Lydia (Ausgabe 1/2023)

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Kompetenz. Und Gottvertrauen.

Alltagsakrobaten.

Durch Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik auf christlicher Basis.

In der de’ignis-Fachklinik erhalten Sie bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, Ängsten, Zwängen und Burnout, sowohl stationär als auch ambulant oder tagesklinisch eine individuell auf Sie ausgerichtete Behandlung. Nutzen Sie auch unsere Präventionsangebote, um bereits heute Ihrer seelischen Gesundheit nachhaltig etwas Gutes zu tun.

Meine Seele verdient die beste Behandlung.

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de’ignis-Fachklinik gGmbH • Walddorfer Straße 23 • 72227 Egenhausen • Telefon 07453 9391-0 • info@deignis.de

Ehrlichkeit Mut zur

„Danke für deine Offenheit.“ Diese Worte habe ich im vergangenen Jahr mehrfach gehört. „Dass du so offen über deine Kindheit und deinen Weg berichtest, macht Mut“, schrieb mir eine Frau aus unserem freien Redaktionsteam zu meinem Artikel in der letzten Lydia. „Weil Sie in Ihrem Vortrag so offen waren, fühle ich mich jetzt nicht mehr so allein mit dem Thema“, sagte eine junge Frau, nachdem ich über meine Kindheit in einer Alkoholiker-Familie gesprochen hatte. Ja, ich habe mich entschieden, offen von mir zu erzählen. Denn ich bin überzeugt, dass wir einander helfen können, wenn wir ehrlich sind. Wer sich öffnet und andere in das eigene Herz schauen lässt, bleibt nicht allein mit den Selbstzweifeln, der Angst zu versagen, nicht zu genügen oder etwas falsch zu machen.

Leider hat es sich in manchen christlichen Kreisen eingeschlichen, eine fromme Fassade aufrechtzuerhalten. Da fährt man sonntags in den Gottesdienst und setzt ein strahlendes Lächeln auf – obwohl es kurz vorher in der Familie richtig gekracht hat. Aber darüber reden wir nicht, denn wir denken, bei den anderen läuft es besser. Wir möchten uns keine Blöße geben, uns nicht mit unserem Versagen zeigen. So gerne wollen wir alles richtig machen, die Dinge geregelt bekommen und von Erfolgen statt von Misserfolgen erzählen.

Ich kenne diese Idee, das, was schlecht läuft, für mich zu behalten. Seit meiner Kindheit war ich es gewohnt, wenig über mich und meine Familie zu reden. Da gab es diesen unausgesprochenen Auftrag, nicht über manche Dinge zu sprechen. Als mir diese Haltung bewusst wurde, habe ich Schritt für Schritt geübt, mich zu öffnen, andere in mein Leben blicken zu lassen und die Dinge ehrlich zu benennen. Ich finde es wohltuend, meine Sorgen mit jemandem zu teilen. Dann verlieren sie an Gewicht.

Wir schaden uns selbst und einander, wenn wir das Bild eines perfekten Lebens aufrechterhalten wollen, das keiner wirklich leben kann. Und Gott können wir sowieso nichts vormachen.

Es ist eine Herausforderung, persönliche Dinge preiszugeben oder sogar öffentlich zu machen, wie das viele unserer Leserinnen tun. Und ja: Es wäre manchmal schöner, wir könnten Erfolgsgeschichten teilen, könnten von Heilungen und Wundern erzählen statt von Misserfolgen, Selbstzweifeln und Überforderung. Manchmal können wir das auch – aber manchmal auch nicht.

Unsere Titelfrau Kerstin Wendel hat erlebt, wie gut Unterstützung von anderen in Zeiten war, in denen sie sich schwach fühlte. Davon erzählt sie im Interview ab Seite 6.

Lassen Sie uns gemeinsam 2023 zu einem Jahr der Offenheit machen! Einem Jahr, in dem wir gut miteinander umgehen, einander Anteil geben und uns gegenseitig unterstützen. Vielleicht möchten Sie sogar Ihre Geschichte an Lydia schicken, um sie mit anderen Leserinnen zu teilen?

Ich wünsche Ihnen wertvolle Erkenntnisse und Inspirationen beim Lesen – und die tröstliche Erfahrung, dass Sie mit Ihren Problemen nicht allein sind.

GANZ PERSÖNLICH
Ihre
Wir schaden uns selbst und einander, wenn wir das Bild eines perfekten Lebens

GLAUBE & Lebenshilfe

18 TIEFER GRABEN

Schätze in der Dunkelheit – Dr. Debora Sommer

32 SO GELINGT DER WIEDEREINSTIEG IN DEN BERUF – Janina Kürschner

35 ABENTEUER BERUFSFINDUNG – Janina Kürschner

36 NICHT ZU ALT FÜR EINEN NEUANFANG – Christa Keip

38 AUF UMWEGEN ZUR BERUFUNG – Angelika Löwen

78 GESCHUBST ZU NEUEN UFERN – Jutta Retta

82 STARKE FRAUEN, STARKER GLAUBE Susanna Wesley: Das Gebet einer Mutter verändert die Welt – Sonja Kilian

42 LOSLASSEN, WORAN MEIN HERZ HÄNGT – Marcus Bastek

46 MEIN HEUTE BESTIMMT MEIN MORGEN

– Beate Nordstrand 50 OFFENE HERZEN, OFFENE TÜREN

– Hedwig Rossow

56 ÜBERRASCHENDE UNTERBRECHUNG

– Birte Rottmann

90 GLAUBENSFUNKEN

Der Birnbaum – Tina Eichert

Ruhe im Sturm – Monika Jenke

Zehntausend Kilometer, um Frieden zu finden

– Gaby Lehnert

BERUF & Gesellschaft 6

Befreit leben

4 LYDIA 01/2023
INTERVIEW Kerstin Wendel

Ausgabe

3 GANZ PERSÖNLICH

Mut zur Ehrlichkeit

– Ellen Nieswiodek-Martin

12 LESERBRIEFE

13 IMPRESSUM

25 LIEBE LESERIN

26 ZWISCHENDURCHGEDANKEN

Eine neue Familie

– Saskia Barthelmeß

57 SCHMUNZELN MIT LYDIA

70 SELBST GEMACHT Frühlingshafter Ostertisch

– Luisa Seider

76 FÜR SIE ENTDECKT

81 KLEIN, ABER FEIN Kleinanzeigen

86 GUT INFORMIERT. NEU INSPIRIERT.

94 WELCOME TO MY LIFE

Das Hier und Jetzt annehmen – Lydia Brauburger

53 LEBEN TEILEN

Als Familie in einer WG

– Ronja Aselmann

58 MITEINANDER UNTERWEGS

Als Paare voneinander lernen

– Ira Schneider

61 DIE ZERRISSENE HOCHZEITSKETTE

– Hanna Herrmann

62 EHELEBEN

Wenn alles anders kommt als geplant

– Rainer Knaack

64 REGENBOGENKINDER TRÖSTEN

– Katrin Schmidt

68 VERBORGENE TRAUER

– Lilija Dojan

72 MITEINANDER IM GESPRÄCH BLEIBEN

– Cornelia Werner

FAMILIE & Beziehungen KÖRPER & Seele

14 WENN PLÖTZLICH NICHTS MEHR GEHT

– Sheila Serrer

22 " ESOTERIK HAT KEINEN PLATZ MEHR IN MEINEM LEBEN"

– Nora Oelkers im Portrait

28 WEGE ZUR ENTSPANNUNG – Catrin Walz

31 WARUM AUSZEITEN IN DER KRISE HELFEN – Deborah Füßer

67 AUSSTEIGEN AUS DEM SORGENKARUSSELL

– Stephanie Eckart

5 LYDIA 01/2023
Interview 6
LYDIA 01/2023
FOTO: Deborah Pulverich

leben Befreit

Ihr Leben war bestimmt von Schmerzen und körperlichen Einschränkungen. Therapie und Medikamente halfen nicht viel. Heute kann Kerstin Wendel Sport treiben, ihr Leben genießen und einen aktiveren Alltag leben als vor 30 Jahren. Im Interview erzählt die 57-Jährige, wie sie es geschafft hat, die schweren Zeiten durchzustehen und wie Gott ihr im Lauf der Zeit geholfen hat, innerlich heil zu werden. Sie nennt es das Wunder ihres Lebens.

Frau Wendel, mit 21 Jahren sind Sie krank geworden. Was war damals los?

Ich hatte in erster Linie Rückenprobleme, hauptsächlich im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule: Wirbelblockaden, davon ausgelöst stark verhärtete Muskulatur. Die Rückenprobleme lösten Kopfschmerzen aus. Diese führten teilweise zu Erbrechen, weil die Schmerzen so stark waren. Die Schmerzepisoden wurden im Laufe der Jahre immer länger und intensiver. Vor allem die Nächte waren eine Qual, weil ich vor Schmerzen nicht einschlafen konnte oder wieder aufgewacht bin. Ich habe Medikamente genommen, aber sie haben wenig geholfen, da es eine psychosomatische Schmerzerkrankung war. Das wusste ich aber viele Jahre nicht.

Damals haben Sie Ihren Mann kennengelernt und als Lehrerin gearbeitet … Ja. In diese Zeit fiel auch unsere Hochzeit, später zwei Schwangerschaften und die Berufstätigkeit als Lehrerin. Ich habe Deutsch und Musik unterrichtet. Das war anstrengend, ich war oft erschöpft wegen des Schlafmangels und der ständigen Schmerzen. Außerdem war meine Magenschleimhaut chronisch gereizt durch das häufige Erbrechen.

Schließlich sagte meine Hausärztin zu mir: „Ich kann eigentlich nichts mehr für Sie tun. Aber ich biete Ihnen an, Ihren Fall in einem Schmerzzirkel mit verschiedenen Fachleuten zu besprechen.“ Ich habe zugestimmt und bin dort hingegangen. Hinterher hat sie mich zum Gespräch gebeten und gesagt: „Wir sind der Meinung, dass man bei Ihnen eine Psychotherapie ausprobieren könnte. Außerdem eine Spezialform von Krankengymnastik.“

Ich hatte keine positive Einstellung zu Psychotherapie und viele Vorurteile. Aber mein Zustand war so schlecht,

dass ich gesagt habe: „Ich versuche es. Ich habe nichts mehr zu verlieren.“ In der Therapie konnte ich mich lange Zeit nicht öffnen – bis ich das Schreiben für mich entdeckt habe. Ich weiß noch, wie ich auf der Bettkante saß. Es war, als würde Gott ein Ventil aus einem Schlauch nehmen. Auf einmal konnte ich es fließen lassen. Die Gedanken purzelten in einer Fülle und einem Tempo aus mir heraus, das mich überrannt hat.

Was waren das für Gedanken, die Sie aufgeschrieben haben?

Es waren Erkenntnisse, kombiniert mit Erinnerungen an meine Vergangenheit und Träume. Die Träume hatten eine Schlüsselfunktion, weil sie mich zu meinen Traumata geführt haben. Das war harte Arbeit. Ich habe viel geweint in diesen Jahren, hatte körperliche Ausfallerscheinungen, konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr essen. Ich habe zeitweise nicht mehr glauben können, nicht mehr in der Bibel gelesen, nicht mehr gebetet, nichts. In einem Urlaub an der Nordsee hatte ich mein erstes intensives Gotteserlebnis, dem dann im Rahmen der therapeutischen Arbeit viele weitere folgten.

Können Sie dieses Gotteserlebnis beschreiben?

Frühmorgens wurde ich wach und merkte, dass Gott mit mir über meine Schmerzen reden wollte. Einzelne Teile meines Rückens fingen an zu schmerzen, und mir sind Sünden bewusst geworden, die mit einer falschen inneren Haltung zusammenhingen, wie überhöhtes Pflichtbewusstsein.

Als dieser Durchgang durch meinen Rücken beendet war, fühlte ich mich wie erschlagen und sehr demütig Gott gegenüber. Ich habe zu ihm gesagt: „Wie soll ich das jetzt besser machen?“ In meinem Herzen habe ich seine Antwort gehört: „Das kannst du nicht. Aber du weißt jetzt,

Interview
INTERVIEW
7 LYDIA 01/2023

Schätze in der Dunkelheit

So, wie sich unsere Augen an einen dunklen Raum gewöhnen, können wir auch in Zeiten der Dunkelheit Neues erkennen –wenn wir bereit dazu sind.

Von Debora Sommer

Aus der grellen Sonne trat ich in den dunklen, fensterlosen Seminarraum. Es dauerte eine Weile, bis ich in der Dunkelheit einen Lichtschalter ertasten konnte. Leider blieb das Drücken des Lichtschalters – zuerst geduldig, dann zunehmend ungeduldiger – ohne Wirkung. So blieb mir nichts anderes übrig, als den Haustechniker zu informieren. Während ich auf ihn wartete, genoss ich den kühlen Raum, der einen willkommenen Kontrast zur Sommerhitze draußen bot. Zunächst stand ich eine Weile untätig im Dunkeln und wartete. Nach einigen Minuten hatten sich meine Augen jedoch so gut an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich mich problemlos im Raum orientieren konnte und daher begann, mich einzurichten. Als der Techniker nach einiger Zeit kam und das Licht wieder funktionierte, war ich mit meinen Vorbereitungen für das Seminar schon fast fertig. Was für eine faszinierende Fähigkeit unseres Sehorgans, sich an die Dunkelheit anzupassen!

In den vergangenen Monaten bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass nicht nur unser natürliches, sondern auch unser geistliches Sehorgan (in Epheser 1,18 ist von „Augen des Herzens“ die Rede) in der Lage ist, mit Gottes Hilfe eine Anpassung an die Dunkelheit vorzunehmen. Dies setzt allerdings voraus, dass wir bereit sind, die Dunkelheit in einem neuen Licht zu sehen.

WIE LANGE NOCH?

Am Anfang meines Weges zu einem neuen Verständnis von Dunkelheit stand die Erfahrung starker Schmerzen vor rund zehn Jahren. Sie wurden ausgelöst durch drei be-

schädigte Nervenwurzeln im Lendenbereich im Zusammenhang mit einem Bandscheibenvorfall mit anschließender Operation. Ich fiel in eine tiefe Dunkelheit, aus der ich keinen Ausweg fand. David sprach mir aus dem Herzen: „Wie lange noch, Herr, willst du mich vergessen? Etwa für immer? Wie lange noch willst du dich vor mir verbergen? Wie lange noch muss ich unter tiefer Traurigkeit leiden und den ganzen Tag Kummer in meinem Herzen tragen?“ (Psalm 13,2–3)

„Wie lange noch?“ Diese Frage trieb mich um – wochenlang, monatelang, jahrelang. Ein Leben mit zermürbenden Schmerzen schien mir wenig lebenswert. Jede neue Abklärung, jede neue Therapie war wie ein Strohhalm, nach dem ich verzweifelt griff. Wiederholt wurde ich enttäuscht, bis ich schließlich in einer Erschöpfungsdepression landete.

SCHMERZLICHE DUNKELHEIT

Chronische Schmerzen sind bis heute mein stetiger Begleiter. Dank regelmäßiger Schmerzinterventionen erfahre ich nach den Behandlungen jeweils für einige Wochen Schmerzlinderung, wofür ich von Herzen dankbar bin. Aber auch Phasen der Dunkelheit holen mich immer wieder ein. Und doch erlebe ich jene heute verändert. Nicht zuletzt deswegen, weil ich im vergangenen Jahrzehnt mit Gottes Hilfe einen heilsameren Umgang mit Zeiten der Dunkelheit, aber auch mit meiner Verletzlichkeit und Begrenzung gefunden habe. In meinem Fall war die Erfahrung von Dunkelheit stark mit meiner Schmerzsituation verwoben. Aber auch andere schmerzliche Erlebnisse können

TIEFER GRABEN

Menschen in einen Zustand der Dunkelheit versetzen: der Verlust eines geliebten Menschen, Beziehungsprobleme, wirtschaftliche Nöte, eine körperliche oder seelische Erkrankung, Ängste, Einsamkeit, Ablehnung, Probleme am Arbeitsplatz und vieles mehr.

LERNEN,

IM DUNKELN ZU GEHEN

Wegweisende Impulse für meine neue Sicht der Dunkelheit gab mir das Buch von Barbara Brown Taylor „Learning to Walk in the Dark“ (Lernen, im Dunkeln zu gehen). Ausgehend von frühchristlichen Gebeten und Texten zeigt die Autorin auf, dass Dunkelheit im Christentum – damals wie heute – oft einseitig negativ mit dem Bösen assoziiert wird, während das Gute im Gegensatz dazu in Verbindung mit Licht und Helligkeit steht. Ihre Impulse haben mich ins Nachdenken gebracht und dazu inspiriert, dem Thema tiefer auf den Grund zu gehen. Zunächst, indem ich selbstkritisch meine eigenen Glaubensüberzeugungen überprüfte. Weiter, indem ich mit anderen ins Gespräch kam und aufmerksam beobachtete, was im Zusammenhang mit der Dunkelheit in christlichen Kreisen gelehrt wird. Und schließlich, indem ich mich in der Bibel auf Spurensuche begab. Es dauerte nicht lange, bis mir bewusst wurde, dass auch meine Assoziationen mit der Dunkelheit fast ausschließlich negativ waren.

DUNKELHEIT ALS ORT DER GOTTESNÄHE

Im Zusammenhang mit dem christlichen Glauben gehen einige so weit, dass Gott – mit Bezug auf Bibelstellen wie

1. Johannes 1,5 – einseitig dem Licht und Satan, als Gottes Gegenspieler, der Dunkelheit zugeordnet wird. Das ist in sofern problematisch, als dies die irrige Schlussfolgerung nahelegt, dass Gott in Zeiten der Dunkelheit abwesend ist. So fragen wir in Zeiten der Dunkelheit sehr schnell: „Wieso lässt mich Gott im Stich?“ „Wie kann er das zulassen?“ Wenn man sich 1. Johannes 1,5 jedoch genau anschaut, steht da lediglich: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“ Dass keine Finsternis in Gott ist, bedeutet im Umkehr schluss jedoch nicht, dass Gott nicht auch nis gegenwärtig ist! Der gute Hirte wandert an der Seite seiner Schafe durchs dunkle Tal. Auch in der Finsternis ist Gott da. Nicht, weil er uns dabei helfen will, dieses dunkle Tal so schnell wie möglich hinter uns zu lassen, sondern um uns mitten in der Dunkelheit die Augen für geistliche Schätze zu öffnen.

SCHÄTZE DER DUNKELHEIT

Neulich stieß ich in der Bibel auf eine interessante For mulierung. Der Perserkönig Kyros wird von Gott auserwählt, um eine Zeit der Wiederherstellung für das Volk Israel einzuläuten. Ihm verspricht Gott in Jesaja 45,3, dass er ihm „Schätze der Dunkelheit“ geben werde, so heißt es wörtlich im hebräischen Grundtext. Diese Schätze sollen eine Bestätigung dafür sein, dass es der Gott Israels ist, der ihn beim Namen ruft. Auch wenn in der Geschichte von Kyros sicherlich von materiellen Schätzen die Rede ist, glaube ich, dass Gott dies auch in geistlicher Hinsicht in unserem Leben tun will.

TIEFER GRABEN 19 LYDIA 01/2023

Wege zur Entspannung

Das Bedürfnis und die Sehnsucht nach Ruhe und Entspannung sind groß. Was kann helfen, sich im Dschungel der Angebote zurechtzufinden?

„Ich habe mich bei der Volkshochschule zur progressiven Muskelentspannung angemeldet“, erzählt eine Frau in unserer Gesprächsrunde. „Das soll ja ganz gut für die Entspannung sein.“ Innerlich zucke ich zusammen. Progressive Muskelentspannung. Ich habe davon gehört, weiß aber keine Hintergründe. Reflexartig reagiere ich skeptisch, denn bei Entspannungsverfahren vermute ich schnell einen fernöstlichen oder esoterischen Einfluss. Zu Hause recherchiere ich nach dem Abend im Internet und erfahre: Das Verfahren wurde von dem amerikanischen Arzt Edmund Jacobson zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Er fand heraus, dass sich durch die willentliche An- und Entspannung von Muskelpartien körperliche und psychische Spannungszustände mildern lassen. Es ist ein Verfahren ohne weltanschaulichen Überbau. Das beruhigt mich.

Der Abend liegt viele Jahre zurück. Meine eigene Entspannungsgeschichte begann einige Zeit später mit dem zunehmenden Bedürfnis nach Ausgewogenheit. Immer wieder nahm ich selbst an Kursen teil: progressive Muskelentspannung, autogenes Training, Achtsamkeit. Ich merkte: Es tut mir gut, zu lernen, wie die Entspannung im Kopf und im Körper ansetzt, bei den Gedanken und bei den Muskeln, bei der Körperwahrnehmung und -bewegung. Zunächst war ich von den positiven Auswirkungen für mich selbst angetan; heute macht es mir Freude, auch anderen Interessierten Wege zur Entspannung näherzubringen.

EINEN GUTEN RHYTHMUS FINDEN

Der Bedarf ist vorhanden. Wir müssen uns zurechtfinden in unserer Leistungsgesellschaft und dem Höher-schnellerweiter-mehr, das uns umgibt. Hohe Ansprüche, Selbstüberforderung und Erlebnisdichte gehen nicht spurlos an uns vorüber, reichen weit hinein in unser Familien- und Berufsleben, in Ehrenämter und Freizeitgestaltung. Da ist vielleicht der Chef, der unbedingt heute noch einen Bericht braucht. Gleichzeitig steht der Elternabend im Terminkalender, das Kind muss zur Klavierstunde gebracht werden und die Oma möchte ihren Einkauf erledigt haben. Das ist noch gut zu bewältigen, einmal, zweimal, dreimal. Auf Dauer können solche Anforderungen aber zu anhaltendem Stresserleben und Stresserkrankungen führen. Bei manchen Christen trägt auch ein hoher Leistungsanspruch, der in einer Gemeinde vermittelt wird, zur inneren Anspannung bei. Oder ein einseitiges Bild von einem fordernden Gott, das zu Fragen führt wie: DarfichmichalsChristeigentlichsointensivummich selbst kümmern? Soll ich nicht vor allem Gott und anderen Menschen dienen?

Schon auf den ersten Seiten der Bibel begegnet uns Gott als jemand, der arbeitet und etwas schafft – und dann ruht. Sechs Tage arbeiten, einen Tag ruhen – diesen Rhythmus hat Gott schon in der Schöpfung angelegt. Mit dem Geschenk unseres Körpers ermöglicht er uns beides: uns kraftvoll einzusetzen und wieder zur Ruhe zu finden. Die Fähigkeit

28 LYDIA 01/2023 KÖRPER & SEELE

zur Anspannung und die Fähigkeit zur Entspannung ist mir als Mensch in meiner Geschöpflichkeit mitgegeben. Die Bibel kennt die Rhythmen des Lebens, spricht davon, dass alles seine Zeit hat. Das Leben im Hier und Jetzt, ohne der Vergangenheit nachzutrauern und ohne mich um das Morgen zu sorgen, ist ein zutiefst christliches Anliegen. Jesus und seine Jünger erlebten in ihrem Alltag stressige Phasen, lebten unter der römischen Besatzungsmacht, waren umgeben von vielen Menschen, mussten sich Auseinandersetzungen stellen. Immer wieder suchten sie dann aber die Stille und den Rückzug.

ENTSPANNUNG IN DEN ALLTAG INTEGRIEREN

Heute können wir den gesunden Rhythmus von Anspannung und Entspannung wiederentdecken. Oft ist das nicht nur eine körperliche Angelegenheit, sondern fängt im Kopf an. Es beginnt bei den Gedanken, die um das kreisen, was uns von gestern noch nachgeht oder für morgen schon beschäftigt. Am wirkungsvollsten sind deshalb die Entspannungszeiten und -momente, die den Alltag durchziehen. Denn der anhaltende Stress eines ganzen Jahres wird nicht komplett durch ein Wellness-Wochenende oder einen zweiwöchigen Erholungsurlaub kompensiert. Wir dürfen lernen, uns im Alltag immer wieder zu entspannen und uns dann mit Kraft erneut unseren Aufgaben zuzuwenden.

Im Umgang mit konkreten Entspannungsmethoden und Kursangeboten kommen Christen in meinem Umfeld und mir selbst immer wieder Fragen: Welche Weltanschauung liegt dem Entspannungsverfahren zugrunde? Warum gibt es in unserem Kulturkreis offensichtlich eine Lücke, die mit fernöstlich oder esoterisch geprägten Ansätzen gefüllt wird? Wie lautet eine christliche Antwort auf das Bedürfnis nach Entspannung? Wie geht es mir als Christ in diesem Kurs, werde ich dort mit Inhalten konfrontiert, die mit dem christlichen Glauben unvereinbar sind, oder bin ich unguten Einflüssen ausgesetzt?

„Prüft alles und behaltet das Gute“, ermutigt Paulus (1. Thessalonicher 5,21). Prüfen, das heißt: nicht pauschal verurteilen, aber auch nicht naiv alles mitmachen. Weder möchte ich experimentieren mit den Mächten zwischen

Himmel und Erde, noch muss ich Angst vor ihnen haben. Das Prüfen wird uns von Gott zugemutet und zugetraut. Und auch, dass Christen dabei zu einem unterschiedlichen Ergebnis kommen.

ZUR RUHE FINDEN UND GOTT BEGEGNEN

Über die weltanschaulichen Hintergründe einer Methode mache ich mich im Internet kundig, zum Beispiel bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Ob ein konkreter Kurs dann mit oder ohne weltanschaulichen Überbau angeboten wird, hängt sehr von der Herangehensweise des Kursleiters ab. Ein Beispiel: Yoga wird oft als eine Art Gymnastik durchgeführt, und ich bewundere Menschen, die komplexe Yoga-Übungen schaffen, für ihre Körperbeherrschung. Ich selbst bin nur bis zu den einfachsten dieser wohltuenden Körperbewegungen und -haltungen vorgedrungen. Ob als Einsteigerin oder Fortgeschrittene: Die Lehre hinter der Yogapraxis kann ich mit meinem Glauben nicht vereinbaren, und wenn sie in einem Kurs offen oder subtil einfließen würde, wäre für mich eine Grenze überschritten. Ebenso, wenn immer wieder fragwürdige Begriffe wie kosmische Energien, Kräfte oder Schwingungen vorkommen.

Oder: Ein Achtsamkeitskurs, an dem ich teilnahm, wirkte von der Ausschreibung her neutral. Doch als alle Teilnehmer sich zu Beginn mit ihrem Sternzeichen vorstellen sollten, wurde mir mulmig. In diesem Rahmen war ich immer wieder gefordert, Stellung zu beziehen. Die Übungen konnte ich aber entspannt mitmachen und genießen. Beim autogenen Training stellte ich mir eine andere Frage: Ist es gerechtfertigt, als Christ mit Autosuggestion zu arbeiten? Lüge ich mir nicht selbst etwas in die Tasche, wenn ich mir den Satz „Ich bin ganz ruhig und gelassen“ vorspreche, obwohl er überhaupt nicht meinem aktuellen Erleben entspricht?

Dann erinnerte ich mich an Paulus, der in Römer 12,2 dazu ermutigt, unsere Gedanken zu erneuern. Und gerade den Gedanken, dass ich gelassen bin und mich wohlfühle in meiner Haut, kann ich durchaus mit meinem Glauben vereinbaren. Das Erleben stellt sich bei vielen Menschen mit

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KÖRPER & SEELE
Das Leben im Hier und Jetzt, ohne der Vergangenheit nachzutrauern und ohne mich um das Morgen zu sorgen, ist ein zutiefst christliches Anliegen.

Auf Umwegen zur Berufung

Als Jugendliche wünschte ich mir oft, so zu sein wie andere, die ohne Zweifel sagen konnten, dass sie einmal Ärztin oder Erzieherin werden wollten. Keins meiner Talente stach heraus. Musikalisch war ich, aber keine Vollblutmusikerin. Kreativität machte mir Spaß, aber nie so lange, dass ich darin aufgegangen wäre. Viele Jahre war ich unzufrieden mit meinen vielen „halben“ Stärken, mit denen keiner etwas anfangen konnte – vor allem ich nicht. Doch Gott hatte einen Plan.

FOTOS: privat
BERUF & GESELLSCHAFT 38 LYDIA 01/2023

Als ich mein Fachabitur hatte, machte ich eine Ausbildung als Kauffrau für Bürokommunikation. Ich arbeitete im Sekretariat einer Schule und liebte die Abwechslung, die ich dort hatte: den Kontakt zu unterschiedlichen Menschen, den Papierkram, die Organisationsaufgaben. Das waren alles Dinge, die mir lagen, und ich ging gern zur Arbeit. So vergingen einige zufriedene Jahre.

Eines Tages fühlte ich mich durch eine Predigt angesprochen, in der es um Talente ging. Ich spürte, wie Gott mich darauf hinwies, dass es bei mir ein Talent gab, aus dem ich mehr machen sollte: die Fotografie. Ich hatte schon immer eine Leidenschaft dafür gehabt, aber in meiner Unsicherheit wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, sie zum Beruf zu machen.

Ermutigt durch die Predigt, kontaktierte ich eine Hochzeitsfotografin aus meiner Stadt und fragte, ob sie sich vorstellen könnte, mich als Praktikantin mit zu ein paar Hochzeiten zu nehmen. Sie sagte zu, und so kam es, dass ich nach einiger Zeit ein Gewerbe anmeldete und in meine erste Selbstständigkeit schlitterte. Die Nebentätigkeit als Hochzeitsfotografin war erfolgreich – ich durfte viele Paare an ihrem schönsten Tag begleiten und liebte diese Arbeit, bei der ich mein eigener Chef war und eine kreative Abwechslung zum Büroalltag hatte.

Doch nach ein paar Jahren merkte ich, dass mich das alles nicht mehr ausfüllte. Normalerweise bin ich ein entspannter Mensch, aber vor jeder Hochzeit war ich wahnsinnig aufgeregt. So sehr, dass ich den Abend davor nicht mehr entspannt mit Freunden verbringen konnte und jedes Mal hoffte, dass die Hochzeit abgesagt wird, damit ich dort nicht hinmuss. Der Druck, den man als Hochzeitsfotografin hat, ist enorm. Kein besonderer Moment darf verpasst werden. Mit ein bisschen Abstand frage ich mich heute, wie ich das so viele Jahre ausgehalten habe. Im Rückblick erkenne ich, dass es mich darauf vorbereitet hat, was Gott später mit mir vorhatte.

EINE WEGWEISENDE FAHRT

Eines Tages war ich im Schulsekretariat gerade dabei, Unterlagen zu lochen und abzuheften, als ich eine innere Stimme hörte: DuverschwendesthierdeineTalente.Völlig überrascht von diesem Gedanken kam gleich ein Antwortgedanke: WelcheTalente?Ichbin dochimmerschonnichtsHalbesundnichts Ganzes gewesen! Tagelang dachte ich an diese Stimme und fragte mich, ob nicht doch etwas dran sein könnte. Da mir die Fotografie nicht mehr so attraktiv erschien, machte ich mich auf die Suche und durchforstete jede Stellenanzeigen-App nach einem Angebot, das mich ansprach. Ich redete viel mit meinem Mann darüber und auch mit Gott, aber es ergab sich nichts.

Einige Wochen später musste ich aufgrund eigener Schludrigkeiten in eine benachbarte Stadt fahren, um eine Kopie eines Dokuments abzuholen. Ich war genervt, dass ich den Weg auf mich nehmen musste, nur weil ich das Originaldokument verbummelt hatte und die Mitarbeiter mir dieses nur persönlich aushändigen konnten. Aber diese Fahrt sollte sich als wegweisend für mein weiteres Leben entpuppen.

Sie führte dazu, dass ich an einem Brautmodengeschäft vorbeikam, an dessen Schaufenster eine Stellenausschreibung hing: „Mitarbeiterin im Verkauf und Büro gesucht.“ Das war es! Ich spürte es tief im Herzen: Das war die Antwort auf den Gedanken, den ich damals im Büro gehabt hatte!

Mich hatten Brautkleider schon immer begeistert. Noch am selben Abend schrieb ich eine Bewerbung, und wenig später erhielt ich eine Einladung zum Vorstellungsgespräch.

Nach dem ersten Probearbeitstag kam allerdings die Ernüchterung: Ich liebte zwar die Aufgaben und all die schönen Kleider, aber ich konnte mich nicht so richtig mit dem Team anfreunden. Am Ende des Tages sagte mir die Chefin, dass ich die fachlichen Anforderungen zwar erfüllen würde, sie aber glaube, dass ich für so einen Job „zu lieb“ sei. Zu vorsichtig, zu ruhig, vielleicht zu unsicher.

Auch wenn sie mir ein paar Tage später den Job doch noch anbot, wollte ich nicht für jemanden arbeiten, für den ich mich verstellen oder dem ich etwas beweisen musste. Das fühlte sich nicht richtig an. Ich wollte ich selbst sein und genug sein, so, wie ich war.

DER BEGINN EINES TRAUMS

Die Enttäuschung nach diesem Erlebnis war groß, und ich fragte mich, wie das passieren konnte. Ich war so sicher gewesen, dass das Gottes Antwort für mich gewesen war. Und dann endete die kurze Reise so unbefriedigend. Wofür das Ganze?

Ich bewarb mich bei weiteren Geschäften, in der Hoffnung, dass es woanders klappen könnte. Leider erfolglos. Eines Abends saß ich auf dem Sofa und sagte zu meinem Mann: „Warum mache ich nicht mein eigenes Geschäft auf?“ Ja, warum eigentlich nicht? Ich begann, ein Konzept zu entwickeln: Welchen Stil hätten meine Kleider? Welche Bräute wären meine Zielgruppe? Welche Musik würde ich im Laden laufen lassen? An Ideen mangelte es mir nicht, aber ich merkte schnell, dass ich vom eigentlichen Business keine Ahnung hatte.

Als ich darüber nachdachte, wen ich um Hilfe bitten könnte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vor einigen Jahren, bevor ich meinen Mann heiratete, war ich schon einmal verlobt gewesen und hatte ein Brautkleid gekauft. Zur Hochzeit kam es allerdings nie – die Beziehung zerbrach. Als ich das Kleid zurückbrachte, war eine Mitarbeiterin im Geschäft, die ebenfalls gläubige Christin war. Sie bot bei der Verabschiedung an, für mich zu beten, was ich dankbar annahm.

Das fiel mir nun wieder ein. Ich machte die Frau ausfindig, und sie konnte sich tatsächlich noch an mich erinnern. Wir trafen uns auf einen Kaffee, und von ihr erhielt ich Antworten auf meine vielen Fragen zum Thema Brautmoden. Ich staune, wie Gott aus dem Zerbruch Jahre später so etwas Wunderbares entstehen lassen hat!

BERUF & GESELLSCHAFT 39 LYDIA 01/2023

Miteinander unterwegs

Als Paare

voneinander lernen

Sie sind über sechzig Jahre verheiratet. Morgens im Bett lesen sie gemeinsam die Bibel. Jedes Mal, wenn wir uns über den Weg laufen, versichern sie mir, dass sie im Gebet an mich denken. Wenn sie sich ein Glas Wasser einschenken, dann dem anderen immer zuerst. Täglich spazieren oder fahren sie ins Naturschutzgebiet. Dabei halten sie sich fest an den Händen.

Diese Geschichte mag wie ein Kinofilm klingen, doch es handelt sich um die Ehe meiner Nachbarn, die beide schon über achtzig Jahre alt sind. Sie wohnen im Erdgeschoss in dem Gebäude, in dem wir früher wohnten. Sie hatten nicht viel Geld und zogen ihre drei Kinder in

einer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung groß. Nie habe ich gehört, dass sie sich darüber beschweren. Als Teenie bin ich zu ihnen hinuntergegangen zum Saft-Trinken, Stricken, Kekse-Essen oder Herz-Ausschütten. Sie sind wie Ersatzgroßeltern für mich.

Nun wohne ich seit vielen Jahren nicht mehr in Hamburg, sondern mit meinem Mann in Hannover. Als wir uns kennenlernten, stand ein Kaffeetrinken bei diesem wunderbaren Ehepaar an. Ich kann mich genau daran erinnern, wie mein Mann nach dem Treffen ins Auto stieg und sagte: „So ein erfülltes Leben möchte ich in dem Alter auch haben.“

58 LYDIA 01/2023 FAMILIE & BEZIEHUNGEN

Als junges Paar auf langjährige Ehen zu schauen, macht hoffnungsvoll und dankbar. Dieses Paar ist zufrieden mit seinem Leben, und das ohne großen Wohlstand. Sie haben Gott und einander, und ihre Herzen sind voll.

MITTEN IM KONFLIKTFELD

In meinem Elternhaus erlebte ich die zerrüttete Ehe meiner Eltern. Streit, Hass, Wut und Bitterkeit, die dem anderen nicht vergeben wollte, waren Alltagsprogramm. Nach achtzehn Jahren getrenntem Leben sorgen die Konflikte meiner Eltern immer noch für Aufregung und Schmerz. Als Teenie habe ich mich zerrissen gefühlt im Konfliktfeld meiner Eltern. Auf wessen Seite sollte ich mich schlagen? Wer sagte eigentlich die Wahrheit? Wie konnte ich meine Eltern trösten? Mit Anfang zwanzig wurde mir klar, dass ich nichts damit zu tun hatte und nicht für meine Eltern da sein musste. Nun war es möglich, mich von ihren Konflikten abzugrenzen. Doch das fiel meinen Eltern nicht leicht. Nur weil ich beschloss, dass das nicht mein Thema und nicht meine Angelegenheit war, hieß das noch lange nicht, dass sie diese Grenze akzeptierten. Es folgte eine jahrelange Befreiungsaktion, heraus aus der brodelnden Konfliktküche meiner Eltern.

Aufeinander zugehen, das Gespräch zu zweit suchen, Konflikte klären, nach Frieden jagen und die Bereitschaft haben, an sich zu arbeiten –all das habe ich in meinem Elternhaus nicht erlebt. Doch mit zwölf Jahren fand ich zum Glauben an Jesus, und damit begann eine spannende Reise. Gott zeigte mir in der Gemeinde andere Ehen und Familien. Er sorgte schon damals für mich und meine heutige Ehe, indem er mir neue Vorbilder schenkte. Ich erlebte, wie die Eltern meiner Freunde sich auch nach zwanzig Ehejahren liebevoll begrüßten. Ich hörte von Paaren, die bereit waren, bei Herausforderungen in die Beratung zu gehen. Ich lernte Paare kennen, die für- und miteinander beteten und sich Zeiten im Terminkalender freihielten, um sich trotz des Alltagstrubels zu verabreden. So schenkte Gott mir sein Bild von Ehe, mitten im Schlachtfeld der Ehe meiner Eltern.

VON VORBILDERN LERNEN

Als mein Mann David und ich uns verlobten, beschäftigte uns nicht nur die Frage, wie wir ein wunderschönes Fest auf die Beine stellen konnten, sondern auch, wie wir uns gut auf diesen neuen Lebensabschnitt, die neuen Rollen und Aufgaben, vorbereiten konnten. Man braucht nur einen Blick in die Erziehungswissenschaft und Didaktik zu werfen, wie Menschen lernen. Sie lernen am Modell. Mein Mann und ich wussten, dass uns keiner vorgelebt hatte, wie wir eine glückliche Ehe führen könnten. Auch die Eltern meines Mannes sind nicht mehr verheiratet. Wir waren zwar frisch verliebt, aber uns war bewusst, dass auch Dopamin und Adrenalin im Blut nach einer Weile abgebaut werden. Und so suchten wir uns bewusst andere Lernorte.

Immer wieder staune ich, wie Menschen, die eine Fremdsprache lernen, manchmal sogar besser darin werden als Muttersprachler. Doch egal, mit wie vielen Regelwerken, Unterrichtsstunden und Hausaufgaben die Fremdsprache trainiert wird, nichts wird mehr empfohlen als die Auslandserfahrung. Sich zu umgeben mit Menschen, die die Sprache im Alltag sprechen, hat den stärksten und nachhaltigsten Lerneffekt für die weitere Nutzung der Fremdsprache.

FRAGEN, FRAGEN, FRAGEN Dieses Bild lässt sich übertragen, wenn wir gute Umgangsformen für unsere Ehe entdecken wollen. Uns war klar: Wir müssen Zeit mit Paaren verbringen, die die „Sprache“ einer gesunden Ehe sprechen. Daher verbrachten wir Zeit mit meinen älteren Nachbarn und quetschten sie mit Fragen über ihr gemeinsames Leben aus. Wir hielten auch die Augen offen: Von wem konnten wir etwas lernen? Wer hatte uns noch positiv geprägt? Wir erstellten eine Liste mit Paaren, die uns inspirierten. Dann entwickelten wir eine Strategie: Wir schrieben alle Fragen auf, die wir den Paaren stellen wollten. So entstand ein Interviewformat, das wir bis heute weiterführen. Folgende Fragen stellten wir den Paaren:

59 LYDIA 01/2023
FAMILIE & BEZIEHUNGEN
Als junges Paar auf langjährige Ehen zu schauen, macht hoffnungsvoll und dankbar.

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