Giovanni Frangi
Galerie Raphael Frankfurt
Paradisi artificiali
Giovanni Frangi Paradisi artificiali Diario di viaggio 2001-2014
Giovanni Frangi Paradisi artificiali Diario di viaggio 2001-2014
Texte von Aurelio Picca und Flavio Fergonzi.
Galerie Raphael Frankfurt
Inhalt
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Sgalmera von Aurelio Picca
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Neue Landschaften von Giovanni Frangi von Flavio Fergonzi
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Druckgraphik
39
Malerei auf Leinwand
63
Arbeiten auf Papier
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Leben und Werk
Jardin d’amour, Chiaravalle 2004
Sgalmera Aurelio Picca
Er arbeitet in Mailand, wo er auch im Monat Mai geboren wurde, in der via Spartaco 33. Du trittst in den Hausflur ein und dann in einen kleinen Hof: er scheint der Schattenkegel von zwei oder vier Felsenwänden zu sein. Die Farben sind grau und zinkweiß, Farben, die Giovanni Frangi vielleicht noch nie benutzt hat. Als er die Tür öffnet, siehst du ihn mit seinen durchdringenden Augen, freudestrahlend, mit silbernem Kopf und dicken Schuhen an den Füßen: wie ein Mann aus dem Norden, ein Wanderer, wie ein Handwerker, der bis zum großen Zeh fest im Boden verwurzelt ist. Das ist es, verstehst man, dass sein Verstand keinen Unterschied macht zwischen einem Gebüsch und den Farben, - oder nur zwischen den Blautönen, den Fotos vom Himmel, oder den Schwarztönen; oder wie hier zwischen diesen Rot- und Gelbtönen (die Leinwände, die nach Frankfurt gehen) oder man versteht sogar noch, dass Giovanni verstrickt ist zwischen den Ästen der Bäume, dass er mit Haut und Haaren in der Wildnis der Wälder und Haine steckt (dieselben, in denen er schon seit seiner Kindheit ist, und die ihn nie losgelassen haben). Du siehst ihn also mit dem Kopf, den er verloren hat in einer psychedelischen Kunst, die du dir nicht ausmalen kannst, während der Rest des Körpers, mit dem schweren Knochenbau, besonnen wirkt, planvoll, wie ein Fundament. Und in der Tat, was seine Malerei angeht, so hat die Last seines Körpers aus ihm immer einen Besessenen gemacht für das “Projekt” (um nicht dorthin zu verschwinden, wo sich der Raum weitet in eine illusorische oder metaphysische weiße Leinwand ohne Begrenzungen), während sein wacher Geist ihm zu jeder Stunde des Tages und der Nacht den Impuls geschenkt hat – instinktiv, aus einer Berufung heraus, aufgrund seiner besonderen Begabung – den Anspruch zu erheben, aus seinen wetteifernden Farben ein Wettrennen mit einer Geschwindigkeit von mehr als dreihundert Kilometern pro Stunde zu machen. Um es ganz simpel auf den Punkt zu bringen: Giovanni Frangi hat den Körper eines Lombarden und den Geist eines Römers. Um die Metapher jedoch aufzulösen braucht ihr niemanden, der euch an der Hand nimmt. Ihr kommt auch schon von selbst drauf. In Wahrheit 9
wollte ich sofort damit beginnen, dass man sein Mailand so beschreiben kann: physiologisch, es ist die konstruierte Malerei, und die kräftige Pinselführung eines Ennio Morlotti, wo die Natur unterdrückt wird, in die der Betrachter eintaucht wie beispielsweise in eine Badewanne, und die zusammengefügt wird in dem Gemälde. So ist es eben. Sein Rom hingegen, ist das katzenartige Zuschnappen eines Mario Schifano. Wenn er zack, mit Leichtigkeit, Eleganz, rein erblich bedingt, dafür sorgt, dass die Farbe die Zeichnung erreicht, die dahinter steckt wie in einem Traum, den man erzählen muss, so schnell wie möglich, nur der Leinwand. Nur der Leinwand, und keinem anderen. Jetzt deutet Giovanni mir kurz an, halb verträumt um sich in die Bilder zu vertiefen, die nach Frankfurt gehen, wie er sein erstes Bild malte. “Ich habe eine Kopie von Filippo de Pisis Bild Paesaggio in Cadore (Landschaft im Cadore) gemalt“, sagt er mir. “Ich war ungefähr elf Jahre alt”. Ich hab‘ es gewusst, ich schau‘ ihn an, ich betrachte ihn während er die Stifte von Caran d’Ache ergreift, die ihm sein Vater geschenkt hat. “Es gefiel mir”, sagt Frangi weiter, während diese “reisenden” Bilder vor Farbe toben, mit dem Ziel die Felsen zu verstecken, die Steine, die die Berge hinabfallen, die er als Kleinkind gesehen hat. Die Steine, die splash machen, in den Flüssen, den Seen, den Meeren von Giovanni. Und dann, so vor Farbe strotzend, zum Stillstand kommen zwischen den Bäumen, in den Bildern, wo die fehlende Farbe, das Anämische, der freigelassene Raum auf der Leinwand, unsichtbares Wasser ist. Ich muss spontan denken: Das Wasser von Giovanni Frangi und von keinem anderen. Und so stelle ich mir unseren Maler vor, mit einem Haus in Porta Garibaldi, mit der trendy Skyline von Mailand im Wohnzimmer, auf einem weißlackierten, abgekratzten Möbelstück sitzend – zwischen einem Käsekorb und alten Schulbänken (in Italien gab es die bis 1965 in den Klassenzimmern), etwa wie bei Pinocchio – halb Tiroler Art und halb Biedermeier, wie er eine Landschaft nachmalt, die er von seinem so geliebten Filippo de Pisis geborgt hat. Denn auch er war “flink”, “elegant”, “antibürgerlich”. Dann fängt Giovanni an über das Wie und Warum zu erzählen… Ich, ihr, wir aber interessieren uns für diese Farben, die abrutschen und die die Kraft eines Schutzwalls und die der Alpen haben und das vielfarbige Blut, das sich bei Usain Bolt in seinen 100-Meter-Läufen konzentriert. Giovanni hat die Natur ebenso aufgesogen wie die Malerei. Inmitten der Berge, zwischen den Schenkeln des Monte Rosa, so scheint es, ist er geboren worden. Und dort, in Gressoney malte er – 1971 – “Cascata” (Wasserfall), “Cascina vecchia” (altes Bauernhaus), als sein Onkel Gianni, der Schriftsteller (Giovanni) Testori, auf seinen Neffen angesprochen, herumerzählte 10
“er hat sgalmera, er hat sgalmera”. Vor den Bildern finden wir uns also wieder wie wir flüstern “sgalmera, sgalmera”, so als sei es ein Zauberwort, dass die Geheimnisse der Kunst und des Lebens lüftet. Testori hatte einen Weitblick (oder wie man in Rom sagt “ein langes Auge”). Denn “er hat sgalmera“, das ist im Mailändisch-Lombardischen eine populäre Art und Weise zu sagen: Talent, Begabung, Geschick. “Er hat Talent”; kurzgesagt: “Mein Neffe kann es”. Giovanni Frangi wird also als Naturmaler geboren, und nicht als Städtemaler, was seine erste Ausstellung im Jahr 1983 in Turin bei der Galerie “La Bussola” bestätigt. Ja, er stellt großformatige Bilder aus, auf denen Macugnaga abgebildet ist (unaufhörlich der Monte Rosa, von dem er nie loskommt), jedoch zusammen mit anderen großen Bildern auf denen Frauen im Bett zu sehen sind: rot – da sieht man wie er unvermeidbar Matisse überholt! Und schnell danach eröffnet Frangi sein erstes Atelier in Ripa Ticinese, er schließt sein Studium an der Accademia delle Belle Arti di Brera ab. Und studiert Morandi (“Morandi ist Malkunst, Morandi ist die Disziplin”, sagt er), Guttuso gefällt ihm. Doch ein Erotomane der Natur wie er, Einer, der von der Qualität der Farbe besessen ist wie Dieser, konnte nicht anders als die Woge der deutschen Expressionisten zu bemerken und sie aufzunehmen, die kreative und provokatorische “Konfusion” zwischen Bild und Farbe der Cobra-Vertreter. “Weil ich immer das Bedürfnis hatte, das Bild und die Farbe in Spannung und Zwietracht zu setzen; die Malerei auf der Flucht vor sich selbst”, erklärt Giovanni. Jetzt wo ich drauf und dran bin, von diesen Leinwänden, die nach Frankfurt gehen, benommen zu werden, von diesen Zeichnungen, die so wertvoll sind wie die Schmuckstücke von Chaumet, denke ich, Giovanni Frangi – Jahrgang 1959 – kommt nach Giovanni Boldini, Filippo De Pisis und Mario Schifano. Ich weiß, dass er nicht wirklich damit einverstanden ist, mit Boldini verglichen zu werden und er an Cy Twombly, Kiefer, und Boccioni denkt, weil für ihn Boldini “zu bürgerlich!” ist. “Ich bin aber zu Matisse zurückgekehrt, nach den urbanen Landschaften habe ich die Farbe durch Matisse wiedergefunden”. Giovanni geht also von der Natur aus, besser gesagt, von den Bergen und geht in die Stadt; er konstruiert seine „Visionen der Stadt” aus Farbe, die Umgehungsstraßen… und kehrt dann zur Natur zurück. Die “Inseln” werden rosa, himmelblau, gelb. Und im Hotel “Le stelline” in Mailand, kreiert er einen Wald, ein Szenario von Bäumen, ein Theater von Baumstämmen, in dem man sich verlieren und wiederfinden kann. Es war so als ob man die Landschaften der Kindheit wieder einfängt und sie projiziert in das Stadttheater. “Ich hatte ihn in mir: den schwarzen 11
Wald. Ich fühlte “il richiamo della foresta”. Den Lockruf des Waldes. “Dann”, so fährt er fort zu erzählen, “kam mir der Zweifel, dass die Farbe eine Täuschung sei. Ja, ein Schwindel. Deshalb habe ich versucht, die Malerei nur im Schwarz zu suchen”. So geschah es, dass der Graf Panza di Piumo (der große Kunstsammler der Villa Panza in Varese) seine schwarzen Bilder im Atelier sah – ah, Rothko, was für eine riesengroße Provokation! – und dies führt ihn zu seiner großen Installation von vierzig Quadratmetern von schwarzen Malereien in dem Schuppen von Casale Litta. Wir schreiben das Jahr 2004, Giovanni Frangi erfindet Nobu at Elba: eine der prächtigsten und emotionalsten Ausstellungen in Schwarz. Das Schwarz malt Berge, steile Felsen, Wasserfälle und Seen. Es handelt sich dabei um reale Landschaften, wenn auch mystisch, die zurückzuführen sind auf heilige Orte (Nemi, in den Albaner Bergen) von Frazer beschrieben Il ramo d’oro (Der goldene Zweig): der Tempel der Diana, der heilige Wald, sein Licht, die mystische Tiefe, von denen nicht einmal der kleine Junge, “der es konnte”, mit den Farben und dem Pinsel eine Vorstellung davon hatte, wie es gelingen konnte, so etwas zu malen. Das Schwarz. Wenige auf der Welt, niemand in Italien, hat diese Farbe besser verkörpert als Frangi. Niemand hat daraus einen Leuchtstoff gemacht, ein Banner aus Gestein, um es in der Nacht flattern zu lassen, um daraus lebendige, großartige Kunst zu machen. “Auf einmal hatte ich das Bedürfnis verspürt, die Natur zu fotografieren, um alles viel schneller zu machen. Mario Schifano hat mir dabei geholfen”. Frangi hat den Eindruck, dass der Stoff seiner Malereien zu schwer und grob ist. Er hat eine “Reinigung” nötig. Er fängt damit an “psychedelische” Kunst zu produzieren: das heißt mit einem roten Himmel und einer hellblauen Insel oder einem mystischen Rosa. Er taucht ein in das tiefe Wasser bei Capri und fängt dabei die “Farbkleckse” so gut ein, so dass der US-amerikanische Maler Sam Francis dabei blass aussehen würde; dabei vergisst er jedoch nie Morandi, Morlotti und die strengen Regeln der Konstruktion. Jetzt, wo er die Herausforderung mit sich selbst aufgenommen hat, (“auch die großformatigen Bilder musste ich in drei Stunden fertigmalen”) widersetzt er sich der alten “Schule” angesichts seiner Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend. Er ist eine geladene Pistole. Jetzt, wo Frangi den Anspruch erhebt, eine Malerei zu schaffen “außerhalb der Register der Realität”, verliert er dennoch nicht seine Eleganz, seine Reinheit. Eine Reinheit, vergleichbar mit dem Gold, das von Amerika nach Europa kam. Besser noch, reiner als Gold. Dann, wie ein nachdenklicher Pontormo, schießt Frangi Polaroidfotos, hinauf und hinunter: pretende il cielo e il mare (er beansprucht den Himmel und das Meer). Er verwendet Primal. In Bergamo, im ehemaligen Oratorio di San Lupo, inszeniert er (da es 12
sich ja um ein kleines Theater handelt) hundert Quadratmeter Meer, aus „Mondkruste“ (eine lange und weiche, schaumige, wellenförmige Masse, die er von seinen Reisen nach Marokko mitgebracht hat – von dem Strand in Sidi Kaouki – oder wer weiß von sonst woher noch), mit einem 8 x 4 Meter großen Himmel darüber. Es ist bekannt, dass Giovanni wenig über seine plastischen Arbeiten wie “Fior di fragola“ (Erdbeerblüte) spricht. Sie sind jedoch von einer süßen, unerträglichen Kraft, so sehr graben sie sich in dich rein. Er macht erneut Baumstämme und Steine; Steine und Stämme mit leichten Farben überzogen, wie mit Puder. Und nun. Nun geht es nach Frankfurt… die große Installation View Master: bei dem der Betrachter mit einem Auge durch ein Guckloch des Mysteriums das große Theater des Naturwunders erforschen kann (bei Marcel Duchamp nachblättern, dazu will ich nichts weiter verraten). Jetzt sehe ich im Atelier in der via Spartaco diese Bäume auf der Abreise, die in die Leinwand gerammt wurden, wie die Palisaden des römischen Diktators Lucius Quinctus Cincinnatus gegen die Aequer. Ich bin im Wasser, das nicht vorhanden ist, aber dennoch da ist und den türkisen Schatten erwidert, der sich bis zu dem farbigen Schweißtuch erstreckt, dem Paradies der durch Farben geglätteten Steine (die nach hinten in Richtung Berg losgehen). Sie scheinen Engel und Putten zu sein. Sie bringen einen zum Schmunzeln. Sie sind der Chor der Kinderstimmen der Arbeit eines Künstlers mit einem flinken Geist und dem Körper eines Ingenieurs großer Bauwerke.
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Museo Nazionale di San Matteo, Pisa 2013
Neue Landschaften von Giovanni Frangi Flavio Fergonzi
In den letzten zehn Jahren ist die Geographie wieder in Mode gekommen, Worte wie “Landkarte”, “Atlas”, “Territorium”, werden wieder von vielen in der Kunstszene in den Mund genommen; Das Landschaftsbild hingegen hat Mühe, sich einen Weg zu bahnen. Es sind vor allem die großformatigen Fotodrucke (Andreas Gursky, Geoffrey James, Simone Nieweg), die die alte Rhetorik wieder gekonnt umsetzen; und die die Frage erfolgreich angehen, die diejenigen quält und auch lähmt, die die Natur mit den eigenen Augen sehen können: das Verhältnis zwischen dem “Mindesten” der Wahrnehmung – jene leuchtenden, chromatischen und grafischen Details, die die Landschaft mit einem wechselvollen und deshalb spannendem Leben erfüllen – und der Architektur des Sehens. Die Fotographie unterstützt sehr gut dieses Vor und Zurück zwischen den Details und dem Bild im Allgemeinen: der Fokus auf dem Unendlichen bringt die Regeln des Piktorialismus ins Wanken (die Fotografie ahmt dabei die Regeln der Malerei nach) und legt unendliche, synthetische Beziehungen fest, die sich auf natürliche Weise im allgemeinen Rahmen ausbreiten, und dabei ebenso agieren wie es das Auge des Betrachters es tut. Oft leidet die Malerei darunter. Und auch die Spannung zwischen den beiden herangezogenen Formaten (das des Auges und das der Leinwand), eines der gewaltigsten Generatoren von Poesie in der Geschichte der Landschaftsmalerei, reicht nicht aus, um diese Schwierigkeit zu kaschieren. Auf diese Weise scheinen die wichtigsten Begriffe bei der Frage der pittoresken Landschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts stecken zu bleiben. Wie kann man die innere Empfindung desjenigen, der die Landschaft betrachtet und desjenigen, der sie malt mit einbeziehen , ohne in die alte Falle des Landschaft-Gemütszustand zu tappen (stets in der Absicht sich diesseits der Landschafts-Allegorie à la Kiefer aufzuhalten); wie kann man aus der Landschaft einen formellen Untersuchungsschauplatz machen, ohne in ihr mehr zu sehen, als sie ist, und sie stattdessen wie ein kühles Stillleben zu behandeln? Das Letztere ist ein schwieriges Thema. Die Schulen der Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert lehrten den Beruf des Bühnenbildners: wie man Kulisse, 15
Bühnenhintergrund, Répoussoirs verteilt; sie konnten allerdings nicht lehren, wie man die Unendlichkeit betrachtet und wie veränderliche Erscheinungen zu behandeln sind. Der Impressionismus machte die Regeln des Bühnenbilds in Bezug auf die Landschaftsmalerei zunichte, mit der Kraft einer drastischen, antiakademischen Strömung (und mit der Unumstößlichkeit der japanischen Holzschnitte); er verinnerlichte die Vergänglichkeit des Sichtbaren im Feld der Netzhaut, und macht daraus eine Materie reiner Malerei (die Pinselstriche zeigen sich ohne irgendetwas vortäuschen zu wollen, es ist einfach farbige Materie, bevor man eine Anspielung auf das Objekt machen kann oder eine Reflektion, auf die sie sich beziehen). Die Polaritäten, die sich davon ableiten, wurden in den Neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Paul Cézanne und Georges Seurat festgelegt: entweder man nimmt die Herausforderung der “petite sensation” an, und lässt sich, mit letzter Kraft, auf den realistischen Widerstand ein und nimmt an, was die auf die Leinwand aufgetragene Farbe über diesen Punkt der Landschaft aussagt, über seine Tiefe, über sein Licht; oder aber man fügt sich der süßen Diktatur der indirekten Ansicht, und nimmt die Konventionen der kompositorischen Beständigkeit an (der Hafen von Honfleur ist in der Tat ein Postkartenmotiv); die pointilistische Leuchtkraft sorgt schon dafür, dass der beunruhigende Lebensatem kommuniziert wird, in aller Geometrie. Die Konsequenzen aus dieser doppelten, nicht miteinander vereinbaren Polarität sind erst zu Beginn des 20.Jahrhunderts zu erkennen: Matisse und Derain in Collioure 1905, Picasso in Horta de Ebro und Braque in Roche Guyon im Jahr 1908 zogen daraus eine gegensätzliche Lesart, deren Nachhall jahrzehntelang überdauert. Parallel dazu bildete sich eine symbolistische Sprache der Interpretation der Landschaftsmalerei, die übergeht in eine Landschaftsmalerei der Vision: die Vergrößerung der Formate, die Ambition eines “anderswo”, künstliche Bildausschnitte, die einen schmalen Grad bildeten zwischen einer wahrgenommenen Objektivität und einer Subjektivität der Zeichnung, schaffen eine neue Grammatik der Natur, die dazu bestimmt ist, weit länger zu währen als ihr natürliches Ende, die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Möglicherweise ging etwas von dieser Grammatik über, auf indirektem Wege, bis in diese Bilder. Der Landschaftszyklus von Giovanni Frangi, der hier ausgestellt wird, versucht in der Tat mit der Tradition des Naturalismus des 19. Jahrhunderts abzurechnen, mithilfe von auf den neuesten Stand gebrachten visuellen Mitteln, basierend auf den Errungenschaften des Modernismus des 20. Jahrhunderts. In früheren Landschaftsbildern von Frangi dominierte die physische und emotionale Annäherung an das Subjekt, mit Implikation von stets gut wahrnehmbarer Materie: die Linie Constable-Courbet, das 16
Eintauchen in das Wesen der Dinge nach Art von Monet bis hin zu den Resultaten des abstrakten Expressionismus, zuweilen eine fast brennende Bildschärfe der Details (im Richiamo della foresta (Lockruf des Waldes), zum Beispiel). Er ging die interne Struktur des Bildes an, “nicht die Zeichnung betreffend, wohl aber ihren Zusammenklang”, wie es ein scharfer Beobachter einmal hervorgehoben hat, diese dringliche Notwendigkeit, Materie in einem zusammenhängenden Gefüge aufzunehmen. Hier werden jedoch andere Wege eingeschlagen. Die formalen Themen werden, zutiefst ehrlich, erklärt. Das erste Thema ist die Frage nach der Sichtweise, die mit Anhebung des Blicks, einen arabesken Abschluss schafft. Dann die Frage nach den physischen, ich würde fast schon sagen, nach den dimensionalen Verhältnissen: zwischen dem Künstler und dem Objekt seiner Vision, in der Bewegung des Gehens und des sich Zu-eigen-Machens der Landschaft; und weiter noch die Beziehung zwischen dem Künstler und der Leinwand, in dem Malvorgang im Atelier. Formate wie Diese, zwei Meter auf zweieinhalb Meter, betonen noch diese besondere Intimität zwischen dem Bild und demjenigen, der es malt: der Körper bewegt sich gegen einen Bühnenhintergrund, der an das natürliche Sehfeld erinnert, in dem Moment, als die Landschaft betrachtet wurde. Letztendlich ist, wie mir scheint, dass der wichtigste Punkt. Nach der Nullstellung/ Stunde Null in den Fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bemalt man nicht länger eine rechteckige Fläche hinter transparentem Glas, auf welcher Präsenzen vorgeben, zu sein wo sie nicht sind, vielmehr wird eine Leinwand bemalt: ein physischer Gegenstand, eben und beständig. Für die Landschaftsmalerei bildet dies einen Bruch ohne Rückkehr zum Alten. Man kann in die Dinge eintauchen, und dabei die Sichtweise vergessen (die Zeichen geben einen Hinweis auf unser Empfinden, wie im Informell); wenn die Sichtweise festgehalten werden soll, muss ein Kontrollmechanismus wieder eingeführt werden. Der Ausweg ist eng gesteckt: die Fotographie ist da sicher behilflich. Daher sind die fotographischen Notizen, die Frangi auf dem Land in den Marken (Region in Italien) machte, (Barbara, Titel eine Bildserie, ist ein Dorf in der Nähe von Ancona) ausschlaggebend, und das möglicherweise schon ab dem nachfolgenden, ersten Indiz. Frangi hat die Farbe der Leinwand sichtbar beibehalten: es gibt keine Hintergrundfarbe, die etwas vortäuscht; und sei es nur für einen Moment, mit der Absicht die natürliche Sichtweise auf der Leinwand zu ersetzen. Die Pinselführung und die Grundierung weisen sichtbar auf die Unterlage: und erklären vor allem, dass dort ein Zwischenschritt erfolgt ist. Das Bild des Auslösens, vielleicht auch bei dem Format der digitalen Fotographie, hat als Medium gewirkt zwischen dem Auge des Malers (das von dem 17
natürlichen Modell einen “Gesamteindruck” liefert) und des natürlichen Modells selbst, als Vorläufer des Werks, dem noch die Übersetzung in einen sprachlichen Code fehlt. Drei Bezüge herrschen bei der formalen Wahl in diesen Gemälden vor. Der Erste leitet sich direkt von der doppelten Polarität Seurat-Cézanne ab, die ich zuvor angeführt hatte, und es sind die Landschaftsbilder von Giorgio Morandi. Dieser behandelte die Landschaft wie ein abstraktes Schema: die Verwendung des Fernrohrs, wie es uns Cesare Brandi erzählt hat, isolierte das Motiv, stellte den Zusammenhang auf Null zurück, wie den Ort Grizzana, mit seinen wenigen Dorfbewohnern oder die alten Häuser der Stadt Bologna. Es genügte das, was der pittoreske Inhalt war (dieses Muster der Pinselführung, das Auftragen, die Beziehungen der Farbtöne), um eine Spannung hervorzurufen, die nicht in Worte zu fassen ist, die entsteht bei dem “Kurzschluss“ Sichtweise/ Erinnerung/Ausführung. Es gab, im Hintergrund, enormen Respekt vor dem Wahren: der sich für Morandi nur durch die Geometrie der Sichtweise umschreiben ließ, wie er es einmal im Jahr 1957 erklärte. Die zweite Beziehung berührt einen Wendepunkt in den Fünfzigerjahren, den man nicht umgehen kann. Das völlige Eintauchen und das Zurückkommen auf pittoreske, synkopische Gesten (Sound in the Grass von Pollock, aber auch die Landschaften von De Kooning oder Sam Francis), der Clinch mit Sich und der Natur, gefährdeten die Grundprinzipien des Genres. Wenn man die Angabe des Horizonts, den Fluchtpunkt des Blicks, das direkte Aufeinandertreffen zwischen dem Sich (der emotionalen Materie des „Sichs“, wie es Harold Rosenberg treffend beschrieb) und der Leinwand war nicht praktikabel. Wirklich nicht praktikabel? Bis zu einem bestimmten Punkt stimmt das. Die wenigen Landschaftsbilder von Francis Bacon aus den Fünfzigerjahren geben eine andere Antwort. Anhand des Beispiels Van Gogh las Bacon die fotographischen Quellen neu, vielleicht auch gewöhnlich und zufällig, jedoch mit einer neuen emotionalen Dringlichkeit. Das grobe Auftragen gibt das Timing der Pinselführung wieder, als Beweis für ein Abbild, nicht seines Eigenen, vielmehr für ein Abbild, das in Rage neu vorgestellt wird. Er beschränkte die Farbpalette fast ausschließlich auf monochrome Töne. Es kann also kein Zufall sein, dass die von Frangi benutzte Leinwand in diesen Arbeiten auf den Vorläufer Bacon anspielen will. Es gibt noch ein anderes Beispiel, an das man erinnern sollte in diesem Zusammenhang. Vom Winter 1962-63 an interpretierte Mario Schifano die italienische Landschaftsmalerei mithilfe einer entscheidenden Vorrichtung, die des Spiegelreflexes neu: nämlich des Autorückspiegels oder der Windschutzscheibe. Diejenigen, die mutig die Selbstbezogenheit 18
der Leinwand festlegten, (wenn man malen muss, kann man nur einen Gegenstand malen, die Leinwand, nicht das mental übertragene Abbild eines Gegenstands auf der Leinwand) indem sie mithilfe dem Abbild der natürlichen Landschaft abrechnen, mit der gesamten Geschichte, die dieses Genre hinter sich gelassen hat, trafen eine tapfere Wahl. Und eben dieses Beispiel eines indirekten, reflektierten Abbilds diente ihm dazu, mit einem gänzlich europäischen Blick die Parks und Vegetation New Yorks bei der Biennale 1964 darzustellen. Allesamt fast völlig monochrome Bilder und Grafiken (“anämisch”, wie er sie nennen wird, in Anspielung an ein Adjektiv von Duchamp); bei denen die sehr dünnen Grundierungen bestätigen, dass man immer noch von Malerei sprechen konnte, und damit jegliche Illusion der Dreidimensionalität öffentlich wurde. Eines der jüngsten Bilder Frangis ist eine “gewanderte” Landschaft, in der man gut erhaltene Hügel sieht, einen leuchtenden Himmel, der immer gegenwärtig im Licht des Bodens ist, auch wenn er durch den Bildausschnitt beseitigt wurde. Der emotionale Grund für dessen Übertragung in die Malerei liegt ganz allein im Rhythmus der Ausführung. Und in der Tat gibt es so etwas wie einen sichtbaren Rhythmus innerhalb der Landschaft (dieses Spiel mit Hügeln, das Abfallen der Pflöcke, dieses Hinauffahren in eine Straße) und einen Rhythmus der Malerei. Sie sind nicht immer im Einklang. Das Schwarz bekräftigt innerhalb der Spannungen offensichtliche Bedingungen, die im Original in der Hügellandschaft sehr viel mehr aufgelöst worden sein mussten. Es ist ein Schwarz, das direkt auf die Leinwand vorgezeichnet wird, ohne Vorbereitung. Wie gesagt, wurde die Leinwand in gegensätzlicher Weise benutzt, ein Baumwoll-Leinen-Gemisch eines Stoffes, dessen Farblosigkeit fast schon störend ist, nimmt die Qualität des Pigments mit dem Effekt subtiler Unbestimmtheit an: der Hintergrund, anfangs opak, wird so mit einem Licht befrachtet, das zutage tritt und auf der Oberfläche gleichsam pulsiert. Die Ansicht steht niemals in zu kategorischer Weise dem Auge gegenüber. Die Letztere war eine vorherrschende Tendenz in früheren Naturansichten des Malers: eine Mauer aus Materie herzustellen, die einen Auftrag suggeriert. Hier hat das Medium der Fotographie , vielleicht auch die Qualität der Landschaft der Marken den Vorgang erkalten lassen. Die Funktion der seltenen Farbgrundierungen hat sich so verfeinert, spezialisiert. Es ist nicht mehr ein unbestimmtes Drücken auf den sichtbaren Rand der Leinwand (wie noch in Nobu at Elba, 2003). Vielmehr ist es der Wille, darauf hinzuweisen, dass es einen Treffpunkt gibt, völlig beherrscht, zwischen der Farbe (wenn auch gebleicht, von der Sonne bestrahlt) als Ergebnis der visuellen Emotion 19
und ihrer Funktion in der Malerei, die aus der Grundierung eine präzise, chromatische Zone in der Arabeske der Leinwand macht: es können die Felder von Barbara 1 und Barbara 6 sein, aber auch die Pfähle, die zutage kommen als Grundierungen ohne Bindung an den Rest von Barbara 4. Die Farbe “der Position” dieser Grundierungen bestimmt eine Art leuchtenden Hinweis, der die unterschiedliche Leuchtfunktion der Leinwand ohne Vorbereitung kennzeichnet. Und auch hier muss man zurückdenken an die Wandlung der Ausdrucksweise, die in der Geschichte der Landschaftsmalerei die Fotographie mit sich gebracht hat. Dass die rechteckige Fläche sich wieder in Bewegung gesetzt hat, ohne die heitere Herausforderung des Trompe-l’œil eines View-master ist ein wichtiges Zeichen, meiner Ansicht nach. Das “Tableau” hat sich wieder bestätigt, ohne Angst vor einer ihr innewohnenden Eleganz; und wir müssen keine Angst davor haben, das Wort Dekoration in den Mund zu nehmen. Der Betrachter atmet auf. Die Spannung ist nicht abgefallen, sie hat sich vielmehr verlagert auf das Muster der Zeichnung und auf den Rhythmus seiner Ausführung.
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View-master. Il disgelo, Firenze 2006 (Zerstรถrtes Werk) 21
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Druckgraphik
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Estate a notte I, 2001 Aquatinta und Kaltnadel, 35 x 25 cm 25
Estate a notte II, 2001 Aquatinta und Kaltnadel, 35 x 25 cm 26
Estate a notte III, 2001 Aquatinta und Kaltnadel, 35 x 25 cm 27
Estate a notte IV, 2001 Aquatinta und Kaltnadel, 35 x 25 cm 28
Estate a notte V, 2001 Aquatinta und Kaltnadel, 35 x 25 cm 29
Acquario I, 2007 Aquatinta, 49 x 64,5 cm 30
Acquario II, 2007 Aquatinta, 49 x 64,5 cm
Tambac I, 2006 Radierung und Aquatinta, 25 x 32 cm
Tambac II, 2007 Radierung und Aquatinta, 25 x 32 cm 31
Tango, 2007 Aquatinta, 38 x 49 cm 32
Alice, 2008 Aquatinta und Kaltnadel, 69 x 50 cm 33
Estate in cittĂ , 2011 Album mit 6 Aquatinten, je 46 x 60 cm Presto Vivace Largo Cantabile Allegro Allegro appassionato 34
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Giardini pubblici, 2013 Aquatinta, 90 x 125 cm 36
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Malerei auf Leinwand
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Murnau, 2006 テ僕 auf Leinwand, 198 x 162 cm 40
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Val Bondone, 2013 テ僕 auf Leinwand, 130 x 100 cm 42
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Dauntsey park, 2011 テ僕 auf Leinwand, 220 x 160 cm 44
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Reale, 2013 テ僕 auf Leinwand, 116 x 89 cm 46
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Riva, 2013 テ僕 auf Leinwand, 170 x 120 cm 48
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Seite 50-51: Porta Venezia, 2013 テ僕 auf Leinwand, 200 x 300 cm
Sidi kaouki, 2012 テ僕 auf Leinwand, 50 x 40 cm San lorenzo I, 2012 テ僕 auf Leinwand, 50 x 40 cm San lorenzo II, 2012 テ僕 auf Leinwand, 50 x 40 cm 52
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Giardini pubblici, 2010 テ僕 auf Leinwand, 89 x 116 cm 54
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La regle du jeu, 2010 テ僕 auf Leinwand, 89 x 116 cm 56
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Barbara V, 2013 テ僕 auf Leinwand, 240 x 200 cm 58
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Barbara I, 2013 テ僕 auf Leinwand, 200 x 240 cm 60
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Arbeiten auf Papier
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Murnau I, 2006 Primal und Pigmente auf Papier, 35 x 45 cm Murnau II, 2006 Primal und Pigmente auf Papier, 35 x 45 cm 64
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Passo ripe I, 2013 Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm 66
Serra, 2013 Tempera auf Papier, 88 x 70 cm 67
Passo ripe II, 2013 Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm 68
Passo ripe III, 2013 Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm 69
Piano amato I, 2014 Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm 70
Piano amato II, 2014 Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm 71
Piano amato III, 2014 Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm 72
Piano amato IV, 2014 Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm 73
Julia Krahn
Leben und Werk
Giovanni Frangi wird am 12. Mai 1959 in Mailand geboren. Sehr früh beginnt er zu malen. Im Jahr 1982 macht er einen Diplomabschluss an der Accademia di Brera, Mailand. Im selben Jahr nimmt er an einer Gruppenausstellung in Mailand teil, in der Rotonda della Besana, an der er sich auch im folgenden Jahr mit einigen Pastellmalereien für die Ausstellung “Artisti e scrittori“ („Künstler und Schriftsteller“) beteiligt. 1983 stellt er zum ersten Mal alleine aus: in der Galleria La Bussola in Turin. 1986 debütiert er in seiner Geburtsstadt Mailand mit einer Soloausstellung in der Galleria Bergamini. Die Ausstellung setzt sich aus Leinwänden zusammen, auf der Fenster, Sessel, Stühle und Tische zu sehen sind und markiert die Erfindung einer eigenen Handschrift. Der Katalog enthält ein Vorwort von Achille Bonito Oliva. 1987 stellt er in der Galleria Poggiali e Forconi in Florenz aus, wo er auch in den darauffolgenden Jahren mit Einzelausstellungen gezeigt wird. 1989 sind Frangis Werke zum ersten Mal bei einer internationalen Ausstellung in der Galerie du Banneret in Bern zu sehen, wo er auch 1990 und 1992 seine Bilder präsentiert. Es folgen Ausstellungen in Barcelona 1989, in New Orleans 1993, in Carmel 1994, in Lausanne 1995, Hong Kong 1997, Marseille 1998, San Francisco 2000, Los Angeles 2001, Peking 2005, Hanoi 2007 und Frankfurt am Main 2008. Eine anthologische Ausstellung im Jahr 1997 im Palazzo Sarcinelli in Conegliano fasst die Arbeiten Frangis um das dominierende Thema Landschaft zusammen, was sich zu dieser Schaffenszeit Frangis in der Darstellung von Stadtautobahnen und Autobahndreiecken ausdrückt. Im selben Jahr gewinnt er den Preis der XII Quadriennale in Rom und stellt im Sala del Cenacolo im Montecitorio in Rom den Zyklus “La fuga di Renzo” (“Renzo’s Flucht”) aus, die Geschichte einer Reise in die Lagune. Ausgehend von einem Hafen im Sonnenuntergang gelangt man in tiefer Nacht vor eine vom Mond erleuchtete Industrieanlage. Zum ersten Mal denkt Frangi dabei nicht an einzelne Leinwände, sondern an ein gesamtheitliches Projekt. Das ist der Beginn der Zusammenarbeit mit Giovanni Agosti. 76
1998 stellt er in der Compagnia del Disegno in Mailand “Il giorno e la notte” (“Die Nacht und der Tag”) aus, zwei einzelne Bilder desselben Formats, die gegenüber hängen und den Raum der Galerie förmlich zum Bersten bringen. An eben diesem Ort fand zehn Jahre zuvor die Ausstellung Testori-Frangi-Mailand statt, mit einem Text von Giovanni Testori – einer wichtigen Persönlichkeit für die künstlerische Entwicklung Frangis – und im Jahr 1992 „Opere 1991-1992“ (Werke 1991-1992), diesmal mit einem Text von Luca Doninelli. 1999 gestaltet Frangi im Palazzo delle Stelline in Mailand einen Wald aus 13 Leinwänden: “Il richiamo della foresta” (Der Lockruf des Waldes). Die Gemälde stehen auf dem Boden und werden von Eisenträgern gestützt. Theaterkulissen, in die sich der Betrachter einlässt und das Wechselspiel der Jahreszeiten einatmet, bis er zu einem riesigen verschneiten Landschaftbild gelangt. Am Ausgang schaut man unerwarteterweise auf die Rückseite der Leinwände, eine abschließende Umkehrung einer naturalistischen Illusion. Ebenfalls im Jahr 1999 debütiert er bei der Biennale in Venedig in Anton Tschechows Onkel Wanja in der Regie von Federico Tiezzi. Der Vorhang – auch dieses Mal ein Wald – wird von Giovanni Frangi gestaltet. Im Jahr 2000 wird Frangi in der Galleria Lawrence Rubin in Mailand in Szene gesetzt. “Sculture. Una mostra per l’estate” (Skulpturen. Eine Ausstellung für den Sommer), die einzig und allein aus großformatigen Papierarbeiten und der großen Skulptur “Fiordifragola” (Erdbeerblüte) besteht, die im Garten der Galerie ausgestellt wird. Von da an beginnt für Frangi die Zeit als Bildhauer. Im gleichen Jahr zeigt die Galleria dello Scudo “Viaggio in Italia” (Italienreise) aus. Ein Abschied von häufig vorkommenden Themen (wie zum Beispiel die Ansichten von Porto Marghera) und eine Öffnung hin zu neuen Ausrichtungen: fliegende Vögel, Steine, Fische im Wasser… Dabei arbeitet er wieder als Graveur. 2001 präsentiert die Galleria dello Scudo bei der Kunstmesse Miart in Mailand “Come un installazione” (“Wie eine Installation”). Der Stand auf der
Ausstellung wird zu einem poetischen Ort, an dem Bilder sehr unterschiedlicher Größe neben Skulpturen platziert werden, die vom Boden die Wände aufsteigen. In diesem Jahr veröffentlicht Giovanni Frangi “45 giri” (“45 Umdrehungen”), eine Sammlung von vierundvierzig kleinen Leinwänden. Dabei führen die Kunstwerke den Betrachter mit ihren Titeln in ein unvorhergesehenes Spiel von Verweisen. Im Jahr 2004 entsteht in den Stallungen der Villa Panza in Biumo vor den Toren von Varese Nobu at Elba (Nobu in Elba), eine Arbeit bestehend aus vier riesigen Leinwänden und zwanzig Skulpturen aus Schaumgummi. Die Szene wird von einem Licht erleuchtet, das in regelmäßigen Abständen erstrahlt, das Gefühl einer Nacht in der Nähe eines Wasserlaufs in der Wildnis schaffend. In Vorbereitung auf die Arbeit hat Frangi ein Album von 132 Blättern erstellt, dass von zahllosen Abschweifungen mal abgesehen, die fortschreitende Bestimmung des Projekts beschreibt. Auch im Jahr 2004 stellt er in der Galleria dello Scudo in Verona aus. Dieses Mal unter dem Titel Take off, eine neue Landschaftsserie aus der Vogelperspektive, so zu sagen ein Italien aus der Sicht des Himmels. 2005 findet in Bozen, kuratiert von Antonella Cattani, die Ausstellung “Ti ci porto” (“Ich bring dich dahin”) statt. Dabei stellt er eine Geschichte aus den Alpen nach, ein großer Wasserfall, Bilder mit einem Hintergrund in Tombak und Kakao, eine Installation von 14 bemalten Steinen, die auf dem Boden versprengt sind. Im selben Jahr nimmt er an der zweiten Ausgabe der Bienale von Peking teil. Im Jahr 2006 zeigt Poggiali e Forconi in Florenz “View master”, ein natürliches Diorama aus Schaumgummi, das man nur durch ein Guckloch erspähen kann. Eine Hommage an “Étant donnés” von Marcel Duchamp, eine Art große Skulptur, die den Raum der Galerie einnimmt: die Rekonstruktion eines Meeresgrundes von der einen Seite und ein Bild von der Gletscherschmelze von der anderen Seite. Später wird “View master - Il fondo del mare” (View Master - der Meeresgrund) auch in Turin bei Promotrice della Belle
Arti anlässlich der Ausstellung “Senza famiglia” (“ohne Familie”) gezeigt.
des 18. Jahrhunderts auf das Gewölbe aufgebracht wurde.
Im Jahre 2007 präsentiert Frangi auf der Messe Miart in Mailand auf dem Stand der Galleria dello Scudo “Underwater“ (“unter Wasser”), eine Serie von neuen Bildern aus emulsionierten Leinwandträgern, die dann mit Harz und Pigmenten bemalt wurden. Die Objekte sind Bilder von Unterwasserpflanzen, vielleicht von exotischen Pflanzen, die aber so behandelt wurden, als seien sie Fotografien, die im Aquarium in Genua aufgenommen wurden. Inmitten des Saals steht “Noa Noa”, eine Skulptur einer Wasserschlange, die mit Glaswolle bedeckt ist.
Im Jahr 2010 stellt er in der MART in Rovereto “Giardini pubblici” (“Öffentliche Parks”) aus, eine große Werkreihe, die von den Mailänder Parks in der Stunde der Dämmerung inspiriert ist - inklusive sämtlicher Studien, die zuvor, während und nach der Malerei durchgeführt wurden: Zeichnungen, Pappkartons, Fotografien, übermalte Fotografien, Skizzen und Details ausgestellt, so als wären wir in der Zukunft und schauten in die vergangene Zeit zurück. Dann erschafft er in Bergamo, bei der Bank Credito Bergamasco, “Divina – wallpaper”. Zwölf Malereien mit kleinen Blättern, die die Wände des Zimmers wie eine Papiertapete bedecken. Auf dem Boden ein Teppich aus echten Blättern. Im Oktober des selben Jahres präsentiert er im Teatro India in Rom den Zyklus “La règle du jeu” (“Die Speilregeln”), sechs große Variationen ein und desselben Bildes: Die Gärten der Porta Venezia von Schatten umrissen. Und er schafft zwei Paravents, “Japan” und “Fragile” (“Japan” und “Zerbrechlich”), die bei Antonella Cattani in Bozen ausgestellt werden.
2008 gibt der Verlag Feltrinelli “Giovanni Frangi alle prese con la natura” (“Giovanni Frangi auf Eroberungszug durch die Natur“) von Giovanni Agosti raus, das die Geschichte Frangis in den letzten zehn Jahren beschreibt, von Fuga di Renzo (Renzos’s Flucht) bis zu einer Ausstellung, die nie zustande kam, und in der Serra Grande des Giardino di Boboli in Florenz geplant war. Im gleichen Jahr zeigt er in der Galerie Raphael 12 in Frankfurt am Main “Sassisassi - Eine organische Austellung. Skizzen, Tische, Bilder, Fotografien und Plastiken”, bei der er sich mit dem Thema Steine auseinandersetzt. Das Spektrum der Techniken reicht von Tafeln, in denen echte Steine aus dem Fluss Anza in Macugnaga eingearbeitet wurden bis hin zu Fotografien, die er mit primal koloriert. Im gleichen Jahr arbeitet er mit Corrado Albicocco zusammen und stellt in der Gamud in Udine “Pasadena” aus, ein Zyklus von 30 Karborundum Radierungen, inspiriert von den Pflanzen des Botanischen Gartens Huntington. Die Wanderausstellung geht dann nach Bozen, Novate und Frankfurt am Main und später, im Jahr 2013 auch nach Rapallo und Monza. 2009 installiert er im Oratorio di San Lupo in Bergamo “MT 2425”. Der Boden des Gebäudes ist dabei bedeckt mit einer silbernen Oberfläche, die aus Polyurethanharz besteht und einem blauen Himmel gegenübergestellt wird, der sich “Domenica pomeriggio” (Sonntag Nachmittag) nennt und wie ein Fresco
Landschaften des Po-Deltas, eingerahmt in barocke Stuckrahmen; außerdem stellt er zum ersten Mal in Indien aus, wo er einen Raum mit “Fragile” in der Sakshi Gallery in Mumbai gestaltet. Im Dezember desselben Jahres zeigt er bei der Galerie du Nord des Europäischen Parlaments in Straßburg “Il Rosso e il Nero” (Rot und Schwarz), Arbeiten auf Papier. Im September 2013 findet die Vernissage zu “Sheherazade” im Museo Nazionale di San Matteo in Pisa statt, bei der seine Werke von den Meisterwerken des Mittelalters und der Rennaissance flankiert werden und den Besucher entlang eines Parcours geleiten, an dem Anfang und Ende zusammenfallen.
Im Jahr 2011 wird Frangi eingeladen an der 54. Internationalen Kunstausstellung der Biennale in Venedig im Italienischen Pavillon teilzunehmen; außerdem stellt er in Mailand im Museo Diocesano aus, wo er an seine römische Ausstellung “La règle du jeu” anknüpft, die er um vier Bilder erweitert. In der Villa Manin in Passariano di Codroipo trägt er in “Straziante, meravigliosa bellezza del creato”, von Pasolini inspiriert, in elf Räumen Arbeiten aus den Jahren 2006 bis 2011 in einer poetischen Abfolge zusammen. Eine Art Anthologie und Rückschau auf die letzten Jahre; weshalb der Besucher vom Himmel Cieli zum Meeresgrund Fondi del mare, von Vallemosso zu den Paraventi, und vom View-master nach Pasadena geleitet wird… Danach gestaltet er “Albatros” in der Galleria Civica d‘Arte Contemporanea Montevergini in Siracusa, mit Gemälden, die wie Fahnen aufgehängt sind. Im Jahr 2012 stellt er “Mappe” im Stucksaal der Villa Morosini in Polesella bei Rovigo aus, dreizehn Malereien inspiriert von Wolken und den 77
Dieser Katalog erscheint anläßlich der Ausstellung Giovanni Frangi Paradisi artificiali Diario di viaggio 2001 - 2014 29.03. - 03.05.2014 in der Galerie Raphael, Frankfurt sowie auf der ArtKarlsruhe 2014 Auflage: 500 Exemplare Texte: Aurelio Picca und Flavio Fergonzi, aus dem Italienischen übersetzt von Dipl. Übersetzerin Felicitas Kraut Der Text von Flavio Fergonzi wurde bereits in “Sheherazade” publiziert, erschienen bei Electa, 2013 Herausgeber: Raphael Petrov Verlag: Galerie Raphael, Inh. Raphael Petrov, e.K., Frankfurt Fotographie: Alessandro Frangi, Julia Krahn, Paola Sartorio Gestaltung: Alessandro Frangi Druck: Arti Grafiche De Pietri s.r.l., Castelnovo di Sotto www.giovannifrangi.it
Galerie Raphael Domstrasse 6 D-60311 Frankfurt am Main Tel +49(0)69-29 13 38 Fax +49(0)69-29 77 532 www.galerierapahael.com info@galerieraphael.com Umschlag: Piano amato III, 2013. Primal und Pigmente auf Papier, 60 x 50 cm
ISBN 978-3-930519-39-2 Februar 2014.
ISBN 978-3-930519-39-2