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Titelthema
Demenz als Herausforderung Diagnose „Demenz“ – sorgfältige, individuelle Prüfung und Behandlung
Akute Verwirrtheit oder Demenz? Dies zu unterscheiden ist oft sehr schwierig. Für eine entsprechende Diagnosestellung sind deshalb gründliche und sorgfältige Untersuchungen entscheidend.
„Ich merk nichts mehr.“ So beschreiben Menschen ihr Gedächtnis, wenn sie die Erfahrung machen, sich nicht mehr auf ihr Erinnerungsvermögen verlassen zu können. Dabei ist das tatsächliche Vorliegen einer Demenz eher die Ausnahme, wenn ein Mensch so von sich spricht. Meist handelt es sich um andere Ursachen, die zu einer Einschränkung der Erinnerungsfähigkeit führen. Hierzu können beispielsweise Flüssigkeitsverlust, ungünstige Kombinationen von Medikamenten, Operationen, einschneidende Lebensveränderungen, Störungen der Schilddrüsenfunktion, Störungen in anderen Bereichen des Stoffwechsels oder Depressionen zählen.
Leben in der Vergangenheit
Menschen, bei denen tatsächlich eine Störung der Merkfähigkeit im Sinne einer Demenz vorliegt, beschreiben ihr Gedächtnis meist als einwandfrei. Erst im näheren Gespräch und im Zuge entsprechender psychologischer Testungen zeigt sich dann das Ausmaß kognitiver Defizite. Menschen mit Demenz sind in der Regel sehr bemüht, eine Fas-
Ein stabiles familiäres Umfeld unterstützt bei der Behandlung von Menschen mit Demenz.
sade von Intaktheit aufrecht zu erhalten. Das ist verständlich, da ein Verlust der Merkfähigkeit für die Betroffenen eine massive Bedrohung darstellt. Diese Bedrohung wird häufig unbewusst erlebt und ebenso unbewusst abgewehrt. Der Grund ist, dass alle Menschen tagein, tagaus unterschwellig damit beschäftigt sind, ihre Identität zu prüfen. Dieses Bedürfnis nach Selbstvergewisserung ist deswegen so stark, weil wir Menschen fortwährend Geschichten über uns erzählen. Geschichten, durch die wir uns schon seit vielen Jahren als Individuen identifizieren und wiederfinden und die erzählen, was für Menschen mit welchen Vorlieben und Abneigungen, Meinungen und Einstellungen wir sind. Lässt die Merkfähigkeit tatsächlich nach, hält der Mensch an früheren Geschichten fest. Diese Erinnerungen treten dann häufig so stark in den Vordergrund, dass die gesamte jüngere Lebensgeschichte ausgeblendet wird und die Geschichten aus der Vergangenheit für diesen Menschen identifikationsstiftend geworden sind.
Verwirrtheit vs. Demenz
Menschen zeigen sehr häufig Zeichen von Verwirrtheit, die mit einer Demenz nichts zu tun haben. Dies ist nicht an das hohe Lebensalter gebunden, sondern tritt regelmäßig auch bei jungen Menschen unter anderem im Zusammenhang mit Narkosen, Traumata und Schocksituationen, Vergiftungen oder Tabletteneinnahmen
auf. In jedem Alter ist die Diagnose der akuten Verwirrtheit sorgfältig von einer Demenz abzugrenzen. Die Unterscheidung ist oft ausgesprochen schwierig. Nicht selten werden solche Diagnosen ohne eine gründliche Untersuchung gestellt. Sogenannte Demenztests sind meist nicht in der Lage, eine Demenz sicher zu diagnostizieren. Sie können allenfalls eine Leistungsschwäche des Gedächtnisses zeigen, die jedoch keineswegs gleichbedeutend mit einer Demenz sein muss. Sehr entscheidend sind Angaben von Angehörigen und Freunden der Betroffenen und eine äußerst sorgfältige körperliche Untersuchung, die durch eine Reihe apparativer Untersuchungen vervollständigt werden kann.
Diagnosestellung und Aufklärung
Eine Demenz ist eine belastende Erkrankung, wenn auch nicht immer und in allen Stadien für die betroffenen Personen, so aber für Angehörige. Die Diagnose „Demenz“ ängstigt viele Menschen im Voraus, so dass sie sich nicht trauen, entsprechende Untersuchungen vornehmen zu lassen. Indes ist es immens wichtig, mit dieser Diagnose sehr sorgfältig umzugehen und Patienten wie auch Angehörige genauestens aufzuklären. Sehr häufig sind Fehldiagnosen und selten wird berücksichtigt, dass nahezu jede Demenzerkrankung umkehrbare und unumkehrbare Anteile hat. Bezüglich der unumkehrbaren Anteile einer Demenz muss die
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Behandlung versuchen, ein Fortschreiten zu verlangsamen. Dazu später mehr. Von größter Bedeutung sind die umkehrbaren Anteile der Erkrankung. Werden diese gut behandelt, kann sich ein Teil des Defizits im Gedächtnis zurückbilden, so dass damit auch ein Teil des alltäglichen Funktionsniveaus wiederhergestellt werden kann.
Beispiel 1
Herr Kaiser (Name geändert) war in seiner beruflich aktiven Zeit Geschäftsführer und Inhaber eines großen familiengeführten Industrieunternehmens. Mit seinen 90 Jahren erfreut er sich bester Gesundheit. Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortet er
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ohne zu Zögern und aus tiefster Überzeugung „Sehr gut!“. Allerdings fällt der Ehefrau und den Kindern auf, dass die Merkfähigkeit seit etwa fünf Jahren allmählich nachlässt. Mittlerweile ist das Kurzzeitgedächtnis so eingeschränkt, dass Herr Kaiser manche Sätze nicht zu Ende führen kann und regelmäßig den Faden verliert. Und doch sind viele Antworten mit tiefer Weisheit gefüllt. Auf seine Merkfähigkeit und Orientierung angesprochen, räumt er ein, dass es damit nicht zum Besten stehe. Dabei verfinstert sich sein Gesichtsausdruck kurz und flüchtig, nur um im nächsten Augenblick zu betonen, wie gut es ihm gehe. Es ist sehr bemerkenswert, dass für Herrn Kaiser Wohlbefinden und Gedächtnisleistung oder Orientierungsfähigkeit nicht verbunden sind! Seine Mobilität ist bemerkenswert gut, er läuft ohne Hilfsmittel wie Gehstock oder Rollator und macht sogar größere Spaziergänge, wenn er dazu eingeladen wird. Der Tag-Nacht-Rhythmus ist sehr gut. Kennzeichnend für Herrn Kaiser sind überaus stabile und unterstützende familiäre Strukturen. Die Ernährung ist vorbildlich und besteht aus frischen Lebensmitteln und nahezu keinen industriell verarbeiteten Mahlzeiten. Medikamentös wird lediglich der Blutdruck behandelt.
Der demenzielle Prozess verläuft sehr langsam, was kennzeichnend ist für Menschen, die ein solches Umfeld haben. Diese „unspezifischen“ Maßnahmen wie stabile soziale Verhältnisse, gute Ernährung, stimulierendes Umfeld und ausreichend Bewegung sind viel bedeutender, als alle „spezifischen“ Maßnahmen wie beispielsweise Medikamente.
Viel Bewegung wirkt sich positiv auf den Erkrankungsverlauf aus.
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Beispiel 2
Frau Stölzel (Name geändert) kommt in Begleitung ihres Ehemannes zur ambulanten Untersuchung. Sie ist in ihrem 75. Lebensjahr und weist ein sogenanntes Stoffwechselsyndrom auf: Blutdruck und Körpergewicht sind zu hoch, die Blutfette sind erhöht und sie hat seit gut 15 Jahren einen Diabetes mellitus Typ 2. Dem Ehemann sind seit etwa einem halben Jahr erhebliche Lücken im Gedächtnis aufgefallen. Frau Stölzel selbst ist bester Stimmung. Die Lücken in der Merkfähigkeit merke sie selbst nicht. Aber ihrem Ehemann zuliebe sei sie mitgekommen, um sich testen zu lassen. In der geriatrischen Institutsambulanz werden allerhand Gedächtnistests durchgeführt, die auf eine Demenz hinweisen. Die Patientin wird für weitere Untersuchungen stationär aufgenommen. Hierbei zeigt sich eine katastrophale Blutzuckerregulation mit einem Langzeitzucker von über 11 Prozent (sollte unter 6,1 Prozent liegen und entspricht einem durchschnittlichen Blutzuckerspiegel von circa 300 mg/dl). Weitere Untersuchungen folgen. Unter anderem zeigen sich auffällige Eiweiße im Gehirnwasser, die für eine Alzheimer Demenz typisch sind. Das Ehepaar wird über die Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten aufgeklärt und dabei die sehr wichtige Rolle der Ernährung in der Behandlung betont. Das Gehirn bei Menschen mit Alzheimer Demenz kann Zucker nicht gut verwerten. Viel besser kommt es mit mittelkettigen Fettsäuren zurecht. Eine Umstellung der Ernährung wird besprochen. Der Ehemann leidet selbst unter seinem Übergewicht und das Ehepaar, das einräumt, gerne zu naschen, beschließt, damit aufzuhören. Auf eine medikamentöse Behandlung der Demenz wird zunächst verzichtet.
Bei der Kontrolluntersuchung ein halbes Jahr später ist Frau Stölzel weiterhin bester Stimmung und kann nach wie vor keine Einschränkungen in ihrem Gedächtnis feststellen. Beide haben nach der Ernährungsumstellung deutlich Gewicht verloren. Der Langzeitzucker wird
kontrolliert und zeigt einen Wert von 6,7 Prozent, also nahezu einen Normalwert. Herr Stölzel ist der Ansicht, dass sich das Gedächtnis seiner Ehefrau in den vergangenen Monaten gebessert habe. Das klingt bei einer Demenz vom Alzheimer-Typ zunächst unwahrscheinlich. Die Testungen werden wiederholt und die Ergebnisse zeigen tatsächlich eine Besserung der Merk- und Aufmerksamkeitsfähigkeit, wenngleich weiterhin Defizite erkennbar sind. In einer weiteren Verlaufskontrolle nach sechs Monaten bestätigen sich diese Werte, so dass Frau Stölzel ihr Niveau sehr gut halten kann.
Dieser Verlauf zeigt, dass die schlechte Regulation des Blutzuckers offensichtlich das kognitive Defizit zusätzlich eingeschränkt hat. Nichtsdestotrotz ist eine Demenz vom Alzheimer-Typ wahrscheinlich. Allein die Ernährung kann hier zu einer entscheidenden Veränderung des alltäglichen Funktionsniveaus führen und so natürlich den gesamten Verlauf der Erkrankung massiv beeinflussen.
Fazit
Aus diesem Grund ist es entscheidend, dass Menschen mit vermeintlicher Demenz sehr individuell behandelt und untersucht werden, so dass sorgfältig geprüft wird, ob es sich tatsächlich um eine Demenz oder eine ganz andere Grunderkrankung handelt. Darüber hinaus muss unterschieden werden, welche Bereiche einer Gedächtnisstörung umkehrbar und welche Anteile unumkehrbar sind. Die unumkehrbaren Anteile einer Störung der Merkfähigkeit müssen vor allem mit allgemeinen Maßnahmen behandelt werden, zu denen insbesondere ein stabiles und anregendes Umfeld, eine gute Ernährung (vor allem frische Lebensmittel, eiweißreich, reich an „guten“ Fetten, Zurückhaltung mit Kohlenhydraten) und sehr viel Bewegung gehören. Erst wenn es gelingt, das umzusetzen ist es sinnvoll, auch medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten zu erwägen.
Dr. med. Eckard Krüger, M.Sc., Chefarzt der Abteilung für Akutgeriatrie und Frührehabilitation, Klinik Naila
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