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Schätze in der Dunkelheit
So, wie sich unsere Augen an einen dunklen Raum gewöhnen, können wir auch in Zeiten der Dunkelheit Neues erkennen –wenn wir bereit dazu sind.
Von Debora Sommer
Aus der grellen Sonne trat ich in den dunklen, fensterlosen Seminarraum. Es dauerte eine Weile, bis ich in der Dunkelheit einen Lichtschalter ertasten konnte. Leider blieb das Drücken des Lichtschalters – zuerst geduldig, dann zunehmend ungeduldiger – ohne Wirkung. So blieb mir nichts anderes übrig, als den Haustechniker zu informieren. Während ich auf ihn wartete, genoss ich den kühlen Raum, der einen willkommenen Kontrast zur Sommerhitze draußen bot. Zunächst stand ich eine Weile untätig im Dunkeln und wartete. Nach einigen Minuten hatten sich meine Augen jedoch so gut an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich mich problemlos im Raum orientieren konnte und daher begann, mich einzurichten. Als der Techniker nach einiger Zeit kam und das Licht wieder funktionierte, war ich mit meinen Vorbereitungen für das Seminar schon fast fertig. Was für eine faszinierende Fähigkeit unseres Sehorgans, sich an die Dunkelheit anzupassen!
In den vergangenen Monaten bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass nicht nur unser natürliches, sondern auch unser geistliches Sehorgan (in Epheser 1,18 ist von „Augen des Herzens“ die Rede) in der Lage ist, mit Gottes Hilfe eine Anpassung an die Dunkelheit vorzunehmen. Dies setzt allerdings voraus, dass wir bereit sind, die Dunkelheit in einem neuen Licht zu sehen.
WIE LANGE NOCH?
Am Anfang meines Weges zu einem neuen Verständnis von Dunkelheit stand die Erfahrung starker Schmerzen vor rund zehn Jahren. Sie wurden ausgelöst durch drei be- schädigte Nervenwurzeln im Lendenbereich im Zusammenhang mit einem Bandscheibenvorfall mit anschließender Operation. Ich fiel in eine tiefe Dunkelheit, aus der ich keinen Ausweg fand. David sprach mir aus dem Herzen: „Wie lange noch, Herr, willst du mich vergessen? Etwa für immer? Wie lange noch willst du dich vor mir verbergen? Wie lange noch muss ich unter tiefer Traurigkeit leiden und den ganzen Tag Kummer in meinem Herzen tragen?“ (Psalm 13,2–3)
„Wie lange noch?“ Diese Frage trieb mich um – wochenlang, monatelang, jahrelang. Ein Leben mit zermürbenden Schmerzen schien mir wenig lebenswert. Jede neue Abklärung, jede neue Therapie war wie ein Strohhalm, nach dem ich verzweifelt griff. Wiederholt wurde ich enttäuscht, bis ich schließlich in einer Erschöpfungsdepression landete.
Schmerzliche Dunkelheit
Chronische Schmerzen sind bis heute mein stetiger Begleiter. Dank regelmäßiger Schmerzinterventionen erfahre ich nach den Behandlungen jeweils für einige Wochen Schmerzlinderung, wofür ich von Herzen dankbar bin. Aber auch Phasen der Dunkelheit holen mich immer wieder ein. Und doch erlebe ich jene heute verändert. Nicht zuletzt deswegen, weil ich im vergangenen Jahrzehnt mit Gottes Hilfe einen heilsameren Umgang mit Zeiten der Dunkelheit, aber auch mit meiner Verletzlichkeit und Begrenzung gefunden habe. In meinem Fall war die Erfahrung von Dunkelheit stark mit meiner Schmerzsituation verwoben. Aber auch andere schmerzliche Erlebnisse können
Menschen in einen Zustand der Dunkelheit versetzen: der Verlust eines geliebten Menschen, Beziehungsprobleme, wirtschaftliche Nöte, eine körperliche oder seelische Erkrankung, Ängste, Einsamkeit, Ablehnung, Probleme am Arbeitsplatz und vieles mehr.
LERNEN,
Im Dunkeln Zu Gehen
Wegweisende Impulse für meine neue Sicht der Dunkelheit gab mir das Buch von Barbara Brown Taylor „Learning to Walk in the Dark“ (Lernen, im Dunkeln zu gehen). Ausgehend von frühchristlichen Gebeten und Texten zeigt die Autorin auf, dass Dunkelheit im Christentum – damals wie heute – oft einseitig negativ mit dem Bösen assoziiert wird, während das Gute im Gegensatz dazu in Verbindung mit Licht und Helligkeit steht. Ihre Impulse haben mich ins Nachdenken gebracht und dazu inspiriert, dem Thema tiefer auf den Grund zu gehen. Zunächst, indem ich selbstkritisch meine eigenen Glaubensüberzeugungen überprüfte. Weiter, indem ich mit anderen ins Gespräch kam und aufmerksam beobachtete, was im Zusammenhang mit der Dunkelheit in christlichen Kreisen gelehrt wird. Und schließlich, indem ich mich in der Bibel auf Spurensuche begab. Es dauerte nicht lange, bis mir bewusst wurde, dass auch meine Assoziationen mit der Dunkelheit fast ausschließlich negativ waren.
Dunkelheit Als Ort Der Gottesn He
Im Zusammenhang mit dem christlichen Glauben gehen einige so weit, dass Gott – mit Bezug auf Bibelstellen wie
1. Johannes 1,5 – einseitig dem Licht und Satan, als Gottes Gegenspieler, der Dunkelheit zugeordnet wird. Das ist in sofern problematisch, als dies die irrige Schlussfolgerung nahelegt, dass Gott in Zeiten der Dunkelheit abwesend ist. So fragen wir in Zeiten der Dunkelheit sehr schnell: „Wieso lässt mich Gott im Stich?“ „Wie kann er das zulassen?“ Wenn man sich 1. Johannes 1,5 jedoch genau anschaut, steht da lediglich: „Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.“ Dass keine Finsternis in Gott ist, bedeutet im Umkehr schluss jedoch nicht, dass Gott nicht auch nis gegenwärtig ist! Der gute Hirte wandert an der Seite seiner Schafe durchs dunkle Tal. Auch in der Finsternis ist Gott da. Nicht, weil er uns dabei helfen will, dieses dunkle Tal so schnell wie möglich hinter uns zu lassen, sondern um uns mitten in der Dunkelheit die Augen für geistliche Schätze zu öffnen.
SCHÄTZE DER DUNKELHEIT
Neulich stieß ich in der Bibel auf eine interessante For mulierung. Der Perserkönig Kyros wird von Gott auserwählt, um eine Zeit der Wiederherstellung für das Volk Israel einzuläuten. Ihm verspricht Gott in Jesaja 45,3, dass er ihm „Schätze der Dunkelheit“ geben werde, so heißt es wörtlich im hebräischen Grundtext. Diese Schätze sollen eine Bestätigung dafür sein, dass es der Gott Israels ist, der ihn beim Namen ruft. Auch wenn in der Geschichte von Kyros sicherlich von materiellen Schätzen die Rede ist, glaube ich, dass Gott dies auch in geistlicher Hinsicht in unserem Leben tun will.