschland, trafen Heinrich Böll in Köln, Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz in Berlin, schliefen in Kommunen und billigen Hotels. Im Kloster Maria Laach diskutierten wir mit einer hand­ver­ lesenen Auswahl von Mönchen über Sozialismus und Christentum, gaben ein Interview nach dem anderen. Jede Lesung war ausver­kauft, oft überfüllt – im Mittelpunkt standen die Anklagen des Dichters gegen die Somoza-Diktatur seines Landes. Sein „Nationallied für Nicaragua“, gerade erst ins Deutsche übersetzt, stand in großartigem Einklang mit seinem politischem Anliegen. Und er sammelte Gelder für die Opfer des Erdbebens. Bei der Lesung in der Universität zu Köln trafen wir auf die Theologin Dorothee Sölle, die später als Lehrerin in Nicaragua arbeitete, und den nicaraguanischen Studenten Enrique Schmidt. Mit ihm gründeten wir 1977 das „Informations­büro Nicaragua“ in Wuppertal, bis heute das Zentrum für die Solidaritätsbewegung. Fast jede unserer Begegnungen hatte Folgen; es war, als hätte der Dichter und Priester Samen ausgestreut, der auf wundersame Weise und auf sehr verschiedenen Äckern aufging. Dann kamen aufregende Zeiten.


Im Oktober 1978 sollte Cardenal zur Frankfurter Buchmesse kommen. Mit einem Telegramm hatte er mir die Ankunftszeit geschickt. Er war nicht in der Maschine. Ich fuhr drei, vier Mal zum Flug­hafen, wenn Flüge aus Lateinamerika erwartet wurden. Vergeblich. Ich rief Pablo Antonio Cuadra in Managua an. Der Dichter (er nannte keinen Namen) sei nicht im Land, vielleicht in Venezuela. Ich rief meinen Freund, den Soziologen Heinz-Rudolf Sonntag, in Caracas an, ob er Informationen über den Dichter aus Nicaragua hätte. Auch er antwortete verklausuliert: „Hast Du die Nachrichten nicht gehört? Der Dichter ist hier in Sicherheit.“ – Rätselhaft für mich. Am nächsten Tag erfuhr ich aus unseren Medien, dass am 13. Sept­ember des Jahres 1978 die Sandinistische Befreiungsfront FSLN sechs Polizei- und Militärstationen des Diktators überfallen hatte. Die Jugendlichen von Solentiname waren in San Carlos am Rio San Juan, der nächsten Stadt auf dem Festland, beteiligt. Es hatte Tote gegeben, die anderen waren durch den Dschungel nach Costa Rica geflohen. Cardenal hatte Tage vorher unter Vorlage der Einladung zur Buchmesse seinen Pass bekommen – und war nach Caracas gereist, um dort unterzutauchen. Man wusste, dass der Geheimdienst des Diktators ihn wegen des Überfalls auf San Carlos suchen würde. Cardenals Telegramm mit der Ankunftszeit war eine Finte, um den Geheimdienst in die Irre zu führen. Im Frühjahr 1979 kam Cardenal nach Deutschland, seine Auftritte gaben der Solidarität mit dem Aufstand in Nicaragua, der inzwischen ein Volksaufstand war, erheblichen Zulauf: Kirchengemeinden beider Konfessionen, Gewerkschaften, Autonome, Studenten und Studentengemeinden an vielen Universitäten stellten sich auf die Seite der Revolution. Die Anzahl der aktiven Solidaritätsgruppen wuchs auf über 200. Am 18. Juli 1979 floh der Diktator aus dem Land, das seine Familie 45 Jahre lang ausgeplündert hatte. Seine Armee, die Guardia Nacional, die von den USA ausgerüstet worden war, legte die Waffen nieder; viele Militärs gingen über die Grenze nach Honduras. Ernesto Cardenal wurde der erste Kulturminister in einer lateinamerikanischen Regierung. In seinen Augen, und in seiner Vorstellung von Kultur, war Solentiname ein Modell für ganz Nicaragua geworden, mit einem Konzept breiter Beteiligung aller Bevölkerungsschichten. Wir sind uns mit jeder Begegnung näher gekommen und wurden Freunde. Die Freundschaft mit einem Dichter und Mystiker allerdings hat eine eigene Prägung.

Ein besonderes Ereignis war der erste Besuch des Dichter-Ministers in Deutschland. Da die Botschaft seines Landes noch nicht wieder besetzt war, bat er mich um Begleitung. Die deutsche Regierung stellte einen Dienstwagen mit Fahrer zur Verfügung, zwischen den Terminen berieten wir, wem man welches Projekt zur Finanzierung vorlegen könnte. Damals hatte das kleine, tapfere Nicaragua alle Sympathien auf seiner Seite; eine Menge Projekte wurden ge-

nehmigt. Ich lernte auf diese Weise Leute kennen, die ich bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Für den Dichter war diese Reise ein einziger Stress. An freien Tagen lebte er bei meiner Familie in Wuppertal, wir besuchten Bauernhöfe, Verwandte, Buchhandlungen und Museen. Wir sind uns mit jeder Begegnung näher gekommen und wurden Freunde. Die Freundschaft mit einem Dichter und Mystiker allerdings hat eine eigene Prägung. Zumindest habe ich nie das Gefühl ver­loren, dass da immer eine gewisse Distanz blieb, vermutlich vermisste ich Gespräche über Alltagsdinge oder Familienangelegenheiten. In meinem Familienverbund fühlte er sich sichtlich wohl, erkannte aber manchmal tags darauf an anderem Ort meine Kinder nicht wieder. Als ich ihn nach der Anzahl seiner Geschwister fragte, musste er nachdenken und nahm seine Finger zur Hilfe. Unsere Beziehung war von großem Vertrauen geprägt; er hinterließ mir für dringliche Angelegenheiten unbedenklich unterschriebene Briefbogen seines Ministeriums – oder Bündel von ungezählten Geldscheinen, die für Nicaragua und seine Projekte eingesammelt worden waren. Für einen kleinen Verlag wie dem unseren waren die Leistungen für die Nicaragua-Solidarität eine konkrete Belastung. Aber der ungewöhnliche Aufwand unserer Arbeit fand 1980 einen unerwarteten Ausgleich: Cardenal wurde der „Friedenspreis des deutschen Buchhandels“ zugesprochen. Die Entscheidung war nicht unumstritten; seine Rede in der Paulskirche war ein einziger Lobgesang auf die Revolution. Meinen vorsichtigen Hinweis, in Deutschland hätte das Wort ‚Revolution‘ vor dem Hintergrund der Gewalt der RAF und den Ereignissen der deutschen Teilung andere Konnotationen als in Lateinamerika, hatte Cardenal nicht beachtet. Dennoch wurden seine Bücher Bestseller, die anschließende Lesereise ein Siegeszug. In den darauffolgenden Jahren reiste ich mindestens ein Mal jährlich nach Nicaragua, weil ich mich um zahlreiche Solidaritäts-Projekte kümmerte. Vor allem der Aufbau von Verlagen lag mir – und auch Cardenal – am Herzen. Ich wohnte bei ihm, durfte seine MinisterFahrzeuge benutzen und bekam sogar häufig einen Fahrer gestellt. Reisen in Nicaragua war in den Jahren nach 1982 nicht ganz ungefährlich, denn der Contra-Krieg der ehemaligen Somoza-Soldaten gegen die neuen Machthaber war entbrannt. Nächtliche Schießereien, vor allem im Norden und Süden des Landes, waren an der Tagesordnung. In eine brenzlige Situation allerdings kam ich nicht durch die Feinde der Revolution, sondern durch Soldaten der Sandinisten: Cardenal hatte mir und meiner Familie einen Toyota-Gelände­wagen überlassen, wir wollten auf dem Landweg nach San Carlos, von dort nach Solentiname. Mitten im Dschungel hielt mich ein sandinistischer Wachposten an. „Wohin?“ „San Carlos.“ „Hast du Waffen dabei?“ „Nein, keine Waffen.“ „Bitte aussteigen.“ Der Soldat durchsuchte unser Gepäck, dann den Wagen. Als er den Fahrersitz hochklappte, wurde ich bleich: Da lagen eine Maschinenpistole und rund 20 Handgranaten. Jetzt stellen sie dich als Konter-


Revolutionär an die Wand, war mein erster Gedanke. Ich stammelte, der Wagen sei vom Ministerium, ich hätte ja keine Ahnung gehabt. Mit freundlichen Ermahnungen ließ man mich weiterfahren. Für ein paar Jahre war das Projekt Kultur einmalig in Lateinamerika: Die Werkstätten der Poesie wurden gegründet, sogar in Gefängnissen, die Alphabetisierungskampagne folgte, organisiert von Fer­nando Cardenal S.J., einem der Brüder Ernestos, Gesundheitskurse überall im Land, neue Schulen und Krankenhäuser entstanden. Zu Dichterlesungen kamen bis zu 5.000 Menschen – Journalisten, Schriftsteller und Künstler aus aller Welt kamen, um zu berichten, darunter Günter Grass, Gabriel García Márquez, Julio Cortázar, Carlos Fuentes, Thiago de Mello, J. Jevtuschenko. Und Tausende junger Leute, die in der Kaffee-Ernte halfen, vor allem aus Deutschland. Bei meinen zahlreichen Besuchen erfuhr ich nach und nach mehr über den privaten Cardenal. Er ist das dritte von sechs Kindern einer Kauf­mannsfamilie mit Wurzeln in Spanien und Ostpreußen. An manchen Abenden, im Kreis seiner Freunde, wenn die Anspannung des Tages von ihm abfällt, erzählt er gern die abenteuerlichen Umstände, wie die Vorfahren aus Königsberg ins zentralamerikanische Nicaragua gekommen waren – und dass sie alle pure Kapitalisten waren. Ich habe Ernesto nie so nahe bei sich selbst erlebt wie auf Apfelwiesen, langen Fahrten durch deutsche Wälder oder bei der Arbeit an seinen Holzskulpturen.

Die Eltern des Dichters habe ich im hohen Alter noch kennengelernt; Vater Rodolfo wurde 98 Jahre alt, Mutter Esmeralda 96. Als wir 1982 einmal gemeinsam zu Mittag das Traditionsgericht viejo indio aßen, erzählte Ernesto, inzwischen Kulturminister, mit Eifer, dass in Deutschland die Arbeiter der Müllabfuhr mehr verdienten als die Minister der Revolutionsregierung. Solche Geschichten vom ‚Neuen Menschen‘, der selbstlos die Sache der Armen vertritt, riefen bei Vater Rodolfo nur ironisch-sarkastische Bemerkungen hervor. Leider hat er mit seinen Zweifeln am heiligengemäßen Leben der meisten Sandinisten Recht behalten. Solche Rückschläge haben Ernestos Visionen nie ins Wanken gebracht, ebenso wenig andere persönliche und politische Rückschläge, von denen es in seinem Leben eine Menge gab.

Mein idealistisches Bild von der Revolution bröckelte, als deutlich wurde, dass immer mehr Solidaritätsgelder in finsteren Kanälen verschwanden. Und als Cardenals Ministerium wegen Geldmangel geschlossen wurde. Dahinter steckten aber andere Motive: Der Poet war nicht bei allen Sandinisten gleichermaßen angesehen; er und sein internationales Prestige wurden bald nicht mehr gebraucht. Ich konnte gut nachvollziehen, dass er 1990 die Sandinistische Partei verließ und seine ehemaligen Kampfgefährten anklagte, jegliche Demokratie zu verhindern, interne Machtkämpfe zuzulassen und Korruption zu fördern. Ernesto Cardenal zog sich nicht nach Solentiname zurück, er blieb in Managua, um sich bei gegebenen Anlässen einzumischen. Als privater Dichter war er den Machthabern vielleicht noch lästiger geworden. Da ihn die Kirche seiner Ämter enthoben und er freiwillig die Revolutionspartei verlassen hatte, bekam er keinen Pfennig Rente. So reist er bis heute um die Welt, um für sich und seine arbeitslosen Freunde Geld zu verdienen. Er hat einige Male in Interviews gesagt, ein ruhiger Tag in seinem Garten sei ihm wertvoller als der Literatur-Nobelpreis. Das glaube ich ihm zwar nicht ganz, muss aber gestehen, dass ich ihn nie so nahe bei sich selbst erlebt habe wie auf Apfelwiesen, langen Fahrten durch deutsche Wälder oder bei der Arbeit an seinen Holzskulpturen. Er ist in all den Lebenswirren immer ein kontemplativer Christ geblieben.

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Die iranische Grenze

Wir waren seit einer Stunde unterwegs, und es war tiefe Nacht, als wir mitten in einer mit Weiden besprenkelten Talmulde auf etwas wie einen rosa verputzten, leicht verblassten Empire-Pavillon stießen. Im Lichtbündel unserer Scheinwerfer sahen wir eine Gestalt unter die Tür treten, gähnen und wieder verschwinden. Ein Licht wurde angezündet. Der iranische Grenzposten. Über der Acetylenlampe erhob sich das dunkle Gesicht des Offiziers, in dem die Augen unter den schweren Lidern funkelten. Er trug unter seiner offenen Uniformjacke ein Flanellhemd mit getupften Streifen, wie bei uns zu Hause die Bauern, und betrachtete lächelnd den Wagen. „Es tut mir leid, Freunde“, sagte er auf Französisch, „bis Maku braucht ihr einen Begleitsoldaten, das ist Vorschrift. Es ist nicht weit. Ich werde euch einen ganz kleinen mitgeben.“ Woher gedachte er ihn zu nehmen? Der Posten war ganz still und schien menschenleer zu sein. Er ließ uns im Dunkeln stehen, während er mit der Lampe verschwand, und kam alsbald mit einem mongoloiden Zwerg zurück; dieser trug Wickelgamaschen, und auf seinem Gesicht lag ein sanftes Lächeln. „Da habt ihr ihn!“ sagte der Offizier und schob ihn uns zu, als hätte er ihn aus seinem Pantoffel gezogen. Wir setzten den Knirps auf die Motorhaube. Ich fuhr auf einer schmalen, weichen Piste sehr langsam weiter. Thierry saß auf dem Sitz neben mir und drehte Zigaretten für den Soldaten, der mit halbgeschlossenen Augen ein kleines Liedchen summte und stoßweise einen starken Schafsgeruch ausströmte. Zu unserer Linken richteten die Hänge des Ararat in der Dunkelheit eine über fünftausend Meter hohe Mauer auf. Wir näherten uns dem Engpass, und die Luft wurde wärmer. Leichte Wolken flogen über einen schier durchsichtigen Mond. Die Räder rollten mit einem Geräusch, das wie ein endloser tiefer Atemzug klang, über den Sand, und die Erinnerungen an das harte Anatolien schmolzen wie Zucker im Tee.

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run Warum haben wir es eigentlich immer so eilig? Fotos: Jeff Mermelstein Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Jeff Mermelstein und Rick Wester Fine Art, New York

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„Hauptsache ein bisschen rumfahren.“ Philipp Poisel im Mercedes-Kombi. interview: Sebastian Pranz Fotos: Frederic Lezmi

Bevor es losgeht, gibt es Spätzle und Braten. Wir sitzen in einem Biergarten mit Blick über Stuttgart. Bei der Bestellung hat Philipp eine Thekenmarke bekommen, auf der „Nummer 1“ steht. Eine gute Platzierung, findet er. Ein bisschen funktioniert die Straußenwirtschaft auch wie die deutschen Charts. Nach dem Essen fahren wir durch das Stuttgarter Umland. Weil der alte VW-Bus, den Philipp kürzlich gekauft hat, noch in der Werkstatt ist, hat er uns mit seinem Mercedes-Kombi abgeholt.

Philipp, was muss man beachten, wenn man einen alten V W-Bus kauft?

Rost! Auf den ersten Blick sah meiner noch super aus – innen top, Farben alle frisch. Ich bin eingestiegen, kurz den Hügel raufgefahren und habe mich so gut gefühlt, wie kurz nach dem Führerschein. Aber die Dinger rosten quasi von selbst, sogar wenn sie nur in der Garage stehen. Wohin fahren wir eigentlich gerade?

Vielleicht raus in die Natur? Hauptsache ein bisschen rumfahren, oder?

K annst Du sagen, woher das Fernweh in Dir kommt?

Früher war ich mit meinen Eltern oft in Frankreich. Auf der Fahrt saßen wir Kinder auf der Rückbank und haben gewettet, wer zuerst das Meer sieht. Diese Bilder habe ich immer noch in mir. Auch wenn sich andere Länder nicht wie meine Heimat anfühlen, geben sie mir ein Gefühl von Geborgenheit. Ich mag auch die Freiheit, jederzeit abreisen zu können. Diese Selbstbestimmtheit ist ein großes Bedürfnis von mir. Ich konnte als Schüler nie nachvollziehen, dass man gezwungen wird, um sieben Uhr morgens anzutanzen. Als ich mit 16 das erste Mal InterRail gemacht habe, habe ich gemerkt, dass es mir besser geht, wenn ich mein eigenes Timing habe. Ich bin ein Müßiggänger, ich sitze gerne drei Stunden in der Sonne und höre einem Straßenmusiker zu.


Andererseits hat man schon den Eindruck, dass Du sehr heimatverbunden bist.

Ist das Reisen für Dich auch eine Suche?

Auf jeden Fall, aber das ist für mich auch kein Widerspruch zum Fernweh. Wenn ich in Stuttgart bin, fahre ich oft mit dem Fahrrad auf meinen alten Strecken – durch die Ortschaften und Hügel, wo ich früher mit meinen Freunden war, vorbei an meiner alten Schule. Da bekomme ich dann krasse Heimatgefühle und auch ein Gefühl von Vergänglichkeit, weil ich die Zeit nicht festhalten kann. Trotzdem sind das Momente, in denen ich mich sehr lebendig fühle, weil mir bewusst wird, wie cool alles ist.

Das Besondere am Unterwegssein ist es, dass man ständig die Perspektive wechselt. Dadurch kann ich die Dinge viel bewusster wahrnehmen. Nicht nur meine Umgebung, sondern auch meine Innenwelt. Irgendwie bricht man ja auch innerlich auf, wenn man sich auf den Weg macht – genauso, wie man auch innerlich aufräumt, wenn man die Wohnung sauber macht. Ich steige ein, fahre los und frage mich, wohin könnte mein Leben vielleicht noch gehen? Und wenn ich zurückkomme, bin ich vielleicht gar kein Musiker mehr, sondern werde Koch, wie es mal mein Plan war.

Gibt es eigentlich einen Zusammenhang zwischen UnterwegsSein und MusikMachen?

Reden wir über die Ferienliebe. Eigentlich immer ein Drama, oder?

Auf jeden Fall. Wenn ich unterwegs bin, habe ich immer auch meine Gitarre dabei. Früher habe ich oft für mich gespielt, zum Beispiel wenn ich am Bahnhof warten musste. Manchmal sind die Leute stehen geblieben und haben zugehört. Eines Tages habe ich dann das Commitment gemacht und im Stehen gespielt. Das erste Mal in Köln auf dem Christopher Street Day. Alle waren gut drauf und ich hab voll viel eingespielt. Da hab ich gedacht, so kann ich mir den Urlaub finanzieren.

Ich bin mal einem Mädchen hinterher auf die Fähre gestiegen. Ich wollte ihr eigentlich nur schnell Tschüss sagen. Dummerweise legte das Schiff ab und ich hatte nur ein T-Shirt an und kein Geld dabei. Abends ging keine Fähre mehr zurück, daher musste ich die Nacht im Freien verbringen. Ich habe mich in einen Hauseingang gesetzt und ein Obdachloser hat seinen Biervorrat mit mir geteilt.

Und hat das geklappt?

Na ja, so leicht war es nie wieder. Es gab schon Momente, wo ich echt Hunger hatte oder nachts gefroren habe. In Holland habe ich mal einen Strafzettel für Schlafen bekommen. Ist doch pervers, dass man in einer Stadt nicht draußen schlafen darf, weil man kein Obdach findet. Das ist natürlich auch eine Form von Abhängigkeit, aber für mich ist das leichter nachzuvollziehen. Wenn ich weiß, ich muss jetzt eine Stunde spielen, um mir eine Dose Ravioli kaufen zu können, dann ist das sehr unmittelbar.

Wann bist Du eigentlich das letzte Mal spontan nach Toulouse gefahren?

Ich war ehrlich gesagt noch nie in Toulouse selbst. Nur am Ortsschild. Aber deswegen ist es ja auch ein Sehnsuchtsort. Auf der Rückfahrt machen wir noch einen Umweg zum Breitenstein, einem Ausläufer der Schwäbischen Alb. Auf 800 m Höhe sitzen wir in der Abendsonne, Philipp zeigt uns Stuttgart in der Ferne. Er wirkt wie jemand, der sich schon auf den Weg nach Hause freut.

Was muss man denn spielen, um möglichst schnell zu einer Dose R avioli zu kommen?

Also meine Songs kann man da vergessen. Das müssen schon Sachen sein, die knallen – Bob Dylan, John Denver und so. Ich hab oft auch einfach Lieder gespielt, die in meiner Stimmlage waren, sodass ich richtig laut singen konnte. Wenn man sich durchsetzt, bleiben mehr Leute stehen. Ich finde es heute immer noch krass, dass ich Applaus bekomme, wenn ich die Bühne betrete. Noch vor dem ersten Stück! Diese Vorschusslorbeeren machen es natürlich viel leichter. Man kann auch mal leise spielen und die Menschen hören trotzdem zu.

Philipp Poisel, Jahrgang 1983, ist ein deutscher Singer/Songwriter. Sein erstes Album, „Wo fängt dein Himmel an?“, nahm er 2006 gemeinsam mit dem Produzenten Frank Pilsl in Eigenregie auf. Nachdem mehrere Deals an Interessenkonflikten scheiterten, kam Philipp schließlich bei Herbert Grönemeyers Plattenlabel Grönland Records unter. Sein zweites Album, „Bis nach Toulouse“, erschien im August 2010.

Wir haben das Einzugsgebiet von Nürtingen erreicht, die Fahrt geht nun über ausgebaute Hauptstraßen mit grüner Welle bei 50 km/h. Von einer Nebenstraße biegen wir auf den Hof eines Autohändlers. Vor der Halle steht ein zerkratztes Coupé und einige Autos, deren Karosserien aussehen wie unfertige Puzzles. Philipps Bus hat man nach drinnen gebracht, und weil Sonntag ist, drücken wir die Nasen an die Scheiben, wie kleine Jungen vor dem Spielzeugladen. 44 | 45


Auf dem Weg nach Mahabad

Kein einziger Straßenräuber; dafür wurden wir mehrmals durch Gruppen von sechs oder sieben Personen voller Hoffnung aufgehalten. In den Augen der Kurden ist alles, was einen Motor und vier Räder besitzt, zwangsläufig ein Autobus, und sie beeilen sich, einzusteigen. Man mag ihnen noch so einleuchtend erklären, dass der Motor zu schwach ist, dass die Achsen brechen werden – sie wollen nichts davon hören, schlagen einen freundschaftlich auf die Schulter und installieren sich mit ihren Packen und Bündeln auf den Kotflügeln, den Trittbrettern, den Stoßstangen, um zu zeigen, wie gut das geht, dass die Unbequemlichkeit ihnen nichts ausmacht, dass es sich schließlich nur um fünfzig Kilometer handelt ... Wenn man sie nötigt, wieder abzusteigen – mit Vorsicht, denn sie sind alle bewaffnet -, glauben sie, dass man zu handeln versucht, und ziehen voller Entgegenkommen einen Toman aus dem Gürtel. Sie verschwenden keinen Gedanken an die Größe oder die Kapazität des Wagens; der ist für sie so etwas wie ein stählernes Eselchen, dem man soviel wie möglich aufhalst, bis es einmal unter den Schlägen zusammenbricht. Was uns betraf: Ein Erwachsener oder zwei Kinder, das war das Äußerste, was wir tun konnten. Knapp vor Mahabad lasen wir einen bis zu den Hüften mit Dreck bespritzten alten Mann auf, der wacker durch den geschmolzenen Schnee stapfte und dazu aus voller Kehle sang. Als er sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte, zog er eine uralte Knallbüchse aus der Hose und gab sie Thierry höflich in Verwahrung. Hier gilt es als nicht fein, eine Waffe bei sich zu tragen, wenn man das Haus eines anderen betritt. Dann drehte er jedem von uns eine dicke Zigarette und begann aufs Neue sehr hübsch zu singen. Was mir vor allem anderen gefällt, ist die Fröhlichkeit.

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A nach B

Von Zeit zu Zeit träumen wir noch von Autos. Text: Kay Lehmkuhl Illustration: Sarah Wiesmann

V W Bus Es gibt Familien, die haben nie ein anderes Auto besessen. Im VW Bulli wurden Kinder gezeugt, dann durch die Welt gefahren und mit einem Lebensgefühl infiziert. In keinem anderen Auto finden sieben Erwachsene, fünfzehn Kinder, eine Küche und ein Schlauchboot Platz – in keinem Auto kann man sich unterwegs so sehr zu Hause fühlen. Und lächeln konnten frühere Generationen des Bullis auch noch. Lamborghini Countach Es gibt eine direkte Linie vom Traktor zum straßen­ tauglichen Rennwagen – Ferruccio Lamborghini hat sie gezeichnet. 1948 startete der Sohn eines italienischen Bauern sein Unternehmen mit der Produktion von Ackerflitzern. Mit dem Lamborghini Countach schuf er im Jahr 1974 schließlich einen Meilenstein des auto­mobilen Machotums – und der Sportwagengeschichte natürlich.


Citroën DS Eleganz, Komfort und Sicherheit – mit diesem Dreiklang schaffte es der Citroën DS bis zur französischen Staats­karosse. Aber nicht nur Charles de Gaulle wurde in der Göttin (la déesse) chauffiert und überstand 1962 in dieser sogar einen terroristischen Anschlag. Auch Fantômas fand mit dem bis heute verehrten DS stets den unrechten Fluchtweg.

Mercedes-Benz Silberpfeil Ein Mythos der Motorsportgeschichte. Die Pilotenlegende Juan Manuel Fangio fuhr in den Jahren 1954 und 1955 im Silberpfeil bei zwölf Grand-Prix-Teilnahmen neun Siege heraus. Wenn es die Wetterverhältnisse erlaubten, war er bei seinen Triumphen nur mit Poloshirt, Stoffhose und Sturmhaube bekleidet.

Renault R4 Für Verklärung sorgen die Erinnerungen an lässige Urlaubsfahrten, auf denen durchgängig gesungen wurde, da für ein Radio im kauzigen Renault R4 serienmäßig kein Platz war. Für hinreichende Beschäftigung auf der butterweich gefederten Fahrt gen Süden sorgten die Revolverschaltung und das massenhafte Rollen von Kippen.


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„Der Reisende ist jemand, der verschwindet.“ Roger Willemsen im IC 2013. Interview: Sebastian Pranz Foto: Frederic Lezmi

Das Fenster im Abteil des IC 2013 hat ungefähr Cinemascope-Format. Draußen non-stop Landschaftsdoku. Die Zugstrecke gehört zu den schönsten, die Deutschland zu bieten hat, findet Roger Willemsen. Isafjörur, Timbuktu, Patagonien, Bangkok, Tangkiling, Minsk und viele Orte mehr hat er bereist. Für die Strecke von Köln nach Koblenz hat er uns netterweise zwei Plätze frei gehalten. Bald ist das Abteil mit Bildern gefüllt, Roger Willemsen ist ein Geschichtenerzähler.

Roger Willemsen, Sie haben mal eine Liebesgeschichte erlebt, die sich genau auf die Länge einer Zugfahrt beschr änkt hat. Ist das ein gutes Format für die Liebe?

Es definiert das Verhältnis sehr schnell, weil es gestreute Aufmerksamkeit erlaubt. In dem Augenblick, wo sich das Paar nicht genügt, genügt dem Paar die Landschaft. Das kann helfen. In meinem Fall hatte sich die Liebessubstanz jedoch relativ bald verflüchtigt. Irgendwann hörte meine Begleiterin nur noch Jennifer Rush über Kopfhörer und las Flaubert dazu. Und ich dachte: Daraus wird nichts.

Das Unterwegssein und die Liebe – gibt es da einen versteckten Zusammenhang?

Ebenso wie das Fernweh sich mitunter auf einen Ort bezieht, an dem wir nie waren, rollt auch die Liebe das Ideal einer Geschichte vor sich auf, die man nie gehabt hat. Und wenn sich die Liebe nicht wieder komplett erneuern könnte, wäre es unwahrscheinlich, dass man sie überhaupt neu bereisen wollte. Dazu kommt, dass gute Liebesgeschichten etwas von Landschaften haben. Man geht in die Liebe hinein und sagt: „Ich erkenne den lieblichen Ort, den Bach, die gewellten Täler und die Dramatik des Hochgebirges.“ Und umgekehrt sagt die Liebe: „Ich gehe mit Dir bis ans Ende der Welt.“ Auch da finden Sie die Landschaftsmetaphorik.


Auf das „Ende der Welt“ wollte ich gerade zu sprechen kommen. Seit der Mensch reist, möchte er wissen, wo der Ort ist, an dem alles Reisen aufhört. Können Sie uns dieses Interesse erklären?

Der Endpunkt des Reisens markierte immer auch die Grenze unseres Wissens. In der Antike wurde die Welt durch die beiden Säulen des Herkules definiert: Die eine stand auf dem europäischen Kontinent in Gibraltar, die andere auf dem afrikanischen, entweder in Algerien oder in Marokko. In der Antike ist Odysseus der einzige, der diese Grenze überschreitet. Hier besteht er Gefahren, kämpft gegen Monster und verschiebt dabei die Demarkationsgrenze unserer Neugier. Diese beiden Säulen sind im Übrigen auch die Stäbe im  -Zeichen. Die Grenzen des Zahlungsverkehrs des Dollars sind gleichzeitig die Grenzen der antiken Welt. Unsere Lebensreise endet mit dem Tod. Ist das Ende der Welt auch ein Ort des Sterbens?

Absolut. Die Landschaften, die ich als Enden der Welt empfunden habe, sind karg und menschenabweisend. Sie zeigen die Natur als Herrscherin. Und mir ist erst dort bewusst geworden, wie stark die Natur hierzulande in die Defensive geraten ist – es ist, als ob sie ständig sagt: „Nicht noch ein Baumarkt, nicht noch eine Straßenkreuzung.“ In Patagonien, in Ostsibirien oder im Norden Afghanistans ist es die Natur, die den Menschen auf eine glanzlose Weise in die Defensive drängt. Diese Landschaft hat keine Akzente, keinen Brennpunkt. Man kann sie nicht fotografieren, sie ist wie ausgeleert. Aber genau genommen hat schon das Reisen als solches etwas Morbides: Der maßlose Charakter allen Reisens, der Wunsch über jeden Horizont hinauszureichen, überschreitet in letzter Konsequenz auch die Grenzen der Existenz. Ist Ihnen der Tod auf Reisen begegnet?

Die Gefahr, sein Leben zu verlieren, hat ganz verschiedene Aromata. In Phnom Penh hat ein betrunkener Offizier mal seine Waffe auf mich gerichtet. Ich sehe mich noch in diesen Revolver gucken – eine höchst merkwürdige und irrationale Situation, in der ich die Möglichkeit des Ernstfalls erahnt habe. In Afghanistan hingegen ist die Gewalt strukturell, sie ist latent da und kann sich in Wutausbrüchen, Traumata, Tellerminen oder Selbstmordattentaten zeigen. In Polynesien hat mich ein Zufall davon abgehalten, ein Schiff zu besteigen. Stattdessen bin ich zur Beerdigung der Großtante eines tongaischen Rugbyspielers gegangen. Das Schiff ging unter, es war das größte Fährunglück Polynesiens. Aber ich kann nicht sagen, dass ich daraus eine Handlungsanweisung ableiten kann – ich werde nicht ängstlicher dadurch und auch nicht mutiger. Der Lautsprecher unterbricht uns mit der Information, dass wir in Bonn Anschluss an die Regionalbahn Richtung Bad Münstereifel haben. Roger Willemsen stellt fest, dass die Schaffner inzwischen irgendwie alle Moderatoren sind.

Es ist ein schöner Zufall, dass uns die Reise dieses Interviews an Ihrem Geburtsort vorbeiführt. Ist Bonn ein Ende der Welt oder ein Anfang?

Natürlich ein Ende. Stellen Sie sich den Globus in der Raumdiagonalen vor und denken Sie an den Ort, der am weitesten von Bonn entfernt ist. Da kommen Sie ziemlich genau in Tonga raus. Die Sonne, die hier untergeht, ist auf dem Weg nach Tonga. Der Mond, der hier aufgeht, kommt geradewegs von dort. Die Menschen in Tonga sind am ganzen Körper tätowiert und zwei Zentner schwer. Und wenn Sie sie fragen, wo das Ende der Welt ist, dann wird man Ihnen sagen: Bonn. Aber ist Ihre Heimat nicht auch der Anfang Ihrer Reise gewesen?

Als Kind hatte ich unter meinem Bett ein kleines Köfferchen, weil ich immer bereit sein wollte, aufzubrechen. Darin war eine Schokolade, ein gekochtes Ei, das ich von Zeit zu Zeit erneuerte, und eine Badehose. Also meine persönlichen Utensilien für eine Weltreise. Außerdem gab es Gegenstände, die Fernweh bei mir auslösten. Etwa der Kurzwellenempfänger am Radio – ich konnte daran drehen, war plötzlich in Dakar und hörte den Muezzin singen. Oder die Schienenstränge, die durch unser Dorf führten. Ich wusste: Dieser Strang verbindet mich mit Konstantinopel. Sie haben während Ihres Studiums unter anderem als Reiseleiter gearbeitet. Ist ein Reiseroman auch eine Anleitung zum Reisen?

Die Frage ist nicht abwegig, denn ich verpflichte ja meine Leserschaft, mit mir eine Reise zu teilen. Ich trete mit ihr in eine Landschaft ein, sie steht mit mir vor einer Aussicht – und dann fange ich an und nehme die Aussicht persönlich. Meine Leserschaft traut mir, wie sie einem Reiseleiter traut. Und es passiert immer wieder, dass Menschen in einer Vorstellung sagen: „Ich kenne diesen kleinen Jungen, ich kenne diese Szene. Ich bin dort gewesen.“

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Ich mag es sehr, wenn Sie Touristen nachmachen – mit Sätzen wie „Elephants for me are like Wow.“ K ann man eigentlich aufhören, ein Tourist zu sein?

Der Tourist apportiert Trophäen. Er möchte am liebsten sagen: Ich und meine Frau, ich und mein Haus, ich und meine Mona Lisa. Der Reisende wiederum ist jemand, der verschwindet. Er gelangt unter den Radar der allgemeinen Wahrnehmung, weil er immer an denselben Ort geht, immer das Gleiche macht. Ich glaube, es gibt ein Reisen, in dem der Reisende erlöscht, weil er sich selbst nicht mehr als den Mittelpunkt begreift. Sein Reiseziel könnte ein Blick, ein Duft, ein Geruch oder ein Konflikt sein. Er kommt in der Umarmung an. Im Vertrauten, das er im Fremden findet. An das Aufschreiben der Reise schlieSSt sich dann eine weitere Reise an: die Lesereise. Da sehen Sie Orte wie Baabe oder Stuckenbrock … Gerade sind Sie zum beispiel mit einem K arl-May-Programm unterwegs.

Karl May ist ein Autor, dessen Konjunktur sich derzeit dramatisch senkt. Gäbe es Bully Herbig nicht, wüssten viele jüngere Leute nichts mehr von Karl May. Und auch ich nehme ihn nicht so ganz ernst. Im Kern ist er eigentlich ein journalistischer Reisender, der sich viel in den Archiven angeeignet hat. Und er schreibt Fortsetzungsromane, muss notwendiger Weise verdichten, vergisst dann später Handlungsstränge oder ganze Figuren, von denen man gar nicht weiß, was aus ihnen wurde. Ihr K arl-May-Buch haben Sie in Reimform geschrieben. Reimen Sie doch mal was zum Thema …

Der Reisende im schwarzen Rock, er schafft es nie nach Stuckenbrock.

aus Nordschweden, das meine Flasche aus dem Ozean gezogen hatte. Auf die dritte warte ich immer noch, seit etwa 20 Jahren. Aber die kommt noch. Planen Sie Ihre Reise, oder rechnen Sie mit dem Zufall?

Manchmal muss man dem Zufall bewusst die Hand reichen. In Polynesien sah ich einen tätowierten Arm, der sich aus einem Toyota-Pickup streckte, um den Regen zu prüfen. Aus einem Impuls heraus legte ich meine eigene in diese riesige Hand. Der Mann zog mich herunter und ich schaute in sein tätowiertes Gesicht. Es war der tongalische Rugbyspieler, mit dem ich dann eine Weile gereist bin. Er brachte mich auch zu seiner Großtante, bevor sie starb. Roger Willemsen, eine letzte Frage noch: Sammeln Sie Punkte?

Das ist absurd genug: Ich sammele und löse sie nie ein. Ausstieg in Koblenz. Roger Willemsen lässt den Vortritt. Die Zugtüre schließt sich wie der Deckel eines Buches. Ein Kapitel haben wir geteilt. Auf der Rückfahrt muss ich unbedingt mal auf die Landschaft achten.

Ich muss abschlieSSend noch einige Gemeinplätze mit Ihnen bereisen: Bringen Sie Souvenirs mit?

Keine Souvenirs, die mich ans Erinnern erinnern sollen. Aber es gibt manchmal Gegenstände, die an mir hängen bleiben. Eine Streichholzschachtel auf der ein Boxer zu sehen ist, Papier aus Elefantendung, Afrikanische Friseurwerbung. Schreiben Sie K arten?

Nie. Wobei ich kürzlich meine erste Karte geschrieben habe – sie ging an meinen besten Freund Joseph Vogl. Ich war in Tokio und naheliegenderweise waren auf der Karte zwei Sumo-Ringer zu sehen. Später stellte sich raus, dass Joseph mir ebenfalls geschrieben hatte, was er sonst nie tut. Er war zur gleichen Zeit in Tokio wie ich. Abgesehen davon habe ich eine Vorliebe für Flaschenpost. Ich habe in meinem Leben drei Flaschen ins Wasser geworfen. Einmal bekam ich zwei Tage später einen Brief von einem Angler vom Niederrhein. Einmal kam sechs Monate später Antwort von einem kleinen Mädchen

Roger Willemen, Jahrgang 1955, arbeitete bereits als Dozent, Herausgeber, Übersetzer, Essayist, Moderator und Regisseur. Darüber hinaus schrieb er Bestseller wie „Deutschlandreise“, „Hier spricht Guantánamo“ und „Bangkok Noir“ (alle Fischer-Verlag). Sein neuestes Buch, „Die Enden der Welt“, vereint Reiseerlebnisse aus fünf Erdteilen.


Leben aus dem Koffer Bitte lassen Sie Ihr Gep채ck nicht unbeaufsichtigt! Text: Sebastian Pranz Foto: Nina Poppe


Jedes Jahr gehen 1,2 Millionen Gepäckstücke unwiederbringlich verloren. Auf der ganzen Welt werden sie vom Flugpersonal eingesammelt, klassifiziert und in einem Lager hinterlegt. Der Zoll wirft einen letzten Blick darauf, dann liegen sie da: Dreckige und saubere, neue und alte Koffer, Damen-, Herren und Kinderkoffer, Trolleys, Hartschalen- und Lederkoffer, Hinreise- und Rückreisegepäck. Ein Ungetüm, das auf seiner Reise gestrandet ist. In seinem Magen tonnen­weise Klamotten, Sonnenbrillen, nicht abgeschickte Postkarten, Mitbringsel, Reisetagebücher, Toilettenbeutel, Stofftiere und Liebesspielzeug. Auf der ganzen Welt warten 1,2 Millionen Verlierer an Rollbändern, eilen vom Taxi zurück in die Ankunftshalle, trocknen weinende Kinderaugen und füllen Formulare aus. Dann fahren sie schließlich nach Hause. Ohne ihren Koffer. Einen dieser Koffer werde ich heute kaufen. Etwa eine Flugzeugladung verlorenen Gepäcks hat ihren Weg nach Weiterstadt gefunden. Die Wanderauktion Lost&Found findet in einer mehrstöckigen Einkaufslandschaft mit Parkhaus und Autobahnanschluss statt. Im Untergeschoss hat man eine Bühne und Lautsprecher errichtet. Dahinter ein etwa 4 m hoher Haufen zusammengewürfelter Gepäckstücke. Er liegt als ein schmutziger Fremdkörper auf dem glänzenden Steinboden, sauber abgezirkelt durch ein schwarzes Gurtband. Unendlich viele Kilometer, so viele Reisen, die hier enden. In Weiterstadt. Das Management hat eilig noch ein paar Stuhlreihen mehr aufgebaut. Es sind bestimmt 200 Gäste gekommen – Einkäufer, Schaulustige und Spaßbieter. Ein unruhiges Meer aus grünen Bietertafeln über ihren Köpfen. Warum wird ein verlorener Koffer nicht wiedergefunden? Die Auktionsleitung hat diese Frage gleich zu Beginn ausgeräumt: Gemessen an der Gesamtmenge des beförderten Gepäcks ist die Anzahl der verloren gegangenen Stücke sehr gering. Zudem sind viele Verlierer nicht in der Lage, eine Beschreibung abzugeben, die zu mindestens 52 % zutrifft. Meine Sitznachbarin ist eine Frau im Rentenalter, die bündelweise aus der Hosentasche zahlt. Neben ihr stehen drei ungeöffnete Koffer. Ich frage sie, was sie am Liebsten hätte. Klamotten. „Hier, des muss ma nur ma rischdisch wasche“, sagt sie in breitem Hessisch. Ich stelle sie mir vor, wie sie später zu Hause alle Koffer nacheinander öffnet. Mit Einmalhandschuhen sitzt sie dann in einem Meer dreckiger Wäsche wie ein König auf seinem Schatz. Ein Raunen geht durch die Bieter. Weiter hinten hält jemand ein Hochzeitskleid hoch. „Anziehen!“-Rufe werden laut. Irgendwo auf der Welt wird es eine Besitzerin geben – und eine Hochzeit, die an der 52-ProzentHürde gescheitert ist. Beim Artikel 4864 gehe ich mit. Für 70 Euro plus Auktionsgebühr und Mehrwertsteuer ersteigere ich einen blauen Samso­nite-Koffer. Ich schiebe ihn ungeöffnet zum Auto. Einen fremden Koffer auszupacken, ist ein beklemmendes Gefühl. Es ist weniger der seltsame Geruch, der sofort den Raum erfüllt – eine Mischung aus gebrauchter Wäsche und geografischer Distanz, verstärkt durch die monatelange Lagerung in einem geschlossenen Behältnis. Vielmehr ist es das unmittelbare Eindringen in eine private Sphäre. Ich habe den Koffer gekauft, aber gehört er mir? 52 | 53

Dann der erste Blick auf den Inhalt. Im Falle meines Koffers ein unglaubliches Durcheinander: Eine dunkelblaue Herren-Fleecejacke (getragen), eine ausgeblichene Herren-Jeans mit Schlag (ebenfalls getragen), ein schwarzes Sommerkleid (getragen), ein Delfin aus Stoff (benutzt), vier Spielzeug-Tintenfische (originalverpackt, ausgezeichnet in Pounds), eine Babydecke (benutzt), eine Haarspange in Form eines Dinosauriers (gebraucht), ein Ladegerät für AA Batterien (defekt), ein einzelner Herrenhandschuh aus Leder (unbenutzt), ein Haarglätter (originalverpackt), ein schwarzer Kleiderbügel (defekt), ein Stoffhund mit traurigen Augen (stark benutzt), eine Kinder­ taschenlampe (originalverpackt, deutsches Preisschild), eine Packung Kaugummi mit arabischem Schriftzug. Schließlich ein schwarzer Stoffbeutel, der mit Kabelbinder verschlossen ist und das Buch „Die Normalen“ von David Gilbert. Das Lesebändchen ist auf der Seite 86/87 eingelegt. Ich stolpere über den Satz „Das müssen zwei verschiedene Ann Millers sein“, sagt Billy. Wie lose Enden zahlloser Geschichten liegen diese Dinge vor mir: Eine gestresste Familie verpasst im Holiday-Inn ihr Frühstück. Ein Kind nestelt an der Hose seines Stoffhundes. Ein Austauschschüler ordnet seine Gastgeschenke. Ein älterer Herr legt sorgfältig ein Kabel zusammen. Wer ist der Verlierer? Ich lege „Die Normalen“ zurück auf den Haufen. Dabei fällt mir auf, dass auf den Buchrücken ein Barcode geklebt wurde. Darunter steht: Bibliothek Weißenburg. Es dauert eine Weile, bis ich mein Anliegen vorgetragen habe. Eine Telefonstimme mit fränkischem Akzent wiederholt geduldig einzelne Informationen. Ich höre das Klicken einer Tastatur, dann ein kurzes Alarmgeräusch. „Das Buch wurde im Jahr 2007 ersetzt, einen Datensatz des Entleihers kann ich leider nicht mehr finden.“ Ich lege auf und betrachte den Koffer. Wie ein entlaufenes Tier kauert er in der Ecke meines Büros. Alle Gegenstände habe ich sorgfältig zurückgelegt. Bis auf den schwarzen Stoffbeutel. Ich nehme ihn vorsichtig in die Hand, wie ein Spieler, der seine letzte Karte prüft. Mit einem Tapeziermesser öffne ich den Kabelbinder. Im Beutel befinden sich ein Stromprüfgerät und Isolierhandschuhe. Außerdem ein maschinengeschriebenes Formular mit dem Titel „Inhaltsliste Flughafen Frankfurt Main AG, Fund-Nr. 3918-2009“. Weiter unten: „1 Schutzschalter Tester Orange, 1Pr Arbeitshandschuhe GY Work“. Es gibt 1,2 Millionen Gepäckstücke, die jedes Jahr verloren gehen. Auf der ganzen Welt werden sie vom Flugpersonal eingesammelt, klassifiziert und in einem Lager hinterlegt. Aber was macht man mit den Einzelstücken? Dem Bodensatz, der sich in Gepäcknetzen und unter Sessellehnen, an den Wartepunkten und Kinderparadiesen bildet? Eine Angestellte mit Einmalhandschuhen nimmt die schwer vermittelbaren Fälle. Sie öffnet meinen Koffer. Und tut sie hinein. „Die Normalen“ von David Gilbert habe ich in mein Bücherregal gestellt. Als ob es mir gehören würde. Vielleicht interessiert sich mal jemand dafür. Ich verleihe es gerne.



Alter Falter! Der Reiseweltmeister ist ein Insekt. Text: Simone Rüth Illustration: Stephanie Wunderlich

Am Vorabend des Día de Muertos, dem Tag der Toten, betet das Volk der Mazahua, dass die Seelen der Verstorbenen in sein Land zurückkehren mögen. In den Häusern stehen Altäre mit Besitztümern der Toten. Auf den Friedhöfen sind die Gräber geschmückt mit Blumen in den Farben der Seelen: Orange für ihre Flügel und Weiß für die kleinen Punkte an den Flügelaußenkanten. Die Seelen der Verstorbenen kommen nach dem Glauben der Ureinwohner als Schmetterlinge zurück. Jedes Jahr im November fliegen Abermillionen Exemplare in den Bundestaat Michoacán in Zentralmexiko, um dort zu überwintern. Ihr Ziel sind die bis zu 60 Meter hohen Oyamelbäume, die auf einem kleinen Gebiet in 3000 Meter Höhe stehen. Heilige Tannen, so haben die spanischen Eroberer die Bäume im 16. Jahrhundert genannt. Heilige Tannen, die in den nächsten Monaten einen Gast beherbergen werden, der als König der Schmetterlinge gilt: den Monarchfalter. Die Berge Michoacáns bieten den Schmetterlingen ein einmaliges Klima zum Überwintern: Die Monate November bis März sind mild und trocken, die Oyamelbäume spenden Wärme und halten mit ihren Kronen Regen ab. Immer wieder kehren die Monarchfalter an diesen Ort zurück. Die Reise, die sie dafür jedes Jahr zurücklegen, ist einzigartig für einen Schmetterling.

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Mehr als 4000 Kilometer fliegen sie in ihr Winter­quartier. Ein Mensch müsste für eine vergleichbare Strecke elf Mal zu FuSS die Erde umrunden.

Mehr als 4000 Kilometer fliegen sie in ihr Winterquartier. Solche Strecken sind sonst nur von Zugvögeln bekannt. Von den Großen Seen in Nordamerika fliegen sie in südwestliche Richtung nach Mexiko. Ein Mensch müsste für eine vergleichbare Strecke elf Mal zu Fuß die Erde umrunden. Zwei Monate sind die noch nicht einmal ein Gramm schweren Langstreckenflieger unterwegs, bis zu 130 Kilometer pro Tag. Lange Zeit wusste niemand von den Ausmaßen dieser Reise. Die Menschen aus dem Norden wussten nicht, wo die Schmetterlinge hinflogen, und die Menschen aus dem Süden wussten nicht, woher sie kamen. Schließlich begannen Wissenschaftler, den Flug nachzuverfolgen. Sie klebten den Tieren kleine Aufkleber auf die Flügel, auf denen eine Nummer und eine Kontaktadresse standen. Wer einen dieser Schmetterlinge fand, sollte seine Position melden. So entdeckten die Forscher nicht nur die Überwinterungsplätze der Monarchfalter in den Siebzigerjahren, sondern auch, dass ihre Reise ein Mehrgenerationenprojekt ist. Monarchfalter sind Nomaden der Lüfte. Ihre Lebenszeit verbringen sie damit, nach Michoacán und wieder zurück zu fliegen. Die Elterngeneration fliegt den einen Teil der Route, seine Kinder und Kindeskinder führen die Reise fort. Doch während die Monarchfalter, die an den Großen Seen starten, den Flug nach Michoacán ganz alleine schaffen, brauchen jedes Mal drei bis vier Generationen für den Rückflug. Wie kommt es, dass die Schmetterlinge auf dem Hinflug so viel leistungsfähiger sind als ihre Nachkommen? Und warum leben sie im Gegensatz zu ihnen zehnmal so lang? Die Antwort der Biologen ist


ungewöhnlich: Während die Monarchfalter zunächst all ihre Energie in den Hinflug stecken, beginnt mit dem Rückflug für sie die Paarungszeit. Doch nachdem sich die Tiere fortgepflanzt haben, sterben sie. So ergeht es auch ihren Nachkommen, bis schließlich eine der Kinder-Generationen an die Großen Seen zurückkehrt und dort ihre Eier ablegt. Und dann beginnt der Kreislauf von Neuem. Ihre Reise führt die Langstreckenflieger von den Großen Seen über die östlichen Bundesstaaten der USA, vorbei an den Rocky Mountains, nach Texas, über die Grenze zu Mexiko und entlang der hoch aufragenden Berge der Sierra Madre. Aus allen Richtungen strömen die Schmetterlinge herbei. Je weiter sie in den Süden kommen, desto mehr Schwärme schließen sich zusammen. Als würde ein überdimensionaler Trichter sie auf ihrer Reise bündeln, kommen sie punktgenau in ihrem Zielgebiet an.

Damit sie auf ihrer Reise nicht verloren gehen, verfügen Monarchfalter über ein inneres Navigationssystem. Sie orientieren sich an dem Stand der Sonne und am Magnetfeld der Erde.

Damit sie auf ihrer Reise nicht verloren gehen, verfügen Monarch­ falter über ein inneres Navigationssystem. Sie orientieren sich am Stand der Sonne und am Magnetfeld der Erde, entdeckten Insektologen vom Monarchforschungsprojekt der Universität Kansas. Sie untersuchten, wie die Schmetterlinge auf einen plötzlichen Ortswechsel reagieren und wie sie sich bei einem umgepolten Magnetfeld verhalten. Die Ergebnisse waren eindeutig: Wurden die Schmetterlinge nach einem Ortswechsel direkt freigelassen, orientierten sie sich so, als hätte der Umzug nie stattgefunden. Erst nach einigen Sonnenauf- und -untergängen bewegten sie sich wieder in die richtige Richtung. Bei umgepolten Magnetfeldern flogen die Schmetterlinge genau in die entgegengesetzte Richtung, nach Nordosten statt Südwesten. Und ganz ohne magnetische Einflüsse waren sie vollkommen desorientiert. Am 1. November kündigt ein leises Rauschen die Ankunft der Monarchfalter in den Bergen Michoacáns an. An diesem Tag, dem Dia de Muertos, darf kein Mensch sie berühren oder gar fangen. Es könnte ja ein verstorbener Verwandter sein, glauben die Mazahua.

Es ist als hätte Frau Holle ihr Kissen ausgeschüttet und dieses kleine Fleckchen Land statt mit Schnee mit Schmetterlingen überhäuft.

Mit den Monarchfaltern kommen auch die Touristen nach Michoacán. Sie nehmen den beschwerlichen Aufstieg in die Wälder auf sich, um einen kleinen Blick zu werfen auf eines der schönsten Schauspiele, das die Natur zu bieten hat und das von der Unesco 2008 zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Zu Tausenden drängen sich die Schmetterlinge dicht an dicht auf den Stämmen, Ästen und Tannennadeln der Oyamelbäume. Es ist als hätte Frau Holle ihr Kissen ausgeschüttelt, und dieses kleine Fleckchen Land statt mit Schnee mit Schmetterlingen überhäuft. Bis zum Frühjahr verharren sie so. Nur wenn die Sonne eines späten Vormittags ausreichend scheint, erwacht der Wald zum Leben und unzählige Schmetterlinge schwirren durch die Luft. In den letzten Jahren jedoch erreichten immer weniger Monarchfalter die Überwinterungsplätze. Die zunehmende Verstädterung, der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und klimatische Veränderungen machen ihnen das Überleben schwer. Hinzu kommen die illegalen Holzschläge in den Wäldern Michoacáns. Obwohl die mexikanische Regierung die Überwinterungsplätze bereits 1986 unter Schutz gestellt hat, wurden die Baumreihen in der Vergangenheit dort immer lichter. Mittlerweile engagieren sich verschiedene Gruppen, um den Lebensraum der Monarchfalter zu erhalten: In den USA wie in Mexiko findet Aufklärungsarbeit statt. Dorfbewohner und Tierschützer patrouillieren durch die Wälder. Programme zur Wiederaufforstung versuchen die Verödung des Landes rückgängig zu machen. Und auf der Flugstrecke streuen Menschen Samen der Futterpflanze aus. Im Jahr 2011 meldet der Word Wide Fund for Nature nun einen ersten Erfolg. Im vergangenen Winter hat sich die Population der Schmetterlinge gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Vier Hektar Wald waren mit dem orangeroten Teppich aus Monarchfaltern bedeckt. Die Seelen der Verstorbenen kehren auch weiterhin in die Berge Michoacáns zurück.


Ruhezone Manchmal mรถchte man seinen Urlaub gerne ungestรถrt genieร en. sammlung: Rainer Weichert


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1  The Biltmore — Coral Gables, Miami, USA  2  Michelberger Hotel ­— Berlin, Deutschland   3  De Vere Hotels & Resorts — England, Großbritannien  4  Abaco Club on Winding Bay­— Marsh Harbour, Abaco, Bahamas  5  Le Parker Meridien — New York, USA  6  Le Meridien — London, England, Großbritannien  7  Dolce La Hulpe — Brüssel, Belgien  8  Stapleford Park County House Hotel & Sporting Estate — Stapleford, Großbritannien  9  Hard Days Night Hotel — Liverpool, Großbritannien  10 Orbis Hotels — Polen  11  Palace Hotel — Stockholm, Schweden  12  Grand Hotel Wiesler — Graz, Österreich  13  Limassol Sheraton Resort & Pleasure Harbour — Limassol, Zypern  14  Reso Hotels — Schweden  15  Hotel Hamburger Börs — Turku, Finnland  16  Tel Aviv Hilton — Tel Aviv, Israel  17  Lotte Hotels — South Korea  18  London International Hotel — England, Großbritannien  19  Block Hotels — Kenia


Sahedan, am Abend des 20. Juli

Der einzige Mechaniker der Stadt war ein majestätischer Eremit, der den Tag im Schneidersitz in einem Winkel des Basars verbrachte, wo er auch ein wenig Gemüse verkaufte. Er besah sich eine ganze Weile lang unser zerbrochenes Getriebe, das über seinem makellosen Gewand wie ein Edelstein glänzte. Ich betrachtete das wohlgenährte Christusgesicht, die sauberen, braunen Zehen, die rund waren wie die eines Säuglings. Es schien unfassbar, dass dieser Heilige sich mit etwas Technischem abgeben könnte. Schließlich gab er uns das Teil zurück. Quetta dorost mische. (Sowas repariert man in Quetta.) Die kleine North Western Railway Company, die einmal pro Woche die Strecke Quetta-Sahedan mit drei Waggons Trinkwasser befuhr, verlangte für den Transport des Wagens die märchenhafte Summe von tausend Rupien, von denen wir auch nicht eine einzige besaßen. Wir mussten also die siebenhundert Kilometer belutschischer Wüste im zweiten Gang schaffen. Wir hatten den ganzen Tag auf dem Rücken gearbeitet, um den Motor herauszunehmen und das Getriebe auszubauen. Morgen würden wir alles wieder einbauen. Bis dahin konnten wir die Waffen strecken.

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Kleiner Streuner Die Katze als Street-Photographer. fotos: Binky, Mr. Lee, der Blonde


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Der Ingenieur Jürgen Perthold hat eine Kamera entwickelt, die man einer Katze umhängen kann. Jeder Freigang wird mit einem Bild pro Minute dokumentiert. Damit ist endlich nachvollziehbar, was unsere Haustiere eigentlich den ganzen Tag machen. Die Bilder, die wir hier zusammengestellt haben, zeigen außerdem: Die Katze hat ein gutes Auge und besitzt auch für die Jagd nach Motiven Talent. Katzenkameras gibts unter: www.mr-lee-catcam.de.

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Das Fernweh bleibt Katrin Göring-Eckardt liest das Gleichnis vom verlorenen Sohn. protokoll: Sebastian Pranz ILLUSTR ATION: Uli Knörzer

Vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11–24) Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngste unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut. 13 Und nicht lange darnach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. (Sprüche 29.3) 11

Da er nun all das Seine verzehrt hatte, ward eine große Teuerung durch dasselbe ganze Land, und er fing an zu darben. 15 Und ging hin und hängte sich an einen Bürger des Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm. (Sprüche 23.21) 17 Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir (Jeremia 3.12–13) (Psalm 51.6) 19 und bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße, 23 und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet’s; lasset uns essen und fröhlich sein! 24 denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu sein. (Epheser 2.5) 14

Ich habe mir schon als junges Mädchen gewünscht, aufzubrechen. Damals habe ich die 10-DM-Geschenke der West-Verwandtschaft gespart. Ich wollte das Geld bis zu meinem Rentenalter aufheben. Dann würde ich reisen dürfen und nach New York fliegen. In meiner Vorstellung war dies die Stadt, in der die unterschiedlichsten Menschen gut miteinander leben. Hier könnte ich meine Zukunft selbst gestalten! Ich stelle mir vor, dass der Sohn aus dem Gleichnis aus einer gut situierten Mittelschicht kommt. Wahrscheinlich gibt es nichts, worüber er sich Sorgen machen müsste. Das einzige, wodurch er eingeschränkt ist, sind die moralischen und traditionellen Vorstellungen sei­ner Familie. Aber er sehnt sich nach Freiheit und vielleicht – wahrscheinlich – möchte er es anders machen als sein Vater. Er möchte dem geregelten und abgesicherten Alltag entkommen. Wenn ich mir den Sohn vorstelle, habe ich zwei Bilder vor Augen, beides Aspekte ein und derselben Person. Einmal sehe ich einen jungen Mann, der die Wanderjacke schon übergestreift hat. Er möchte sein eigenes Leben beginnen. Und ich sehe einen wütenden Menschen, der sich von der Enge und Gängelei seiner Familie befreien möchte, indem er die Beziehung abbricht. Beides gute Gründe, sich auf den Weg zu machen und wegzugehen. Im Gleichnis steht der Vater für Gott. Ich bin ziemlich beeindruckt von seiner Reaktion: Er hält seinem Sohn nicht die Konsequenzen seines Handelns vor, wie es Eltern oft machen. Er


lässt sein Kind gehen, ohne Widerspruch zu leisten. Keine Wut, keine Trauer, keine Sorge, jedenfalls nicht offensichtlich. Er scheint auch keine Bedenken zu haben, einen Teil seiner eigenen finanziellen Sicherheit aufzugeben, um dem Sohn sein Erbe auszuzahlen. Seine Liebe fragt nicht nach dem, was gewesen ist, oder dem, was kommen wird. Am Schluss höre ich ihn sagen: „Ich habe dich geliebt, als Du weggegangen bist, ich habe Dich geliebt, als Du in der Ferne warst. Und ich liebe dich jetzt, wo du wiederkommst.“ Diese Art der Liebe bekommt man nicht oft geschenkt im Leben. Ich möchte gerne zu einem Sehnsuchtsort aufbrechen, der in mir selbst liegt. Da kann es schwierig, heiter oder auch mal kompliziert werden. Den Weg dorthin kann ich nur ahnen, und ich weiß, dass diese Reise viel Unerwartetes birgt. Vermutlich war ich bisher immer zu beschäftigt, um mich aufzumachen – und auch nicht mutig genug. Aber wenn ich mir die Zeit nehmen könnte, würde ich eine Bibel einpacken und alte Briefe und Fotos. Ich würde Orte aufsuchen, die in meinem Leben wichtig waren, und Menschen, die mir Türen zu mir selbst aufschließen können. Eins weiß ich: Ich müsste unbedingt aufbrechen, ohne mir vorher einen Plan zu machen. Und Gottes Liebe begleitet mich auf meinem Weg und dann, wenn ich wieder, mit vielen Eindrücken und verändert, heimkomme zu mir. New York habe ich inzwischen gesehen. Das erste Mal im Jahr 1993 auf einer Dienstreise. Ich hatte nach dem Check-in im Hotel vielleicht eine halbe Stunde Zeit und habe mich in ein Kaffeehaus gesetzt. Mit einem riesigen Pappbecher in der Hand habe ich die vielen so sehr unterschiedlichen Menschen angestaunt. Hier bist du genau richtig, habe ich gedacht. Ich bin überzeugt, dass dem Sohn das Fernweh geblieben ist. Aber vielleicht hat er eine neue Dimension der Freiheit kennengelernt, für die er nicht wieder weglaufen muss.

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Katrin Göring-Eckardt, Jahrgang 1966, wurde in Friedrichroda (Thüringen) geboren. Die Ereignisse der deutsch-deutschen Wende veranlassten sie dazu, ihr Theologiestudium abzubrechen und sich stärker der Politik zu widmen. Sie war Gründungsmitglied von Bündnis 90 und ist seit 1998 Bundestagsabgeordnete der Grünen. Katrin Göring-Eckardt ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und außerdem Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt gemeinsam mit Eckardt Nagel „ABER DIE LIEBE“ (KreuzVerlag).


Flug-Linien Jorinde Voigts Linien-Zeichnungen sind ein mathematisches Spiel mit der Bewegung. zeichnungen: Jorinde Voigt

Jorinde Voigt hat in ihren großformatigen, akribischen Zeichnungen eine eigene visuelle Sprache, eine Art abstrakten Zeichencode entwickelt, der zutiefst subjektiv und individuell erscheint und doch strengen Regeln unterworfen ist. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst nivellierend analysiert sie in ihren Notationen und Partituren die Strukturen unterschiedlichster kultureller Erscheinungen sowie Phänomene der Natur.

China III 2 Horizonte; Mögliche Farben des Horizonts; Position; Himmelsrichtung; Externe Zentren; Rotation; Airport; Territorium; All other Directions; Kontinentalgrenze Jorinde Voigt, Berlin 2011 102 × 140 cm Tinte, Ölkreide, Bleistift auf Papier Unikat, signiert


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10 Territorien / Konvex-Konkav / Richtungswechsel Jorinde Voigt, Rom 2010 100 × 200 cm; Tinte, Bleistift auf Papier; Unikat, signiert


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Konstellation Algorithmus Adlerflug 100 Adler, Strom, Himmelsrichtung, Windrichtung, Windstärke Jorinde Voigt, Berlin, Oktober 2007 114,5 × 218 cm; Tinte, Bleistift auf Papier; Unikat


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Seiten Blick Ăœber das Lesen an seltsamen Orten. Text: Stephan Wackwitz


Denn es ist ja tatsächlich so, dass wir uns an die Zimmer, Cafés und Landschaften, in denen wir etwas gelesen haben, um so deutlicher erinnern, je vollständiger wir sie, als wir noch dort saßen, über dem Buch vergessen hatten. „Das Spiel“ (schreibt Marcel Proust) „zu dem uns ein Freund bei der interessantesten Stelle abholen wollte; die störende Biene oder der lästige Sonnenstrahl, die uns zwangen, den Blick von der Seite zu heben oder den Platz zu wechseln; die für die Nachmittagsmahlzeit mitgegebenen Vorräte, die wir unberührt neben der Bank liegen ließen, während über unserm Haupt die Sonne am blauen Himmel unaufhaltsam schwächer wurde; das Abendessen, zu dem wir zurück ins Haus mußten, und während dessen wir nur daran dachten, gleich danach in unser Zimmer hinaufzugehen, um das unterbrochene Kapitel zu beenden, all das, worin unser Lesen uns nur Belästigung hätte sehen lassen müssen, grub im Gegenteil eine so sanfte Erinnerung in uns ein (die nach unserem heutigen Urteil um so vieles kostbarer ist als das, was wir damals mit Hingabe lasen), daß, wenn wir heute manchmal in diesen Büchern von einst blättern, sie nur noch wie die einzigen aufbewahrten Kalender der entflohenen Tage sind, und es mit der Hoffnung geschieht, auf ihren Seiten die nicht mehr existierenden Wohnstätten und Teiche sich widerspiegeln zu sehen.“ Und so weiter. Problematisch wird es eigentlich erst, wenn einem Menschenkind (wovon hier jetzt die Rede sein soll) das Lesen so gut wie überhaupt nicht mehr an so vergleichsweise vorzeigbaren Orten wie den von Proust geschilderten „Wohnstätten und Teichen“ möglich ist und denkbar scheint, sondern je älter ich werde (denn natürlich ist von mir selbst die Rede) fast nur noch an immer uneinleuchtenderen, verquereren, demütigenderen und letzthin geradezu gefährlichen Orten. Prousts Sommerhaus, jetzt gar nicht mehr. Sondern hoch bedenkliches Versinken in absurd ortsfremder Lektüre auf – wahllos und beispielshalber herausgegriffen – dem Vereinsheim der polnischen

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Kanu-Olympiamannschaft, einmal aus Platzmangel am bereits abgegessenen, aber noch unabgeräumten unteren Ende einer langen Tafel, während felsbrockengroße junge Muskelmänner am gegenüberliegenden noch aßen und sportlich fachsimpelten. Oder im düsteren Schankraum einer ländlichen „Drink-Bar“ im verschneiten Szkopów. So heißt ein tief verlassener, dem Augenschein nach vor allem von freilaufenden, ihrer existentiellen Wut hemmungslos hingegebenen Hunden bevölkerter Weiler tief im Krakau/Tschenstochauer Jura, den ich eines Novemberabends 2004 in eineinhalbstündigem Fußmarsch durch den Wald erreichte; zurück musste ich an einer Straße entlangwandern, weil ich mich auf dem ursprünglichen Weg in der herbstlich früh einbrechenden Dunkelheit verlaufen hatte. Es dauerte dann von der „Drink-Bar“ bis zu meinem Auto etwa doppelt so lang, wie ich fürs Hinkommen gebraucht hatte. Drei Campingtische sind dort in einem hobbykellergroßen, ehemaligen Laden aufgestellt. An einem beschäftigten sich an jenem Spätnachmittag ein hagerer und zwei aufgedunsene Männer unbestimmbaren Alters damit, stoisch und systematisch pro Kopf zwei bis drei Literflaschen eines hochprozentigen Wodkamixgetränks namens „Tropical Punch“ in sich hineinzusaugen, die sie bei einer hinter einer Art Behelfstresen sich über schon gar nichts mehr wundernden Wirtin bestellten und holten. Durch das Schaufenster sah ich die drei dann, von Boswells Lebensbild Doktor Samuel Johnsons aufblickend, die verregnete Dorfstraße hinabschwanken und im Herbstnebel verschwinden. Auch so, dachte ich, und dieser Gedanke erschien mir einen Moment lang als große und erstaunliche Wahrheit, kann man das Leben ertragen.

das Geringste sagender Untersuchungen über „Das Werden des neuzeitlichen Europa“ oder den „Untergang des Römischen Reiches“. Das Schwenken und Schlürfen von allerlei Armagnacs, Rotweinen und „Sancerres“, die in Griffweite auf „Ab-“ oder gar „Beistelltischchen“ stehen. Eigentlich alles ja sehr schön. Aber ich (Eltern können es ihren Kindern bekanntlich nie recht machen) fand es entsetzlich. Ein matter, kaum noch flüsternder Ton war die in diesen Zimmern an solchen Nachmittagen einzig angemessene Verständigungsweise. Kinder schloss dies Flüstern, ebenso wie Teenager und eigentlich auch noch junge Erwachsene, apriorisch aus; es machte sie irgendwie fast undenkbar. Als Schock kam mit Anfang Dreißig dann die Erkenntnis, dass das Schönste im Leben auch für mich darin zu bestehen scheint, Untersuchungen über Dinge wie das Werden des Neuzeitlichen Europa und den Untergang des Römischen Reiches zu lesen, dazu in Maßen Alkohol zu trinken und Bachkantaten oder Opern von Händel zu hören. Zum Davonlaufen. Genau das aber tat ich nun. Das Aufkommen des „Sony“-Walkmans begünstigte die Verschleierung meines in Wirklichkeit tief bildungsbürgerlichen Musik- und Bücherkonsums vor mir selbst und half, die Erinnerung an jene Nachmittage und Abende bei uns zu Haus zu verdrängen. Alkohol gibt es überall. Sancerre und Armagnac freilich nicht gerade. Mein eigener Lektüre-Alkoholismus unterscheidet sich von der Familientradition dann auch durch eine (vielleicht liebenswerte oder zumindest straßenglaubwürdige) plebeijische Note. Es läuft nämlich meistens auf das lokale Bier hinaus. Das jeweils angesagte Buch kommt in einen Rucksack oder eine Umhängetasche. Und so begann in den frühen Achtzigerjahren, zunächst auf langen Busfahrten durch verregnete Londoner Vororte, die nomadisierende Leserexistenz, die nun, in meinen Fünfzigern, sich in der oben angegebenen Weise zu radikalisieren, zu ridikülisieren und zu einer Art Risiko zu werden droht.

Wahrscheinlich sind eh wieder Vati und Mutti Schuld. In deren Haushalt praktisch unentDie meisten Lokale nämlich, wegt, vor allem abende- und in die ich auf meiner Flucht wochenendlang, gelesen wurde. vor Lektüre an für Lektüre vorDie nur durch das Abspielen von Bachkantaten, Haydnsuiten und Beethovensymphonien aus dem Radio und später vom Tonband beleb- gesehenen Orten gerate, sind te Stille unseres Wohnzimmers scheint mir im Rückblick ein einziges nunc stans in den Schoß gebetteter, andächtig umgeblätterter, mir nicht dafür, was ich dort vorhabe


und tue, sozial vollkommen vorquellend, vor allem freungeeignet. quentieren, umgaben mich. McDonalds-Filialen sind noch am unauffälligsten. Seltsame Men- Ich beobachtete ihren Kinderschen auch anderer Glaubensrichtungen, Bedürfnisse und Triebstrukturen bevölkern sie, mehr oder weniger geduldet oder wenigstens ig- segen und ihr Glück, halb neinoriert, sowieso. Und so habe ich zum Beispiel eine lange Untersuchung des Bildungssoziologen Stefan Breuer über die narzisstischen Verwer- disch, halb mich grausend, aus fungen, Strafen, Diktate, Eifersuchtsdramen und Narrheiten des George-Kreises in einem „McDonalds“ zwischen Lerchenfeld und Dachau dem Augenwinkel. fast ganz ausgelesen, einen Spätnachmittag und Frühabend im Dezember 1997 lang bis gegen 21.30 Uhr, zunächst zu frittierten Apfelund Kirschmustaschen an mehreren Kaffeeportionen aus dem Pappbecher, je weiter die Dämmerung vorrückte und schließlich sank, dann über ein bis zwei Bieren. Den mythologisierend-verrückten Ausruf: „Das ist der Pfeil des Meisters!“, mit der Max Kommerell die Diagnose der Krankheit quittierte, an der er nicht lang nach dem endgültigen Bruch mit seinem erhabenen Quälgeist dann tatsächlich starb, murmelte ich erschüttert nachvollziehend vor mich hin, während sich mein Blick in gleißendem Neonlicht über festgeschraubtem Plastikgestühl verlor; im Hintergrund eine mit bunten Plastikkugeln gefüllte Kindertobelandschaft.

Das Kapitel über die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft in Martin Malias „The Soviet Tragedy. A History of Socialism in Russia 1919–1991“ wiederum ist in meiner Erinnerung für immer verlötet mit einem frühherbst-spätnachmittäglich durchsonnten „McDonalds“ an der langen, schon fast autobahnhaften Ausfallstraße von Krakau in Richtung Rzeszów gegenüber einer Stichstraße, die auf den Vorortbahnhof Plaszów führt (im dortigen Bahnhofsrestaurant hatte ich, auf eine dort aussteigende Freundin wartend, Jorge Luis Borges’ Erzählung „Dr. Brodies Report“ ein Jahr zuvor einmal zu einem kleinen Bier wiedergelesen).

Junge Familien, die den dortigen McDonalds, wohl aus den nahen Hochhaussiedlungen her-

Ich war mit dem Fahrrad dort hinausgefahren. Die Notiz „weißer oder heller Lidschatten als kosmetisches 70er-Jahre-Überbleibsel und Proll-Indikator“ ist auf Seite 214 der einzige Datierungshinweis für meine Lektüre auf jenen Nachmittag im August 2004, an den ich mich heute halten kann. Auf Seite 451 werde ich genauer: „Gorbatschow konnte sich nicht entscheiden, ob er Luther sein wollte oder der Papst. Theaterterrasse Nowa Huta, 23.8., 16.34 Uhr“. Es ist mir erst überm Lesen dieser Notiz gerade wieder eingefallen: Auf der Terrasse des merkwürdigen Selbtbedienungsrestaurants, das zum realsozialistischen Theaterbau der stalinistischen Musterstadt gehört, in der ich im Herbst 2004 viel auf dem Fahrrad herumfuhr – hatte an einem Nebentisch in Sichtweite ein kaum zwanzigjähriges Paar Platz genommen; und ich bewunderte, vom Malia aufblickend die Eleganz der jungen Frau. Wie sie aussah, habe ich längst vergessen. Ich muss meinen vagen Erinnerungseindruck mit Extrapolationen aus der Zerbrechlichkeit, Zickigkeit und Verführungskraft anderer polnischer Frauen dieses Alters auffüllen. Aber ich frage mich, ob ich mich an dieses Paar ohne diese Notiz in Malias „The Soviet Tragedy“ überhaupt jemals noch erinnert hätte. Borges schreibt irgendwo, in seiner Bibliothek befände sich ein Buch, das er vor seinem Tod nicht mehr öffnen wird. Und auch mir ist, indem ich Malias Buch vorhin aus dem Regal nahm, beim Durchblättern klar­geworden, dass mein Sterben zwar schon längst begonnen hat, diese Erinnerung an das Paar auf der Theaterterrasse von Nowa Huta es aber einen Moment lang aufgehalten, ein kleines Stück der verlorenen Zeit zurückgebracht, ihr Vergehen vielleicht sogar ein bisschen sinnvoller gemacht hat, als es ohne diese Erinnerung gewesen wäre.

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Vielleicht ist es an dieser Stelle angebracht, einmal dem Grund dafür nachzugehen, wieso gerade die Versenkung in Themen, Handlungen, Gegenstände und Zusammenhänge, die man, kaum ist das Buch zugeklappt, zum großen Teil schon wieder vergessen hat, dazu geeignet sein soll, die Zeit anzuhalten und die Weltausschnitte so genau und leuchtend in uns festzuhalten, die einem über die Schulter gesehen haben, während man sie gar nicht ansah und sie nur aufblickend oder aus dem Augenwinkel wahrnahm. „Was gibt es Furchtbareres als die in uns immerfort wuselnden Gedanken?“ fragt W. G. Sebald in „Campo Santo“, seinem letzten Buch. „So true“ habe ich in meinem Exemplar auf der Seite 243 neben diesen Satz an den Rand geschrieben. Ich muss das im Frühherbst des Jahres 2003 gelesen, unterstrichen und kommentiert haben, als es mir über Wochen nicht gelang, einen Streit mit einer Frau, von der ich nicht lassen konnte, mir immer wieder ins Gedächtnis zu rufen und mir meine Schuld und die rekonstruierenden Beteuerungen meiner Unschuld (weder Schuldeingeständnis noch Unschuldsanspruch hatten ein Gegenüber mehr) in einsamer Raserei durch den Kopf gehen zu lassen. Aber furchtbar sind gar nicht nur die quälend obsessiven Überlegungen, die einen in einer solchen Lage tagelang und (besonders grauenvoll) nachts nicht mehr aus ihren Fängen lassen. Genauso zerstörerisch wirken die unentwegt kommenden und gehenden, nebelartig uns verblendenden Befürchtungen, Wutanfälle, Einfälle, Melodiebruchstücke, Konstruktionen, Denkgewohnheiten und Grübeleien des ganz normalen Alltagsbewusstseins. Es ist ja wie ein subliminal tobender Wahnsinn, was da in jeder Sekunde auf uns einteufelt und aus uns herausbricht. Nachdem ich zwei bis drei Jahrzehnte meines Erwachsenenlebens mit Lesen verbracht habe, will mir scheinen, dass man eigentlich deshalb liest, weil das Inanspruchgenommensein durch die Seite, auf der unser Blick, unser Sinnverlangen und unser oberirdisches Wachbewusstsein sich verliert, uns Seitenblicke auf die Welt ermöglicht, die einen Moment lang frei sind von dem, was sie uns sonst nur so blicklos wahrnehmen lässt. Und so will es mir heute geradezu als ein Segen erscheinen, dass meine rebellisch-verquere Ablehnung all des Guten und Schönen, das von meinen Eltern kam, im Fall des Lesens und im Weglaufen vor den Erinnerungen an jene nur für das Flüstern, Armagnacschlürfen und Buchseitenumblättern eingerichteten Räume und Samstagnachmittage mir so viele seltsame Orte und Zeiten eröffnet hat. Denn auch die Vorliebe für seltsame Zeiten der Lektüre gehören zu der hier beschriebenen Disposition. Im Lesesessel, in den fürs Le-

sen vorgesehenen und bestens ausgestatteten Interieurs und Atmosphären der Bibliothek- und Arbeitsräume nämlich, die ich mir über die letzten Jahrzehnte in verschiedenen Wohnungen eingerichtet hatte, kann ich nur vor Sonnenaufgang lesen; wenn alle anderen noch schlafen (eine andere Geschichte, die anderswo beschrieben ist).

An freien Nachmittagen dagegen, nach dem vormittäglichen Schreiben an Kapiteln oder Stücken wie dem vorliegenden, treibt es mich mit einer Hartnäckigkeit, der ein Stigma der Verschrobenheit anhaftet, an seltsame Orte, um mich dort der Lektüre hinzugeben. Vollends aufgegangen ist mir der Zusammenhang zwischen Weltseltsamkeit und meinen Lektüregewohnheiten allerdings eigentlich erst im vorigen Herbst. Letzter Anstoß und erster Schauplatz der Selbstbeobachtungen und Erkenntnisse, die ich hier unterbreite, ist eine grundseltsame Lokalität, die im Krakauer Villenvorort Wola Justowska liegt, in unmittelbarer Nähe eines auch in deutschen Schriftstellerkreisen weit berühmten Stipendiatenwohnheims. Der Charakter dieser Einkehrmöglichkeit markiert den Übergang zwischen Galerie und Café. Es wird betrieben von einer sehr korpulenten, stark zigarettenrauchenden (und manchmal entsprechend hohl hustenden) Mutterfigur und ihrer eng um sie gescharten, ohne sie immer ein bisschen verloren wirkenden Familie. Neben der Großen Mutter (wie ich sie respektloserweise inzwischen bei mir nenne) besteht dieser Kreis aus einem eher schmächtigen, bleichen und schütter rotbärtigen Schwiegersohn (so jedenfalls reime ich mir seinen Status zusammen) und einer hinreißenden Toch-


ter. Ein sehr gutmütiger, lammfromm und gleichsam resigniert an Menschen jeder Art interessierter alter Boxerhund komplettiert die bei fast jedem meiner Besuche vollzählig anwesende Stammbelegschaft, eine Vaterfigur (für die der „Schwiegersohn“ keinesfalls, auch nicht entfernt ersatzweise, einstehen kann) fehlt. Hat es mich deshalb den ganzen letzten Herbst und bis spät in den folgenden Frühling hinein zum Lesen in das Galeriecafé in Wola Justowska gezogen, weil das Väterliche, dem ich die Selbständigkeit meines Lesens mit diesen Ausflügen offenbar abringen muss, dort so ganz abwesend ist? Man weiß über derlei selbst ja am wenigsten. Die Architektur des turnhallengroßen, durch einen Kamin schwach geheizten Raums ist jedenfalls spektakulär. Das Galeriecafé in Wola Justowska besteht aus einer in sich gestuften oder aufgebrochenen Kuppel aus weiß angestrichenem Spannbeton. Die Bruch- oder Absatzstelle in ihrem Scheitelpunkt schafft Raum für eine bananenförmig gewölbte Zwischenverglasung. Von dorther kommt senkrechtes, atelierartig diffuses Licht. Bogenförmige Glas-Aussparungen, durch die man die Halle betritt, gewähren den Blick in eine garten- oder parkartige Außenanlage. Ein Holzofen, in dem große Scheite flackern oder vor sich hin glühen, erhellt an Herbstabenden die Gegend des dann in seinen Höhen und Tiefen schon nächtlich verschatteten Raumes, wo der reservierte Tisch der Familie steht und der Hund seinen Platz auf einer alten Decke hat. Die unbequemen Korbstühle knacken und schmerzen unter dem unruhig und vergeblich eine Idealposition suchenden Hintern des wandernden Literatur/Musikfreundes und Biertrinkers. Man stellt es sich unwillkürlich so vor, dass Bauherr und Architekt des Galeriecafés von Wola Justowska in den volksrepublikanischen Zeiten der Sechzigerjahre sich vom Operngebäude im australischen Sydney inspirieren lassen wollten. Aber inzwischen mischt sich das Avantgardistische hier längst mit dem Familiär-Provinziellen, das sydneyhaft Aufstrebende mit dem polnisch Dörflichen. Womit das Stichwort für den eigentlichen, nämlich den künstlerischen Zweck dieses Gebäudes gefallen ist (das durch meine Lektüre-Konzeptkunst ja nur zweckentfremdet wird). Das Galeriecafé ist seiner eigentlichen Bestimmung nach ein Museum, Magazin, Verkaufs- und Ausstellungsraum des Künstlerpaars Bronislaw und Jadwiga Chromy. Das wird Ihnen jetzt nichts sagen. Wer sich jedoch mit Vorbereitungen für eine Reise nach Krakau beschäftigt oder dann

tatsächlich hinfährt, wird einer zwischen dem Wawel-Burgberg und dem Hochufer der Weichsel in einem kleinen Uferpark aufgestellten Stahlskulptur eines Drachens nicht entgehen, der fast so etwas wie das moderne touristische Wahrzeichen der Stadt geworden ist, seit man ihn (wohl in der Entstehungszeit des Galeriecafés) dort aufgestellt hat. Weniger schrecklich dann aber andere Arbeiten Chromys im Innenraum und in der angrenzenden, trichterförmig sich zum Schalengebäude absenkenden Parklandschaft. Für immer unvergesslich ist mir zum Beispiel die grünspanüberzogene Bronzeskulptur eines elegant unterernährten, dabei aus irgendeinem Grund bärtigen Windspiels vom Typus des (ich zitiere Meyers Lexikon von 1927, wo ich die entsprechende Rasse gerade nachgeschlagen und identifiziert habe) „wellhaarigen russischen Windhundes (Barzoi)“. Im Spätseptember 2004 habe ich diese Arbeit Chromys einen dunklen Samstagnachmittag lang gedankenverloren beim Aufblicken aus Kingsley Amis’ Roman „The Green Man“ betrachtet. Und in meiner Lesererinnerung beschwört der Bronzewindhund jedes Mal, wenn ich wieder da bin (zuletzt war es gestern) die ersten Szenen dieser genialen Geistergeschichte und Gastronomiemilieu-Studie herauf. Ich werde mein Leben lang überhaupt keinen wellhaarigen russischen Barzoi mehr betrachten können, ohne an das geistvolle Räsonieren und Assoziieren des immer mehr oder we­niger volltrunken durch sein ländliches Pub torkelnden Helden dieses Romans zu denken (ein von mir, Kingsley Amis und Bronislaw Chromy gemeinsam geschaffenes Konzeptkunstwerk der Lektüre).

Es gibt mehr über wellhaarige russische Windhunde zu erzählen, als ich hier hinschreiben kann, ohne die Geduld meiner Leser endgültig überzustrapazieren.

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Aber wenn es stimmt, dass im Augenblick unseres Todes alle Gegenstände und Stimmungen unseres dann zu Ende gehenden Lebens an unserem inneren Auge vorbeiziehen, dann wird, so glaube ich sicher, eine Skulptur eines russischen Barzoi von Bronislaw Chromy in der Flucht meiner inneren Lebensbilder eine Rolle spielen. Nachzutragen ist, dass über die Herbst-, Winter- und schließlich Frühlingsmonate des letzten Jahrs hinweg diese Visionen beim Abirren und Aufblicken von allerlei Büchern und zugleich das Nachdenken über derlei Erleuchtungen zwar einerseits fortgeschritten sind und schließlich in die Gestalt dieser Seiten sich konstelliert haben. Andererseits kühlte der ursprünglich freundliche und mir eine Weile lang geradezu herzlich scheinende Empfang durch die Cafébetreiberfamilie, je öfter ich dort war und hinkam, emotional immer weiter ab. Inzwischen kommt mir von Seiten meiner Gastgeber, wenn ich in Wola Justowska auftauche, nur noch eine Art irritiertes (freilich unausgesprochenes und nur durch gewisse Körperhaltungen, Mienen, Rückfragen bei der Bestellung und dergleichen zum Ausdruck gebrachtes) „Ach Sie schon wieder“ entgegen. Diese Ablehnung (wenn es sich um etwas so Starkes und Ausgesprochenes überhaupt handelt) beschäftigte mich außerhalb des Chromy-Galeriecafés dann natürlich nicht mehr weiter. Während ich aber dort war und mich – über die Monate verteilt – in Brian Greens „The elegant universe“, in Paul Austers „Vertigo“, Simon Sebag-Montefiores Buch über Stalin oder die Borges-Biographie von Edwin Williamson vertiefte, war die ungute zwischenmenschliche Stimmung, die vom Tischchen der Gastwirtsfamilie unweit des Kaminofens in meinem Rücken herüberwehte, oft so stark, dass ich mich in meiner (vielleicht ja nur eingebildeten) Verstoßenheit fühlte wie als kindlicher und jugendlicher Leser in meiner eigenen Familie oft. Aber was ich mit der Wirtsfamilie des Chromy-Galeriecafés erlebe oder zu erleben scheine, gehört, denke ich inzwischen, wahrscheinlich zum Schicksal eines Lesers an seltsamen Orten.

Ohne Selbstmitleid, aber auch ohne Beschönigung ist festzuhalten, dass Leser an nicht für

Lektüre vorgesehenen Orten im Grunde nur stören und je öfter sie kommen, umso lästiger fallen. Worauf ich – noch einmal, und wie sich zeigen wird, in Form eines Abgesangs – auf das Galeriecafé in Wola Justowska zu sprechen kommen möchte. Als ich gestern dort wieder einsprach, David Lodges „Bodies and Souls“ in der Umhängetasche, fiel mir (ich drehte mich, mein kleines Zywiec-Bier in der Hand, von der Theke weg gerade in den sommerabendlich leuchtenden Raum hinein und wollte auf die von mir bevorzugte Korbmöbel-Sitzgruppe in seiner Mitte zusteuern) ein schwarz umrandetes Plakat auf, das in einem merkwürdig kondolenzbuchartigen Arrangement hinter dem feierlich auf einem Tischchen aufgebahrten Gästebuch aufgestellt war und den bestürzten Lektürepilger darüber informierte, dass das Galeriecafé zum 30. August 2005 für immer schließen werde. Auch angesichts des Zufalls, dass der 30. August zugleich der Tag meiner geplanten Übersiedelung von Krakau nach Bratislava ist, war ich fast schon ein bisschen außer mir. Und sprach den – wie immer äußerst reservierten – „Schwiegersohn“ an, der mir eisig bestätigte, am 30.8. sei hier Schluss (wobei mir übrigens auffiel, dass er ein ganz klein wenig schielt). Ob sich der Betrieb wirtschaftlich denn nicht mehr lohne? „Es handelt sich um andere Gründe“ wurde mir mit großer Förmlichkeit Bescheid. Erschüttert nahm ich Platz. Ob die Große Mutter (sie fehlte heute) krank ist? Steckt ein Zerwürfnis mit dem Künstlerpaar Bronislaw und Jadwiga Chromy dahinter? Die Heizkostenexplosion? Es tröstete mich erst nach einer gewissen Bedenkzeit, dass ich an diesem seltsamen Ort voraussichtlich wenigstens noch zwei oder drei Bücher werde lesen können. Und dass ich ihn nie vergessen werde. Denn als „ein klassisches Beispiel“ für den uns hier interessierenden Zusammenhang nennt Jorge Luis Borges in seiner Geschichte „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ (sie befasst sich mit der oft unterschätzten Wahrheit, dass das Lesen wichtiger und wirklicher ist als das Leben) „jene Türschwelle, die andauerte, solange ein Bettler sie besuchte und die bei seinem Tode den Blicken entschwand. Zuweilen haben ein paar Vögel oder ein Pferd die Ruinen eines Amphitheaters gerettet.“


Die Malaria ist nicht gefährlicher als eine tüchtige Grippe, jeder Arzt wird das bestätigen. Trotzdem zehrt sie von dem Bild, das man sich von ihr gemacht hat. Der Mensch wird zittrig und schwach, er möchte, dass ihm alles möglichst leicht gemacht wird. Nichts als schlafen, das Bett ist gut – wenn nur die Fliegen nicht wären! Lange hatte ich gelebt, ohne zu wissen, warum man hassen kann. Heute hasse ich die Fliegen. Der bloße Gedanke an sie treibt mir Tränen in die Augen. Ein Leben, das ausschließlich ihrer Vernichtung geweiht wäre, schiene mir schön und edel. Ich meine natürlich die asiatischen Fliegen, denn wer Europa nicht verlassen hat, kann nicht mitreden. Die europäische Fliege hält sich an die Fensterscheiben, an Himbeersaft und dämmrige Korridore. Manchmal verirrt sie sich sogar auf eine Blume. Sie ist nurmehr ihr eigener Schatten, vom bösen Geist befreit, will sagen unschuldig. Die asiatische Fliege ist vom Überfluss an Sterbendem und von der Vernachlässigung des Lebenden verwöhnt und von verhängnisvoller Dreistigkeit. Ausdauernd, hartnäckig, hässlich erwacht sie mit dem ersten Morgenstrahl, und die Welt gehört ihr. Sobald es Tag wird, ist nicht mehr an Schlaf zu denken. Wenn der Mensch sich nur einen Augenblick Ruhe gönnt, hält sie ihn für ein krepiertes Pferd und macht sich über ihre Lieblingsbissen her: Mundwinkel, Bindehaut, Trommelfell. Ist man eingeschlafen, wagt sie sich weiter vor, verirrt sich und platzt schließlich auf ihre ureigene Manier in den allerempfindlichsten Nasenschleimhäuten, sodass man, von Übelkeit erfasst, auffährt. Hat man aber eine Wunde, einen Abszess, eine nicht ganz verheilte Narbe, kommt man vielleicht doch zu einem Moment Schlaf, denn dann macht sie sich schleunigst darüber her, und man muss gesehen haben, welch trunkene Bewegungslosigkeit jetzt an die Stelle ihrer widerlichen Unruhe tritt. Jetzt kann man sie bequem betrachten: selbstverständlich keine Spur von Eleganz, keine Linie, und von ihrem zerfahrenen, erratischen, absurden Flug wollen wir lieber gar nicht reden. Er ist einzig dazu angetan, einem auf die Nerven zu gehen. Die Mücke, die man ja auch lieber missen möchte, ist dagegen eine Künstlerin.

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„Heute kann ich sagen: Das ist mein Leben!“


Margarete Mitscherlich, haben Sie eine Ahnung, warum Deutschland Reiseweltmeister ist?

Die Deutschen haben verblüffend viel Urlaub, das weiß ich. Vielleicht kann man sagen, dass das fleißigste Volk der Welt mittlerweile das faulste geworden ist. Wenn ich aber übers Reisen nachdenke, muss ich aufpassen, nicht in ein Loch zu fallen. Bis vor wenigen Jahren konnte ich noch in mein Feriendomizil am Lago Maggiore fahren. Aber weil ich nicht mehr richtig gehen kann, kann ich auch nicht mehr reisen.

Margarete Mitscherlich auf der Couch.

Ihre rechte Hand liegt auf dem Griff des Rollators. Während des Gesprächs bewegt sie ihn hin und her. Als würde sie ihr Denken im Gehen vermissen. Wenn Sie Freud zitiert, der davon ausging, dass das Ich zu allererst ein Körper-Ich ist, ahnt man, wie schwer es ihr fällt, nicht mehr reisen zu können.

Interview: Dirk Brall Foto: Frederic Lezmi

Wie sehen Sie ihre eigene Lebensreise?

Ich bin zu früh, weil ich bei der Grande Dame der Psychoanalyse auf keinen Fall zu spät kommen will. Zwischen Wolkenkratzern und alten herrschaftlichen Stadthäusern liegt ihre Wohnung im Frankfurter Westend. Ich gehe die Straße auf und ab und überlege, wie ich meine ersten Fragen stellen soll. Hinter jeder eigenen Frage könnte eine verdrängte Geschichte stecken. Margarete Mitscherlich hat ein bewegtes Leben hinter sich. Ihren Mann hat sie gegen alle gesellschaftlichen Konventionen geheiratet. Sie hat es geschafft, einen herausfordernden Beruf zu erlernen und ein Kind aufzuziehen. Auch heute ist sie noch mit ganzem Herzen Psychoanalytikerin. Ich klingle, zwei Minuten vor unserem Termin. Sie bietet mir einen Stuhl an. Auf ihrem runden Esstisch stehen zwei Gläser und stilles Wasser. Wir bleiben während des Gesprächs sitzen. Und reisen gedanklich durchs Leben.

Je älter ich werde, desto mehr spüre ich die Kürze des Daseins. Da ist dieses merkwürdige Gefühl, das man als Kind hatte, dass man ewig lebt. Als wäre jeder Mensch ein unendlich großer Kontinent. Was ist denn aus dieser Perspektive betrachtet wichtig im Leben?

In den verschiedenen Abschnitten des Lebens spielen die verschiedenen Arten des Gefühls und des Interesses eine Rolle für das, was man als wesentlich bezeichnet. Für eine bestimmte Zeit war mir die Liebe zu einer Lehrerin das Wesentliche. Später wurde es die schwierige Beziehung zu meinem Mann, die als Affäre anfing und eigentlich keine Perspektive hatte. Dann wieder war es die Liebe zu meinem Kind, zu meinem Beruf, zu Freunden und vielen anderen Dingen. 84 | 85


Ist Liebe ein Kern des Wesentlichen?

Das klingt etwas zu einfach. Meine Liebe zu einem Freund, mit dem ich als junge Frau acht Jahre zusammen war, war von großer Ambivalenz geprägt. Ich konnte nicht mit und nicht ohne ihn leben. Es war viel Mitleid dabei, da er sehr krank war, aber das hätte ich nicht haben müssen. Er hat mich belogen und betrogen, während ich treu war. Wir haben zusammengehalten, weil wir uns gemeinsam von einem verbrecherischen Regime abgrenzen mussten. Und natürlich spielte Sexualität in dieser Zeit eine große Rolle. Aber als ich mich trennte, hat er mir mit Mord und Selbstmord gedroht. Wenn ich jetzt am Ende meines Lebens über die jeweiligen Phasen nachdenke, erscheint mir mein Mitleid und meine Liebe damals ziemlich unsinnig. Aber was soll’s. Heute kann ich sagen: Das war mein Leben. Wer mit Margarete Mitscherlich spricht, hat fast ein Jahrhundert Geschichte vor sich. Doch man hat nicht das Gefühl, dass die Jahre ihr eine Last geworden sind. In ihren aktiven Berufsjahren betreute sie bis zu acht Patienten am Tag. Unendlichen Lebensdramen hat sie gelauscht. Tausende Fragen hat sie gestellt. Verschiedenste Charaktere analysiert. Wer in ihre Augen schaut, sieht eine wache Frau, die nicht aufgehört hat, neugierig wie ein Kind zu sein. Mit welcher Frage eröffnet man eine Psychoanalyse?

Als erstes sagt man „Guten Tag. Was führt Sie zu mir? Was möchten Sie mir sagen? Bitte sagen Sie alles, was Ihnen durch den Kopf geht, wenn es Ihnen möglich ist. Bleiben Sie erstmal nur bei sich.“ Aber man wird nie stereotyp die gleiche Frage stellen. Ich will den Menschen ja verstehen und lasse ihn reden. Als Analytikerin versuche ich herauszufinden, was er mir eigentlich sagen will, ohne dass er es selbst weiß. Gibt es eine bestimmte Person, die Sie gerne auf der Couch gehabt hätten?

Adorno. Weil er sehr sensibel war. Aber der war älter als ich, das ist immer schwierig. Oder auch Horkheimer. Wir haben nach dem Tod seiner Frau öfter miteinander geredet. Andererseits waren beide ehrfurchtseinflößende Vaterfiguren für mich. Wahrscheinlich hätte ich ihnen nicht helfen können. Wie steht es mit Sigmund Freud?

Sehr gerne, das wäre toll gewesen. Ich hätte unendlich viele Fragen an ihn gehabt. Seine Auseinandersetzungen mit Kollegen hätten mich interessiert. Und die unglaubliche Liebesbeziehung zu Martha, mit der er 53 Jahre verheiratet war. Ich würde gerne wissen, warum Martha kein Verständnis für seinen Beruf hatte. Also – wer hätte nicht gerne Freud auf der Couch gehabt? Ein Blick in ihre Wohnung zeigt, dass sie vor allem für ihre Gedanken lebt. Bücher bestimmen die schlichte Einrichtung. Manuskriptstapel, Briefe

und ein Computer. Der Ausblick vom Balkon reicht über die Häuser. Hier oben ist nichts vom aufgeregten Frankfurter Leben zu spüren, das in den nahegelegenen Hochhäusern herrscht. Ihre Antworten sind so schlicht wie ihr Wassily-Stuhl aus der Bauhaus-Schule. Schnörkellos. Sachlich. Zeitlos. Und deshalb in einer komplexen Welt so zeitgemäß. Das Frühlingslicht fällt weit in den Raum. Uns Deutschen geht es gut wie nie. Wir sind reich und abgesichert, gleichzeitig fühlen wir uns ausgebrannt. Woher kommt dieses Gefühl?

Die Deutschen wären nicht burned-out, wenn sie etwas mit wirklichem Interesse und Zuneigung verfolgen könnten. Wenn sie fänden, was sie mehr als ihr Wohlbefinden interessiert. Kein Volk geht so häufig zum Arzt wie die Deutschen.. Man muss Zeit und Kraft haben zu jammern. Wir sind bestimmt Weltmeister im Jammern. Dabei gibt es genug Armut und Elend in der Welt, für die wir uns einsetzen könnten. Lieben macht sehr viel glücklicher, als immer nur geliebt werden zu wollen. Die heutigen Lebensläufe dürfen keine Lücken mehr haben …

Die ganzen Dichter und Denker, die irgendwas zustande gebracht haben, haben alle abgebrochene Lebensläufe. Ein geradliniger Lebenslauf ist nicht immer mit Glück gleichzusetzen, er kann auch ein Zeichen dafür sein, dass man nie etwas gefunden hat, das man wirklich liebt und für das man etwas anderes abbricht.

Wenn das Leben eine Reise wäre, was würden Sie in Ihren Koffer packen?

Ich bin in einem Alter, in dem ich mir nicht mehr vorstellen kann, einen Koffer zu packen. Hier zu Hause habe ich alles. Konzentriert auf einen immer enger werdenden Bereich. Um Koffer zu packen, müsste ich eine Zukunft haben, die weiter ist, als ich sie heute habe. Das Gespräch ist vorbei, das Gerät ausgeschaltet. Doch das Reden hört nicht auf. Margarete Mitscherlich fragt nach der eigenen Familie, streut ihre Gedanken. Die ganze Zeit haben wir an ihrem Tisch gesessen. Beim Verlassen des Raumes drehe ich mich noch mal um. Ich sehe eine Sitzgruppe, zu der eine gemütliche Couch gehört. Und obenauf sitzt eine kleine schwarze Stoffpuppe mit weißem Bart. Sigmund Freud. Margarete Mitscherlich, Jahrgang 1917, ist Psychoanalytikerin und Autorin zahlreicher Bücher. Gemeinsam mit ihrem Mann gründete sie 1960 das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und veröffentlichte 1967 mit der „Unfähigkeit zu trauern“ eines der wichtigsten Bücher zur Aufarbeitung der NS-Zeit. Sie gilt als Vordenkerin der Emanzipationsbewegung und hat mit „Die Radikalität des Alters“ (Fischer, 2010) einen neuen Besteller verfasst.


Auf leisen Sohlen John Francis hat 17 Jahre geschwiegen und 22 Jahre kein motorisiertes Verkehrsmittel benutzt: Von einem, der seinen Weg machte – bis nach Hollywood. Text: Peter Haffner zeichnung: Paula Mueller

„Schön, dass ihr da seid.“ Es war kein besonderer Satz. Das Besondere war, dass er überhaupt etwas sagte nach 17 Jahren, in denen kein Wort über seine Lippen gekommen war, er mit nichts und niemandem geredet hatte, nicht einmal mit sich selbst. Familie und Freunde waren gerührt. Dass er weiterhin in kein Auto steigen würde, war Nebensache. 22 Jahre sollte er sich weigern, ein motorisiertes Verkehrsmittel zu benutzen. Wollte er etwas sehen, jemanden treffen, ging er zu Fuß hin. Erst waren es nur ein paar Kilometer, dann Dutzende, Hunderte, schließlich Tausende, quer durch den Kontinent, vom Pazifik zum Atlantik; den Weg zurück, den einst die Siedler genommen hatten auf ihrem Treck nach Westen.

John Francis hat mit dem in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verbrieften Freiheitsrecht des Individuums, „nach seinem Glück zu streben“, auf seine Weise Ernst gemacht. Wenn man ihn sieht, mit seiner jungen weißen Frau, den beiden hübschen Buben im Alter von vier und zehn, muss man ihm glauben, dass er es gefunden hat. Er ist sesshaft, fährt Auto, redet wieder; doch die Bedachtheit, mit der er die Worte wählt, verrät den früheren Pilger, den Mönch ohne Kloster. Wäre nicht das Grauweiß des Dreitagebartes, der wie eine Salzkruste auf der tiefschwarzen Haut liegt, glaubte man ihm die 65 Jahre nicht; so jung sind die Gesichtszüge, so zügig ist sein Gang selbst hier im weichen Sand am Limantour Beach von Point Reyes in Kalifornien, jener Wildnis mitten in der Störzone des St.-AndreasGrabens, wo sich See-Elefanten tummeln, Falken vom Himmel stechen und im Winter die Wale vorüberziehen wie große, übermütige Schiffe.

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Dass er unterwegs alle Angebote zum Mitfahren ausschlägt, verwundert in einem Land, in dem die Kinder den Führerschein machen, bevor sie laufen lernen.

Es war an dieser Küste gewesen, wo er den Entschluss gefasst hatte, aufs Auto zu verzichten. 1971 waren in San Francisco zwei Öltanker kollidiert, die schwarze Masse hatte den Seevögeln die Schwingen verklebt, und was erst ein von Marihuana beflügeltes Hirngespinst war, holte er auf den Boden, indem er diesen unter die Füße nahm. John Francis, ein schwarzer Hippie, geht zu Fuß zu einer Party (30 Kilometer), ins Kino (40 Kilometer), zu einem Termin nach Sacramento (160 Kilometer), wo er sich vor dem Senatsausschuss beschwert, weil jemand ihn, den bekannten Sonderling, fotografiert hat, ohne zu fragen. Da er mittlerweile nicht mehr redet, verständigt er sich mit Pantomime, unterstützt von einer Bekannten, die übersetzt. Er macht sich auf in die Wildnis nach Oregon (800 Kilometer), und fortan gibt

es kein Zurück mehr. Er übernachtet am Straßenrand, im Zelt, in Garagen, Scheunen und Jugendherbergen, selten im Motel, wo er sich sicher weiß vor Bären, Kojoten und Klapperschlangen. Dass er unterwegs alle Angebote zum Mitfahren ausschlägt, verwundert in einem Land, in dem die Kinder den Führerschein machen, bevor sie laufen lernen. Manche verärgert es; der Typ im blauen Pickup, der ihm die Pistole an die Schläfe hält und meint, „Nigger“ hätten hier nichts zu suchen, ist nur einer von denen, die seine Andersartigkeit nicht ertragen. Die Begegnung bestätigt John, was ihm der Tod eines Nachbarn und der Verdacht auf eine Krebserkrankung bewusst gemacht hatten: Es gibt kein Leben außer dem, das man hier und heute hat. Sein Banjo ist ihm Einkommensquelle und Stimme. Der Klang des afrikanischen Instruments, von den Sklaven der Südstaaten bis zu den Troubadouren der 1960er-Jahre gezupft, verzaubert die Zuhörer – wie jenen Polizisten der Highway Patrol, der John stoppt, damit er


ihm etwas vorspiele. Und der dann per Funk weitergibt, ein wundersamer Musikant sei unterwegs, worauf eine Streife nach der anderen den stummen Wandersmann anhält, um sein Spiel zu hören. John Francis geht durch ein Amerika, das keiner kennt, trifft etwa ein altes Paar in einer Goldmine, das auf einem unermesslichen Schatz sitzt, doch nur so viel schürft, wie es zum Leben braucht – die Antithese zur Gier der Goldsucher, die so viele Landschaften verwüstet und Leben zerstört hat. Perry, der Mann, ist es auch, der John sagt, auf was er, John, in Wirklichkeit aus sei. Wie der Mensch im Embryonalstadium Kiemen und einen Schwanz habe, die auf frühere Stufen der Evolution verwiesen, so gehe auch er zurück in der Entwicklungs­ geschichte der Menschheit, um schließlich zu werden, was er sei. „Da erst wurde mir bewusst, was ich eigentlich mache“, sagt John. Gewiss werde er einmal in ihre Gemeinschaft kommen wollen, meinen später die Mönche eines Trappistenklosters, doch John ist sich nicht so sicher und überdies amüsiert, dass die gerade mit Dachreparaturen beschäftigten Novizen Radio hören – Mick Jagger, der sich

lautstark beschwert, dass er keine Befriedigung finde. „No, no, no – no satisfaction!“ ruft John mit rollendem Lachen gegen die sich brechenden Wellen. Er hat immer wieder eine Frau an seiner Seite gehabt; Enthaltsamkeit war nicht seine Sache. Erst sein Schweigen, meint John, habe ihm bewusst gemacht, dass er früher nur so lange zugehört habe, wie ihn jemand in seiner eigenen Meinung bestätigte.

Es war an seinem 27. Geburtstag gewesen, als John sich vorgenommen hatte, einen Tag stumm zu bleiben. Was er der Freundin mitteilte, indem er einfach nichts mehr sagte. Es hatte ihn gestört, dass er ständig mit jedermann in Streit geriet, wenn er seinen Entschluss verteidigte, nur noch zu Fuß zu gehen, und dass das Echo solcher Dispute in seinem Kopf forthallte und seine Gedanken gefangen hielt. 88 | 89


Als er schwieg, wurden die Stimmen zunächst noch lauter, doch dann immer leiser und verstummten schließlich am Rand jenes inneren Raumes, der so unermesslich ist wie das lautlose Universum. Die spirituelle Erfahrung kann nur teilen, wer sie macht. Dass sie ihn verändert hat, zeigt sich nicht zuletzt in der Art, wie er zuhört. Erst sein Schweigen, meint John, habe ihm bewusst gemacht, dass er früher nur so lange zugehört habe, wie ihn jemand in seiner eigenen Meinung bestätigte. Mehr noch als die Weigerung, sich motorisiert fortzubewegen, hatte seine frei gewählte Stummheit verunsichert. Er verständigte sich in Zeichensprache. Missverständnisse blieben nicht aus – wie jenes, als er dem Verdursten nahe in einem Haus um Wasser bat und die hingestreckte leere Flasche zurückbekam mit einer Dollarnote drin. Einmal, es war im Winter in einem Schneesturm, war er so verzweifelt, dass er auf einen Zettel kritzelte: „Ich brauche Hilfe.“ Doch selbst ein schmerzendes Fußgelenk und die Hammerzehen, die er ope-

rieren lassen musste, konnten ihn nicht abhalten, weiterzumachen. Nur ganz am Anfang, als er in den Redwoods in schweren Regen geriet, nicht wusste, wo er übernachten sollte und in der Ferne einen Lastwagen anhalten sah, erlag er der Versuchung. Mitfahren bis zum nächsten Motel, unter die warme Decke kriechen, alles vergessen. Noch ein paar Schritte – da fuhr der Laster los, ohne ihn. «Da wollte mir wohl jemand einen Wink geben», meint John heute, möchte es aber nicht im religiösen Sinne verstanden haben. „Im Gehen verändert man“, sagt er, „seine Welt Schritt für Schritt“. Während längerer Zwischenaufenthalte lernt er, wie man ein Boot baut oder eine Druckmaschine bedient – alles, ohne auch nur ein Wort mit dem jeweiligen Lehrmeister zu wechseln. Er macht den Collegeabschluss und studiert Umweltwissenschaften. Schließlich promoviert er. Referate hält er in Pantomime, ergänzt mit Notizen an der Wandtafel, und in Seminaren debattiert er dergestalt nicht minder engagiert als seine Mitstudenten. Die Begegnungen mit den Bildungsbehörden, denen er seine Studienpläne unterbreitet, gehören zu den erhellends-


ten Passagen seines Buches „Planetwalker“, in dem John Francis sein Wanderleben schildert. Die Bereitschaft, dem entschlossenen Einzelgänger bürokratische Hindernisse aus dem Weg zu räumen, ist beeindruckend, wenn auch nicht ganz ungewöhnlich in einem Land, dessen pädagogisches Motto lautet: „to make a difference“ – sich von der Masse abheben. Und mag seine Fortbewegungsart auch archaisch sein – das „Unterwegssein“ ist dem genetischen Code Amerikas eingeschrieben, von den Pionieren, die das Land besiedelten, über Forscher wie Lewis und Clark, die es erkundeten, bis zu den Nachfahren, die wie Jack Kerouac „on the road“ waren und im Verharren, nicht in der Bewegung, eine Anomalie des menschlichen Daseins gesehen hatten. «Nun lass mal deine Prinzipien für fünf Minuten sausen, SüSSer», hatte die Sanitäterin gerufen, «und wir karren deinen Hintern in die Notaufnahme!»

Selbst die amerikanische Küstenwache, nicht eben der Ort für jene Sorte von Sensibelchen, die Grünzeug futtern und Bäume umarmen, hat sich um die Expertise von John Francis bemüht, dem einstigen Vietnamkriegsprotestler, jetzigen Umweltaktivisten und Friedensmarschierer. In ihrem Auftrag hat er an der Gesetzgebung für Ölkatastrophen mitgeschrieben, und da er die Stelle nicht unmittelbar antreten konnte, weil er sich weigerte, das Flugzeug zu nehmen, hat man halt zwei Monate gewartet, bis er mit dem Fahrrad in Washington angekommen war. War es auch ein Zeichen, dass er just nach dem Tag, als er sein Schweigen beendete, von einem Auto angefahren wurde? Er hatte Mühe, die Ambulanz zu überzeugen, dass er sich nicht ins Spital fahren lasse, sondern zu Fuß gehe. „Nun lass mal deine Prinzipien für fünf Minuten sausen, Süßer“, hatte die Sanitäterin gerufen, „und wir karren deinen Hintern in die Notaufnahme!“ Vergeblich – nachdem er eine Erklärung unterschrieben hatte, er mache niemanden für die Folgen seines Entschlusses haftbar, musste sie ihn gehen lassen. Doch 90 | 91


John Francis will kein Prinzipienreiter sein. Jetzt fährt er Auto und steigt ins Flugzeug, weil er der Sache, der er dient, so mehr nützen kann. Das Schweigen hat ihn gelehrt, dass wir in der Debatte über die Umwelt nicht weiterkommen, wenn wir nicht sehen, dass diese nichts ist als die Welt, in der wir leben. Wie wir miteinander umgehen, ist die wichtigste aller Umweltfragen; je mehr und je einflussreicheren Leuten er das vermitteln kann, desto besser. In seiner verblüffend sanften Stimme liegt eine Kraft, deren Suggestion man sich schwer entziehen kann. John Francis, der immer wieder auf Wanderschaft war, wird jetzt für ein Jahr an der University of Wisconsin in Madison lehren, am Nelson Institute für Umweltwissenschaften. Zeitungen berichten über ihn, das Fernsehen hat ihn porträtiert, und nun hat sich gar Hollywood gemeldet. Tom Shadyac („Bruce Almighty“) will sein Leben verfilmen, und Morgan Freeman ist im Gespräch als Darsteller von Johns Vater. Jenem Vater, der Elektromonteur war und meinte, die Schwarzen hätten schon genug Probleme, und mit seinem Starr-

sinn werde es der Sohn zu gar nichts bringen. Demselben Vater aber auch, der immer wieder ins Flugzeug stieg und jede Gelegenheit nutzte, ihn zu treffen – vordergründig, um ihm die Leviten zu lesen, in Wirklichkeit, um ihm seine Liebe zu zeigen. Für den Vater wäre es wohl der Triumph gewesen, hätte er noch miterleben können, wie John nach Beverly Hills eingeladen wurde, man in einem vornehmen Restaurant über das Filmprojekt redete und ihn schließlich fragte, welches Auto er denn gerne hätte, nun, da er wieder welche benutzte. Kurz darauf stand der rote Toyota Prius, ein Wagen mit Hybridantrieb, vor Johns Garage.„Ist das nicht schön?“ sagt John lächelnd und scheint sich selbst ein bisschen zu wundern, wohin ihn die Lebensreise geführt hat. Erschienen im NZZ Folio / Dezember 2006 unter dem Titel „Das große Schweigen“. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von NZZ Folio (www.nzzfolio.ch)


Ferien für Dich! Die Diakonie Mitteldeutschland schenkt Kindern Urlaub.

Jedes vierte Kind in Sachsen-Anhalt und Thüringen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Armut in Deutschland heißt, auf viele Dinge zu ver­ zichten, die für andere Kinder selbstverständlich sind – die neue Jacke, die Schulspeisung oder die Ferien mit den Freunden. Und aus Kindern, die in Armut aufwachsen, werden oft auch Erwachsene ohne festes Einkommen. Kinder brauchen Urlaub. Gerade für Kinder, die es schwerer haben, ist ein Urlaub besonders wichtig. Hier schöpfen sie neue Kraft für die Schule, kommen in Kontakt mit anderen Kindern – und mit erfahrenen Sozialarbeitern. Die Diakonie Mitteldeutschland macht es durch die Aktion „Kindern Urlaub schenken“ möglich, dass arme Kinder auch auf Kinderfreizeiten fahren können. Mehr als 280.000 Euro für über 300 Projekte und mehr als 5.000 Kinder, Jugendliche und Familien: Das ist die Bilanz von fünf Jahren Aktion „Kindern Urlaub schenken“. Seit 2006 ruft die Initiative der Diakonie Mitteldeutschland dazu auf, mit 15 Euro je einem von Armut betroffenem Kind in Mitteldeutschland einen Tag zusätzliche Bildung und Erholung zu schenken.

50 Cent pro verkauftem Heft dieser Ausgabe spenden wir für die „Aktion Kindern Urlaub schenken“. Auch darüber hinaus kann gerne gespendet werden, am einfachsten geht es über die FROH! Seite auf der großen Spendenplattform Betterplace.org: froh.betterplace.org. 92 | 93


… am Lagerfeuer

INS TRÄUMEN GERÄTST DU …

Du beendest die Sätze anderer Leute

Ja

Beine überschlagen

"Wo warst Du, als…"

… geht es los

WENN DIE SONNE UNTERGEHT …

Schneidersitz

… hast Du was geschafft

DEINE BEVORZUGTE SITZHALTUNG?

EIN VORWURF, DEN DU NOCH IM OHR HAST …

"Es ist immer das Gleiche …"

… eine Eule

WENN DU EIN VOGEL WÄRST, WÄRST DU …

IST UNTER DEINEN FINGERNÄGELN DRECK?

… ein Specht

Nein

DEIN TICK?

Kleingeld

Du isst Gummibärchen nach einem bestimmten Farbmuster

… unterm Sternenhimmel

Schlüssel

WAS IST IN DEINER HOSENTASCHE?

Eine Entscheidungshilfe.

Should I stay or should I go


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Schokolade

OHNE DAS KÖNNTEST DU NICHT …

Kaugummi

Hotel California

Smells Like Teen Spirit

„Mama zurückrufen“

BLEIBEN

DEIN OHRWURM

„Mails checken“

WAS STEHT AUF DEINER TO-DO-LISTE?

Das Glück der Erde liegt auf den Rücken der Pferde

Nur gefangene Vögel singen von der Freiheit

DAS HAT MAN DIR FRÜHER INS POESIEALBUM GESCHRIEBEN:

Zootieren

Old Shatterhand

Winnetou

DEIN IDENTIFIKATIONSTRÄGER?

Fußballtrainern

MIT WEM EMPFINDEST DU MITLEID?

Entenhausen Lummerland

DEIN UTOPIA?

Tütütütitüüt

In der BRD gibt es mehr Handys als Menschen

FAKTEN, DIE DICH BEEINDRUCKEN …

GEHEN

Die Mona Lisa hat keine Augenbrauen.

"Braun ist das neue Weiß"

Drrrriiiiiinng

DEIN KLINGELTON?

"Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung"

DEINEN KLEIDUNGSSTIL CHARAKTERISIERT DER SATZ …


Wegbegleiter Zusammen kommt man weiter! Peter Haffner, Jahrgang 1953, ist Redakteur beim Paula Mueller, Jahrgang 1977, Hermann Schulz, Jahrgang 1938, leiNZZ-Folio. Seit 2002 berichtet er für „Das Magazin“ arbeitet als Zeichnerin auf Reisen tete in Wuppertal den Peter Hammer Verdes Zürcher Tages-Anzeigers aus den USA. Sein letztes und in Genf. Ihre großformatigen In- lag von 1967 bis 2001. Seit 1998 erscheiBuch, „Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen”, stallationen wurden u. a. im Casino nen eigene Bücher, darunter die Romane erschien 2002 in der von Hans Magnus Enzensberger Luxembourg, den Kunstvereinen Gie- „Sonnennebel“, „Iskender“, „Auf dem Strom“, ßen und Ahlen gezeigt. Paula Mueller „Zurück nach Kilimatinde“; die Kinderbüherausgegebenen „Anderen Bibliothek“. wird von der Galerie Tim Van Laere cher „Mandela & Nelson“, „Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt“, „Die schlaue Dominik Kirgus, Jahrgang 1977, ist Designer vertreten. Mama Sambona“. Er hat zwei Töchter, eiund lebt in Köln. Seit Abschluss seines Studiums an der KISD arbeitet er als Illustrator für großgestalten. Franca Neuburg, Jahrgang 1975, nen Sohn und lebt in Wuppertal. lebt mit ihrer Familie in Köln und arbeiwww.großgestalten.de tet als Illustratorin und Objektdesignerin. Jorinde Voigt, Jahrgang 1977, lebt und arbeitet als Künstlerin in Berlin. Ihre Uli Knörzer, Jahrgang 1975, ist freischaffender www.zenzi-design.de Zeichnungen sind an der Schnittstelle zwiIllustrator. Er lebt und arbeitet in Berlin. Maren Niemeyer, Jahrgang 1964, ist schen Mathematik, Statistik und Kunst anwww.uliknoerzer.com Journalistin, Autorin und Dokumentarfilm- gesiedelt und stellen numerischen OrdJulia Krusch, Jahrgang 1985, lebt und arbei- regisseurin. Seit Anfang 2010 ist sie Fern- nungssystemen konkrete Alltagserfahruntet derzeit als freischaffende Illustratorin in Berlin. seh- und Hörfunkbeauftragte des Goethe-In- gen entgegen. Jorinde Voigts Arbeiten wastituts in München. 2007 entstand die mehr- ren u. a. im Von der Heydt Museum www.juliakrusch.de teilige TV-Dokumentationsreihe über den (Wuppertal), im Watermill Center (NYC) Kay Lehmkuhl, lebt mit seiner Frau und Hippie Trail, „Die Karawane der Blumenkin- oder im Kunstmuseum Bonn zu sehen. JoTochter in Köln. Er arbeitet als Motor-Journalist der – High sein, frei sein, überall dabei sein“. rinde Voigt wird durch die Galerie Parisa Im Jahr 2009 wurde sie für den deutschen Wirt- Kind vertreten. und Musiker. www.tulpmusik.de schaftsfilmpreis nominiert und 2010 für den www.jorindevoigt.com Frederic Lezmi, Jahrgang 1978, lebt und Adolf-Grimme-Preis. www.niemeyer-film.de arbeitet als freier Fotograf in Köln. Seine ArStephan Wackwitz, Jahrgang 1952, beit „Beyond Borders – Von Wien nach Bei- Nina Poppe, Jahrgang 1979, lebt und arbeitet ist Autor zahlreicher Romane und Reiserut“ wurde mit dem Reinhart-Wolf Preis aus- in Köln als freie Fotografin, Filmemacherin und bücher, darunter „Fifth Avenue“ (Fischer, gezeichnet und ist als Buch bei Schaden.com Kuratorin. 2010) und „Osterweiterung“ (Fischer, erschienen. www.lezmi.de 2008). Er arbeitet heute für das GoetheMarc Oliver Rühle, Jahrgang 1985, studiert Institut in New York. Andreas Mass, Jahrgang 1987, studiert Kulturjournalismus und Literarisches Schreiben in derzeit an der KISD und arbeitet im Design- Hildesheim, arbeitet als freier Journalist und schreibt Sarah Wiesmann, Jahrgang 1978, büro JosekDesign. Nebenher fotografiert er gerade an seinem ersten Roman. Lebt in Leipzig und ist freischaffende Illustratorin und lebt Berlin. mit ihrem Mann und ihrer Tochter in leidenschaftlich analog. Köln. www.sarahwiesmann.de www.andreas-mass.de Simone Rüth, Jahrgang 1979, lebt in Düsseldorf. Jeff Mermelstein, Jahrgang 1957, Sie ist Redakteurin im Medienverband der Evangeli- Stephanie Wunderlich, Jahrgang lebt und arbeitet als Fotograf in New York. schen Kirche im Rheinland und schreibt dort haupt- 1966, lebt in Hamburg. Sie illustriert für internationale Magazine, Agenturen Seine Arbeiten wurden u. a. im Jewish sächlich für „chrismon plus rheinland“. und Buchverlage. Ihre bevorzugten ArMuseum (NYC) sowie im Art Institute of Chicago gezeigt. Er gehört zu den Oliver Schneider arbeitet als Künstler und Designer beitsmittel sind Papier, Schere und Skalweltweit profiliertesten Foto-Journa- in Köln, wo er zusammen mit Ana Motjér das ROYAL pell. Sie ist Mitherausgeberin des Künstlermagazins Spring. Zur Zeit lehrt sie listen. FAMILY-designlabor gegründet hat. Illustration an der HfK Bremen. www.rickwesterfineart.com/artists/ www.royalfamily-designlabor.de www.wunderlich-illustration.de mermelstein/main.html


FROH! Ausgabe 6: UNTERWEGS

Erscheinungsdatum: Mai 2011 Verleger

Michael Schmidt michael.schmidt@frohmagazin.de FROH! Magazin

Stammstr. 32–34, 50823 Köln www.frohmagazin.de hallo@frohmagazin.de Herausgeber

Dirk Brall dirk.brall@frohmagazin.de Chefredakteur

Dr. Sebastian Pranz sebastian.pranz@frohmagazin.de Art-direktor

Klaus Neuburg klaus.neuburg@frohmagazin.de Gestaltung

Mona Garde, hello@monagarde.de Jeannette Weber, sagmal@jeannetteweber.com Julia Vukovic, letter@juliavukovic.de Schlusslektorat

Thomas Donga-Durach Anna-Lena Sichelschmidt Lektorat

Mirja Wagner Internet-Auftritt

Christian Kunz www.designammain.de

besonderer dank an alle fananzierer

Mareike Burgheim, Jonathan Fischer, Volker Wortmann, Patrick Bilan, Kerstin Runte, Josua Reuhl, Biobanane, Irene Fink, Damaris Heymann, Thorsten Hainke, Barbara Gockel (atelier eigenART ), Restaurant Wachholder, Elvira Stein und Markus Handl, Jan Aumann, Catrin und Christoph Gekle, Christian Sauer, Eva und Ingbert Jung (Godnews), Ute Reckenfelderbaeumer, Julian Sartori, Anne Clausing,

Herzlicher dank Katja Abderhalden (NZZ -Folio), Andere

Zeiten e.V., Karim Amin, Agnes Appelman Katrin Bauerfeind, Thomas Becker, Heidi Borhau (Fischer-Verlag), Stephanie Brall, Ernesto Cardenal, Adem Çolpan, John Francis, Katrin Göring-Eckardt, Tobias Groß (großgestalten), Lenz Hein (Grönland Records), Sissi Hüetlin, Thomas Josek (JosekDesign), Allan Kessing, Petra von Klinski, Amelia Koford (Perry-Castañeda Library), Jörg Leeser, Monika und Reinhard Lepel, Anneke und Waldemar Lohr, Andie Mette, Margarete Mitscherlich, motoki e.V., Franca Neuburg, Mona Otto-Grabow, Kirk Parczyk, Jürgen Perthold, Philipp Poisel, Bini Pranz, Paul Rascoe (Perry-Castañeda Library), Tina Schelhorn, Dorle Schmidt, Pascal Tischler (Phantasialand), Christian Vitocco, Daniel Weber (NZZ -Folio), Rainer Weichert, Frieder Weigmann, Roger Willemsen, Volker Wortmann, Patricia Young, Alexander Brodt-Zabka

Druck

Universitätsdruckerei H. Schmidt, Mainz Dieses Heft wurde mit Druckfarben und Strom aus nachhaltiger Produktion gedruckt. Als verantwortungsbewusstes Unternehmen trägt die Universitätsdruckerei durch eine Wärmerückgewinnung zum Schutz der Umwelt bei. Das verwendete Papier ist nach den Vorgaben des FSC zertiiziert. Die Universitätsdruckerei wurde im September 2009 nach den Umweltmanagementstandards der EMAS -Verordnung (Register-Nr.: DE -152-00018) validiert und nach den Regeln der ISO 14001 zertiiziert.

Papier

Druckfein von Römerturm vereint die Haptik eines Naturpapiers mit der Druckbrillanz eines gestrichenen Papiers.

Über FROH!

FROH! ist ein Gesellschaftsmagazin, das werbefrei ist und von der Non-Profit-Organisation mateno e.V. ins Leben gerufen wurde (www.mateno.org). Als gemeinnütziger Verein arbeiten wir nicht gewinnorientiert, sondern sind auf die Unterstützung von Privatpersonen, Unternehmen, Stiftungen und Vereinen angewiesen. Alle Beiträge in diesem Heft wurden uns kostenlos zur Verfügung gestellt. Dafür danken wir allen Beteiligten ganz herzlich. 50 Cent jedes verkauften Heftes dieser Ausgabe kommen der „Aktion Kindern Urlaub schenken“ (Seite 93) zugute. Büro Fax Winterthur, Nepomuk Brall, Stephen Petrat, Noah Doersing, Manuel Steinhoff, Dorea Pfafferott, Michael Fellmann, Claudia Krekeler, Katharina Reinhold, Anne NeumannHolbeck, Marianne und Gerhard Schmidt, Ulrike Kurbjeweit, Dr. Heinrich Quast, Juliane Spingler, Anke Luckja, Jochen Müller, Silas Bahr, Johannes Kleske, Simone und Jonas Zorn, Gunther Ziegler, Dorle Schmidt, Nadine und Mark Reichmann, Irmgard Nolte (neues handeln GmbH), Marc Oliver Rühle, Lebenswert – Stadtkirche Köln e.V,

TypograFie

Adobe Garamond Pro, House Industries Chalet Schutzfaktor Das FROH! Magazin und alle darin veröffent-

lichten Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung oder Verwertung bedarf der schriftlichen Genehmigung des Verlegers.

Petra Wegener, Esther und Thilo Römer, Biggi Mestmäcker, Stefanie Pütz, Christian Vitocco (Social Business Academy), Diana Schorn, Astrid Nierhoff, Torsten Sawalies, Anna Sommerer, Anne Pleuser, Franziska und Michael Neuser, Franziska und Richard Graupner, Familie Buchegger Wien, Katrin GöringEckardt, Thomas Off, Maike Kirchhof, Monika und Reinhard Lepel (Stand: 10. Mai 2011)

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5. Dezember, Afghanische Grenze, Chaiber-Pass (…) Dann rauchte ich eine Wasserpfeife und betrachtete dabei den Berg. Daneben der Grenzposten, die schwarzrotgrüne Fahne, der Lastwagen voll von pathanischen Kindern mit der langen Flinte über der Schulter – die Menschen und die Dinge der Menschen erschienen klein und verblasst in dieser Landschaft, durch zuviel Raum getrennt, wie auf den Kinderzeichnungen ohne richtige Proportionen. Der Berg verschwendete sich nicht in unnützen Gesten: Er stieg auf, ruhte ein wenig, stieg weiter auf, mit seinen gewaltigen Schichten, mit breiten Flanken und schräggeschliffenen Facetten, wie ein Edelstein. Auf den ersten Graten glänzten die Türme der pathanischen Häuser, als wären sie eingeölt. Dahinter erhoben sich hohe graubraune Hänge, die abbrachen in schattenerfüllte Talkessel, in denen die darüber hintreibenden Adler still verschwanden. Darüber schwarze Felswände, an denen die Wolken hängen blieben wie Wollflocken. Ganz oben, zwanzig Kilometer von meiner Bank entfernt, lag die Sonne wie Gischt auf den mageren, sanften Hochflächen. Die Luft war von außergewöhnlicher Durchsichtigkeit. Die Stimme trug. Ich hörte Kinderrufen, sehr hoch oben, auf der alten Nomadenstraße, und das leichte Abbröckeln der Erde unter den Hufen von unsichtbaren Ziegen. Der ganze Pass echote von kristallklaren Tönen wider. Ich saß eine gute Stunde unbeweglich da, ganz berauscht von dieser apollinischen Landschaft. Angesichts dieses ungeheuren Ambosses aus Fels und Erde war die Welt der Geschichten und Anekdoten wie ausgelöscht. Die Weite des Berges, der klare Dezemberhimmel, die laue Wärme des Mittags, das leise Brutzeln der Wasserpfeife und sogar die Münzen, die in meiner Tasche klimperten, wurden zu Elementen in einem Schauspiel, und ich war vielen Hindernissen zum Trotz rechtzeitig angelangt, um meine Rolle darin zu übernehmen. Dauerhaftigkeit ... durchsichtige Offenbarung der Welt ... ruhiges Dazugehören – auch mir fehlen die Worte, denn, um mit Plotin zu sprechen: Eine Tangente ist eine Berührung, die man weder begreifen noch benennen kann. Zehn Jahre Reise hätten das nicht bezahlt.



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Nummer 6 ISSN 1869-1528 10 Euro

4 192317 610006

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