Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion

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„Kennscht mich noch“ (Kennst mich noch) - Malerei von Franz Ferch

Banater Bibliothek 13 • Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion

Lavinia Betea | Cristina Diac | Florin-Răzvan Mihai | Ilarion Ţiu

Der weite Weg ins Ungewisse

Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion Herausgegeben von der Landsmannschaft der Banater Schwaben e. V.


Dolomitsteinbruch von Ilionowka Malerei in Erinnerung an die Russlanddeportation von Franz Binder Kriwojrog - Malerei in Erinnerung an die Russlanddeportation von Franz Binder

„Der ewige Begleiter“ (Ausschnitt) und „Lager 1802“ (Ausschnitt) Malereien in Erinnerung an die Russlanddeportation von Anton Ferenschütz


Lavinia Betea, Cristina Diac Florin-Răzvan Mihai, Ilarion Ţiu

Der weite Weg ins Ungewisse

Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion Übersetzung aus dem Rumänischen: „Lungul drum spre nicăieri Germanii din România deportați în URSS“

Banater Bibliothek 13 Herausgegeben von der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.


Lavinia Betea, Cristina Diac, Florin-Răzvan Mihai, Ilarion Ţiu „Lungul drum spre nicăieri Germanii din România deportați în URSS“ Wissenschaftliche Referenten: Universitätsprofessor Dr. Miodrag Milin Universitäts-Dozent Dr. Silviu Miloiu Technoredaktion: Claudiu Florin Stan Redakteur: Dan Margarit Korrektur: Mirela Ivan Nobel Umschlag: Dan Margarit Grafik: Anton Ferenschütz ISBN 978-606-537-130-9 (Originalausgabe in rumänischer Sprache) Editura Cetatea de Scaun, Târgovişte, 2012 Das Buch erschien im Rahmen des Projekts „Die Erinnerung an die Zwangsarbeit der in die UdSSR deportierten Deutschen aus Rumänien“, finanziert von der Europa-Kommission durch das Programm Europa für die Bürger (Projekt Nr. 2011- 3342 / 001-001)

Übersetzung in der Buchreihe Banater Bibliothek 13 Übersetzung von Mitgliedern der HOG Billed Koordination: Werner Gilde Übersetzer: Jakob Mager Elisabeth Martini Hermine Schnur Werner Tobias Werner Gilde Lektorat: Elisabeth Martini Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Hans Rothgerber Reproduktionen U1, U4: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Bestellungen und Kontakt Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Karwendelstr. 32, D-81369 München Tel.: +49 (0)89 23 55 73–0 Fax: +49 (0)89 23 55 73–10 Email: landsmannschaft@banater-schwaben.de www.banater-schwaben.org


Vorwort Im Jahre 1995 hatte die Landsmannschaft der Banater Schwaben gemeinsam mit der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen, dem Haus des Deutschen Ostens München und den anderen Landsmannschaften der Deutschen aus Südosteuropa zum ersten Mal eine große öffentlichen Gedenkveranstaltung organisiert, zu der Tausende von Betroffenen und deren Angehörige gekommen waren. Wissenschaftler diskutierten über die Ursachen der Verschleppung, ehemalige Deportierte erinnerten sich öffentlich, eine Ausstellung mit Zeugnissen der Deportation wurde gezeigt, im Liebfrauendom in München wurde der Opfer gedacht. Die Veranstaltung fand ein breites Echo in der Presse und provozierte eine intensive Beschäftigung mit diesem unbekannten Kapitel Nachkiegsgeschichte. Betroffene fingen an ihre Erinnerungen niederzuschreiben und zu veröffentlichen. Die Kapitel trugen Überschriften wie „Zwei Brote und drei Fische für ein Paar Ohrringe“, „Von der Schulbank in den Schacht“, „Fünf verlorene Jugendjahre“, „Pferde- und Hundefleisch gegessen“, „Für 71 Tote das Grab geschaufelt“ oder „Der Vater in Deutschland, die Mutter in Russland, die Kinder in Rumänien“. Es entstanden dokumentarische Filmbeiträge, erste wissenschaftliche Veröffentlichen sorgten für Aufsehen, ehemalige Deportierte fuhren zu den Stätten des Leids, sammelten sich nach ehemaligen Lagerorten und auch die Politik besann sich ihrer Verantwortung: Die rumänische Regierung entschuldigte sich offiziell für das an ihren damaligen Staatsbürgern begangene Unrecht und bat die Leidenden von damals um Vergebung. Mit dem Erscheinen des Romans „Atemschaukel“ von Herta Müller, das Buch wurde in über 40 Sprachen übersetzt, erreichte das Thema der Deportation die internationale Öffentlichkeit. Vor drei Jahren traten junge rumänische Wissenschaftler an die Landsmannschaft der

Banater Schwaben heran, um uns als Kooperationspartner eines von der Europäischen Union finanzierten Forschungsprojektes zur Deportation zu gewinnen. Sie suchten Zeitzeugen und führten Interviews mit Betroffenen und deren Nachkommen in Rumänien und in Deutschland. Im Mittelpunkt der Fragen standen die Ereignisse und Abläufe der Deportation, aber auch Einstellungen, mündliche Überlieferungen und Werthaltungen. Den Auswertungen der Interviews folgte eine wissenschaftliche Tagung in Arad sowie ein Band mit einer historischen Einführung und den Interviews in rumänischer Sprache. Hier wird er zum ersten Mal in deutscher Sprache vorgelegt. Seit der ersten großen öffentlichen Veranstaltung von 1995 sind mittlerweile 20 Jahre vergangen und es ist mittlerweile vornehmlich die Generation der Kinder und Enkel jener Gezeichneten, die Fragen nach der Einordnung dieser Ereignisse in ihren Biographien, aber auch in der Geschichte unserer Gemeinschaft stellt. Wir wollen sie zum Anlass nehmen, um stets daran zu erinnern, dass Menschenrechte universale Rechte sind, die nie zur Disposition stehen dürfen. Nicht zuletzt stellen wir fest, dass auch mit diesem Buch an die Großfamilien jener Zeit gedacht wird, die wie ein Netz die zurückgebliebenen Kinder und Alten auffingen und in ihrer Obhut behielten. Die Landsmannschaft der Banater Schwaben bedankt sich bei den Zeitzeugen innerhalb unseres Verbandes, die bereit waren, freimütig über ihre Leidensgeschichte zu berichten. Ebenso sei an dieser Stelle den Angehörigen der Heimatortsgemeinschaft Billed: Werner Gilde, Jakob Mager, Elisabeth Martini, Hermine Schnur, Werner Tobias und Hans Rothgerber gedankt, ohne deren ehrenamtliche Arbeit dieser Band nicht hätte erscheinen können. Peter-Dietmar Leber Bundesvorsitzender


4 Inhalt Vorwort.............................................................................................................................................3 Bildteil...............................................................................................................................................4 1. Erinnerungen an die Deportation Lavinia Betea, Cristina Diac, Florin-Răzvan Mihai, Ilarion Ţiu...........................................13 2. In Reschitza, ein Hindernis im Wege des Vergessens…, Erwin Josef Ţigla.................32 3. Ein Ereignis aus vier Sichtweisen Reschitz - Zusammenfassung der Erinnerungen, Lavinia Betea.............................................35 Vom Nazi-Hakenkreuz zum kommunistischen Bekenntnis, Anton Ferenschütz (D)............38 Die Therapie des Vergessens, Maria Ferenschütz (Deutschland).............................................56 Die Bücher der Deportation, Voichiţa Ferenschütz (Deutschland)...........................................57 Deportation, eine Geschichte ausgegraben nach 1990, Ştefan Raicu (Rumänien).................57 4. Das Gedächtnis der Deportierten Dort habe ich meine erste Predigt gehalten, Ignaz Bernhard Fischer.....................................59 Der Fall Maria Aşembrener, Alexandra Şandru.........................................................................62 Für unsere Sünden haben sie uns weggebracht..., Rozalia Buttinger (Rumänien).................71 Ich wurde in der Sowjetunion geboren und kenne meinen Vater nicht, Ana Szucs (R)........74 Ich war zwanzig Jahre alt und wusste nicht, wo ich hin komme, Elena Becker (R).............75 Wir lebten den ganzen Winter in einem Wagon und waren voll mit Kopfläusen, Maria Frombach (Rumänien)...........................................................................77 Ich wurde krank und sie haben mich nach Hause geschickt, Rita Peter (Rumänien)............78 Ich habe mich für einen Verbleib von zwei Wochen vorbereitet und bin fast fünf Jahre weggewesen, Ana Zgardea, geborene Feil (Rumänien)...........................................79 Dort habe ich gelebt und meine große Liebe verloren, Rozalia Bruner (Rumänien).............82 Ich habe meinen Koffer mit Kleidern dem Arzt gegeben, damit er mich herzkrank schreibt Ana Mikowz (Rumänien)......................................................83 Das menschliche Schicksal ist in Gottes Hand, Gabriela Heiveis (Rumänien)......................84 Ein Cousin ist dort gestorben, Alois Weil (Rumänien)...............................................................85 Ich hatte weder Uhr noch Kalender, Magdalena Maria Geier (România)..............................87 Die Hunde haben unsere, im hart gefrorenen Boden schlecht begrabenen Toten angefressen, Rounald Wiest (Rumänien)......................................................................................88 Nicht viele mussten das durchleben, was ich erlebt hab, Ianos Krcsmar (Rumänien)..........91 Was habe ich in Rumänien Böses getan, dass man mich aus meinem Land vertreiben musste?, Ecaterina Coman, geb. Klein (Rumänien).................................................96 Sie starben an schlechtem Tabak, Blut im Stuhl und Schwermut, Victoria Szitka, geb. Netzer (Rumänien)...............................................................105 Mich haben die Rumänen geholt, Elisabeth Hoch, geborene Loris (Deutschland)..............109 Mehr Geld bekam man für Kleidung als für Ohrgehänge, Ana Bauer, geb. Graf (D)......... 112 Die Beziehungen zu den Russen waren Glückssache, Barbara Klug (Deutschland).......... 114 Fünf Jahre im Donezbecken, Matilda Jica, geb. (Rumänien)................................................. 115 Zurück in die Heimat mit dem ersten Krankentransport, Ana Lungu, geb. Kungl (R)........125 Wir mussten vom ersten Tag an arbeiten, Anna Leinhardt (Deutschland)............................131 Eine ungewöhnliche Heimkehr, Elisabeth Maltry, geb. Glassmann (Deutschland).............133 Der Fluch des Volkskommissars: „Er soll hier sterben!”, Johann Noll (Deutschland).......137 In einer Mine, 320 m tief, Katharina Gillich, geborene Seidl (Deutschland)........................142


5 Inhalt Mein Glück war es, dass ich schnell ihre Sprache lernte, Nikolaus Barthold (D)...............146 Ich wurde in ein Straflager gebracht, weil ich Weihnachtslieder gesungen hatte, Hans Bohn (Deutschland)................................................................................149 Ich kam ins Krankenhaus, nachdem ich in der Kohlengrube mit einem Pferd zusammengestoßen bin, Franz Engel (Deutschland)...............................................................154 Im Lager fraßen uns die Läuse und die Wanzen fast auf, Mihai Butto (Deutschland)........160 Während des Transports ist mein Bein erfroren, das mir dann mein ganzes Leben lang Kummer bereitet hat, Elisabeta Rudolf (Deutschland)........................................163 Ein Leben lang von Menschen in Uniform terrorisiert, Anna Frombach (Deutschland)....165 Im Lager, in dem sie uns untergebracht hatten, glänzte Eis von den Wänden, Ana Marina (Rumänien)......................................................................................165 Wir hatten Angst, die Wölfe kommen und holen die Leichen, Adela Supercean (R)..........166 5. Die Erinnerungen der Söhne Die Kinder aus dem Ural: geboren im Lager von Swerdlowsk, Elfrida Chvoika, geborene Ruttar (Rumänien)...................................................168 Die Eltern sind in die Deportation gegangen und haben zwei Kinder zu Hause gelassen…, Johann Metzger (Deutschland)..............................................................173 Meine Mutter hat meinen Vater in der Deportation kennengelernt und ich bin die Frucht ihrer Liebe…, Stefan Mlynarzek (Deutschland)........................................175 Meine Eltern haben sich während der Verschleppung kennengelernt…, Martin Seifer (Rumänien).............................................................................177 Ich war in der Schule, als der Briefträger mir die Nachricht gab, dass Mutter zurückkommt, Georg Safenauer (Deutschland)..................................................179 6. Die Erinnerungen der Nachfahren Brotkrümel, Emanuella-Luisa Schneider Kevelaer (Deutschland).........................................181 So oder so wird meine Schwester nicht mehr aufwachen…, Juliane Becker, geb. Weber (Deutschland)........................................................184 Das Vertrauen in den rumänischen Staat wurde durch diese Repressionsmaßnahme erschüttert, Walter Tonţa (Deutschland)...........................................186 Die ehemaligen Deportierten nannten meine Oma „Engel von Schimand”…, Karin Reinert (Deutschland).........................................................187 Als meine Großmutter von der Deportation zurückkam, ging es ihr noch schlechter, Erika Renz (Deutschland)............................................................191 Die Deutschen aus dem serbischen Banat waren bis 1959 in Sibirien, Mansfeld Rüdiger (Deutschland)................................................................................................192 7. Das Gedächtnis der Interviewer Lebendes Beispiel, Paula Vesa (Rumänien)..............................................................................193 Erinnerungen, Gefühle und Resignation, Andrada Bejan (Rumänien)..................................194 Menschen, die die Geschichte weitererzählen, Anamaria Merce (Rumänien).....................194 8. Das Gedächtnis der Dokumente Leitfaden des Interviews - Anlage 1.........................................................................................195 Memorandum - Anlage 2............................................................................................................195 Denkschrift - Anlage 3 . .............................................................................................................196 Reproduktionen von Entlassungsscheinen...............................................................................228


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Inhalt

Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen als Zwangsarbeiter im Bergbau Foto: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Billeder Zwangsarbeiter im Donbass. Oben: Johann Weiß, Josef Ballmann, Wilhelm Krier, Johann Dugonitsch, Karl Packi, Peter Schmidt; Mitte: Anton Hell, Peter Slawik, Elisabeth Schwendner, Heinrich Slawik, Josef Werle; Unten: Anton Vollmer, Jakob Krier, Georg Römer. Foto: Archiv der HOG Billed


Inhalt

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Schwester und Mutter am Grab von Theresia Frambach (Temeswar) im Sommer 1946 außerhalb des Lagers in Nowotroizk, wo die verstorbenen Zwangsarbeiter verscharrt wurden. Es war ihnen möglich, ihrer „Resi“ einen Hauch von Würde in der Erinnerung als Verstorbene, zu verleihen: Trotz Verbot konnten die Deportierten diese Aufnahme erstellen lassen. Banater Schwaben und Sathmarer Schwaben als Zwangsarbeiter im Bergbau Foto: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.


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Inhalt

Deportierte aus Jahrmarkt nach ihrer Ankunft im Heimkehrerlager Frankfurt/Oder Die durch Krankheiten und Unterernährung arbeitsunfähigen Zwangsarbeiter wurden von den Sow­jets bis 1948 in die Ostzone (spätere DDR) transportiert. Dieselben Deportierten vor ihrer Entlassung aus dem Lager als Staatenlose in die Ostzone, da sie offiziell nicht nach Rumänien in ihre Heimatorte zurück durften.


Inhalt

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Peter Janosch aus Darowa (links) als Zwangsarbeiter zusammen mit einem russischen Arbeitskollegen 1949 im Bergbau. Foto: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.


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Inhalt

Theaterauff端hrung im Juli 1949 in Stalino (heute Donezk). Im 5. Jahr der Deportation hatte sich der gesundheitliche Zustand der Zwangsarbeiter erheblich verbessert und es gab Kulturprogramme - freilich auch mit dem Hintergedanken der kommunistischen Erziehung. Das seltene Foto zeigt Banater und Siebenb端rger Deutsche bei einer Inszenierung deutscher Kriegsgefangener. Im Hintergrund das Lagergeb辰ude. Einsender des Fotos: Katharina Fedl, geb. Frambach Ein Tag vor ihrer Heimreise. Deportierte aus dem Lager Volodka. Einsender des Fotos: Ferdi足 nand Pikula - Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.


Inhalt

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M채dchen aus Alexanderhausen in ihren Sonntagskleidern in der Deportation 1948 Obere Reihe: Greti Brunner, Lissi Hopfentaler, Mariechen Ballmann, Barbara Assmann. Untere Reihe: Lissi Schmidt, Lissi Kutschera, Barbara Schmidt, Gerti Jakobi, Katharina Thierjung. Einsender des Fotos: Margarethe Ghida, geb. Brunner - Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. Bahngleisarbeiterinnen in Stalino am 24.07.1949. Banater- und Siebenb체rger M채dchen und Frauen in Sonntagskleidern mit gleichen, von Ana Frambach selbstgeschneiderten Kopft체chern, einige Monate vor ihrer Entlassung. Einsender des Fotos: Katharina Fedl, geb. Frambach



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Erinnerungen an die Deportation Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

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ie Erinnerung an die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion wurde vorwiegend in deren Gemeinschaft festgehalten. Nach 1990 haben die Lokal-Foren der Rumäniendeutschen, jedoch auch die Vereine aus Deutschland, einige Bücher mit den Erinnerungen der Deportierten herausgegeben1. Weniger in der rumänischen Geschichtsschreibung behandelt, kann das Thema heute neu bewertet werden mittels der in mehreren Archiven bewahrten Dokumente2. In den Jahren 1944-1945 haben die sowjetischen Entscheidungsträger als eine Form der Kriegsschäden-Reparation die Deutschen aus der Sowjetunion, aus Rumänien, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Bulgarien, Ungarn in den Donbas und den Ural deportiert. Trotz der Proteste der Radescu-Regierung wurde die Maßnahme in den Monaten Januar-Februar 1945 auch in Rumänien durchgeführt. Etwa 70.000 Sachsen aus Siebenbürgen und Schwaben aus dem Banat zwang man unter unmenschlichen Bedingungen, ohne ärztliche Fürsorge, schlecht ernährt und geklei1 Doru Radosav „Donbas. O istorie deportata“, Ravensburg, Landsmannschaft der Sathmarer Schwaben, 1994; Hermann Rehner „Wir waren Sklaven. Tagebuch eines nach Russland Verschleppten“, Sibiu, Eigenverlag, 1993; „Russland-Deportierte erinnern sich. Schicksale Volksdeutscher aus Rumänien (1945-1956), Bucuresti, Editura „Neuer Weg“, 1992; George Weber „Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949, Köln, Böhlau, 1995 2 Arhivele Nationale Istorice Centrale (ANIC): CC al PCR- Sectia Organizatorica, Directia Generala a Politiei, MAI – Directia Administratiei de Stat; Arhiva Consiliului National pentru Studierea Arhivelor Securitatii (ACNSAS), Fond Dokumentar

det, in Kohlengruben, Steinbrüchen, Kolchosen und auf dem Bau zu arbeiten. Die Deutschen in der Sowjetunion die ersten Deportierten Der Leidensweg der Deutschen aus Zentralund Osteuropa wurde angekündigt durch die in der Sowjetunion zeitgleich mit der Eröffnung der Ostfront im II. Weltkrieg durchgeführten Maßnahmen. Am 28. August 1941 haben die Sowjets – als vorbeugende und unkriegerische Maßnahme, wie man behauptete – ein Dekret erlassen, wonach die deutsche Bevölkerung der Sowjetunion, etwa 1,2 Millionen Menschen, nach Sibirien und Kasachstan umgesiedelt wurde. Laut Dekret durften die Deportierten Güter von maximum 200 kg mitnehmen, bzw. 1 Tonne je Familie. In jedem Zug sollte ein Wagen für das medizinische Personal – bestehend aus einem Arzt und zwei Schwestern – vorhanden sein. In der Realität wurden diese Vorgaben nicht respektiert3. Die Deutschen hatten höchstens zwei Stunden zur Verfügung, um Kleidung und Nahrungsmittel von absoluter Dringlichkeit zusammenzupacken. Den Meisten wurde verweigert, Proviant für einen Monat mitzunehmen. Aus der Verbannung, zu der sie der Sowjetstaat zwang, kehrten sie bis zum 13. Dezember 1955 in mehreren Wellen zurück. Gegen Ende des II. Weltkrieges erfolgte die zweite Deportations-Welle der Deutschen aus der Sowjetunion. Leidtragende waren die von den Behörden des III. Reiches in den Westen verfrachteten Deutschen. Sie wurden gegen ihren Willen „repatriiert“ und 3 Irina Mukhina, „The Forgotten History. Ethnic German Women in Soviet Exile,1941-1955, in „Europe-Asia Studies“, Vol.57 Nr.5 (Jul.2005, S. 731-732


14 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive zur Zwangsarbeit eingesetzt. Das waren zwi- Der sowjetische Vorschlag wurde im Oktoschen September und Dezember 1941 in La- ber 1944 durch Ivan Mihailovici Maisky, Sogern und Sonderkolonien internierte 203.706 wjet-Botschafter in Großbritannien, auf diSowjetdeutsche4. Gleichzeitig wurden auch plomatischem Wege wieder aufgenommen. die Deutschen aus den unter den Einfluss Seit dem Vordringen der russischen Solder Roten Armee geratenen osteuropäischen daten in den Balkan ergaben sich auch die Ländern deportiert, was als dritte Deportati- Hebel zur Durchführung dieses Beschlusses. onswelle gilt. Am 23. August 1944 hat Rumänien die WafSchon ab 1943 hatten die Sowjets die Ab- fen gegen die Staaten der Achse gekehrt, insicht, die Deutschen beim Wiederaufbau der dem es Marschall Ion Antonescu stürzte. Wirtschaft einzusetzen als WiedergutmaErst in der Nacht vom 12. zum 13. Sepchung der durch die Nazi-Invasion verurs- tember 1944 wurde der Waffenstillstand achten Schäden. zwischen Rumänien und den Alliierten unProfessor Eugen Samuilovici Varga, mar- terzeichnet, durch den dem Kriegsgeschehen xistischer Ökonomist ungarischer Herkunft, zwischen den Unterzeichnern ein Ende geChef eines Moskauer Instituts für Polit-Öko- setzt wurde. nomie, gehört zu den Ersten, die diese HypoGemäß dem unterzeichneten Übereinkom­ these verbreiteten. men wurde durch den Artikel 18 desselben Ähnliche Forderungen wurden auch sei- die Verbündete Kontroll-Kommission (CAC) tens anderer Staaten gestellt, die durch den gegründet, die der Hohen Sowjet-Kommanvon Adolf Hitler ausgelösten Krieg betroffen datur unterstellt war. In der Folge spielte diewaren wie Frankreich, Belgien und Holland. se Institution eine sehr wichtige Rolle bezügSelbst in Fern-Ost, in China und Korea, gab lich der militärischen und politischen Akties Stimmen, die die Japaner zum wirtschaft- onen des rumänischen Staates. lichen Wiederaufbau forderten5. Im Herbst 1944, nachdem die Rotarmisten Am 9. Oktober 1943 erinnerte Maxim Ma- nach Siebenbürgen und ins Banat vorgedrunximovici Litvinov, stellvertretender Volks- gen waren, wurden die Deutschen – je nach kommissar für Äußeres, in der Note „Die ihrer politischen Tätigkeit in der VergangenBeziehungen zu Deutschland und anderen heit – in mehrere Kategorien unterteilt. Die feindlichen Ländern Europas“ an die Mög- Mitglieder der deutschen militärischen Orlichkeit der Kriegsentschädigungen seitens ganisationen (Waffen-SS, die OrganisatiDeutschland durch den Einsatz der deut- on „Todt“) kamen in Gefangenen-Lager, die schen Bevölkerung zum Wiederaufbau6. ohne politische und militärische Tätigkeit wurden zum Gemeinnutz eingesetzt: zum 4 Ibidem, S. 734; J. Otto Pohl, Ethnic Cleansing Ausheben von Schützengräben, Freilegen in the USSR, 1937-1949, West-port, Greenwood bestimmter Orte, im Transport, in der LandPublishing Group, 1999, S. 46 wirtschaft, im Wege- und Schienenbau. In5 Paul Fisher, Reparation Labor. A Preliminary folge der schweren Arbeitsbedingungen erAnalysis, in „The Quarterly Journal of Econo- krankten viele von ihnen. mics“, Vol.60, Nr. 3 (May, 1946) S. 314 „Was jedoch noch schlimmer war, war der Umstand, dass die Familien dieser zur Ar6 Hannelore Baier, „Departe, in Rusia, la Stalino. beit für den Staat Ausgehobenen den größAmintiri si documente cu privire la deportarea in ten Entbehrungen, ja selbst dem Elend ausUniunea Sovietica a etnicilor germani din Romania (1945-1950)“, Bucuresti, Intergraf, 2003, S.19 gesetzt waren, weil der Staat ihre Arbeit nicht


15 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive entlohnt hat“7, wird in einer von der Gemein- ster Constantin Visoianu am Vortag greatschaft der Deutschen verfassten Denkschrift ly disturbed (tief ergriffen, schockiert) vom präzissiert. russischen General Vladislav Petrovici Vinogradov, Vizevorsitzender der C.A.C. eine Jugoslawien, Ungarn, Rumänien Anforderung erhielt. Strengstens wurde die Etwa 13.000 Deutsche aus Jugoslawien wur- rumänische Regierung aufgefordert, bis 15. den schon im Oktober-November 1944 in Januar 1945 Listen mit den deutschen Bürdie Sowjetunion deportiert. Rumänien hat gern zusammenzustellen, um diese in die die Deportationen erst im Januar 1945 be- Sowjetunion zu schicken. Für den Transgonnen. In der am 12. September 1944 be- port verlangte Vinogradov 5.000 Waggons. schlossenen Waffenstillstands-Konvention In seinem Telegramm vermerkte Berry, dass war keine gegen die Deutschen gerichtete die rumänische Exekutive gegen diese ForMaßnahme vermerkt, obzwar es Zeitgerüch- derung protestiert hat, die in der Waffenstillte gab, dass die Deportation in einer Geheim- stands-Konvention nicht vorgesehen war. Klausel vorgesehen war8. Am 4. Januar 1945 hat selbst Nicolae RadeAm 16. Dezember 1944 hat das Staats- scu, Vorsitzender des Ministerrats, mittels einer komitee der Sowjetverteidigung die Order persönlichen Mitteilung Berry das Geschehnis Nr. 7.161 erlassen, durch die die deutschen bestätigt9. Anfangs hat sich die rumänische ReMänner zwischen 17 und 45 Jahren bzw. die gierung dieser drastischen Maßnahme widerFrauen zwischen 18 und 30 Jahren aus meh- setzt, indem sie drei Argumente anführte: ökoreren ost- und mitteleuropäischen Ländern: nomische, humanitäre und gesetzliche (sie Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien war in der Waffenstillstands-Konvention nicht und der Tschechoslowakei deportiert werden vorgesehen).10 sollten. Am 6. Januar 1945 hat die Alliierte-KontrollDie Forderung der Sowjets bezüglich der Kommission die Order Nr. 031 verabschiedeutschen arbeitsfähigen Bevölkerung hat det, die der Regierung Rumäniens überreicht die rumänischen Behörden überrascht. Ein- wurde, durch die die Mobilisierung zum Arzelheiten über die Reaktion der Nicolae- Ra- beitsdienst der deutschen Bevölkerung (Mändescu-Regierung gibt es aus der Korrespon- ner zwischen 17 und 45 Jahren, Frauen zwidenz der in Bukarest akkreditierten amerika- schen18 und 30 Jahren) gefordert wurde. Eine nischen Diplomaten. einzige Ausnahme wurde gebilligt für die MütAm 4. Januar 1945 schickte Burton Ber- ter, die Kinder unter 1 Jahr in Pflege hatten11 ry, der Gesandte der Vereinigten Staaten von Amerika in Rumänien, dem Staatsse- 9 United States Department of State, Foreign Relakretär ein Telegramm nach Washington. Er tions of the United States: diplomatic papers, 1945. schrieb, dass der rumänische Außenmini- General: political and economic matters, Vol.II, 7 Memoriu asupra situatiei politice, juridice si economico-sociale a minoritatii germane din Romania (sasii si svabii)“, aprilie 1946, A.N.I.C., Sectia Organizatorica, Dosarul 27/1946, f. 23 (Anexa 3) 8 G. Castellan, „The Germans of Rumania“, in „Journal of Contemporary History“, Vol. 6, Nr.1, Nationalism and Separatism (1971), p. 67

1945, S. 1.238. Zu Rate gezogen am 30. 04. 2012, http://digital.library.wisc.edu/1711.dl/FRUS. 10 Ibidem, S. 1.241

11 Mircea Rusnac, Deportarea germanilor in URSS (1945). Cu referire speciala la Banat (II. 2) 22. Juli 2009, http://www.vestul.ro/stiri/1349/ deportarea-germanilor-in-uniunea-sovietica%281945%29-cu-referire-speciala-la-banat%28ii-2%29.htm.


Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Formale Proteste Die Durchführung erfolgte gemäß den In dieser Zeit übten die Vertreter der deut- CAC- Vorgaben. In jeder Kreisstadt koordischen Gemeinschaft, Hans Otto Roth und Ru- nierte ein von Polizei und Staatsbehörden undolf Brandsch sowie I.Constantinescu, Vorsit- terstützter Sowjetoffizier das Zusammentreizender der Nationalen Gesellschaft des Roten ben. Die Deutschen wurden den Gendarmen Kreuzes, Druck auf die Regierung aus, die übergeben und zu den Sammelplätzen (SchuAusführung dieser Maßnahme zu verweigern. len, Kulturheime, Lyzeen) in Städten und Am 13. bzw. 15. Januar 1945 ließ sogar der großen Gemeinden, in der Nähe der Eisenrumänische Ministerpräsident, General Nico- bahn-Bahnhöfe geführt. Die örtlichen Kreislae Radescu, General Vinogradov zwei Pro- leiter und Polizisten erstellten Namenslisten test-Noten zustellen. Der hohe rumänische per Ortschaften, die dann dem Staatlichen Würdenträger griff seine Argumente erneut Subsekretariat der Polizei in zweifacher Ausauf: „Diese Arbeiter, deren Zahl heute noch führung per D.G.P. zugeschickt wurden. eine halbe Million beträgt, sind seit langer Den Richtlinien gemäß durfte jede Person Zeit im Land sesshaft (7 Jhd. in Siebenbür- maximum 200 kg an Gütern, bestehend aus gen, 2 Jhd. im Banat), wodurch sie so in den Kleidung, Wäsche, Geschirr und LebensmitLebenskomplex des rumänischen Volkes in- teln für 15 Tage mitnehmen15. Unter strenger tegriert sind, dass sie einen organischen Teil Bewachung wurden die Deutschen per Lastdesselben bilden und demzufolge würde ihr Herausreißen – auch nur zeitweilig – aus ihrem Umfeld in allen Tätigkeitsbereichen des 15 Was die Liste ganz genau festlegte: 1 Wintermantel, 1 Frühjahrsmantel, Sommerhut, WinterLandes zu schweren und oft irreparablen Stömütze, 2 Anzüge, Stiefel, 2 Paar Schuhe, 2 Paar rungen führen12.“ Dank Radescus Interven- Handschuhe, 6 Paar Strümpfe, 4 Handtücher,12 tionen wurden von der Anwendung der Or- Taschentücher für die Männer; für die Frauen: 1 der einige Kategorien der Bevölkerung aus- Wintermantel, 1 Frühjahrsmantel, 2 Kopftücher genommen, so qualifizierte Industriearbeiter, oder Mützen, 2 Kleider, 4x Wechsel-Wäsche, 6 deutsche Frauen, die mit Rumänen verheira- Paar Strümpfe, 2 Paar Stiefel, 3 Paar Schuhe, 2 tet waren, Mönche und Nonnen, Arbeitsunfä- Paar Handschuhe, 4 Handtücher, 12 Taschentücher; hige. In der Wirklichkeit wurden auch diese Bettzeug: 1 Steppdecke, 4-5 Leintücher, 3 Polsterüberzüge, 1 Polster, 1 Matratze; Koch-Zubehör: Ausnahmen nicht vollständig respektiert13. komplettes Besteck (Löffel, Gabel, Messer), 3 Scheinbar haben die ersten Verschleppun­ Teller, 2 Gläser/Becher, 1 Teekanne, 1 Teelöffel, 2 gen am 10. Januar 1945 in Bukarest begon- Schüsseln, 2 Töpfe, 1 Primus-Kocher, 1 Axt für je nen, wo 2.000 Personen ausgehoben wurden. 4-5 Leute; Lebensmittel: Brot /Zwieback, Speck, Am nächsten Tag hat nur „Viitorul“ (Die Zu- Wurst, Käse, Butter, Zucker, Honig, Salz, Bohnen, kunft), das Organ der National Liberalen Par- Erbsen, Zwiebeln, Knoblauch, Kartoffeln. Eigenttei (PNL), einen Leitartikel dieses Thema be- lich haben die meisten Personen in der kurzen, treffend veröffentlicht. Übrigens hatte am ihnen von den Aushebern zugebilligten Zeit, nur Vortag Dinu Bratianu, der Vorsitzende dieser das Allernötigste mitgenommen. http://www.zfl.ro/ Partei, gegen den Beschluss protestiert, den deportationsprojekt/preg_depo.html. Die CNSASDokumente zur Deportation der Rumäniendeuter als „Rassen-Diskriminierung“ einstufte14. 16

12 H. Baier, zitiertes Werk, S. 22 13 Siehe Interview mit Ianos Krcsmar 14 M. Rusnac, zit. Werk

schen wurden von Florentina Budeanca (Bodeanu) und Liviu Burlacu im Rahmen der Ausstellung „Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die UdSSR. Eine Dokumentar-Geschichte“ wissenschaftlich zugänglich gemacht: http://www.zfl. ro/deportationprojekt/.


17 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive wagen und Wagen zu den Zügen gebracht. derselben waren. In den Archiven wurden In Viehwaggons zu je 30 Personen verladen. solche Listen mit den Angestellten der GriAuf diversen Routen wurden die Depor- vita-Werke, Lokomotiven und Waggone, enttierten nach Fahrten zwischen 2 und 4 Wo- deckt17. Das Dokument wurde am 10. Januar chen - je nach Lagerziel - in die Sowjetuni- 1945 verfasst. Auch haben in den folgenden Tagen Parteiorganisationen dem Zentralkoon verschickt. An der Grenze zwischen Rumänien und mitee der KPR Tabellen vorgelegt von deutder UdSSR wurden die Deportierten in schen „Vertrauensleuten“, die sich als „antifaWaggons mit breiter russischer Spurweite schistische Kämpfer“ bewährt hatten.18 verladen. Deportations-Zahlen Trotzdem haben sich nur wenige Deutsche Übergriffe und Begünstigungen Bei der Listenaufstellung wurde viel Miss- dieser Vergünstigungen erfreut. Im Januarbrauch getrieben. Die Vorschrif­ten bezüg- Februar 1945 wurden aus Rumänien zwilich der Altersgrenze, der ausgenommenen schen 60.000 und 70.000 Deutsche deporso­zia­len Kategorien, ja sogar der Nationali- tiert. Die Zahlen variieren je nach Quelle, tät wurden häufig missachtet. Es gab Fälle, halten sich in diesem Rahmen. Laut Forscher Pavel Polian wurden 155.262 dass 16-jährige Mädchen und Jungen deportiert wurden sowie Rumänen, Ungarn oder Deutsche aus Deutschland und Polen, 67.332 aus Rumänien, 31.920 aus Ungarn, 12.579 Serben mit deutschen Namen. Manchmal haben die rumänischen Gen- aus Jugoslawien, 4.579 aus der sowjetischen darmen die Übergriffe der Sowjetsoldaten Besatzungszone – künftige DDR - deportiert, gemeldet. Der Gendarmerie-Posten von Bod insgesamt 271.672 Personen19. Im Rapport des General-Inspektorats der (Brenndorf, Kreis Kronstadt) hat z.B. ein Protokoll verfasst, durch das die Regelwid- Gendarmerie, Sicherheitsdirektion und Öfrigkeiten gegenüber 52 von der Deportation fentliche Ordnung, vom 14. Februar 1945 ausgenommenen Deutschen (24 Männer, 28 waren auf den Namenslisten 61.716 Personen eingetragen20. Frauen) angezeigt wurden. „Wir haben uns bei den Sowjetsoldaten dafür eingesetzt, dass diese Bewohner nicht 17 „Tabel de personalul minoritar de origine gerausgehoben werden, wurden jedoch abge- mana si maghiara existenti la Atelierele Grivitawiesen16, präzisiert der Chef des Gendarme- locomotive si vagoane, care au avut atitudine antirie-Postens. Als Protest gegen diese Illega- fascista, democratica“, Sindicatul salariatilor CFR, 10.01.1945, ANIC, CC al PCR- Sectia Organizatolität „haben die Rumänen die Russen nicht rica, Dosar 2/1945, f.1-3; Dosar 66/1945, f. 1-16 weiter unterstützt.“ Einer bevorzugten Situation erfreuten sich 18 „Tabel cu oamenii de incredere de origine die deutschen und ungarischen Arbeiter, die etnica germana“, PCR. Organizatia Tulcea catre „eine antifaschistische, demokratische Gesin- Comitetul Central PCR-Bucuresti, 18.01.1945, ANIC, CC al PCR- Sectia Organizatorica, Dosanung“ hatten, mit der Kommunistischen Partei rul 5/1945, f.1-3 Rumäniens sympathisierten oder Mitglieder 16 Proces-verbal“, intocmit de autoritatile din comuna Bod (Brasov), 13. ianuarie 1945, http://www.zfl.ro/deportationsprojekt/CNSAS/ Desfasurarea_deportarii / Doc1.jpg

19 Pavel M. Polian, Against Their Will. The Historie and Geography of Forced Migrations in the USSR, Budapest, Central European University Press, 2004, p. 295 20 http://www.zfl.ro/deportationsprojekt/cnsas.html


Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

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Rapport vom 14. Februar 1945 mit den Namenslisten von 61.716 Personen21 Kreis Dolj Gorj Mehedinţi Olt Romanaţi Vâlcea Dâmboviţa Ilfov suburban Ilfov rural Muscel Prahova Teleorman Vlaşca Brăila Constanţa Ialomiţa Tulcea Buzău Covurlui Putna R. Sărat Tecuci Bacău Fălciu Iaşi Neamţ Roman Vaslui Baia Botoşani Dorohoi Câmpulung Rădăuţi Suceava Alba Târnava Mică Turda Braşov Făgăraş Sibiu Târnava Mare Arad Bihor Caraş Hunedoara Severin Timiş Torontal Gesamt

Gelistet Männer Frauen 27 19 20 10 11 33 24 293 46 6 130 12 6 27 55 15 13 23 4 1 8 11 142 15 144 56 135 46 58 300 18 68 43 120 2.346 3.544 30 3.433 1.957 8.264 870 3 8.835 37 1.744 927 2.081 18.877 61.716

7 9 8 3 8 11 19 195 24 10 60 8 3 17 27 6 8 9 1 1 5 3 24 2 22 15 24 9 15 95 15 68 23 31 373 1.815 14 1.503 817 2.078 2.090

7 3 4 2

4 5 12 5 4 103 1 52 15 38 539 2.605 6 1.476 764 3.051 3.770

2.450 18 716 469 1.059 6.659 20.830

3.356 9 477 256 1.100 7.937 25.710

9 7 70 6 1 23 3 4 4 2 1 3 3 1 7

AusAusVergehoben nahmen schollen 14 11 12 4 12 4 1 5 4 1 8 3 20 8 26 265 40 26 30 13 3 11 83 28 9 11 3 3 21 6 31 24 8 4 3 9 4 12 5 1 4 1 5 3 4 7 31 98 13 2 13 26 98 20 36 36 92 14 13 19 39 198 89 16 2 17 69 2 38 28 2 69 79 1 912 11 4.420 445 113 20 6 1 2.979 645 155 1.581 448 54 512 1.812 710 586 823 1.043 0 5.806 2.510 519 27 7 3 119 421 155 725 182 19 2.159 206 138 14.596 3.664 617 46.540 11.924 3.604

Selbstmord

Abwesend 2 3 3 5 4 10 2

5

20 7 19 12

2

423 141 3 90 613 977

5 1 12

2339


Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

Zur Zeit der Listenaufstellung waren bereits 46.540 Personen ausgehoben worden21. Eine vom Nationalen Statistik-Institut vorgenommene Umfrage vom 15. August 1949 ergibt eine andere Zahl der deportierten Deutschen: 70.148 Personen22. Als „Sonder-Kollonisten“ (russisch: spetpereselenti) wurden die Deportierten auf verschiedene Lager und Arbeitskolonien des Sowjet-Territoriums verteilt, im Donez-Becken (Ukraine), Kriwoi-Rog, im Ural und selbst in Sibirien23. Trotz prekärer Ernährung 21 „Situatie de modul cum s-a executat operatiunea de ridicare pentru munca a germanilor etnici, pana la data de 14 februarie 1945“, Raport al Inspectoratului General al Jandarmeriei, Directia sigurantei si ordinii publice, 14 februarie 1945. www.zfl.ro/deportationsprojekt/statistici.html 22 Cristian Troncota, Deportarea etnicilor germani, in Romania (1945-1989) Enciclopedia regimului comunist. Represiunea, Vol A-E, Bucuresti, Institutul National pentru Studiul Totalitarismului, 2011, Seiten 474-480 23 Einige der über 200 Ortschaften/Lager, in die die Deutschen deportiert wurden: Artema, Bulovinka, Celiabinsk, Harkov, Cistiakovo, Ciulkovka, Dimitrova, Dnepropetrovsk, Drujkovka, Elenovka, Gorlovka, Ilianovka, Kapitalnaia, Konstantinovka, Krasnodar, Krivoi Rog, Lenino, Odessa, Orlovka, Ostakova, Romanka, Jitomir,

19

wurden sie zu den schwersten Arbeiten eingesetzt: im Bau, in den Gruben, zu Waldrodungen. In den Jahren 1945-1946 hat infolge unmenschlicher Arbeitsbedingungen, der Hygiene- und Verpflegungsbedingungen die Sterberate alarmierendes Niveau erreicht. Überwacht von den NKVD-Leuten, fügten sich die „Sonder-Kolonisten“ den sowjetischen Arbeitsgesetzen, vorgesehen in der Resolution Nr. 35 („Die Rechte der in Spezialkolonien Festgesetzten“), verabschiedet am 8. Januar 1945 vom Rat der Volks-Kommissare24. Die Deportierten kehrten in mehreren „Wel­len“ in ihre Heimatländer zurück, von denen die vom Dezember 1949 die umfassendste war. Man schätzt, dass 66.456 von den mit Gewalt aus den osteuropäischen Staaten verschleppten Deutschen in den Sowjet-Lagern umgekommen sind. Von den aus Rumänien Deportierten sind rund 10.000 (15%) fern der Heimat verstorben. Smolianka, Stalino, Sverdlovsk, Vetka u.a. Siehe HansWerner Schuster, Walther Konschitzky (Koord.), Deportation der Südostdeutschen in die Sowjetunion (1945-1949), München, Haus des Deutschen Ostens, 1999, Seiten 91-92 24 J. Otto Pohl, zit. Werk, S.46


20 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive torium Rumäniens lebten“, ohne in den „ArDie Sorgen der Daheim-Gebliebenen Mit der Situation der in die Sowjetunion Ver- beits-Bataillons“ erfasst zu sein. Laut eines Rapports des Regionalen Inspek­ schleppten setzten sich auch die Köpfe der deutschen Bevölkerung aus Rumänien ausei- torats der Siguranta Temeswar war die Verfasnander. Am 10. Februar 1945, somit einen Mo- sung der deutschen Bevölkerung sehr schlecht. nat nach Beginn der Deportation, richteten, lei- Die Menschen waren besorgt um das Schickder namentlich ungenannte führende deutsche sal der zur Arbeit in die UdSSR verschickten Persönlichkeiten, in einem in den Archiven Verwandten, um die in Deutschland wie auch der Kommunistischen Partei erhaltenen Doku- wegen des Bodenverlusts durch die Agrar-Rement eine Eingabe an die Partei („promemo- form27. rie“) hinsichtlich der schwierigen WirtschaftsDie Integration der Heimkehrer lage der zuhause verbliebenen Mit­bürger. „Es ist der Augenblick gekommen, dass auch wir Gegen Jahresende 1945 haben die Sowjets die objektiv – ohne Lamentieren und Schuldzu- arbeitsunfähigen Kranken und Verunglück­ weisungen – die Lage unseres Volkes prüfen“, ten nachhause geschickt. Bei ihrer Rückkehr heißt es in diesem Dokument. Das erste An- nach Rumänien wurden diese Bürger als reliegen der Autoren bezog sich auf die Korre- patriiert eingestuft. Dazu waren gewisse Prospondenz-Möglichkeit mit den deportierten zeduren unerlässlich. Zuerst mussten sie vor Deutschen: „Die Sachsen und Schwaben Ru- eine Einstufungs-Kommission, die aufgrund mäniens wünschen, sobald wie möglich, den der Order Nr. 5372 vom 11. Mai 1945 der Kontakt zu ihren zur Arbeit in die UdSSR General-Direktion der Polizei einige Tage verschickten Blutsverwandten aufzunehmen, nach dem Ende des II. Weltkrieges ins Levermittels der in diesem Bereich befugten So- ben gerufen wurde. Die Deportierten melwjet-Kreisen.“ Es wurde eine „Anti-Hitleris- deten sich im Rathaus ihres Wohnortes. Die mus-Bewegung“ der Sachsen und Schwaben Beamten rapportierten weiter der Stadt-Polivorgeschlagen, eine Bewegung „des Friedens zei bzw. den Dorfgendarmen, ob der Repatriierte vor dem 30. August 1940 im Natiozwischen den Völkern25.“ Einige Wochen nach der Deportation wur- nalitäten-Register eingetragen war. Danach den die in der Heimat verbliebenen Sachsen wurden sie in die Evidenz des Bevölkerungsund Schwaben durch die Polizei und Gen- Büros der Gemeinde aufgenommen. Auch darmerie zu diversen Arbeiten eingesetzt. wurden persönliche Erklärungen abgegeben Sie bildeten Arbeits-Bataillons oder – Ko- bezüglich des Geburtsjahres und -ortes, des lonnen“ für öffentliche Arbeiten. Im März Familienstandes, des Berufs, der Staatsbür1946 wurde ein solcher Transport von deut- gerschaft, Nationalität, des letzten Wohnorts; schen Männern und Frauen in die Kohlen- wann sie Rumänien verlassen haben, unter gruben von Petrosani geschickt26. Am 19. Fe- welchen Umständen sie dazu bewogen wurbruar 1945 machte die CAC die Regierung den, wo sie wohnten. Zuletzt mussten sie den in Bukarest aufmerksam auf die Deutschen neuen Wohnort anführen28. Nachdem sie aufZivilisten und Soldaten, die der Deportation entkommen waren und „frei auf dem Terri- 27 „Adresa Inspectoratului Regional de Siguranta 25 ANIC, CC. al PCR – Sectia Organizatorica, Dosarul 7/1945, f. 2-3 26 Idem, Dosarul 27/1945, f. 23

Timisoara catre Directiunea Generala a Sigurantei Statului – Bucuresti“, 16 martie 1948 28 „Fisa-declaratie nr. 1594“, completata de Adalbert Ludwig, 04.12.1945 www.zfl.ro/deportationsprojekt/CNSAS/Revenirea_in_tara/Doc2.jpg


21 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive grund dieser Erklärungen und vorgelegten sichtlich der Lage der Minderheit eingereiPapiere „durchleuchtet“ waren, wurden sie cht. So verlangten sie im April 1946 unter anals „Deportiert-Repatriierte“ anerkannt. In- derem die Vermittlung der rumänischen Renerhalb von 15 Tagen mussten sie am Ziel- gierung bei der Sowjet-Regierung, dass die ort bei den Verwaltungs- und Polizeiorganen „zur Zwangsarbeit verschickten Bürger baldvorstellig werden, die ihnen den Personal- möglichst in ihre Heimat zurückkehren31.“ ausweis aushändigten. Jedoch für die Mehrheit der in den DonEine Zeitlang blieben die übermüdeten und bas, den Ural und Sibirien Verschleppten enkranken Heimkehrer in der Obhut der Fami- dete der Leidensweg erst Ende 1949. lien. Die Jugendlichen, die als Lyzealschüler deportiert wurden, konnten nicht weiterlerDie Sowjetunion in der Erinnerung nen/studieren, weil sie arbeiten mussten, um der Deportierten für sich und die anderen Familienmitglieder Jede Lebensgeschichte der deutschen, in die den Unterhalt zu sichern. Erst mit der Zeit UdSSR Deportierten ist einmalig. Sie wurhat sich ihre wirtschaftliche Lage geregelt. den fast wie Verbrecher von zuhause ausgeDie in der UdSSR verbrachte Zeit wurde im hoben, in Viehwaggons in die Sowjetunion Arbeitsbuch vermerkt und zur Arbeitszeit verfrachtet und dann zur Arbeit in Kohlenhin­­zugerechnet. Ohne Hab und Gut verblie- gruben gezwungen. Von dieser tragischen ben, mussten viele persönlichen Besitz ver- Wegstrecke blieben einige Elemente, die in äußern (Kleidung, Bettwäsche, Schmuck, allen Berichten wiederkehren, die eigentlich auch Möbel)29. die Deportations-Erinnerung der Deutschen Es kam zu Spannungen infolge der Über- aus Rumänien in die Sowjetunion darstellt. eignung des Besitzes der Deutschen an die Wir werden kurz die wichtigsten Momente Kolonisten, die sich den Besitz der abwesen- dieses gemeinsamen rumänisch-deutschen den Deutschen zueigen gemacht hatten. Der- Geschichtsabschnittes präsentieren. gleichen wurden z. B. der General-Direktion der Staatssicherheit im Kreis Tarnava Mica/ Die Verhaftung Kleine Kokel gemeldet: „Rumänische Staats­ Die Mehrheit erinnert sich, dass urplötzbürger deutscher Nationalität, die von der lich die deutschen Dörfer von „rumänischen Zwangsarbeit in der UdSSR zurückgekehrt und russischen Soldaten“ umzingelt waren. sind, behaupten bei jeder Gelegenheit, dass Die Männer zwischen 18 und 45 Jahren soihnen bei der Abreise in der Sowjetunion und wie die Frauen zwischen 20 und 32 musswährend der Triage in Focsani gesagt wurde, ten Kleidung und Esswaren in einen Kofdass sie mit ihrer Heimkehr in alle ihre Rech- fer packen und sich dann in der Dorfschule te wiedereingesetzt werden30.“ einfinden. In vielen Fällen wurden auch JuIn den Jahren 1945-1946 hat die Füh- gendliche unter 17 Jahren ausgehoben sowie rung der deutschen Gemeinschaft den rumä- Frauen, die älter als 32 waren, selbst wenn nischen Autoritäten diverse Eingaben hin- sie zuhause Kinder zu erziehen hatten. Die Soldaten drangen in die Dörfer mit den Li29 „Adresa Nr. 8539 a Inspectoratului Regional sten der Auszuhebenden ein. Falls sie die de Politie Sibiu catre Directiunea Generala a Po- Unglücklichen, die am Wiederaufbau der litiei, Directiunea Politiei de Siguranta, Serv.II, UdSSR teilnehmen sollten, nicht zuhause Bir.5, 19.10.1945 www.zfl.ro/deportationsprojekt/ CNSAS/Consecintele_deportarii/ Doc2.jpg. 30 Ibidem

31 „Memoriu asupra...“, ANIC, CC al PCR – Sectia Organizatorica, Dosarul 27/1946, f.24.


22 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive vorfanden, nahmen sie Ersatzleute. Wichtig fällig im Bahnhof weilten. Wichtig war nur war einzig die Zahl, nicht unbedingt der Li- die Anzahl der Häftlinge, nicht unbedingt stenname. ihre ethnische Herkunft. Jene unglücklichen Die Verhaftung der Deutschen war ein wah­ Rumänen wurden zusammen mit ihren deutres Drama in den Dörfern und Städten des Ba- schen Landsleuten deportiert. nats und Siebenbürgens. Einige versuchten zu In Jassy (Iasi) angekommen, wurden die fliehen, versteckten sich in Wäldern oder in Deportierten in größere Waggons verladen. rumänischen oder ungarischen Ortschaften. So trafen die Banater Schwaben die SiebenDamit sich alle stellen, drohte man per Mega- bürger Sachsen und verstanden sofort, was fone, die Alten auszuheben. Bis zuletzt haben mit ihnen geschah. Es gab keinen Zweisie sich gestellt. fel mehr, dass man sie in die Sowjetunion schickte. Bei der Pruth-Überquerung hörte Der Weg in die Sowjetunion der Begleitdienst der rumänischen SoldaDie Deportierten erinnern sich, dass ihnen ten auf, es verblieben nur die Sowjet-Soldaniemand sagte, was geschehen wird. Die ru- ten. In der Ukraine war die Bewachung nicht mänischen Soldaten hatten – nach eigener mehr so streng. Die Waggontüren öffneten Aussage – Angst, etwas zu sagen, zumal sie sich öfter, wohin sollte man fliehen? Zum ervon den Sowjets ausspioniert wurden. Sie sten Mal gab es eine warme Mahlzeit. glaubten, dass die Deutschen irgendwohin Am Ziel ließ man sie aussteigen und sich in Rumänien, weit weg von zuhause, zur Ar- nach Arbeitsbefähigung gruppieren. Anhand beit gebracht werden. der Listen der Produktionseinheiten mit ArAus den Dorfzentren wurden sie per Wa- beitskräfte-Mangel wurden die Deutschen gen, Schlitten oder zu Fuß in die nahen Städte gruppiert und in die Lager geschickt. Auf ihre gebracht. Dort wurden sie in Vieh-Waggons Herkunft wurde keine Rücksicht genommen. verladen und mitten im Winter weggeführt. Ihre Zuteilung erfolgte zufällig, sodass die Frauen und Männer waren gezwungen, sich Verschleppten aus demselben Dorf auf zweiauf engem Raum zurechtzufinden. Sie legten drei Arbeitslager verteilt wurden, auch wenn ihre Esswaren zusammen, kauerten eng an- sie im selben Transport waren. Demgemäß einander, damit es ihnen wärmer war, ver- gab es dramatische Fälle, wenn Eltern und richteten ihre Notdurft vor den andern in das Kinder getrennt wurden. Loch im Waggon-Boden. Zum Essen hatten sie, doch es war extrem kalt.. Die ersten DeDas Lagerleben portierten-Toten gab es schon auf dem Terri- Die „Glücklichsten“ blieben in den Ortschaf­ torium Rumäniens. Die Fahrt verlief zäh. Es ten, wo sie „auswaggoniert“ wurden. Andewar noch Krieg und die Züge hielten an fast re Arbeitslager befanden sich zig Kilometer jeder Station, um die sowjetischen Frontsol- entfernt. Nach wochenlanger erschöpfender daten vorbei zu lassen. Fahrt mussten die Deportierten zu Fuß durch Ab und zu wurden die Waggontüren in ei- den Schnee in die Ortschaft gehen, wohin ner Station geöffnet, damit die Verschlepp- sie zur Arbeit zugeteilt waren. Die Erfindeten sich mit Wasser versorgen konnten. Eini- rischsten zogen ihren Koffer am Hosenriege versuchten zu fliehen, indem sie die Un- men hinter sich her. aufmerksamkeit der rumänischen und rusMehrheitlich mussten die deutschen Versischen Soldaten nutzten. Ein Grund für neue schleppten selbst ihre Lager-Baracken erÜbergriffe. Anstelle der Flüchtlinge wurden bauen oder die existierenden reparieren. Jeunschuldige Menschen genommen, die zu- denfalls mussten sie – mitten im Winter - eine


23 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive oder mehrere Nächte unter freiem Himmel Die Ernährung schlafen. Etwas Wärme gab es dann doch, Die Ernährung war das größte Problem der Dezumal sie im Allgemeinen in ein Kohleförde- portierten. Die Todesfälle und Erkrankungen rungs- oder Holzverarbeitungsgebiet kamen. derselben wurden mehr durch die schlechWie eine Ironie des Schicksals kamen ei- te Verpflegung als durch die Arbeitsbedinnige in Lager, die von Soldaten der Nazi-Ar- gungen verursacht. Diejenigen, die zu­hause mee zur Zeit ihrer Kantonierung in der So- gut gegessen hatten, Fleisch oder Fleischprowjetunion errichtet wurden. dukte, konnten sich nicht anpassen. Allgemein Die Lager wurden von Sowjet-Soldaten bekamen sie am Arbeitsplatz miserable Kräubewacht. Die meisten waren stacheldraht – tersuppen. Sehr selten Fleisch. Mehr Tiergeumzäunt, obwohl die Deportierten nicht flie- därme oder -innereien. Auch das Brot war wehen konnten, wo doch ihre Heime tausen- nig nahrhaft. Der Weizen war mit Hafer verde Kilometer entfernt waren. Männer und mischt und mit Wasser aufgebläht. Falls man Frauen wurden in getrennten Baracken un- das Stück Brot ausdrückte, blieb nichts mehr, tergebracht. Es wurden hierfür Lagerküchen erinnern sich die Deportierten. ins Leben gerufen, wo deportierte Frauen arDas Fehlen der Nahrungsmittel ist ihre bebeiteten. ständigste Erinnerung. Das Hungergefühl war permanent, so dass sie für etwas EssDie Arbeit bares alles imstande waren. Schon in den Alle interviewten Deportierten beklagten ersten Monaten boten sie den Ortsbewohsich über die schweren Arbeitsbedingungen nern zum Tausch für etwas zusätzliche NahMehrheitlich waren sie Kohlengruben zuge- rung alles an, was sie im Koffer hatten. Als teilt. Ob sie nun in der Mine oder draußen ar- sie Lohn für ihre Arbeit erhielten, um 1948, beiteten, war es eine ganz andere Arbeit als konnten sie sich Lebensmittel kaufen. Jezuhause.Vor allem waren die Jugendlichen doch auch der russische Markt quoll nach nicht mit der Industriearbeit vertraut, denn sie dem Krieg nicht über an Erzeugnissen. Sie waren entweder noch Schüler oder sie arbei- kauften Brot und Polenta (Maismehlbrei). teten in den Dorfwirtschaften ihrer Eltern. Sie wurden von Natschalniks bewacht, die dafür Die Russen sorgten, dass die Arbeitsnormen respektiert Es scheint widersinnig, dass die Deportier­ wurden. Einige hielten nicht durch. Schon in ten mit positivem Eindruck vom russischen den ersten Monaten erkrankten sie und konn- Volk heimkehrten. Anfangs mussten sie sich ten nicht mehr in die Grube. Andere wurden den Vorurteilen der Russen den Deutschen Unfall-Opfer, wurden in der Mine verschüt- gegenüber stellen, die von der öffentlichen tet, von Baumstämmen getroffen usw. 1946 sowjetischen Propaganda genährt wurden. wurden die Arbeitsunfähigen nach Haus ge- Die Soldaten und Natschalniks waren sehr schickt. Viele von ihnen haben sich nicht wie- streng, bestraften alle Regelwidrigkeiten. der erholt, sind an den Krankheiten oder Un- Die Natschalnik-Frauen waren viel schlimfällen während der Deportation gestorben. mer als die Männer in dieser Funktion. WahrDie in der Deportation Verbliebenen ha- scheinlich hatten sie ihre Männer oder Brüben zum „Wiederaufbau“ der UdSSR beige- der an der Front verloren und richteten all tragen. Schwerer waren die ersten drei Jahre. ihre Bitternis gegen die unter ihre Aufsicht Danach hatte man sich an die Arbeitsbedin- gelangten Deutschen. Ebenso schroff wagungen gewöhnt, die Arbeitsnormen wurden ren anfänglich die an der Front verwundereduziert. Um 1948 bekamen sie auch Geld. ten Soldaten.


24 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Mit der Zeit lernten die russischen Solda- besser als denen in den Gruben. Sie konnten ten und Natschalniks die Deportierten ken- ohne strenge Überwachung der Natschalniks nen und sich mit ihnen zu verstehen.Wichtig Kontakt zu der russischen Zivilbevölkerung war dabei, dass die Deutschen die russische aufnehmen, von ihr unterstützt werden. Sprache erlernten (summarisch eben). Anfangs verständigten sie sich mittels „ÜberDie Heimkehr setzer“ aus Bessarabien, die auch deportiert Beginnend mit dem Jahr 1948 kreisten unter waren oder Freiwilligendienst leisteten. den Deportierten Gerüchte, dass sie heimgeDie russischen Ortsansässigen jedoch hat- schickt werden. Die Arbeitsweise hatte sich ten den deutschen Deportierten gegenüber entspannt, sie bekamen Geld, konnten sich keine Vorurteile. Alle Interviewten behaup- Lebensmittel und andere Sachen kaufen, ten, dass sie nicht hätten durchhalten können weil es Zuteilungs-Karten gab. ohne die Hilfe der einheimischen Bevölke- Es gab nun auch neue Kleidung, da auch rung. Diese verstand ihre Nöte und bot Hil- Schneider unter ihnen waren. Einige grünfe an. Auch den Russen ging es schlecht, er- deten in der Deportation Familien, es kamen innern sich die Verschleppten, sie hatten kei- Kinder zur Welt. Die Lager-Wächter gestatnen Grund „neidisch“ zu sein. Die Depor- teten die Bildung von künstlerischen Gruptierten halfen im Haushalt und bekamen zu pierungen; es wurde Akkordeon gespielt, essen. In den Sowjet-Dörfern waren die Al- kleine Feste gefeiert. Besonders anlässig der ten zurückgeblieben, die Jungen waren mo- offiziellen sowjetischen Jahrestage durften bilisiert oder kriegsbezogen beschäftigt. Oft sie allein durch die Städte spazieren. Sie liegingen die Deutschen in die Dörfer der Um- ßen sich fotografieren und brachten die Fogebung Lebensmittel betteln. Die Russen ga- tos mit nach Hause. ben von dem Wenigen, das sie besaßen, lieBezüglich ihrer Rückkehr haben sie weßen sie nicht Hungers sterben, erinnern sich nige Erinnerungen. Sie wussten, dass ihnen die vormals Deportierten. nichts Böses mehr widerfahren wird. Manche sind auch heute noch gerührt, wenn sie Die Sowjetunion zurückdenken an das Glücksgefühl, das sie In der Erinnerung der Deportierten blieb überkam, als sie beim Grenzübergang die ruRuss­land (Sowjetunion) als ein armes Land, mänische Sprache vernahmen. nicht unbedingt rückständig. Sie erinnern Die Züge mit den deutschen Heimkehrer sich, dass dann, als sie in die Kohlengruben aus der Sowjetunion hielten in Sighetul Markamen, Pferde als Zugtiere für die Kipplo- matiei. Dort bekamen sie Fahrausweise, mit ren nach draußen genutzt wurden. Mit der denen sie gratis per Bahn nachhause fahren Zeit begann die Elektrifizierungs-Kampagne konnten. Unterwegs empfingen sie die Ortsund vor der Heimreise wurden die Kipploren ansässigen, die Obst und andere Lebensmitschon elektrisch betätigt. Ebenso blieb ihnen tel in die Züge warfen. Sie wussten, dass sie eingeprägt das Bild der kriegszerstörten Ort- ausgehungert aus der UdSSR kamen. schaften. Als sie 1945 in die UdSSR gebracht Zuhause gelang es ihnen, sich wieder einwurden, sah man noch die Kampfspuren und zugliedern. Diejenigen, die Russisch gelernt die Leichen der toten Soldaten lagen auf den hatten, konnten sogar von der Deportatihartgefrorenen Feldern. on „profitieren“. Zur Zeit wurden Leute mit Einige Deportierte nahmen am Wiederauf- Russischkenntnissen gesucht, wo doch diese bau der Städte teil, arbeiteten auf Baustellen je Sprache in Rumänien erst nach dem Krieg nach zuhause erlerntem Beruf. Es ging ihnen gelehrt wurde.


25 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Die jungen Männer hatten noch eine Hürde men auf die zivilisatorische Rückständigkeit zu nehmen. Da sie ihren Militärdienst nicht der Sowjets. Ihrer Meinung nach wurden geleistet hatten, wurden sie einberufen. Zu- die Schwaben und Sachsen aus ihrem blüfällig - oder auch nicht - wurden viele von ih- henden Lebenskreis gerissen und erniedrigt nen in die Arbeitseinheiten eingereiht, die in durch die Zwangsarbeit in den Kohlengruder Kohleförderung im Schil-Tal arbeiteten. ben der Sowjetunion. Die Schuldigen Danach gefragt, wer für ihre Deportation verantwortlich ist, sind die Meinungen der interviewten Deutschen verschieden. Vor allem die in Rumänien Verbliebenen scheuen sich, Verantwortung zuzuschreiben. Sie behaupten, dass die Umstände der Nachkriegszeit die Deportation bedingte, da Deutschland den Krieg gegen die UdSSR verloren hatte. Sie waren irgendwie unschuldig in diesem Spiel der Großmächte. Andererseits neigen die zur Zeit in Deutsch­ land lebenden vormaligen Deportierten dazu, die Rumänen verantwortlich zu machen. Sie behaupten, dass die Sowjet-Regierung von Rumänien Zivilpersonen zum Wiederaufbau der UdSSR gefordert hat. Es soll aber nie festgelegt worden sein, dass es Deutsche sein müssen. Die Regierung in Bukarest hat angeblich beschlossen, die Deutschen zu deportieren. Danach gefragt, ob sie im Lager auch andere Nationalitäten aus den Verlierer-Ländern angetroffen haben, konnten sie sich an Derartiges nicht erinnern. Getroffen haben sie nur Deutsche aus den Nachbarländern Ungarn, Jugoslawien usw. Die Deportation in der Erinnerung der Nachkommen Die Nachkommen der Deportierten bewahren die Erinnerung an die Leiden der Deutschen in der UdSSR. Sie sind aber nicht mehr so versöhnlich weder mit den historischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit noch mit dem russischen Volk. Ihrer Meinung nach war die Deportation ein Racheakt seitens der Sowjetunion für die NaziVerbrechen. Ebenso bestehen die Nachkom-

Lebensgeschichte, Erinnerung der Nachkommen, kollektives Gedächtnis Gemäß dem aktuellen vielgestaltigen Erkenntnisstand ist das erzählende oder schöpferische Interview nicht mehr eine Erforschungsmethode in sich der sozio-humanenWissenschaften und der Historiografie. Beginnend mit den Forschungsarbeiten von Thomas und Znaniecki32 – wo diese Methode zum Paradigma der „Subjektivität“ und zum Fundamentieren der Schule von Chicago führte – und bis heute trachtet man danach, den Methodologie–Wechsel dem Tempo der Neuheiten im sozialen Alltag anzupassen. Als dem Fallstudium untergeordnete Technik, der Mega-Trend-Methode oder ethnobiografischen Methode, bewahrt das Interview seinen Platz im Rüstzeug des Forschers, hält sich aber auch als Basis-Technik der mündlichen Geschichte33. 32 W.I. Thomas (1863-1947) war der erste Direktor des Soziologie-Departements der Universität Chicago. Zusammen mit F. Znaniecki erarbeitete er eine berühmte Studie über die polnischen Einwanderer, die in den Jahren 1918-1920 in vier Bänden veröffentlicht wurde. Ihre Nachforschungen, beruhend auf einer beeindruckenden Gruppe polnischer Einwanderer und polnischer Bauern in Amerika, werden als grundlegend für die „Chicago-Schule“ betrachtet und als Überwindung des damals modernen BehaviorismusParadigmas. Im Gegensatz zum Behaviorismus, der das Verhalten auf die durch einen Stimulus bedingte Antwort reduziert, vertritt Thomas die Rolle der „Subjektivität“ der Individuen in der Entstehung der Entscheidungen und des Verhaltens. 33 Als Alternative oder Ergänzung zum Studium der schriftlichen Dokumente seit


26 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Was das Erforschungs-Projekt der Erin- eine der vormaligen in die Sowjetunion denerung an die Verschleppung der Deutschen portierten Deutschen und der zum Interview in die Sowjetunion betrifft, wurde das Inter- bereiten Überlebenden war die Differenz enviewen einiger Überlebender von Anbeginn orm35. Egal, ob diese rumänische oder deutals erste und notwendige Etappe betrachtet. sche Staatsbürger waren. Im Sinne der PsyEbenso haben wir von Anfang an die in die- choanalyse ist das Erzählen einer schmerzsem Buch veröffentlichten Ergebnisse als haften Lebenserfahrung ein Schlüssel zur dokumentarisches Reservoir für künftige Trauma-Therapie und gleichzeitig eine BrüForschungen eingeschätzt. cke, um das Ich mit den Gegenwarts-WerWie es jedoch gewöhnlich in einer quali- ten in Einklang zu bringen. Das hohe Maß tativen Forschung geschieht, dass nach dem an psychischem Trauma der DeportationsFestlegen der Ziele/Vorhaben und der Realisie- jahre wird vermutlich am treffendsten deutrung der Konzepte, während des Daten-Sam- lich durch die Weigerung der Mehrheit der melns, haben wir einige unserer Hypothesen kontaktierten Überlebenden, über die Deumformuliert. So schicken wir anschließend portations-Jahre zu berichten. „Denn, wenn einige Überlegungen und Schlussfolgerungen du jeden Augenblick daran denkst, wie voraus bezüglich der laut aufgestelltem Leit- schlimm es war, welche Schande du erlebt faden erfolgten Interviews34 und der nach hast, machst du dich kaputt“, bekannte eine Umformulierung unseres Projektes erfolgten Frau, die Ehefrau und Tochter von vormals Auswärts-Interviews. Deportierten. „Und falls du etwas sagst, sagen die andern, du warst ein Nazi, ein HitleDie Deportation als Lebensgeschichte rist. Besser schweige ich. Am schlimmsten Die Dokumentation und implizite die Unter- war es, dass mein Mädchen starb. Ich schaue, weisung der Interviewer beinhalteten War- ich pflanze Blumen, sehe, wie schön es draunungen hinsichtlich der Schwierigkeiten, die ßen ist...ich bin zu alt und kann so nicht... zu sich aus der Persönlichkeit der Interviewten viel habe ich gelitten, um jetzt zu scherzen... und der Interview-Thematik ergeben. ich kann so nicht... will nicht...36 Die Autoren des Projekts – das kann jetzt Die Berichts-Erfahrung erlangte besondezugegeben werden – waren viel zu optimi- re Akzente auch durch das Verbot der sowjestisch, was die Außenlage betraf. Der er- tischen und rumänischen Offiziellen, über die ste Kontakt war zugleich das erste Hinder- Deportation zu sprechen. Vor der Heimkehr nis: Zwischen der Mitgliederzahl der Ver- wurden den Deportierten die persönlichen längerer Zeit praktiziert, begann die Organisierung der systematischen Forschungen in diesem Bereich 1948 mit dem „Mündlichen GeschichtsProjekt der Columbia-Universität“, initiiert durch Allan Nevins. Die amerikanischen Studien der mündlichen Geschichte zielen gegenwärtig ab auf weitläufige Themen und Gruppierungen der Forschung. Sie verfolgen vor allem die Wiederherstellung aufgrund der Teilnehmer-Berichte von einigen Ereignissen, Episoden oder der Profile von geschichtlichen Persönlichkeiten.

35 Dieser Situation gemäß war es im Rahmen des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitza als Partner dieses Projekts nicht möglich, die ursprünglich vorgesehene Zahl der vormaligen Deportierten zu interviewen. Mit der Hilfe der Herren Erwin Tigla, des Vorsitzenden des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitza, und Ignatz Bernhard Fischer, des Vorsitzenden des Vereins der Russlandverschleppten aus Rumänien, wurde die Forschung auf andere Ortschaften ausgeweitet.

34 Siehe Anhang 1

36 Bericht von Maria Ferenschutz


27 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Dinge mit Erinnerungswert zerstört. Und die chen Fällen wurde auf den Interview-VorZwangsarbeit-Episode zum „Wiederaufbau“ druck verzichtet und den Erinnerungen „freider Sowjetunion war nach dem Krieg ein en Lauf“ gelassen. Vor Ort fokusierten sich „weißer Fleck“ in der Geschichte Rumäni- die Interviewer vor allem auf die Frage: In ens und ein Tabu-Thema im öffentlichen Ge- welchem Maße wandeln die individuellen spräch. So wollte man aus dem kollektiven Traumata und politischen Verbote die ErinGedächtnis diese „Inseln“ aus dem Leben nerung an die Verschleppung in eine „Epivon zehntausenden Deportations-Überleben- phanie“ ihrer Lebensgeschichte? Unvorsehden, deren Freunde und Familien, löschen. bar war zur Zeit der Planung auch, was man Demzufolge konstituierte sich die zu be- „Muster“ des Überlebenden der Verschlepwertende Gruppe mittels „auf-den-Zahn- füh- pung nennen könnte. Vor allem wegen des len“ und unvorhergesehener Korrekturen. „hohen Alters“. Wenn zur Zeit der DeportaWie jede Lebensgeschichte hat auch das tion die Jüngsten kaum 17 Jahre alt waren, so „Remake“ der Deportationserinnerungen star­ nähern sich die jüngsten Deportierten heute ke Gemütsregungen sowohl seitens der Er- den 84 Jahren oder sie haben sie schon erzähler als auch der Interviewer vorausgesetzt. reicht. Die Eigenheiten des Gedächtnisses Wer bin ich? Was habe ich erlebt? Warum der Menschen über 80 wurden deutlich im wurden gerade mir Leiden, Hunger, Demüti- Verhältnis zwischen Speicherung, Codiegung, Entfremdung auferlegt? Durch welche rung, Wiedergabe, Vergessen und UmdeuVerdienste oder Wunder habe ich überlebt, tung der Informationen und Erinnerungen. als so viele Mit-Deportierte nicht heimkehren Und nicht zuletzt im Gebrauch der rumäkonnten? Solchen Dilemmas war jeder Erzäh- nischen Sprache. Schon viele Jahre in der ler ausgesetzt, indem er die Erfahrung des In- Gemeinschaft der Familie in Deutschland terviewers akzeptierte. „Was uns zu erleben lebend oder in eigens für die Deutschen aus gegeben war, wünsche ich keinem, nicht mal Rumänien geschaffenen Heimen39, maßen den Feinden“, sagt eine Interviewte. „Wir ha- sich die Befragten durch die Interview-Verben schuldlos unvorstellbare Leiden erdul- einbarung explizite die Reaktivierung des rudet, haben in Elend gelebt, Hunger gelitten, mänischen Wortschatzes zu. Einige verweian Kälte37.“ gerten den Dialog dadurch, dass sie nicht Die Deportationsgeschichten wurden ver- mehr rumänisch sprechen können40. schiedenartig erzählt je nach Kontext und Bildlich gesehen, fließen die DeportationsPersönlichkeit der Dialog-Partner38. In man- berichte ein in die öffentliche Kommunikation wie kleine Gebirgsseen mit regelmäßigen Ufern und tiefen Quellen. 37 Bericht von Ana Zgardea (Feil) Der Interviewte und der Interviewer an38 Zur besseren Verwirklichung der Projekt-Ziele kern an diesem ersten „Ufer der Erinnerung“ und die Steigerung ihrer Wirkung wurden 11 In- nach kurzen und ruhigen „Reisen“. Denn die terviews von Studenten der Psychologie, II. Jahrgang der Fakultät für Erziehungswissenschaften, Psychologie und Sozial-Assistenz an der Universität „Aurel Vlaicu“ Arad im Universitätsjahr 2011-2012 durchgeführt. Die Interviews galten als praktische Anwendung der im analytischen Programm des Kurses für soziale und angewandte Psychologie vorgesehenen Themen, gehalten von Universitätsprofessor Dr. Lavinia Betea

39 Teils wurden die Interviews im Adam-MüllerGuttenbrunn-Haus Temeswar und dessen Filiale in Sanktanna (Arad) verwirklicht. 40 In dieser Situation haben die Interviewer mittels der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. München einen Übersetzer zu Hilfe nehmen können.


28 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive Zeit hat das schroffe Relief der Konflikte, Mutter mit einem einige Monate alten Baby Leiden und Demütigungen aus der Jugend im Arm zurückkam“, erzählt die Tochter einer besänftigt. Über sie hat das Leben andere vormals Deportierten. „Der Vater wollte nicht Leiden und Frustrationen gestreut. Durch zusammen mit der Mutter und mir, dem Baby, ihr Alter sind alle geprägt durch den Ver- nach Rumänien kommen. Er kehrte nach Unlust nahestehender Wesen: Kinder, Enkel, garn, zu sich nachhause. Ich weiß nichts über Lebenspartner. Anderseits haben die zu- ihn, habe ihn nie gesehen.“42 rückliegenden Jahre und das Dasein in AlOder dieser Bericht einer Enkelin über ihre tersgemeinschaften ihren Glauben und ihre Großmutter: „Als sie aus der Deportation zufundamentalen Praktiken verändert. Christ- rückkam, war es für meine Großmutter noch liche Gebote wie „Liebe deinen Nächsten schlimmer. Sie erzählte nicht viel darüber, nur wie dich selbst“ oder „Vergib deinen Schul- was ich von meinem Vater erfuhr. Als sie zudigern, dann wird auch dir vieles vergeben rückkam, wollten die Kinder sie nicht mehr. werden“ haben ihre Verhaltensweisen und Zuhause war ja diese Frau. Großmutter hatte Meinungen endgültig verändert. so keine Bleibe. Mit dem Ehemann lief nichts „Schuldig an den Geschehnissen habe ich mehr. Es war ein Desaster. Sie wollte beide niemanden gesprochen“, sagt heute eine De- Kinder, doch keins wollte sie. Sie nahm sie, portierte über ihr Lagerleben. „Ich sagte nicht doch sie konnte sie nicht ernähren. Sie hatte so, noch anders. Als sie uns nahmen, sind wir kein Geld. Bis zuletzt verließ der Junge sie für gegangen. So wie die Männer vor uns in den ein Federmäppchen und lief zu seinem Vater. Krieg gingen. Warum nahmen sie uns? We- Oh weh! Sie hatte nichts zu essen für sie. Bis gen unserer Sünden nahmen sie uns41.“ zuletzt blieb das Mädchen bei ihr. Sie erzählte An diesem Punkt der „Besänftigung“ der nicht. Es war ein Desaster für eine Frau. Stellt Deportations-Erinnerungen angelangt – wie euch vor, die Familie kaputt und die Kinder die Wellen, die sanft auf das Lebensufer tref- mögen dich nicht mehr! Sie mögen die Frau, fen – betrachten wir die Erforschung der le- die nicht ihre Mutter ist, jedoch für sie sorgte, bendigen Erinnerung aus historischer Per- während sie deportiert war.“43 spektive als abgeschlossen. Die Erinnerungen der Nachfahren haben aus den Erzählungen der Eltern und GroßDas zweite Ufer - Das Gedächtnis eltern Informationen und suggestive BilDie Erinnerungen der Nachfahren der gespeichert und noch eindruchsvoller Wir haben den Rahmen des anfänglichen wiedergegeben. Der Hunger, die Kälte, die Projekts gesprengt, indem wir die Befragten- schwere Arbeit, die Demütigungen und die Kategorie auf die Erinnerungen der Familien Entfernung – Konstanten der deutschen Deausweiteten. Anhand von drei Generationen portierten in der UdSSR – werden in diesen verfolgten wir die Deutungs-Mäander der Erinnerungen durch Episoden illustriert, die nahen Vergangenheit im sozialen Denken. sich aus kulturellen und persönlichen DeuIn den Berichten gab es auch Fälle, wo ein tungen und Umdeutungen ergeben. bestimmtes Geschehen aus dem persönlichen „Ich bin so glücklich, dass wir etwas zu Deportationsleben tiefere Folgen im Leben essen haben“, zitiert eine Nichte ihre Tante. des Interviewten und seiner Familie hinterließ „Bei den Russen war es schrecklich – du hatals die Deportation selbst. „Bei der Rückkehr war es ein Schock für die Familie, dass die 42 Bericht von Ana Szucs

41 Bericht von Rozalia Buttinger

43 Bericht von Erika Renz


29 Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive test nichts zu essen. Es ist schrecklich, wie dentum“ - nach dem Ausdruck von Tzvetan sehr wir gehungert haben und wie viele ver- Todorov - durch die Wertung der Nachfahren hungert sind. Und wie sollte ich jetzt nicht in exemplarisches Heldentum. essen? Es ist mir egal, wie viel ich zunehme. Dort gab es eine sehr kranke und geschwäch- Das letzte Ufer - Die kollektive Erinnerung te Frau. Und sie bat mich, ihr von meiner EsDas kollektive Gedächtnis sensration zu geben. Niemand wollte von In der klassischen Theorie von Maurice Halbseiner kleinen Ration einem anderen ge- wachs46 wird die Beziehung zwischen der inben. „Gib mir zu essen. Ich sterbe soundso dividuellen und kollektiven Erinnerung durch hier. Du jedoch kannst, wenn du heimkehrst, gewisse soziale Rahmen gewährleistet. Das meinen Mann nehmen.“ „Lass mich in Ruhe, Soziologische dominiert jedoch das Psychosagte ich. Ich brauche deinen Mann nicht! logische, die individuelle Erinnerung bezügUnd als ich von Russland kam, habe ich ge- lich eines Ereignisses oder einer wesentlichen nau den Mann jener Frau genommen...“44 Zeitdauer „passt sich“ den kollektiven DarEin andermal reihen sich die Erinnerungen stellungen an. zu wahren Familien-Biografien, zu ErgänNicht anders sind auch die Deportationszungen für eine mögliche Ethnografie der Ru- Erinnerungen der Deutschen. Siehe eine remänien-Deutschen. „Die Tante meines Man­ levante Antwort bezüglich der schuldigen nes war deportiert, erzählt eine Interviewte. Entscheidungsträger an jenen Kollektiv-LeiSie war dünn, sodass niemand glaubte, dass den: „Wir glaubten zuerst, dass der rumäsie schwanger ist. Sie ging im Januar und im nische Staat Schuld trägt. Man sagt, dass September gebar sie das Kind. Sie erkrankte die Sowjets 100.000 Arbeiter von Rumänien dort an TBC, so geschwächt war sie. Nach der verlangten und dass die Rumänen uns gaben, Russland-Deportation brachte man sie in den die Deutschen aus dem Land. Erst nach 1990, Baragan. Warum? Weil sie aus Großjetscha als die Moskauer Archive öffneten, erfuhren waren und man sie als reich einstufte. Sie hat- wir die Wahrheit. Das deutsche Innenminiten kein Landgut, jedoch viele Hektare Feld. sterium teilte uns dann mit, dass Stalin uns In Russland starb sie nicht, sie starb im Bara- vom rumänischen Staat verlangte. Sie zwangan. 1945 kam sie von Russland, 1947 gebar gen die Rumänen, ihnen zu helfen, und diese sie zuhause noch ein Kind, jedoch 1951 wur- machten die Listen. Es gab keinen Ausweg. de sie in den Baragan deportiert. Als sie starb, Auch sie waren Besiegte des Krieges.“47 war sie nicht mal 30 Jahre alt.“45 Die Meinung aller Überlebender, die auf Diese Erfahrungen kurz zusammenge- die Fragen hinsichtlich der „Lehren“ geantfasst, könnte man sagen, dass die Deporta- wortet haben, ist, dass die Geschichtsbücher tions-Erinnerungen, umgewandelt in Fami- auch die Episode der Verschleppung der Deutlienerinnerungen, dramatischer sind als die schen in die Sowjetunion erwähnen müssen, direkten Berichte der älteren Überlebenden. wenn der II. Weltkrieg dargestellt wird. Die In der Synchronisierung der „Bedeutungen“ zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln wandelt sich das, was in den Be- 46 Das Werk „Die sozialen Rahmen der Erinnerichten der Überlebenden als „Alltags-Hel- rung“, von Maurice Halbwachs 1925 veröffent44 Bericht von Erika Renz

licht, fundamentiert das Studium der sozialen Erinnerung aus der psycho-soziologischen Perspektive.

45 Bericht von Karina Reinert

47 Bericht von Ignaz Bernhard Fischer


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Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

Nuancierungen sind dabei abhängig von der Geschichts-Kultur der Interviewten. „Es muss 1933 beginnen“, meint einer, indem er sich auf die Gründe der Deportation bezieht. „Mit Deutschland, nachdem es den I.Weltkrieg verloren hatte. 80% konnten mit den Schulden, die sie hatten, nicht leben. Unmöglich! In dieser Situation wären in jedem Land Bewegungen gewesen. Und durch die Bewegungen wurden Ideen übernommen. Und davon profitierte die National Sozialistische Partei.“48 Mittels impliziter oder expliziter Sozial­nor­ men, Kultur-Modelle, aktueller Ideolo­gien, sozialer Einflüsse bedingten sie die Umdeutung der Kollektiv-Erinnerung und zugleich die individuelle Erinnerung, die zu verallgemeinernden Schlussfolgerungen wie folgt führten: „Damit derartiges Unglück nicht wieder geschehe, sollten die Menschen vor allem an Gott glauben. Hat der Mensch diesen Glauben nicht, sucht er sich andere Götter: das Geld, die Macht. Diese Götter jedoch degradieren ihn. Wenn alle degradiert sind, kommt die Diktatur. Jedoch Gerechtigkeit, Würde und Freiheit müssen das Fundament des Lebens sein.“49 48 Bericht von Anton Ferenschütz 49 Bericht von Ignaz Bernhard Fischer

Ein ergänzendes Zeichen zur kollektiven E­rin­­nerung an die Deportation der Deutschen in die Sowjetunion wünscht auch die­ ses Buch zu sein. Am Ende desselben sprechen die Autoren den Überlebenden der Deportation Dank aus, die die schmerzhafte Rei­se in ihre Vergangenheit genehmigten. Dankbarkeit sprechen wir auch Herrn Erwin Tigla aus, dem Vorsitzenden des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitza; Herrn Ignaz Bernhard Fischer, dem Vorsitzenden des Vereins der vormals Deportierten aus Rumänien in die UdSSR; der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V. München und besonders dem Vorsitzenden Herrn Peter Leber, die alle unsere Schritte unterstützt und uns die Kontakte zu den Interviewten in Bayern erleichtert haben. Unser Dank geht auch an Herrn Martin Reinholz, den Vorsitzenden der Filiale Sanktanna (Arad) des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien und natürlich auch an die Studenten und die anderen Interviewer, die sich unseren Bemühungen anschlossen. Lavinia Betea Cristina Diac Florin-Razvan Mihai Ilarion Tiu


Die Deportationswellen im Spiegel der Geschichtsarchive

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Erwin Josef Ţigla

In Reschitza, ein Hindernis im Wege des Vergessens…

Erwin Josef Ţigla1

V

on Jahr zu Jahr werden sie weniger; von Jahr zu Jahr gehen sie schwerer, werden buckliger und doch, wenn man von einem Teil ihrer Jugend spricht, atmen sie auf, kommen ungewollt Tränen in ihre Augen. Es geht um die noch lebenden gewesenen rumäniendeutschen Russlanddeportierten, die fast alle gut über 80 sind, einige zwischen 65 und 70 (diejenigen, die dort geboren wurden)!1 Im Januar 2012 waren es 67 Jahre seit dem Beginn der Deportation der Rumäniendeutschen (nicht nur sie wurden deportiert, sondern auch andere Deutschen aus den verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas, die sich in der sowjetischen Einflusssphäre befanden). Es war und ist zu einer Ehrenpflicht des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen und des Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vortragsreihe Reschitza“ geworden, Jahr für Jahr, seit der Wende, auf Anregung der Russlanddeportiertenvereinigung des Banater Berglands, des Beginns der Deportation vom Januar 1945 zu gedenken. Wenn es bis 1995 auf dem großen deutschen Friedhof (Nr. 2-3), in der unmittelbaren Nähe der damals noch funktionierenden Hochöfen geschah (da stand beim vierten Kreuz eine schlichte Gedenktafel, von Msgr. Paul Lackner geweiht, auf der das Wort Deportation noch nicht erscheinen konnte / durfte) so wurde ab Oktober 1995 zum Mittelpunkt dieser Gedenkveranstaltungen das Denkmal, das in der Nähe des Stadtzentrums von Reschitza, im „Cărăşana“-Park, aufgestellt ist. Seit 15 Jahren gibt es etwas in unserer Stadt, 1 Vorsitzender des Demokratischen Forums der Banater Berglanddeutschen und Leiter des Kulturund Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vor­ trags­­reihe Reschitza”

umt das wir beneidet werden: das Denkmal zu Ehren der Russlanddeportierten im „Cărăşana“-Park, nicht weit weg vom Südbahnhof, von wo der Großteil der Deutschen Reschitzas, die für den Wiederaufbau der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg zusammengeführt worden waren, in Waggons geladen und ins ferne Russland geschickt wurden. Gerne erinnere ich mich an die Entstehungsgeschichte dieses Denkmals, die gleich nach der Wende, bereits Januar 1990 in meinen Gedanken begann. Warum? Weil auch mein Großvater mütterlicherseits, Josef Wrattny, für fast 5 Jahre deportiert war, am Heiligen Abend 1949 heimkam und mir so manches Mal erzählte, wie es damals, dort, weit im Ural, zugegangen ist. Er hat sich oft mit Tränen in den Augen daran erinnert. In den ersten Monaten des Jahres 1990 wurde auch in Reschitza eine Russlanddeportiertenvereinigung gegründet und hier unterbreitete ich öffentlich zum ersten Mal die Idee eines solchen Vorhabens, ein Denkmal zu errichten, was positiv aufgenommen wurde. Von da an bis im Oktober 1995, als daraus Wirklichkeit wurde, war es aber noch ein langer Weg... In den deutschen Zeitungen aus Rumänien, aber auch in jenen aus Österreich und Deutschland wurde von unserer Initiative berichtet, oft auch mit negativen Äußerungen. Es gab Landsleute von hier und drüben, die das Errichten des Denkmals nicht mit guten Augen gesehen haben, was uns aber nicht entmutigte. Wir machten weiter! Was mich noch heute am meisten in meinem Erinnern rührt, das ist die damalige Solidarität der ehemaligen Russlanddeportier­ten selbst, die von ihren kleinen, in Rumänien bezogenen Renten ein Bröckchen für die Finanzierung des Denkmals spendeten. Ein De-


Erwin Josef Ţigla portierter schenkte sogar seine ganze, zum ersten Mal nach dem Dekret-Gesetz Nr. 118 / 1990 für die Deportationsjahre bekommene Zusatzrente für den Aufbau des Denkmals. Aber ohne die Unterstützung des Heimatverbands der Banater Berglanddeutschen in München, die des Alpenländischen Kulturverbands „Südmark“ zu Graz und der Landesregierung der Steiermark in Österreich wäre alles in der Absichtsphase geblieben. Dazu kamen weitere Organisationen und Institutionen, aber auch viele Privatpersonen aus dem In- und Ausland, die uns verhalfen, dass wir das Denkmal haben. Ein besonderer Gedanke geht in diesem Augenblick auch an den Künstler, der den Entwurf schuf: Univ.-Prof. Dr. Ion (Hans) Stendl, gebürtiger Reschitzarer, heute in Bukarest lebend. Auch seine Eltern wurden verschleppt und er wollte ein mahnendes Zeichen für die Zukunft setzen: Nie wieder! Am 14. November 1992, im Rahmen der II. Auflage der „Deutschen Kulturdekade im Banater Bergland“, folgte, nach dem ökumenischen Lesegottesdienst der beiden Bischöfe Msgr. Sebastian Kräuter (römischkatholischer Diözesanbischof von Temeswar) und D.Dr. Christoph Klein (Bischof der Evangelischen Landeskirche A.B. Rumänien) in der „Maria Schnee“-Kirche, die Segnung des Standorts, wo das Denkmal zu Ehren der verstorbenen Russlanddeportierten errichtet werden sollte. Das rechtzeitige Eintreffen der Granittafeln aus Österreich, die das Denkmal beschmücken, die ebenfalls rechtzeitige Anfertigung des gegossenen Christus und der Inschrifttafeln in den Reschitzaer Werken, dies alles hat, nicht ohne den damit verbundenen Sorgen und Stress, dazu beigetragen, dass das Denkmal bis zum Tag seiner Segnung fertiggestellt werden konnte. Es kam auch der große Tag: der 14. Oktober 1995, der zweite Tag der V. Auflage der „Deutschen Kulturdekade im Banater Bergland“.

33 Nach einem ökumenischen Lesegottesdienst in der römisch-katholischen „Maria Schnee“-Kirche folgte die Feier der Enthüllung und Segnung des Denkmals. Es hielten Ansprachen vor der versammelten Gemeinschaft: Dipl.-Ing. Julius Anton Baumann (Ehrenbundesvorsitzender des Heimatverbands der Banater Berglanddeutschen in Deutschland, mit Leib und Seele für die Errichtung des Denkmals bereits von Anfang an dabei), Dipl.-Ing. Pavel Gheorghe Bălan (Vorsitzender des Kreisrates Karasch-Severin), Ignaz Bernhard Fischer (Vorsitzender der Russlanddeportiertenvereinigung Rumäniens) und meine Wenigkeit, als Leiter des Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vortragsreihe Reschitza”. Enthüllt wurde das Denkmal durch Dipl.Ing. Julius Anton Baumann, Karl Bereznyak (Vorsitzender der Russlanddeportiertenvereinigung des Banater Berglands) und durch meinen Sohn Alexander Erwin Ţigla (als Vertreter der Zukunft). Danach folgte die Segnung durch Ihre Exzellenzen Msgr. Sebastian Kräuter (Bischof der römisch-katholischen Diözese Temeswar) und D. Dr. Christoph Klein (Bischof der Evangelischen Landeskirche A.B. Rumäniens), im Beisein des Landeshauptmanns der Steiermark, Josef Krainer jr., der extra mit einem Sonderflug aus Graz nach Karansebesch geflogen war, um in Reschitza für einige Stunden bei den Gedenkfeierlichkeiten dabei zu sein. Musikalisch wurde alles vom „Franz Stürmer“Chor aus Reschitza umrahmt. Alle Anwesenden werden diese Augenblicke nie vergessen, dessen bin ich mir sicher! Und ich persönlich, als Initiator und Errichter des Denkmals, schon längst nicht. Der gesamte Einsatz hat sich gelohnt, all die verwendete Energie wurde mit dem Aussehen des Denkmals „bezahlt“! Ja, und seit diesem Datum ist so manche Russlanddeportierten-Gedenkveranstaltung (hauptsächlich ein jedes Jahr im Januar) hier


34 organisiert worden. Blumenkränze und Gebinde, einfache Blumensträuße wurden hier niedergelegt und Kerzen angezündet von Menschen aus Reschitza, aus ganz Rumänien, aus Deutschland und Österreich, aus der weiten Welt. Ein weiteres besonderes Ereignis in Re­ schitza war die feierliche Gedenkstunde am 22. Januar 2005, zum 60. Wiederkehrstag des Russlanddeportationsbeginns. Die Anwesenheit der drei Exzellenzen: Msgr. Martin Roos (Bischof der römisch-katholischen Diözese Temeswar), Msgr. Eugen Schönberger (Bischof der römisch-katholischen Diözese Sathmar) und D. Dr. Christoph Klein (Bischof der Evangelischen Landeskirche A.B. Rumäniens), aber auch die des Karasch-Severiner Präfekten Dr. Gavril Soran, der vielen Vertreter von Russlanddeportierten aus dem ganzen Lande, der Offizialitäten des Kreises Karasch-Severin und des Munizipiums Reschitza, der hohen Vertreter des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien haben dieser Gedenkstunde einen würdigen Rahmen gegeben! Die erste Landesgedenkfeier der Russlanddeportation fand aber im Jahre 1995, in der Zeitspanne 12. - 14. Januar statt, als sich in Kronstadt zum ersten Mal Russlanddeportierte und ihre Vertreter aus dem ganzen Lande trafen, um sich über dieses Unrecht nach dem Zweiten Weltkrieg auszusprechen, der Toten zu gedenken und ein symbolisches Mahnmal zu errichten. Man wollte für die Zukunft warnen, damit so etwas nie mehr in der Geschichte dieses Landes geschehen möge! Es war nicht von Rache die Rede, sondern von Vergebung! Neben weiteren Gedenkveranstaltungen die damals dort stattgefunden haben, war am wichtigsten der ökumenische Lesegottesdienst in der Schwarzen Kirche im alten Stadtkern der Kreishauptstadt. In Kronstadt haben neben hohen Vertretern des diplomatischen Korps und der da-

Erwin Josef Ţigla maligen politischen Verwaltung des Kreises auch hochrangige Vertreter des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien und, teilweise, höchstpersönlich, der damalige Staatspräsident Rumäniens, Ion Iliescu, teilgenommen. Fünf Jahre später fand eine zweite Landesgedenkveranstaltung, am 15. und 16. Januar 2000 in Temeswar, im „Adam MüllerGuttenbrunn“-Haus, in der Organisierung von Herrn Ignaz Bernhard Fischer und von Frau Elke Sabiel statt. Sie konnten damals den bekannten rumäniendeutschen, heute in Deutschland lebenden Schriftsteller Richard Wagner als Hauptredner heranziehen. Das Requiem im Temeswarer Dom soll hier auch Erwähnung finden, weil es alle Anwesenden bis aufs Tiefste gerührt hat. Im Jahre 2010 fanden die Landesgedenkveranstaltungen zum 65. Wiederkehrstag des Beginns der Russlanddeportation in Sathmar, im Nordwesten Rumäniens, in der Zeitspanne 19. - 21. März statt. Im Mittelpunkt stand das Gedenken in der römisch-katholischen Kathedrale, wo Herr Ignaz Bernhard Fischer, als Vorsitzender der Russlanddeportiertenvereinigung Rumäniens, der Festredner war. Auch hier nahmen Vertreter des diplomatischen Korps, des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, der politischen und administrativen Verwaltung teil. Schon vor der Wende in Rumänien erschienen viele Schriften und Bücher im Ausland, um das Geschehen, welches 1945 begonnen hat, zu widerspiegeln, zu dokumentieren, um darüber zu recherchieren. Erst im Dezember 1989 durfte darüber auch in Rumänien gesprochen, geforscht, geschrieben und gefilmt werden, was auch tatsächlich geschah. Einige Dutzend Bücher wiedergeben das damalige Geschehnis, was sich danach ereignete, wie sich im Laufe der Jahre im Kommunismus die Situation der gewesenen Russlanddeportierten weiter entwickelte bis zum heutigen Tag.


Erwin Josef Ţigla

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Auch der Kultur- und Erwachsenenbildungs­ verein „Deutsche Vortragsreihe Re­schitza“ hat sich die Mühe genommen und drei Veröffentlichungen unter dem Sammeltitel „Russlanddeportierte erinnern sich“ in den Jahren 1995, 1997 und 2005 druckreif gemacht. Sie wiedergeben in erster Reihe Erinnerungen ehemaliger Russlanddeportier­ter aus unserer Region, traumatisierende Erlebnisse, die einen lebenslang prägen. Im Jahre 2010 erschien das Buch-Album „Monumente şi plăci comemorative pentru germanii din România deportaţi în fosta Uniune Sovietică“ („Denkmäler und Gedenktafeln für die ehemaligen deutschen Russlanddeportierten aus Rumänien“). Hrsg.: Erwin

Josef Ţigla. Lektorat: Waldemar König. Re­ schitza: „Banatul Montan”, 2010; ISBN: 978-973-1929-35-4. Zahlreiche Beiträge wurden im Laufe der Jahre auch in unserer Monatsschrift „Echo der Vortragsreihe“ veröffentlicht, genauso wie im Periodikum „împreună, miteinander, egyűttesen“, auch von uns herausgegeben. Die Schilderung der Russlanddeportation der Rumäniendeutschen soll mit Hilfe aller unserer Publikationen ein Mahnmal für die Zukunft darstellen: Nie wieder Krieg, nie wieder Gräueltaten dieser Art, aber auch nie wieder Vertreibung, Verbannung, Hunger und Not. Ein Mahnmal für die kommenden Generationen!

Ein Ereignis aus vier Sichtweisen Reschitz - Zusammenfassung der Erinnerungen

A

nton Ferenschütz habe ich vor fast zwei Jahrzehnten in Reşiţa (Reschitz) kennengelernt. Er kam nach Rumänien zur Vorstellung seiner Autobiografie „Generaţia de sacrificiu”/„Die Opfer-Generation“ (Timişoara/ Temeschburg, Helicon, 1995). Unsere Begegnung fand damals beim Sitz des Fernsehsenders TeraSat in Reschitz statt, wo Anton Ferenschütz eingeladen war, seine Erinnerungen aus der Russland-Deportation zu schildern. In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts erregten solche „weiße Flecken“ der Geschichte Aufsehen und waren Grund für Emotionen und Kontroversen. Die „Brüderlichkeit“ zwischen Rumänen und „mitwohnenden Nationalitäten“ und die Freundschaft zwischen dem „sowjetischen Volk“ und den anderen „sozialistischen Nationen“ waren „Prinzipien“ der kommunistischen Geschichtsschreibung. Somit wurde die Deportation der deutschstämmigen Bevölkerung aus Rumänien in die UdSSR, am

Lavinia Betea

Ende des Zweiten Weltkrieges, bis zum Fall des kommunistischen Regimes nur in der Erinnerung der verschleppten Familien wach gehalten. Die Kinder wurden ängstlich beschworen, unter der Angst, dass sie nicht aus Versehen in der Schule etwas „ausplaudern“. Zum Unterschied von anderen Zeugen und Opfern, die ihre Erinnerungen dadurch verarbeiteten, dass man sich auf Selbsterlebtes konzentrierte, hat Anton Ferenschütz das Drama seiner Deportation in Form eines dramatischen Gemeinschaftsereignisses als Auswirkung des Zweiten Weltkrieges, durch Malen und Literatur ausgedrückt. Am Ende des Krieges sind die Sieger zu verschiedenen Repressalien gegen die Besiegten übergegangen. Die Bestrafung der „Kriegsverbrecher“ und „Kollaborateure“ durch eingerichtete Sondertribunale wurde durch ausführliche Berichterstattung begleitet. In Rumänien war eines dieser Tribunale der „AntonescuProzess“. Durch die Sowjets verhängte Stra-


36 fen für „kollektive Schuld“ wurden allerdings im Stillen vorgenommen. Noch während des Krieges hatte Stalin schon sechs ethnische Gemeinschaften deportieren lassen, unter dem Vorwurf, sie hätten sich nicht der Nazi-Besatzung widersetzt. Im „Sowjetland“ brachte der Frieden das Unglück über die gefangenen Soldaten und all jene, die sich in die Deutsche Armee eingereiht hatten. Im Rahmen der Vereinbarungen zwischen den Alliierten wurden sie in ihre Heimat entlassen. Diejenigen, die zusammen mit den Nazi-Truppen gegen die Rote Armee gekämpft hatten, wurden hingerichtet, die Kriegsgefangenen wurden aus Nazi-Lagern in russische Lager überführt. Als Kriegsverlierer wurde Rumänien zu Reparationsleistungen verpflichtet. Darunter fielen auch Deportationen zur Zwangsarbeit von deutschen Volkszugehörigen in die Sowjetunion. Unter Federführung der Sowjetischen Kom­­ mandantur in Bukarest wurden im Januar 1945 Männer bis 48 und Frauen zwischen 17 und 40 Jahren zum „Wiederaufbau“ in die UdSSR verschickt. Transportiert in Viehwaggons mit unbekanntem Ziel, wurden die Deutschen aus Rumänien dort eingesetzt, wo es am schwersten war, unter Bedingungen an der Grenze des Überlebens. Die Folgen für jeden einzelnen waren, je nach persönlichem Schicksal, recht unterschiedlich. Einer der vielen Deportierten aus Reschitz war Anton Ferenschütz. Seine Vorfahren waren eine der ersten Kolonisten-Familien, die sich als Metallurgie- und Bergbau-Meister in Reschitz angesiedelt hatten. 1941, als die Nazi-Truppen Rumänien erreichten, lebte in Siebenbürgen noch eine zahlenmäßig starke deutsche Gemeinde. Nach den Aussagen von Anton Ferenschütz haben sich die Volksdeutschen hier „deutscher verhalten als die Deutschen“. Die deutsche Minderheit hatte eine stärker ausgeprägte Gruppenidentität als die einheimische Gemeinde und die Mehrheits-

Lavinia Betea bevölkerung im Land. Unter dem Enthusia­s­ mus der Siege der Deutschen Armeen in Europa bedauerte er als 12-jähriger Junge, dass sein größerer Bruder, als Freiwilliger in der SS, ihm etwas voraus hatte. Zusammen mit anderen deutschen Kindern seines Alters hat sich Anti, wie ihn Eltern und Freunde nannten, in die „Hitlerjugend“ eingeschrieben. Eine paramilitärische Organisation, in der die Vorbereitung zum zukünftigen Soldaten in Lagern mit strengem Regime und Disziplin stattfand. Ein Drittel des täglichen Programmes wurde der Nazi-Indoktrination gewidmet. Die Geschichte Deutschlands wurde neu geschrieben, ankernd in der Tradition der Wikinger-Krieger und des „genialen Hitler“, in der Nazi-Propaganda und ... der „Rassenkunde“. Kinder trugen Gürtel, geprägt mit dem Motto „Blut und Ehre“. Nach diesem Manipulationsprogramm be­ gannen Anti Ferenschütz und andere Burschen seinesgleichen, sich einen „Heldentod“ im Dienste des Führers zu wünschen. Die Nazi-Ideologie ist konkreter als die kommunistische, bemerkte er, nachdem er beide probiert hatte. In ihrem Netz wurden noch leichter unschuldige Seelen eingefangen. Das kommunistische Dogma über die Arbeiterklasse, die Weltrevolution oder die objektiven Gesetzte der Geschichte war abstrakter, schwieriger zu verstehen und dran zu glauben. Die arische Rasse, so brachten es die Instruktoren den Jungen von der „Hitlerjugend“ bei, sei von Gott bestimmt, die Welt zu beherrschen. Wer Augen hat, sieht das schon an den genetischen Merkmalen der Deutschen: sie sind schön, wie Engel, mit blondem Haar und blauen Augen. Die Vermischung von Individuen guter „Her­kunft“ mit „Unreinen“ verboten mit Nachdruck sowohl die Nazis als auch die Kommunisten. Der Inspektionsbesuch eines Nazi-Offiziellen bei der Hitlerjugend-Organisation in Reschitz hat die Seele des kleinen Anti völlig


Lavinia Betea verwirrt, der bis dahin überzeugt war, dass auch er einer der „neuen Menschen“ sei, welche die Welt beherrschen werden. Nachdem er auf alle Fragen des Experten in „Rassenkunde“ hervorragend geantwortet hatte, hat der ihm gratuliert. Er sah in die Augen des Jungen und stellte fest - Horror! - sie waren ja gar nicht blau, die Farbe der „reinen Rasse“. Anti hatte schwarze Augen, schwarz, wie die der Juden, schwarz, wie die der Zigeuner, der unreinen Rassen. „Beflecktes Schwein!“ - stigmatisierte ihn sofort der Inspektor des Großen Reiches, indem er ihm angewidert den Rücken zukehrte. Auch bei der Deportation nach Russland glaubten einige Deutsche aus Rumänien immer noch an Hitlers Lügen, der den Endsieg durch neue Wunderwaffen versprach. Aber nach vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien kam er heim, geheilt vom Nazismus, jedoch erkrankt an Kommunismus. Er war nicht der einzige und der Wandel war bestens geplant. Am Anfang empfingen die Einheimischen die „Faschisten“ mit Hass. Viele Sowjetbürger vertraten damals die Meinung, Stalin sollte sie alle ermorden. Junge Deportierte, wie An­ton Ferenschütz, wurden danach auserwählt, für die „Schule des antifaschistischen Kampfes“. Nach der Arbeit folgten sie dem Programm der „Entnazifizierung“ und kommunistischen Indoktrination. Als zusätzlicher Anreiz dafür galt ein Liter Milch pro Kurstag. Für die jungen, von Schwerstarbeit, unzureichender Nahrung und sibirischer Kälte erschöpften Körper, war die Milch ein effizienter „Verstärker“ zum Erlernen des dialektischen Materialismus. Nach der Rückkehr schien ihm die Geburtsstadt geheilt von den Kriegswunden. Nicht aber sein eigenes Leben. Es erwartete ihn weiteres Unheil. Nach einer langen Krankheitsperiode gebar seine Frau Maria das langersehnte Kind. Aber das Mädchen erkrankte unheilbar, ausgerechnet im Krankenhaus. Die Mutter ließ sich aus übergroßer Fürsor-

37 ge wegen einer banalen Erkältung mit ihr ins Krankenhaus einweisen. Das Mädchen wurde durch eine Spritze infiziert, welche die Krankenschwester zum Impfen aller Kinder auf der Station benutzte - daran starb sie und ließ ihre Eltern völlig zerstört zurück. Weitere Schwierigkeiten folgten unaufhörlich. Der Sünde, in der „Hitlerjugend“ gewesen zu sein, folgten mit der Zeit weitere. Nach dem Wandel der Stalinistischen Ideologie in den Nationalkommunismus erschienen die Praktiken im sibirischen Lager den neuen Propagandisten als Beweis für unsere pro-sowjetische Einstellung. Die „Rote Gestapo“, die nun die Securitate (Sicherheitsdienst) war, hat ihn eines Tages zu deren Sitz in Reschitz einberufen. Sie verlangten von ihm, einen Vertrag als Informant zu unterschreiben, um seine Qualitäten als „guter Verteidiger der Errungenschaften des Volkes“ unter Beweis zu stellen. Obwohl nichts in seinem Leben anders aussah, als es sein sollte. Familienmensch, geschätzt von seinen Kollegen im Stahlwerk, wo er als technischer Zeichner arbeitete, die Freizeit seinen zwei Leidenschaften widmend - Malen und Handball - und trotzdem… Nach eigener Aussage gab es nie ein Anzeichen für die Motive, die zu seiner Auswahl geführt haben. Nachdem ich ihn näher kennengelernt habe, würde ich sagen, dass gerade sein persönlicher Charme und seine Kunst, Beziehungen auf Vertrauen aufzubauen, ihn den Anwerbern der Securitate „empfohlen“ haben. 1971 ist Anton Ferenschütz dahin ausgewandert, von wo aus seine Vorfahren zweihundert Jahre zuvor in Richtung Transsilvanien aufgebrochen waren. Albträume und Depressionen belasteten ihn allerdings Tag und Nacht. Zur Abhilfe empfohlen Ärzte ihm, seine Memoiren zu schreiben. Daraus entstand ein erstes Buch - Dokument über die Traumata der „Braunen Pest“ und der „Roten Pest“ - „Die Opfer-Generation“. Im Dezember 1989 brachte die Nachricht über die Veränderungen in Rumänien


38 das Leben der Familie Ferenschütz in Bielefeld durcheinander. Mit einer Kraft, die den Schranken der „Reschitzer“ Seele zu entspringen schien, ging Anton Ferenschütz an die Arbeit und organisierte in Bielefeld eine erste Ausstellung von Kopien nach Gemälden von Nicolae Grigorescu. Er nannte sie „Hilfe für Rumänien“ und so wurde sie angenommen. Durch die rumänische Revolution und den Prozess des Ceauşescu-Ehepaares stark beeindruckt, kauften ihm die Stadtbürger 40 Bilder ab. Von diesem Geld organisierte er einen Hilfskonvoi für Reschitz. Weitere Gemälde-Ausstellungen folgten Jahr für Jahr in Bielefeld und in Reschitz. Den Erlös der Malereien ließ er immer Alten Menschen, Straßenkindern und HIV-Infizierten aus seiner Geburtsstadt zukommen. Danach vermittelte er die Partnerschaft zwischen Reschitz und Bielefeld und Begegnungen von Politikern und Geschäftsleuten. Die Erinnerung an diesen, durch den Reichtum an Lebenserfahrung und persönliche Qualitäten so besonderen Menschen hat mich veranlasst, ihm einen Artikel mit dem Titel „Die gefleckten Schweine“ zu widmen, veröffentlicht von „Jurnalul Naţional“ 2007, im Rahmen der Reihe „Geschichte des Rumänischen Kommunismus“. Auszüge aus diesem Artikel werden auch im Folgenden wiedergegeben. Mit Spannung und Freude habe ich, zusammen mit Cornelia Dunăreanu, Chef-Redakteurin des Reschitzer Fernsehens, Anton Fe-

Lavinia Betea renschütz im Frühjahr 2012 in seinem Haus in Bielefeld wiedergesehen. Er hat uns seine Wahlheimat gezeigt, den „Reschitz-Platz“, nach den durch ihn eingeleiteten Beziehungen zwischen den beiden Gemeinden so benannt. Wir haben ihn auch zu den Gräbern seiner Familie auf den Stadt-Friedhof begleitet. Er und seine Frau haben sich allerdings als letzte Ruhestätte Gărâna (Wolfsberg) ausgewählt. Nahe bei Reschitz gelegen, der schönste und liebste Platz der Welt für ihre Seelen. Vor der Filmkamera von Cornelia Dună­ reanu erinnerte sich Anton Ferenschütz an einige Episoden aus seiner Russland-Deportation. Seine Frau, Maria Ferenschütz und zwei Reschitzer - der Seelenverwandte Ştefan Raicu und Maria Ferenschütz, durch die Heirat mit seinem Neffen ebenfalls in Deutschland lebend - haben freundlicherweise die Fragen zur Erinnerung an die Deportation beantwortet, so wie diese in unseren Tagen in den Familien und bei Angehörigen der Deportierten weiterlebt. Für mich waren diese Gespräche was ganz Besonderes - die Deportation eines Mannes, aus seiner Erinnerung und aus der Erinnerung seiner Angehörigen - sie sind es wert, vollständig wiedergegeben zu werden. Die Illustrationen in diesem Buch sind ebenfalls die Arbeit von Herrn Anton Ferenschütz. Wir danken ihm auf diesem Wege für die freundliche Genehmigung ihrer Reproduktion.

Vom Nazi-Hakenkreuz zum kommunistischen Bekenntnis

Sowjetische Desinformation: Die Rumänen haben die Deutschen weggegeben Anton Ferenschütz (Deutschland)

W

ann wurden Sie geboren? 1927 in Reschitz. Ich wurde im Januar 1945 deportiert - in die Stadt Iss, hinter dem Ural. Dort befand sich eine Gold- und Platinmine. Es wurde mit Schwimmbaggern gearbeitet, ein paar Sperren, in denen die Er­de ge-

waschen wurde und das Gold blieb zurück. Es gab Tage, da wurden 3 kg Gold „geerntet“. Von wie vielen Deportier­ten? 20 Mann. Wie lange waren Sie deportiert? Dreieinhalb Jahre.


Anton Ferenschütz Wie haben Sie von der Deportation erfahren? Ich erinnere mich, dass während des Krieges ein paar große Plakate gegen die Sowjets aufgestellt wurden. Denn auch die Rumänen waren damals gegen die Russen. Und es wurden darauf Waggons dargestellt, wie in meiner Zeichnung1. Auf dem letzten Waggon war ein Soldat gemalt, in Form eines Skeletts, mit der Aufschrift „niemals“. Das sollte heißen, wir werden niemals Menschen deportieren. Und trotzdem ist genau das geschehen. Vor der Einpferchung in Waggons wurde angekündigt, alle Deutschen sollten sich bei der Polizei melden. Wer nicht kommt, würde bestraft werden. Und selbstverständlich sind wir, gewissenhafte Bürger, hingegangen, wie eine Herde Schafe. Das war etwa am vierten oder fünften Januar. Nach diesen Listen sind am 16. Januar zwei russische mit einem rumänischen Soldaten gekommen, um uns von zu Hause auszuheben. Ich war mit meinem Vater und meiner Schwester zu Hause, die noch ein kleines Kind hatte. Nur mich haben sie ausgehoben. Mein Vater wollte an meiner Stelle gehen, ich sollte mich stattdessen verstecken, da sie nur nach Ferenschütz Anton gefragt haben, ohne weitere Datenangabe. Er hätte an meiner Stelle gehen können. Aber er war erst kürzlich aus der Gefangenschaft zurückgekommen. Sie nahmen mich mit und brachten mich zur Beton-Schule in dem Alten Viertel von Reschitz. Fast 400 Menschen, Frauen und Männer zwischen 17 und 45, wurden dort versammelt. Haben sie Ihnen gesagt, dass Sie deportiert werden? Sie haben es uns nicht gesagt, aber wir haben es geahnt. Als sie Sie ausgehoben haben, wurde Ihnen gesagt, warum? Um uns zur Beton-Schule zu bringen, damit sie uns überprüfen. 1 Bezieht sich auf seine eigenen Zeichnungen, die nach 1990 ausgestellt wurden

39 Haben Sie keinerlei Vorbereitungen getroffen? Es gab auch Vorbereitungen, denn es verbrei­ teten sich Gerüchte unter den rumänischen Soldaten. Ich, zum Beispiel, ging an diesem Tag zur Schule, da ich Schüler war. Und auf der Brücke kontrollierten Wachen. Wer nicht im deportationsfähigen Alter war, wurde zurück nach Hause geschickt. Die anderen haben sie zum LKW gebracht, der bereitstand. Ich war 17 Jahre alt, etwas dünn, so sah ich jünger aus. Der rumänische Soldat sah zuerst mich an, dann meinen Schulausweis und sagte: „Mein Sohn, geh nach Hause. Pass auf, sie werden euch deportieren, bereite dich darauf vor oder lauf weg und versteck dich!“ Die Russen bemerkten, dass er zu mir spricht, aber sie haben nichts verstanden. Ich ging nach Hause und erzählte meinen Eltern, was vorgefallen war. Wir standen uns nicht sehr gut, wir hatten kein Schwein geschlachtet, wie andere. Mutter buk ein Brot, das war morgens um acht. Um etwa zwei Uhr nachmittags kamen sie, uns abzuholen. Ich trug dünne Kleidung, aus schwachen Stoffen, auch lange Unterwäsche hatte ich nicht. Wer wurde sonst aus Ihrem Familien- und Be­­kanntenkreis deportiert? In unserer Nachbarschaft waren zum Beispiel drei Mädchen. Sie müssen sich vorstellen, alle drei wurden deportiert. Sie waren zwischen 17 und 25 Jahre alt. Ihre Mutter, Witwe, blieb allein. Es war ein Zustand...! Einerseits war ich nicht vorbereitet. Andererseits war ich jung und dachte: „Sie werden uns wieder frei lassen. Wir bleiben ein, zwei Monate und werden wieder nach Hause kommen“. Wenn man jung ist, scheint das Böse weit weg und der Tod lauert in der Nähe von anderen. Das Leben scheint endlos. Wem gaben Sie die Schuld damals, in dem Moment, für das, was passiert ist? Ich war zu jung, um mit den Gedanken so weit zu gehen. Aber es waren unter uns Menschen, die Russisch konnten. Sie fragten die


40 russischen Soldaten, warum sie uns wegbringen. Sie sagten, dass die sowjetische Regierung von Rumänien Kriegsentschädigung for­derte, einhunderttausend Arbeitskräfte. Die Rumänen meinten: warum sollen wir gehen? Und so gaben sie uns, die Deutschen. Teilkompensation... Aber es gab auch andere Gründe. Ein gewisser Ausgleich, vor allem, weil die Deutschen hier auf der Seite von NaziDeutsch­land im Krieg standen, manche gingen als Freiwillige. So habe ich das damals verstanden. Vielleicht war dies eine vorher vereinbarte Erklärung. So wurde die Deportation begründet, erzählte mir auch Herr Ignaz Bernhard Fischer aus Temeschburg. Erst durch Informationen über das Deutsche Innenministerium, nach 1990, erfuhr man, dass Stalin ausdrücklich ethnisch Deutsche aus den besiegten Ländern zum Wiederaufbau der UdSSR angefordert hatte. Wie viele Deportierte waren Sie aus Reschitz? Genaue Informationen darüber gibt es, glaube ich, beim Forum der Deutschen in Reschitz. Die hat Ţigla, wie viele verschleppt wurden und wie viele zurückgekommen sind. Die Reise ins Ungewisse Aber nicht alle hatten das gleiche Deportationsziel, nicht alle kamen nach derselben Zeit wieder aus der Verbannung zurück, und nicht immer dahin, von wo sie weggegangen waren. Wie begann Ihre Reise? Der erste Transport, nachdem sie uns festgenommen hatten, ging am 18. Januar weg. Uns hielten sie bis zum 20. Januar. Aus der Schule konnten wir weder raus, noch hatten wir eine Verbindung nach Draußen. Meine arme Mutter hat versucht, mich in dieser Zeit frei zu bekommen. Sie hatte erfahren, dass Anwälte eine Änderung der ethnischen Zugehörigkeit erwirken könnten und sie besorgte ein Zertifikat, das aussagte, dass ich Magyar sei. Natürlich hat die Russen das Zertifikat

Anton Ferenschütz nicht interessiert. Noch am selben Tag luden sie uns in LKW mit heruntergelassenen Planen. Meine Mutter wollte mich noch umarmen, doch ein Russe von kleiner Statur, mit mongolischem Aussehen, schlug ihr die Kalaschnikow über die Brust. Sie können sich vorstellen, welche Wut ich auf diesen Soldat hatte - meine Mutter so zu sehen! Ich war ja noch ein Kind... Sie wollten wahrscheinlich solche Momente nicht zulassen, aus Angst, es könnten Unruhen entstehen. Sie waren sehr streng. Diese Soldaten waren schon durch den Krieg gegangen, seit vier Jahren. Sie kannten kein Mitleid mehr... Wir wurden in Reihen aufgestellt, die Waggons waren mit Kreide nummeriert - ich war in Waggon Nummer 20 oder 21, ich weiß das nicht mehr so genau. Viehwaggons standen bereit. Also gegenüber der Tür war ein Loch im Boden für die „Bedürfnisse“. Es gab noch einen sehr kleinen Blechofen und etwas Holz - für ein, zwei Tage. Die Mitte war frei. Und darüber, links und rechts, einige Bretter, da man nicht auf dem Boden schlafen konnte. Sie wussten was folgt, daher hatten sie ihn so vorbereitet - wir haben es dann realisiert. Ich legte mein Gepäck ab und... 40 Personen in einem Waggon. Konnten Sie Ihre Reisegenossen auswählen? Nein, wir wurden zwei und zwei aufgestellt. Dann sagten sie uns - die ersten zwei voraus, dann folgen die nächsten zwei… wie die Tiere. Wir stiegen um 6 Uhr abends ein, es war schon dunkel und sie schlossen die Türen. Dieses Geräusch des Waggon-Abschließens höre ich noch heute in meinen Ohren. Beim Zug waren keine Soldaten mehr. Und plötzlich sagt jemand, dass rund um den Zug Menschenmassen waren. Und ich sah meinen Vater. Er war leicht zu erkennen, da er kahl war. Und mein Vater rief mir zu - er war Sozialdemokrat - dass ein paar Vertreter der Sozialdemokraten aus Reschitz bei der Regierung interveniert hätten und man uns


Anton Ferenschütz wahrscheinlich nicht deportieren würde. Ich weiß nicht, welches Parteimitglied aus dem Untergrund das gesagt hat, meinte mein Vater, aber es kann nicht ein Unrecht durch ein anderes Unrecht geheilt werden. Und doch, in der Nacht des 20. Januar verließen wir den Bahnhof: Lugoj (Lugosch), Simeria (Fischdorf), Braşov (Kronstadt). An der Grenze zur Republik Moldau wechselten sie die Räder. Die Waggontüren wurden geöffnet, damit wir für die Zeit des Radwechsels absteigen konnten. Dabei flohen aus unserem Waggon zwei Burschen. Was machten die Russen? Sie zählten jeden Tag, wenn sie uns rausließen, dass es 40 Menschen waren. Und am zweiten Tag waren es 38. Sie hatten 40 Personen zu überbringen. Sie hielten in der Nähe von Jassy an einem Bahnhof. Dort ging ein Bauer mit einem Korb voller Eier zum Verkaufen. Und sie nahmen den Bauern mit dem Eierkorb und steckten ihn zu uns in den Waggon. Der Ärmste konnte nicht einmal Deutsch! Gebürtiger Rumäne zusammen mit uns... sie füllten einfach die Personenzahl auf. Was geschah mit den Flüchtigen? Sie kamen wahrscheinlich davon. Sie waren nicht aus Reschitz, sondern von Bocşa (Bokschan). Wir überquerten die Grenze und hielten auf Transnistrien, Odessa zu. In Odessa hielten wir, um Holz zu laden. Sie brachten uns zu Holzlagern und sagten uns, einfach zu holen. Sie wussten, wie es weiterging. Einige hatten Äxte von zu Hause dabei. Wir nahmen Holz, wir nahmen Wasser... etwa jeden zweiten Tag. Durch Russland durften wir nur selten raus. Ein paar Kilometer vor Moskau, sahen wir zerstörte Panzer... Danach gab es immer größere Schwierigkeiten. Wir, die wir schlecht gekleidet waren, begannen die Kälte zu spüren. Ich hatte einen Mantel von meinem Bruder und eine Decke. Aber wir hatten kein Feuerholz mehr. Auf dem Weg nach Kasan, ga-

41 ben sie uns die erste warme Mahlzeit: Fischsuppe. Sie kamen mit einem Fass auf einem LKW, wie es bei der Armee üblich war. In der Ukraine hielten wir einen ganzen Tag lang an einem Ort. Während ich meine Not verrichtete, auf dieser provisorischen Toi­ lette - es waren Frauen und Mädchen dabei, die eine Decke drum rum hielten, man schämte sich - sah ich, dass sich die gefrorenen Exkremente bis unter den Wagonboden türmten. Und auf einmal sah ich eine Hand. Beim näheren Hinsehen merkte ich, es war ein Kind von sechs oder sieben Jahren, dünn wie ein Skelett. Es suchte nach Nahrung. Denn, wenn wir aßen, warfen wird die Reste auch dorthin. Wer ein Schwein geschlachtet hatte, warf die Knochen hinaus. Dann merkten wir, in welches Land wir einfuhren, wenn dieses russische Kind so aussah. So etwas hatte ich noch nie gesehen! Dann begann ich nachzugrübeln, was uns wohl erwarten würde. Auch in Kasan, ist aus unserem Wagon ein Mann von 42 Jahren gestorben. Er war krank und er war mit uns im Wagon, bis wir nach der Wache riefen. Im Wagen waren es -10 °C und der Tote war ziemlich steif gefroren. Der Russe wies uns an, den Toten auszuladen und ihn an einen Zaun zu lehnen. Am nächsten Tag starb noch einer, auch ein Mann. Auch diesmal sagten die russischen Soldaten „Lass, den werden die Russen schon begraben…“ Wie lange dauerte die Reise? 30 Tage. Wir standen zwei Tage in Moskau, im Rangierbahnhof, in Penza, Magnitogorsk, wo es die großen Fabriken gab. Stalin war klug, sie hinter den Ural zu verlagern. Sie konnten nicht bombardiert werden. Einige Transporte blieben gleich dort - im Donbas, Donezk für die Kohlengruben. Was haben Sie gemacht, wenn der Zug länger hielt? Reich war dort keiner von uns. Wie die Reschitzer sind, Arbeiter eben... Einige hatten mehr bei sich, andere weniger. Jedenfalls


42 werde ich nie vergessen, wie der Zug von Europa nach Asien überwechselte, die Stelle war mit einem Stein in Form eines Dreiecks markiert. Alle schauten neugierig, um zu sehen. Dann Swerdlowsk, eine sehr große Stadt. Wohin auch der letzte Zar deportiert wurde... Und wissen Sie, in Swerdlowsk ließen sie uns aussteigen und wir mussten in kleine Schmalspur-Waggons umsteigen. Schmaler als die rumänischen. Und sie waren sehr gut vorbereitet, diese Waggons - auch mit Lebensmitteln. Es war auch etwas Pastrami ausgebreitet, so zum Trocknen und Heuballen und Stroh zum Schlafen. Zwei Tage und zwei Nächte lang ging es dann Richtung Iss. Und eines Tages, um drei Uhr nachmittags wurde der Zug gestoppt. Um den Zug herum war ein Haufen Soldaten, bereit uns in Empfang zu nehmen. Sie fragten mich, was ich in jenen Tagen gemacht hätte. Ich glaube nicht, dass ich gescheiter war, aber ich machte mich daran, Russisch zu lernen. Ein Nachbar von uns, der bei der Armee war, trieb ein paar Wörterbücher in russischer Sprache auf, ich weiß nicht woher. Aber beide haben wir die Sprache gelernt. Bei der Abfahrt sagte mein Vater zu ihm, er solle sich um mich kümmern. Und wir lernten jeden Tag, ein bis zwei Stunden. Ich fragte ihn, er fragte mich und so haben wir etwas gelernt. Als wir ankamen, fragten sie auf Deutsch nach einem „perevodchik“ wer übersetzen könne. Ich wusste, was es bedeutete. Und sie sagten zu mir, du hast das Kommando über 20 Leute, du verantwortest für sie. „Chef“ auf den ersten Blick. Was heißt „du hast das Kommando“? Damit keiner wegläuft, wenn es einem schlecht wird, bei dem Fußmarsch, der nun folgte, sieben Kilometer. Man kann sich vorstellen, nach dem ganzen Weg im Zug. Einige Leute von uns konnten schon nicht mehr gehen. Wir, die Jüngeren nahmen sie ins Schlepptau. Es waren damals minus 38 Grad. Und die Bevölkerung von Iss emp-

Anton Ferenschütz fing uns mit Steinen und Eisbrocken, mit Flüchen… Sie schrien „Deutsche, Tod den Faschisten…!“ So wurden sie wahrscheinlich vorbereitet. Einige Gruppen riefen, andere schwiegen. Hier mache ich eine Klammer. Seit in der Region um Iss, in den 20er Jahren, Gold und Platin gefunden wurde, ich glaube, es war der zweite Ort der Welt mit einem derartigen Reichtum, wurden aus allen besetzten Ländern Menschen zur Arbeit herangeschafft. Sie nahmen Kriegsgefangene und politische Häftlinge und deportierten sie. Die Menschen hatten keine Ausweise, nur ein Stück Papier. Darauf stand, dass sie sich nicht mehr als 30 km entfernen dürfen. Welche Ausweispapiere hatten Sie? Ich hatte keine Papiere, Ich hatte sie zu Hause gelassen. Wie viele Deutsche sind mit Ihnen in Iss angekommen? Ein Bataillon. Tausend Menschen. Als wir abends im Lager ankamen, waren die Zimmer gut beheizt. In Kantinen bekamen wir heiße Suppe in großen irdenen Schalen und jeder einen Laib Brot. Ich dachte, dass wir immer so behandelt werden würden. Aber so war es nicht. Am nächsten Tag riefen sie uns der Reihe nach. Sie wurden wie in Deutschland genannt, erste Staffel, zweite… Erste Schicht, zweite Schicht… Ich war in der zweiten Staffel. Jenes Lager war nicht für Sie gebaut, sondern wahrscheinlich für politische Gefangene der 30er Jahre. Das Lager war nicht neu. Am nächsten Tag mussten wir uns im Speisesaal versammeln. Die Sowjets riefen Listen auf, die sie hatten. Und sie sagten zu jedem: soundso ist deine Nummer. Sie konnten - nein, sie wollten unsere Namen nicht aussprechen. Ich hatte die Nummer 177. Wenn etwas war, riefen sie mich so. Und jeder musste seinen Beruf nennen. Ich war Schüler an einer technischen Schule gewesen, aber ich arbeitete als Dreher-Lehrling. Und ich sagte zu ihnen, Dre-


Anton Ferenschütz her. Über einen Zeitraum von zwei Wochen wurden wir in der Reihenfolge unserer Nummer aufgerufen. Sie sagten uns, morgen von Nummer 177 bis 200, an der „roten Ecke“ zu erscheinen. Wissen Sie, was „rote Ecke“ bedeutete? Der Ort, wo alles passierte, kulturell, wie politisch. War es denn eine „rote Ecke“ oder irgendein Zimmer, das so genannt wurde? Es war ein größeres Zimmer mit Parolen, eine Bibliothek und ein paar Stühle. Sie gaben uns Papier und sagten uns, jeder solle seine Bekannten aus Schule, Familie, Nachbarn aufschreiben, die mit hier im Lager sind. Jeder soll über fünf bis sechs Personen schreiben. Und was man politisch getan hat, ob man im Krieg war. Wir aus Reschitz hatten viele Bekannte. Und sie werden es sowieso herausfinden, ich habe nichts zu verstecken, dachte ich. Und ich schrieb, dass ich seit der Schule Mitglied der Deutschen Jugend war. Ich schrieb auch, dass mein Bruder als Freiwilliger nach Deutschland gegangen ist und in der SS dient. Mein Vater war Sozialdemokrat. Dagegen, aber was konnte er uns Kindern tun! Dann gaben sie uns ein paar Kleider. Ich bekam eine Watte-Hose. Einen wattierten Mantel habe ich nicht bekommen, auch keine Filzstiefel. Und sie führten uns zur Arbeit. Mich an eine Drehbank, wie bei uns zu Hause, österreichische oder deutsche Drehbänke. Aber ich war kein sehr guter Handwerker, ich war eben erst Lehrling. Anfang Mai war der Krieg zu Ende, wir aber sahen zu, wie man den Frühling in Sibirien verbringt. Bei Nacht war es minus 10 bis minus 15 Grad kalt. Aber morgens kam ein warmer Luftschwall und der dicke Schnee schmolz in drei bis vier Tagen. Es gab keine Bürgersteige wie wir sie kennen, sondern Brücken-Bürgersteige, also einen halben Meter über dem Boden, denn die Schneeschmelze konnte zu Überschwemmungen führen. Und sie riefen uns auf den Hof, der recht groß war. Die Gebäude auf dem Gelände waren

43 Kantine, Schlafsäle und weiter hinten waren Badeanstalt und Krankenhaus. Gegenüber waren die Latrinen - eine lange Hütte von etwa 30 m in zwei Teile getrennt. Eine Seite für Frauen, eine für Männer, etwa zwei Meter tief in den Boden ausgehoben. Und wir wurden auf den Hof gerufen, sie hatten auch einen Übersetzer. Und der politische Kommandant sagte, wenn ihr gut arbeitet, geht ihr schneller wieder nach Hause. Arbeit macht frei! Und wenn ihr nicht arbeitet, werdet ihr hier sterben. Der Kommandant war ein sehr ernster, strenger Offizier. Wenn man ihn nur ansah, bekam man Gänsehaut. Und er sprach mit uns über den Krieg, über den Nazismus, dass das Ganze nur noch ein paar Tage dauert... War es etwa 1. Mai? Nein, ein paar Tage später. Am 1. Mai erhielten wir Weißbrot. Für uns war es wie Zopfkuchen. Und sie hielten uns eine politische Ansprache, dass die Sowjetarmee siegen wird, dass wir frei sein und nach Hause zurückkehren werden. Aber diejenigen, die nicht arbeiten wollen und nicht die politischen Regeln befolgen, werden noch bleiben müssen. Denn wir haben Lager genug, um euch auch 40 Jahre hier zu behalten, sagte er. Er hat uns gedroht. Und dann ist für mich etwas sehr Interessantes passiert. Er sagte: „Wir haben alle Aussagen analysiert, die ihr über euer Wissen gemacht habt und wir haben daraus geschlossen, dass von tausend Menschen nur einer Hitleranhänger war. Und das ist der Jüngste“. Und er sagte: „Nummer 177, einen Schritt nach vorne:“ Ich wusste nicht, ob sie mich nun erschießen werden, ich hatte auch Angst... Idiot, warum hast du all das geschrieben? - dachte ich damals. Andere haben nichts preisgegeben, aber ich habe es geschrieben. Dieser Mann hat die ganze Wahrheit geschrieben, sagte der Kommandeur, das bedeutet, er hat Charakter.


44 Die Indoktrination Guter Charakter! Sehr gut! Nach Beendigung der „roten Ecke“ wurden die jungen Leute unter 20 Jahren zusammengerufen. Genau die Richtigen für die Indoktrination! Ich denke, wir waren ungefähr 30 Personen. Und der politische Kommandant hielt uns eine Ansprache über den dialektischen Materialismus. Er sagte uns dort, und das gefiel mir, dass Deutschland nicht nur faschistisch ist, sondern auch demokratisch. Es hat auch Zukunft. Es sollte kommunistisch werden - ja, ein Teil davon. Dann kam ein junger Lehrer. Wir lernten bei ihm Naturwissenschaften. Es begann mit Dar­win und der Evolutionstheorie. Es war mir damals nicht bewusst, worauf er hinaus wollte, aber es war sehr interessant. Am Anfang war das zweimal im Monat, später jede Woche. Und jedes Mal bekam jeder von uns einen Liter Milch. Ein Stimulus zum verstärkten Lernen. Ich dachte an die Milch, dass sie mir helfen würde. Denn das Essen wurde immer schlechter. Und nicht etwa, dass die Ration schlecht gewesen wäre, aber es wurde gestohlen. Die Köchinnen und der Verwalter waren Russen. Abends gingen sie mit Paketen nach Hause. Und wir fingen an, uns zu organisieren und diese Missstände zu kritisieren. Es ist uns gelungen, unsere Frauen in die Küche zu bekommen. Und in Bezug auf die Schule, nach zwei Monaten wurde mir bewusst, dass ich von zu Hause gewohnt war, Politik zu machen. Ich wusste, wie die Arbeiter gelehrt wurden, einen Tarifvertrag auszuhandeln, ich kannte den Arbeitskampf aus den 30er Jahren… Sie sagten mir, dass auch der Nationalsozialismus keine wissenschaftliche Grundlage hatte, während das, was wir hier machen, auf Wissenschaft fußt. Ich habe Feuerbach gelesen... Er war so geschickt, dieser Lehrer!

Anton Ferenschütz Und Sie waren sehr sensibel und anfällig unter diesen Umständen. Die „Antifaschistische Schule“ wurde das genannt, was Sie gemacht haben. Entgiftung vom Nationalsozialismus und die Vergiftung mit Kommunismus. Dasselbe geschah auch mit den rumänischen Soldaten und Offizieren in den Gefangenenlagern. Die Indoktrinierten traten den Divisionen „Tudor Vladimirescu“ und „Horea, Cloşca und Crişan” bei. Genau. Und nach einem Jahr steckten sie mich auch ins antifaschistische Lager-Komitee. Der Jüngste unter allen. Alle Ideen, an die ich während des Krieges glaubte, waren ausgelöscht. Und aus dem jungen Faschismus-Anhänger haben sie Sie in einen jungen Kommunisten verwandelt. Noch nicht ganz, aber die Neigung war da. Und, da ich auch der Leitung angehörte, übernahm ich im zweiten Jahr eine Gruppe von 80 Leuten. Ich bekam ein anständiges Gehalt. Die Arbeiten der Deportation Gehalt?! Und was haben Sie damit angefangen? Mit dem Gehalt war es etwa so. Auf dem Papier verdiente ich gut. Wir arbeiteten in verschiedenen Unternehmen. Einige kümmerten sich um die Pferde und bekamen, sagen wir, gutes Geld. Aber andere, nicht. Und im Lager wurde der Verdienst unter allen aufgeteilt. Wie im jüdischen Kibbuz. Menschen mit unterdurchschnittlichem Einkommen bekamen Geld dazu. An wie vielen Stellen haben Sie gearbeitet? Ich arbeitete zunächst als Dreher - von März bis August, September. Dann wurden Wettbewerbe gemacht. Das hatte man auch schon in Rumänien gelernt. Freiwillige Arbeit und Wettbewerb der Abteilungsbesten in allen Bereichen. Auch aus Schulen und Fakultäten. Um die Ernte einzubringen. Denn auch dort gab es Ernten. Aber es gediehen nur Kar-


Anton Ferenschütz toffeln gut. Sie wurden im Mai gepflanzt und im September geerntet. Es wurden Rüben, Hafer, Erbsen angebaut. Also, im September wurden wir vom Werk abgeholt und sie brachten uns zum Kolchos - Kolchos 21. Damit sie diese nicht durcheinander bringen, gab man ihnen Namen: 1. Mai, 7. November, Lenin oder Stalin. Aber auch Zahlen. Von der Stadt bis zum Kolchos waren es etwa 20 km. Wir verließen das Lager morgens und kamen gegen Mittag an. Sie gaben jedem eine kleine Sense, um Erbsen zu mähen. Wahrscheinlich Futtererbsen... Wir aßen sie auch. Ich hatte keine Ahnung vom Mähen, in meinem Leben hatte ich noch keine Sense in der Hand. In unserer Gruppe gab es einige Böhmen aus Wolfsberg. Die Böhmen sind Bauern... Vom Semenic-Gebirge. Sie kamen aus Böhmen, im tschechischen Grenzgebiet. Sie konnten arbeiten, und haben uns das auch beigebracht. Ohne Essen ohne alles waren wir an jenem Tag erst gegen sechs Uhr abends fertig. Wir mähten, der Traktor kam und wir beluden ihn. Schließlich wurden wir zu einer großen Kantine gebracht, wo wir eine kräftige, gute Suppe bekamen. Danach wurden wir in einem Kinosaal untergebracht. Der Kolchos hatte ein Kino. Wie Lenin sagte, die beste Bildung wird durch das Kino erreicht. Also hatte jedes Dorf in Russland ein Kino. Für uns wurden die Stühle dort entfernt und wir schliefen auf dem Boden. Wir nahmen uns Stroh von den Haufen aus der Nähe, und dann war da noch der Diesel-Geruch am Boden! Gegen 6 Uhr morgens mussten wir aufstehen. Eine Suppe, ein Stück Brot und auf, raus zum Kolchos. Sie brachten uns auf ein Haferfeld. Und wir stapelten Hafer in Haufen. Danach in die Kartoffeln. Darüber habe ich auch geschrieben. Es war eine interessante Sache, wenn der Traktor kam, der eine Art Sieb hatte, um die Erde abzuschütteln und die Kartoffeln blieben oben liegen. Für uns, um sie zu sam-

45 meln. Mit einem Korb in der Hand trug jeder von uns sie zusammen und brachte sie auf einen Haufen. An diesem Tag arbeiteten auch Russen bei den Kartoffeln. Es waren wahrscheinlich die Bauern aus der Gegend, denn sie wussten am besten, von diesen Dingen zu profitieren. Sie bestimmten unsere Tagesnorm. Mit einem Stock in der Früh, wie ein Kompass. Dann legte einer einen Stock oder etwas Ähnliches als Marke auf die Stelle und sagte: „Dies ist eure Norm. Vorarbeiter, du hast 20 Leute, sieh zu, dass ihr die Norm erfüllt!“ „Aber die Russen waren immer viel schneller als wir. Auch unsere Böhmen aus der Bergregion des Semenic kannten sich mit Kartoffeln aus, denn auch dort wurde mehr Kartoffelanbau betrieben. Hey schau, die arbeiten schneller als wir, sagte ich, das kann nicht sein! Wir werden unsere Norm nicht schaffen, und sie werden uns hier behalten, wer weiß, wie lange. Ich sagte, ich werde mich unter die Russen mischen, ich konnte ja Russisch. Mir wurde klar, dass sie nur einen Teil der Kartoffeln einsammelten. Sie gingen schnell durch und vergruben die restlichen mit den Füßen. Und die Körbe brachten sie fast leer zum Entladen. Aber warum? Gewollt, denn wenn die ganze Fläche abgeerntet war, bekamen sie am nächsten Tag von den Kolchos-Chefs die Erlaubnis, die Reste von dem Feld für sich zu sammeln. Ich nehme an, sie haben den Kolchos um 50 % der Ernte betrogen. Also war das der „neue sowjetische Mensch“. So hat das ganze System funktioniert. Aber zu Ihren Landsleuten haben Sie es geschafft, ein gutes Verhältnis zu bewahren da Sie doch Vorarbeiter waren? Haben die Sie nicht gehasst, da Sie doch zwischen ihnen und den Russen standen? Dies ist eine Sache der Pädagogik oder Psychologie, dass du, wo immer, das Eine mit dem Anderen verbinden kannst. Auch die Russen mussten überzeugt werden, dass wir nicht Feinde sind, sondern unsere Arbeit


46 richtig machen. Und wir alle wussten das. Im Winter, es geschah etwa im Februar. Der Winter war im Februar rau und kalt, schlimmer als im Dezember. Weil der Wind wehte und die Stürme begannen. Es gab eine Frau in meiner Gruppe, die zu Hause zwei Kinder hatte. Sie arbeitete am Schubkarren. Sie transportierte die Erde, da wir Dämme bauten. Und auf einmal stellte ich fest, dass sie fehlte. Dann sah ich, dass sie ihre Filzstiefel ausgezogen hatte und die Füße ins Wasser steckte. Als ich das sah, schrie ich sie an: „Was machst du da?“. Sie sagte: „Ich will mir meine Füße erfrieren, damit sie mich nach Hause schicken“. Ich gab ihr eine Ohrfeige und zog sie aus dem Wasser und habe ihre Füße gut mit Schnee gerieben. Sie schrie und ich sagte ihr, dass ich ihr noch eine herunterschlage, wenn sie nicht aufhört. Und wenn ich das den Russen sage, werden die sie ins Gefängnis stecken. Aber in dem Moment ging es mir um nichts anderes, als dass sie zu Hause zwei Kinder hat und sie kommt heim mit erfrorenen Füßen, wenn sie nicht gar krank in Russland stirbt. Und in der Tat, als ich nach Hause kam, ich hatte gerade geheiratet, da traf ich sie im Bus, als ich mit meiner Ehefrau unterwegs war. Und sie schrie laut: „Er hat uns an die Russen verkauft! Er hat mich geschlagen!“ „... Sie können sich vorstellen, wie ich mich fühlte! Nachdem wir nach Hause kamen, haben sich einige bei mir bedankt, ich war dort sehr beliebt, in Wolfsberg bei den Böhmen… Aber auch das ist passiert. Und wo haben Sie sonst noch gearbeitet? Nachdem ich vom Kolchos weg bin, schickten sie mich in eine private Firma. Ein Amerikaner hatte eine Lizenz bekommen, um Gold auf einem Stück Boden zu schürfen, ich weiß nicht, wie das möglich war. Er hatte eine sehr komplizierte Anlage, mit ein paar Rohren... Wahrscheinlich eine Abmachung, damit sie diese Anlage kopieren können. Wir haben es nicht erfahren. Auf dem Kol-

Anton Ferenschütz chos haben wir uns erholt, das Essen war besser und deshalb überstellten sie uns dorthin. Der Amerikaner aber wusch die Erde mit einem starken Wasserstrahl aus. Diese Erde mit Wasser floss durch Kanäle, die wir gegraben hatten, am Ende mit einem Sieb, wo der gröbere Anteil aufgefangen wurde, vor allem mit Gold. Diese Wäsche wurde in zwei bis drei Stufen durchgeführt und schließlich blieb auf ein paar rudimentären Matten ein Gemisch aus Erde mit etwa 30-40 % Goldanteil. Es war der härteste Job, den ich in Russland hatte. Denn beim Waschen mit diesem Wasserstrahl kamen Äste und Bäume, die das Abfließen der Erde verhinderten. Und wir mussten in den Kanal steigen, um diese heraus zu holen. Und es war Winter, aber wir sind oft ins hüfthohe Wasser gegangen, um diese Wurzeln und Äste zu beseitigen. Dort habe ich drei oder vier Monate gearbeitet. Männer und Frauen Wie waren die Beziehungen zu den Aufsehern und Einheimischen? Die Beziehungen zu den Russen... Da ich wusste, lernte ich gut Russisch, ich wurde selbst von den Russen respektiert. Schwieriger war es, mit dem von den Russen eingesetzten Verwalter auszukommen. Er wurde Kommandant der Deutschen genannt. Er war bestrebt, dass die Küche funktionierte, dass wir Holz hatten. War er auch ein deutscher Deportierter? Ein Deutscher aus Bokschan. Er hielt den Kontakt zu den Russen, er organisierte Feiern für sie in der Stadt, beschaffte die Musiker... So konnte er sich halten. Es war verboten, Frauen aus dem Lager zu Feiern zu bringen. Aber man hörte, dass welche hingingen. Und sie hatten ein besseres Leben, nicht wahr? Bessere Nahrung, bessere Kleidung, denn die bekamen wir von ihnen. Und die Beziehungen zwischen Frauen und Männern, wie waren die Lagerregeln? Die Frauen hatten ein separates Gebäude,


Anton Ferenschütz aber Verheiratete durften sich besuchen. Es gab auch Eheleute. Ich muss Ihnen etwas erzählen. Es ist nicht schön, aber es ist Teil dessen, was ich dort gelernt habe. Denn ich war 17-18 Jahre alt. Gegenüber von meinem Bett war ein Mann aus Bokschan, der eine sehr, sehr schöne Frau hatte. Er war etwa 40 Jahre alt und war lungenkrank. Sie wiesen ihm leichtere Arbeiten zu, trotzdem verbrachte er mehr Zeit zu Hause. Und oft, wenn diese schöne Frau kam, musste ich sie betrachten. Dort fing ich an, die Frauen zu schätzen. Welche intelligent ist, welche schön ist... Für mich war diese wie eine Ikone und von meinem Bett aus konnte ich sehen, wie sie zu ihrem Mann spricht. Und eines Tages, als ich vom Abendessen kam - jeder hatte seinen Topf, in dem er Essen fassen ging. In der Nähe von meinem Bett hatte ich auch eine geschnitzte Schublade, in welcher ich meinen Topf und sonstige Dinge aufbewahrte. Jeden Tag wurde auch der Strom abgestellt. Eine Stunde, manchmal weniger. Sie kam gerade hinter mir her. Und dann fiel der Strom wieder aus. Ich legte meinen Topf weg, doch sie nimmt meine Hand und legte sie in ihren Brustausschnitt. Ich dachte, ich träume - ich war wie elektrisiert. Ich kann es nicht beschreiben. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich die Hand an die Brust einer Frau legte. In diesem Moment, ich kann es nicht ermessen, was ich damals gefühlt habe. Ab da fing ich an, ihn zu verdammen. Wenn ich ihren kranken Mann sah, wie sie kommt und ihn liebkost… Ich war im Konflikt. Wie soll ich sagen? Ich konnte nicht mehr an etwas anderes denken. Ich möchte nur sagen, sie waren Mann und Frau, aber sie wohnten nicht zusammen. Und sie konnten keinen sexuellen Kontakt haben, wie es sich andere eingerichtet haben. Ich denke, sie haben sich mit Handwerkern arrangiert, die besser verdient haben. Die Geld, Gehalt hatten... andere hatten einen Ehepartner zu Hause, sie lebten

47 dort zusammen, wie es ging und, als sie nach Hause kamen, haben sie sich geschieden. Durften sie das Lager nicht verlassen... Man konnte sich nur auf dem Hof treffen. Wie waren die Beziehungen zu den Russen? Bei der Arbeit hatte ich mit vielen Russen zu tun. Es gab - wie in jeder Nation - große Unterschiede zwischen den Menschen. Einige waren schlecht, andere sehr mitfühlend. Da ich jung war, aber älter aussah, als ich es war, kam es vor, dass jemand mit drei, vier Kartoffeln und Brot zur Arbeit kam und mir auch eine gab. Auch sie konnten nicht mehr geben, sie hatten auch nichts. Sie waren arm. Es war eine kleine Stadt mit 30.000 Einwohnern. Einige hatten auch Höfe, wo sie eine Kuh halten konnten. Es war der 1. Mai, Sie wissen, wie es damals auch in Rumänien war. Sie erhoben Stalin, manchmal auf zwei Meter großen Plakaten. Und ich erwischte einen, der auf Stalin spuckte - ein Russe, von etwas über 50 Jahren. Sie haben ihn nicht angezeigt? Nein, wie könnte ich? Ich habe nie daran gedacht, das zu tun. Im Gegenteil, damals war ich noch überzeugt von der Nazi-Doktrin. Aber dann kam der Russe jeden Tag an meine Drehbank, um mir zu erklären, warum er das getan hat. Ich sah damals gerade darin ein Zeichen, dass der Nationalsozialismus nicht besser war als der Kommunismus. Ich habe etwas Wichtiges vergessen. In den ersten Wochen, als ich ins Lager kam, habe ich mir ein oberes Bett ausgesucht. Und mit dem Erwärmen des Raumes wurden auch die Wanzen lebendig. Diese Insekten können auch ohne Blut und Essen zehn Jahre lang leben. Oben waren Risse in der Decke. Im warmen Raum konnten wir uns nicht mehr vor Wanzen erwehren. Morgens waren wir oft ganz blutig. Eines Tages quälte ich mich, die Wanzen in den Rissen zu bekämpfen und fand ein Papier. Es war eine BrotKarte für einen halben Monat und ein Brief auf Polnisch. Nachdem ich von jemand im


48 Lager erfuhr, der polnisch konnte, wusste ich was da geschrieben stand. Es war ein Zettel mit der Anmerkung von einem Offizier aus gutem Haus, der sich seit zwei Monaten im Lager Iss befinde und die Ruhr habe. Und er glaube, dass er es nicht mehr lange durchhält. Deshalb hinterlässt er diese Brot-Karte für den Unglücklichen, den Kriegsgefangenen, der nach ihm kommt. Und er bittet sehr, dass dieser zu seinen Eltern und zu seiner Schwester gehen möge ... Es war ein sehr tiefgehender Brief. Er war aus Krakau, das weiß ich noch. Es war auch der Name, aber keine Adresse darauf, aber ich werde die schon finden. Und ich behielt diesen Brief, ich habe darüber auch im Journal berichtet… Ohne Spuren Haben Sie im Lager geschrieben? Und haben Sie es nach Hause mitgebracht? Nein. Das steht auch in meinem Buch. Als sie uns den Befehl mitgeteilt hatten, dass wir nach Hause zurückkehren würden, wurden wir nackt ausgezogen. Und es war so angeordnet, dass man die Kleidung und alle Habseligkeiten in einem Raum ablegte und man in einen anderen Raim eintrat, in dem an einem Tisch Offiziere und Ärzte saßen. Sie betrachteten dich, dreh dich um, bücken... sie schauten einem selbst von hinten rein. Und danach ging man ins Bad. In der Zwischenzeit wurden die Kleider von Läusen desinfiziert und ein ganzer Haufen mit unseren persönlichen Sachen - wenn du Briefe von zu Hause hattest, Kruzifixe, Bücher, absolut alles, was man hatte, wurde eingesammelt. Ich bekam den leeren Rucksack zurück, nur mit zwei langen Unterhosen. Da hatte ich auch mein Notizbuch drin, in einem Tuch eingewickelt. Zwischen Leinwand und Deckel hatte ich diesen Brief versteckt. Während wir uns anzogen, sah ich den Haufen mit unseren persönlichen Dingen. Aber sie gaben uns nichts, rein gar nichts davon zurück. Keine Spur von unserem Leben dort blieb uns.

Anton Ferenschütz Aber zu den Eltern konnte man Verbindung halten? Drei Mal durfte ich schreiben. Aber von ihnen bekam ich keinen einzigen Brief. Sie gaben uns eine Art braunes Papier, Packpapier zum Schreiben. Erinnerungsknoten Welcher Vorfall aus diesen Jahren hat Sie am meisten geprägt? Der größte Vorfall geschah zu meiner Zeit als Gruppenleiter. Und wie ich schon sagte, war ich nicht nur bei den Offizieren angesehen, sondern auch bei den Deutschen. Ich wurde in den antifaschistischen Ausschuss gewählt. So war ich einfach... ich hatte keinerlei große Qualitäten, aber ich weiß nicht, warum ich so von anderen protegiert wurde. Ich hatte noch nicht einmal eine Freundin. Ich hätte welche haben können, allein schon weil ich Gruppenleiter war. Es näherten sich mir sehr viele Mädchen, aber abgesehen von Geschichten und Sprüchen, die wir wechselten, war da nichts. Sie fragten an, mir meine Wäsche zu waschen. Ich habe das nicht zugelassen. Hätte ich etwas angenommen, hätte ich auch etwas geben müssen. Man muss sich revanchieren. Deshalb habe ich mir selber gewaschen und genäht. Strümpfe hatte ich keine. Nur Lumpen, in die ich meine Füße gewickelt habe. Aber, das möchte ich sagen, in dieser Beziehung war ich ziemlich unabhängig. Aber mein Kommandant, der mich protegiert hatte, wurde eines Tages, kurz nach Weihnachten, nach Moskau abberufen. Und sein Stellvertreter nahm seinen Platz ein, es war ein Leutnant. Ausgerechnet einer derjenigen, die mit dem Verwalter Feiern organisierten, von dem ich erzählte. Menschlich war er genau das Gegenteil des Kommandanten, der sehr korrekt war. Dieser war eine Drecksau, wie der sich benahm. Er kam mehrmals betrunken ins Lager. Zu Weihnachten brachte jemand aus unserem Raum heimlich eine kleine Tanne, damit ihn nie-


Anton Ferenschütz mand sieht. Und wir feierten Weihnachten, so mit dem kleinen Tannenbaum im Zimmer. Und er kam herein. Als Schmuck hatten wir sternförmig geschnittene Kartoffeln an den Weihnachtsbaum angebracht... Und wir hingen sie einfach so dran, damit es nach etwas aussah... Und plötzlich kam die Drecksau herein, sah den Christbaum, warf ihn zu Boden und begann, ihn zu zertrampeln. Und er schrie uns an. Der wurde dann zum Lagerleiter ernannt. Er hat mir Schwierigkeiten bereitet. Da ich Gruppenleiter war, verantwortete ich für die Menschen, die zur Arbeit kamen. Jeden Morgen gingen wir zur Arbeit. Und wir waren angemeldet - „Die Brigade von Nummer 177 soll sich am Tor versammeln“. Ich aber sah immer zu, dass die Leute mit dem Nötigen bekleidet waren, was sie brauchten, je nachdem, wohin wir zur Arbeit gingen. Und wenn es unter minus 45 Grad kalt war, durften sie nicht hinaus. Brachten sie Euch auch bei so niedrigen Temperaturen zur Arbeit? Die aus der Ukraine wurden nicht zur Arbeit geschickt, wenn die Temperatur unter 23 Grad fiel… Sie logen sehr oft. Sie sagten, es sei weniger kalt, als es wirklich war. Und ich sehe in diesem Moment zu meinen Männern in der Gruppe und weiter hinten bemerke ich eine Frau, ein Mädchen, eingewickelt nur in ein Woll-Kopftuch. An den Füßen trug sie Arbeitsschuhe, aber keine Filzstiefel. Ich frage: „Was ist mit dir?“ „Nun, sie haben mich zur Arbeit geschickt.“ „Wer?“ „Der Lagerleiter - der Deutsche, nicht der Russe.“ Dieses Mädchen war erst kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Aber er konnte - auch wenn der Arzt sagte, dass sie drei Wochen nicht zur Arbeit geschickt werden soll - sie rausschicken, aber mit der entsprechenden Kleidung. Und trotzdem, er hat sie rausgeschickt, zur Arbeit. Dann holte ich sie aus der Reihe und sagte zu dem russischen Wachmann - „Pass auf, sie hier darf nicht mit zur Arbeit, da sie erst vor einer Woche

49 das Krankenhaus verlassen hat, sie hatte vor einer Woche Lungenentzündung.“ Und ich ging. Ich hätte nicht erfahren, was passiert ist, aber ihr Bruder arbeitete in meiner Gruppe als Zimmermann. Böhme aus Wolfsberg. Ich sagte ihm, wenn er nach Hause kommt, mir zu berichten, ob seine Schwester auf Arbeit war. Wir aßen abends in der Kantine, da kam er und sagte mir: „Meine Schwester wurde zur Arbeit geschickt - zu einer anderen Gruppe. Deren Gruppenleiter hat sie mitgenommen. Und sie hat immer noch Fieber. Sie wurde wieder ins Krankenhaus eingewiesen - über 40 Grad.“ Und zwei, drei Tage später ist das Mädchen gestorben. Aber welche Bedeutung hat diese Geschichte für Sie, da es keine Verbindung zu Ihrem Schicksal zu geben scheint? Und ob. Sie verfolgt mich immer noch. Ich hörte, dass das Mädchen gestorben ist. Und dass sie von jenem Lagerverwalter aus Bokschan geschickt wurde. Der bei sich ein sehr schönes Mädchen hielt, ein 18-jähriges Mädchen. Sie lebten in einem Raum mit extra Küche. Und lebten sehr gut für die Verhältnisse, die dort herrschten. Ich ging entschlossen hin, als ich hörte, dass das Mädchen gestorben war, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Er war schuld. Und ich ging zu ihm. Als ich die Tür öffnete, war nur das Mädchen da, seine Hübsche. Und ich sagte. „Wo ist er?“ „Drüben“; „Hol ihn her!“ Und er kam, angezogen in roter Samt-Jacke, bestickt wie ein... Patron... Ja, mir war es danach, ihn zu erwürgen - bestimmt. Und ich sagte zu ihm: „Pass auf, für das, was geschehen ist, wird dir der Prozess gemacht. Ich bin entschlossen, es nicht auf sich beruhen zu lassen. Denn dies ist nicht das erste Mal. Es gab noch andere Vorfälle.“ Es haben auch andere sowas mit ihm erlebt. Er schrie sonst nicht, aber wenn er sprach, spuckte er so... sehr unangenehm. Und er schrie mich an, ich schrie ihn an. Er packte mich bei der Brust, aber ich wich nicht zu-


50 rück... Und ich sehe, dass seine Augen neben dem Ofen einen Feuerhaken erfassen. Ich bemerke, dass er dahin sieht, diesen zu erfassen, um auf mich einzuschlagen. Aber ich war schneller als er, bekomme ein Stück Holz zu fassen und... Und was kam dabei heraus? Er fällt zu Boden, fällt in Ohnmacht, seine Hübsche schrie wie eine Verrückte: „Er hat ihn umgebracht, er hat ihn umgebracht, Hilfe!“ Für mich war das noch schlimmer, da in der Nähe ein Zimmer mit böhmischen Männern und Frauen war, die alle in meiner Gruppe arbeiteten. Und sie machten mich zum Kriminellen. Auch sie schrien - ich war der Mörder. Und ich sage mir - schau, ich habe versucht, ihnen zu helfen, und siehe, was passiert. Ich aber ging auf mein Zimmer. Nach einer halben Stunde wusste das ganze Lager, dass ich ihn getötet hätte. Zum Glück war es nicht so. Damals aber kam das ganze Lager hin und dachte dies. Es kamen Soldaten vom Lager zu mir und sagten: „Du bist verhaftet.“ Ich solle meinen Strohsack nehmen… Also die Matratze... Ich sollte ihn leeren und nach unten gehen, wo die Soldaten ihren Garderaum hatten, zur Bereitschaft. Am Eingang, wo auch die Wache war. 5 bis 10 Minuten sahen mich alle an, ohne mich etwas zu fragen. Und plötzlich kommt sie zu mir, die Frau, die unsere Ärztin war. Und sie sagte zu den Russen: „Ich darf niemanden aus dem Gefängnis lassen, bis ich ihn nicht untersucht habe. Und ich darf keinen Kranken heraus lassen. Ich nehme ihn mit auf die Krankenstation und werde sehen, was er hat. Wenn er nichts hat, unterschreibe ich und er kann gehen.“ Dieser Offizier, der Nachfolger des Kommandanten, der nach Moskau ging, sagte: „Was willst du befehlen? Willst du etwa was anderes sagen, als ich - wo du von mir bezahlt wirst?“; „Nein“, sagte sie, „ich bin in erster Reihe Ärztin und erst dann bin ich

Anton Ferenschütz deine Untergebene.“ In der Tat brachte sie mich auf die Krankenstation, verlangte, ich solle mich bis zur Taille entkleiden und untersuchte mich - das Herz, die Lunge und sagte der Schwester, die am Tisch saß und schrieb: „Er darf das Lager nicht verlassen.“ Der Kommandant sagte: „Wie willst du mit ihm machen, was du willst, wenn ich das Lager befehlige?“; „Tu, was du willst“, sagt sie, „aber du verantwortest das“. Und in der Tat, er nimmt einen Umschlag, bringt ihn zur Wache und es kam ein Auto, ein Lastwagen. Der Fahrer kam herein, er überreichte dem Fahrer den Umschlag und sagte zu ihm: „Du übergibst ihn dem Aufseher des Lagers Iolkina“. Iolkina war ein Straflager, ein Vernichtungslager. Iolkina bedeutet Tannenbäumchen. Dort aber war das Essen schlecht, die Arbeit sehr schwer, die Norm hoch und eine große Misere. Der Lagerkommandant war ein sehr übler Mensch. Es wurde viel über Iolkina erzählt. Es war so, wie auch Solschenizyn Vernichtungslager beschreibt. Ich habe auch von Iolkina gehört, aber damals hatte ich keine Ahnung, wie es dort wirklich war. Und ich stelle mich an, in das Fahrerhaus des LKW zu steigen. „Nein, wurde mir gesagt, du gehst nach oben.“ Der Fahrer war allein im Fahrerhaus, aber ich musste nach oben gehen. Etwa 9 Uhr abends, es war Winter und kalt... Ich machte mich klein, so wie ich war und was ich bei mir hatte. Ich hatte gute Kleidung für die Verhältnisse dort, neue Stiefel aus Filz... Solange ich Gruppenleiter war habe ich gut verdient. Wäre ich nicht gut eingekleidet gewesen, wäre ich wahrscheinlich auf dem Weg gestorben. Nach einer Stunde hält er auf offenem Feld. Es war nichts da. Aber nachts im Ural war es bitter kalt! Der Fahrer hält und sagt mir: „Steig ab.“ Und gibt mir den Umschlag in die Hand. Sie können sich vorstellen, in welcher Lage ich war - es war kein Haus, es war nichts da. Im Schnee kann man weithin sehr gut sehen, über mir waren Sterne, aber sonst keine Lebensbewe-


Anton Ferenschütz gung. Aber was sollte ich tun? Ich erinnerte mich daran, was mein Vater aus dem Krieg sagte, dass, wenn du einschläfst, während du frierst, stirbst du dort an Ort und Stelle. Und der Schlaf überkam mich. Mir war es zum Weinen und ich habe geweint. Was konnte ich tun? Und ich denke, ich blieb eine halbe Stunde lang auf der Stelle. Wohin sollte ich gehen? Es gab nicht einmal eine Straße. Ich glaube, einmal im Monat kam da mal ein Auto vorbei. Es gab hier nur Schlittenspuren. Plötzlich sah ich in der Ferne ein kleines Licht. Etwas, das wie eine entfernte Kerze aussah. War da etwas oder kam es mir nur so vor? Nun, ich werde dorthin gehen, denn dort gibt es Hoffnung. Und wie ich näher komme, sehe ich, dass es ein Bagger war. Ich wusste sehr wohl, was ich sah, denn ich habe am Bagger gearbeitet. Dieser war hier zur Überholung. Das Straflager Reparatur... Nein, er hat nicht funktioniert. Und doch war ein Wächter dort. Ein alter Mann von über 70 Jahren, mit einer Waffe von 1800, mit aufgepflanztem Bajonett, der stand so da... Er hatte sich drinnen ein Feuer gemacht. Ich trat durch die Eisentür ein und grüßte. Er dachte wahrscheinlich, ich sei Russe. „Hören Sie, sage ich, welches Lager gibt es hier im Umkreis mit Deutschen?“ Er sagt: „Das Lager 20.“ „Wie weit ist das?“ „Fünf bis sechs Kilometer.“ „Wenn ich dahin kommen wollte, in welche Richtung muss ich mich wenden?“ „Oh, sagte er, du gehst und gehst...“ Und ich dachte immer, ich bin nicht so dumm, wenn ich etwas erledigen musste. Er hatte sogar ein Telefon. Ich fragte ihn, ob auch das Lager eins hat. Ja, sagt er - und ich rufe dort an. Jemand von dort, ein Wachposten vielleicht, hat geantwortet. „Es ist ein Mann aus dem zentralen Lager gekommen, mit der Bestimmung Lager 20, sagte ich - es soll unbedingt jemand kommen, ihn abzuholen. Es ist sehr wichtig. Der

51 Schlitten soll kommen!“ Ich sprach all dies in einem befehlenden Ton und er dachte wahrscheinlich, ich sei Russe. Und nach etwa einer Stunde kam der Schlitten. Und ihre Schlitten sind leicht. Es kam ein Junge, der in meiner Gruppe gearbeitet hatte. Robert war sein Name. Das Haus von Fane2 war ursprünglich seines. Fane kaufte ihm das Haus ab. Er dachte, es sei eine Delegation angekommen. Ich stieg auf den Schlitten und wir fuhren ins Lager. Dieses Lager war wie ein viereckiges Haus aus Beton... außerhalb des Dorfes. Es war Menschen zugedacht, die außerhalb der Gesellschaft lebten - Obdachlose und was sie dort noch so hatten. Ohne Wache. Als ich in ihre Räume eintrat, und ich sah diese gebeugten Menschen, zugedeckt mit ihrer Kleidung... die Betten geschweißt, ohne Bezüge. Es gab zwar einen Ofen, aber es gab kein Holz und kein Feuer. Was habe ich getan? Ich setzte mich nieder und schlief ein. Und ich wachte auf - es war noch nicht hell - durch eine Stimme wie eine Trompete: „Aufstehen! Davai! Davai! Nicht mehr schlafen!“ Und ich sagte zu Robert: „Was hat der für eine Funktion?“; „Das ist der Aufseher“. Oh!... Sagt er: „Er hat nur einen Arm. Er hat ihn genau am 9. Mai in Berlin verloren. Er war Soldat und diese Halbstarken von 14 bis 16 Jahren warfen mit Granaten. „Und deshalb war er so schlimm zu uns Deutschen. Und wie lange waren Sie dort? Wir blieben dort bis zu Ende, dem 9.06.1948. Was haben Sie gearbeitet? Wo ich im Polygon beim Abholzen arbeitete, waren wir etwa sechs Kilometer vom Lager entfernt. In der Küche arbeiteten unsere Frauen, so dass es mit dem Essen nicht so schlimm war. Ich arbeitete beim Holz. Wie viele waren Sie im Lager? Etwa 25 Leute, davon 15 Frauen. Dorthin 2 Stefan Raicu, Reschitzer zu Besuch bei Anton Ferenschütz in Bielefeld, während unserer Dokumentation


52 wurden Frauen gebracht, die mit Männern ein Verhältnis angefangen hatten. Oder sie hatten etwas geklaut, als sie in der Küche gearbeitet haben. Eine Art von Straflager. Wie wurden Sie darüber informiert, dass Sie nach Hause gehen werden? Wir arbeiteten im Wald. Auf einmal kam ein Reiter und hat uns mitgeteilt, wir sollen die Arbeit stehen lassen, da wir nach Hause dürfen. Es war ein jugendlicher Russe, selbst glücklich über die Nachricht, die er überbrachte. Ich konnte es nicht glauben, denn es war kein Wort davon gefallen. Es war um die Mittagszeit, als der Reiter uns die Botschaft brachte. Ich vergesse es nicht, ich kam als Letzter. Es war ein ziemlich großer Fluss, wie die Theiß, aber gemächlicher. Und man brachte uns mit dem Boot, es gab keine Brücke. Es waren Boote für 10 bis 20 Personen. Und diejenigen, die vor mir waren, zusammen mit meinem Kollegen - wir waren bei der Vermessung des Poligons. Denn der Förster kam und sagte, 500 m nach rechts und 500 m nach links. Aber wo haben sie Sie hingebracht? Mit Erreichen des Lagers sagten sie uns, wir sollten unsere Strohsäcke leeren unser Gepäck nehmen, denn wir hätten einen 20 km Fußmarsch zum Lager, in dem die Deportierten zusammengefasst werden. Dorthin kamen die Leute aus allen Lagern der Gegend, es war ein strategischer Punkt, wo es auch eine Eisenbahn gab. Es gab noch fünf Lager dort und alle wurden aufgelöst. Und wie viele wurden etwa gesammelt? Wir waren dann etwa 400 Leute. Es standen Waggons für uns bereit. Ebenfalls Viehwaggons, aber gut vorbereitet. Diese warteten, bis sie uns alle zusammengebracht hatten. Auch der Kommandant erschien und hielt uns eine Ansprache. Er hat uns gedankt, dass wir gut gearbeitet hätten und informierte uns, dass wir nach Hause gebracht werden, um den Sozialismus aufzubauen, wie wir es hier ge-

Anton Ferenschütz lernt haben. Und bla, bla, bla... Dann sagte er uns, wir sollen keine Angst haben vor dem, was wir zu Hause vorfinden werden, denn sie würden für uns sorgen. Sie brachten Leute aus dem Dorf ins Lager, die uns alle etwas verkaufen wollten. Egal was, nur damit wir das Geld loswerden. Und Wegzehrung zu kaufen... Nein, das gaben sie uns. Alle habe wir Essen mitbekommen für unterwegs, kalte Speisen. Noch zweimal, zwischen Swerdlowsk und Moskau, bekamen wir warmes Essen. Was haben Sie von den Einheimischen gekauft? Ich kaufte mir einen großen Laib hausgemachtes Weißbrot. Ein runder Laib, nicht wie jene quadratischen, wie Ziegel, die wir im Lager bekommen haben. Es roch so gut! Es kam mir vor wie Schokolade und ich aß es sofort. Auf dem Heimweg Wie lange war der Weg zurück? Zwölf bis vierzehn Tage. Wurden Sie direkt nach Reschitz zurückgebracht? Die Russen brachten uns bis Focsani (Fokschan). Ab Fokschan übernahm uns die Rumänische Armee. Dort gab es ein zweiteiliges Lager. Im ersten Abschnitt, wo ich zugeteilt war, wurde uns ein Brief auf Russisch ausgehändigt, in dem stand, der Insasse Name - verlässt die Sowjetunion gesund und zufrieden. Somit hast du keine Ansprüche gegenüber den Sowjetischen Staat. Und das hat man auch unterschrieben. Wir haben gar nicht erst gesehen, was wir da unterschrieben. Nur, um weg zu kommen. Damit traten wir in das rumänische Lager über. Die Rumänen nahmen uns den russischen Brief weg und gaben uns einen rumänischen. Wir haben nicht ihren Transport abgewartet. Wir nahmen einen Zug von Jassy nach Bukarest und stiegen ein, ohne Fahrkarte. Sie sagten, sie geben jedem von uns eine Fahrkarte, aber


Anton Ferenschütz wir haben nicht mehr gewartet. Wir hatten nur die Freilassungspapiere bei uns. Sie sagten, Sie haben ein Mädchen in Erinnerung behalten... Ein nettes Mädchen, gebildet. Ihre Eltern hat­ten zwei Mädel und sie schickten sie zur Schule nach Temeschburg. Sie merken, was für ein Mädchen! Ein gebildetes Mädel, niedlich, dünn... Und dieses Mädel hackte Holz in dem letzten Lager, in dem ich war. Sie schnitten Holz mit der Säge... Es gab Bäume mit drei Metern im Durchmesser. Sie wog keine 40 kg. Wie konnte sie nur? Woher hatte sie die Kraft? Sie arbeitete lange Zeit im Wald mit einem anderen Mädchen. Sie hatte körperlich nichts Außer­ gewöhnliches, aber psychisch war sie es. Sie war depressiv. Ich musste Äste beseitigen. Die Norm sah vor, Bäume bis 5 cm von Erde zu bereinigen. Ich sollte Schnee räumen. Und der Schnee war über einen Meter hoch vom Boden. Zuerst musste ich kehren, dann mit der Hand. Sie können sich vorstellen, wie viel Arbeit das war! Wenn man einen größeren Baum fand, war man froh. Denn den reinigte man zuerst einmal und mit dem Abschneiden des Baumes hatte man einen guten Teil seiner Norm erfüllt. Und dieses Mädchen nahm sich das Leben. Und ich höre sie nur schreien „Nani!“ Bei ihnen war dieser Name sehr häufig. „Nani, das mache ich!“ Und auf einmal warf sie sich unter den fallenden Baum. Und der hat sie zerschmettert. Wie würden Sie in einem Satz die Deportation beschreiben? Die Deportation?... Zuerst habe ich diese als Unrecht empfunden. Eine Schuld, die anderen zukommt, aber nicht uns. Das heißt, zuerst den Deutschen, dann den Russen. An die Rumänen habe ich nie gedacht, dass die irgendeinen Einfluss gehabt haben könnten. Je älter ich wurde und nachdem ich die Dinge analysiert habe, sagte ich, dass diese Deportation dem Wahnsinn geschuldet ist, der mit dem Polenüberfall begann, mit dem Faschismus - dass

53 Hitlers Paranoia uns dorthin gebracht hat. Das ist auch der Titel meines Buches in deutscher Sprache - „Wahn und Wirklichkeit“. Die Russen waren nicht so wahnsinnig. Sie behandelten uns nicht so schlecht, wie Hitler die Deportierten behandelt hat. Die Russen hatten auch allen Grund dazu, sich gut zu benehmen. Die Deportierten kamen schließlich aus Ländern, die politisch eingenommen werden mussten. Wenn das gelang, wollten sie Sie zu ihren Agenten machen, in den Ländern, die sowjetisiert werden sollten... Das ist, was ich meinte. Als ich zurückkam, hatte ich keinen Beruf, ich hatte keine Ausbildung, ich hatte nichts. Die Schule, die ich vor meinem Abtransport besuchte, wurde aufgelöst, da sie nach deutschem Modell betrieben wurde. Und ich arbeitete. In der Akte von Herrn Ţigla3 finden sich ein paar Worte darüber. Ich besuchte die Abendschule im Fach Spanbearbeitung im Maschinenbau, alles andere wurde aufgelöst. Es war die einzige Schule für Metallurgie, nicht aber Maschinenbau, die ich besucht hatte. Und diese sollte theoretisch vier Jahren dauern. Ich habe aber in nur drei Jahren den Abschluss der Technischen Mittelschule geschafft. Und in dieser Zeit sagte mir der UTC-Werkssekretär (Vereinigung der Kommunistischen Jugend) - sehr korrekt kam er und hat sich vorgestellt - dass für jeden, der in Russland war, eine Akte kam. Und in dieser Akte wurde ich dazu vorgeschlagen, die Politische Schule zu besuchen. In dieser Zeit lernte ich meine Frau kennen und wir verlobten uns, sie war krank und ich wollte nur noch meine Schule beenden. Ich bekam meine Abschluss-Urkunde, fand erst mal eine Stelle als Zeichner in einem Büro, danach als Projektleiter - was mir später in Deutschland zur Anerkennung zum Techniker gereichte. 3 Erwin Ţigla - Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen aus Reschitz.


54 Sie haben vier Bücher geschrieben. Die Person Thomas ist ihr Alter Ego. Gibt es eine Überlagerung zwischen dem, was Thomas erzählt und Ihrer Biographie? Vielleicht 10% sind Roman. Die Namen einiger Charaktere sind nicht real. Und ich habe angegeben, dass ich die Namen geändert habe. Zum Beispiel, der Lagerverwalter aus Bokschan hat vielleicht Kinder. Und ich wollte nicht, dass die das erfahren. Ich hatte auch eine interessante Begebenheit im Lager Friedland. Ich fand eine Zeitschrift, darin stand, dass der Vorsitzende der Deutschen aus dem Banat, Stiegel, gleichzeitig Präsident der Deutschen Gemeinschaft in Rumänien war. Wissen Sie, wer Stiegel war? Stiegel war, wie soll ich es ausdrücken, eine Art Bürgermeister der Deutschen in Reschitz, aber Hitler-Anhänger. Er war der Vertreter der Nazis. Er ging in Stiefeln und Uniform... Wir waren gute Kinder und wir waren einmal im Freiwilligen-Einsatz, um Kartoffeln zu pflanzen, auf einem Stück Boden, der nie vorher bebaut wurde. Ich kam von der Schule. Wir hatten Brot mit Schmalz und Zwiebeln bei uns und gingen zum Wald, um zu essen. Und weil wir uns von unserem Arbeitsplatz entfernten, ohrfeigte er uns. Ich bekam zwei Ohrfeigen, eine links und eine rechts. Und manch andere Dinge... Und ich sehe ihn hier auf einem Posten! Und andere... Welche Folgen hatte für Sie die Deportation? Folgen? Eine davon ist, dass ich die Schule nicht beenden konnte. Eine weitere Folge ist die Krankheit, die ich heute spüre. Die kommt auch von dort her. Positive Folgen? Denn es gibt auch positive. Dort wurde ich ein Mensch. Dort wurde ich ein Mann. Wie andere, die zum Militärdienst gehen und sagen, dass sie von dort als Mann zurückgekommen sind. Ich habe vergessen zu sagen, aber es gibt so viele Dinge, und es kommen mir nacheinander die Bilder alle wieder... Eines Tages, als ich im Lager war, schlug mich ein alter Mann. Er war nicht alt, 40 Jah-

Anton Ferenschütz re, aber mir schien das alt damals. Er schlug mich, weil ich den Fußboden aufwusch und wie der Eimer dastand, mit Wasser und dem Lappen mit dem ich reinigte... Absichtlich stieß er mir den Eimer mit Wasser um. Mit dem Lappen, mit dem ich wischte, schlug ich ihm über den Kopf. Und ich war dünn. Er überhäufte mich mit Schlägen und warf mich zu Boden. In jener Nach habe ich die halbe Nacht geweint - mit dem Kopf im Kissen. Und ich dachte darüber nach, wie ich hier überleben wollte. Und ich betete zu Gott, zu entkommen. Ich denke, hundert Mal. Ich glaube, wissenschaftlich gesehen, wurde ich damals ein Mensch. In dieser Nacht, sagte ich mir, dass ich es nicht mehr zulassen werde, dass mich jemand nochmals anrührt. Ich werde zusehen, alles zu tun - zu stehlen, nur um zu überleben. Aber zuerst muss ich stark sein, um andere zu übertreffen. Ich muss schlauer, fleißiger sein als andere. In dieser Nacht hab ich mich verändert. Ich sah, dass das Leben ein Kampf ist. Anders als das, was ich bis dahin kannte. Jeder mit seinen Methoden und Mitteln, mit allem, was er hatte... Aus Ihrem Buch habe ich erfahren, dass die Deportation auch andere Folgen hatte. Sie wurde auch als Erpressung verwendet, als man versuchte, Sie für die Staatssicherheit zu rekrutieren... Warum? Wenn ich Bücher lese, die danach erschienen sind, verstehe ich nicht, warum. Ich hatte viele Freunde, die nicht aufgefordert wurden. Warum haben sie es bei mir versucht? Suchten sie Bastarde, die ihre Freunde verkaufen oder suchten sie Personen, die auf Andere Einfluss haben? Konnten Sie in der Familie über die Deportation sprechen? Ich sprach mit meinem Vater, der sehr, sehr interessiert war. Er wollte jeden Augenblick und jede Geschichte von dort erfahren. Welche Beziehung war zwischen dem Unglück der Deportation und den Hilfstrans-


Anton Ferenschütz porten, die Sie seit 1990 unterstützt haben? Ich glaube, keine. Ich habe zum Beispiel ein interessantes Buch von einem Philosophen, der erklärt, warum Menschen anderen helfen. Warum helfen Sie? Und vor allem, warum den Reschitzern? Der Stadt, die Sie 1971 verließen... Weil ich eben gefunden habe... es fällt mir schwer, dies zu erklären und es würde zu lange dauern. Aber diese Gene, anderen zu helfen, sind angeboren. Wenn schon Elefanten die Kleinsten unter ihnen schützen... Es ist etwas in unserer Natur. Prosoziales Verhalten wird es genannt... Nun, Sie finden einfach die Worte. Auf Deutsch finde ich sie auch. Sofort, als ich von der Revolution in Rumänien erfahren habe. In dem Moment... wenn unser Mitgefühl so entwickelt ist... ich wusste gar nicht, dass das Gefühl so entwickelt ist, aber da merkte ich, dass dies der Zeitpunkt ist, wo du helfen musst - den Menschen zu Hilfe zu kommen, die es nötig haben... Das steht in keinem Zusammenhang mit der Deportation? Ich kann nicht leugnen, ich kann es aber auch nicht bestätigen. Verbindung zur Deportation... seit jenem Tag, als ich sagte, dass ich stärker sein muss als andere, halte ich mich für einen starken Charakter, stärker als der Durchschnitt der Menschen. Ich bin fähig, wenn ich mich gut und gesund fühle - für Gerechtigkeit und Wahrheit würde ich alles geben. Warum lieben Sie weiterhin Reschitz und somit Rumänien? Mit Reschitz verbindet mich die Geschichte meiner Kindheit, die Freunde. Freundschaft ist etwas, was auf Gegenseitigkeit basiert. Man gibt nicht nur, sondern man erwartet auch, nicht unbedingt etwas Bestimmtes. Und Sie lieben es so sehr, dass Sie nach Ihrem Ableben in die Erde von Wolfsberg zurückkehren möchten... Jetzt stelle ich Ihnen mal eine Frage... Warum ich meine Gedichte in rumänischer Sprache

55 geschrieben habe, obwohl ich die deutsche Schule besuchte? Warum wohl, wenn es etwas von der Seele ist - und Poesie kommt von der Seele - warum ich nicht in Deutsch schreibe? Warum? Sie fühlen die Antwort. Deutsche Worte sind nicht so herzlich wie jene in rumänischer Sprache. Es sind seelisch geeignetere Worte, Latein ist näher zur Seele... Ich bin in Reschitz geboren, ich kroch dort durchs Gras, das nach Blumen und Honig roch, man fühlt den Sommer auf der Haut, nur dort habe ich ihn gefühlt... Sie haben über die Deportation geschrieben. Wie würden Sie es sich wünschen, dass die Geschichtsbücher über diesen Moment berichten? Sie müssen mit 1933 starten, mit Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Dem es zu 80 % unmöglich war, mit den Schulden zu leben, die es hatte. Unmöglich! In dieser Situation hätte es in jedem Land zu Unruhen geführt. Und durch Unruhen werden Ideen übernommen. Dadurch hat die Nationalsozialistische Partei gewonnen. Und ein Mann, ein Österreicher, der unzufrieden war... Wollten Sie, dass die Deportation im Kontext mit den Ursachen des Aufstiegs des Nationalsozialismus und Stalins Rache gesehen wird... Wann sind Sie dem Nebel der totalitären politischen Überzeugung entkommen? Wie haben Sie dem Nationalsozialismus und Kommunismus entsagt? Den Nationalsozialismus bin ich in Russland losgeworden. Und den Kommunismus? Als ich merkte, dass die kommunistischen Ideen nicht besser sind als die nationalsozialistischen. Zu der Zeit, als die Staatssicherheit begann, mich aufzusuchen, 1962. Bis dahin habe ich mich nicht mit Politik beschäftigt. Ich kümmerte mich um meine Familie, Sport, Natur, ich hatte andere Gedanken... Das erschien Ihnen erniedrigend... Persönlich... war es eine Enttäuschung.


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Die Therapie des Vergessens

Maria Ferenschütz

Maria Ferenschütz (Deutschland)

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ie war für Sie die sowjetische Besatzung? Ich weiß, dass Sie viel Leid getragen haben... Wie war es?... Wir haben viel erduldet, denn es war Krieg. Und ein Krieg wäre schrecklich für die Jugend heute. Ich könnte auch jetzt weinen... (sie weint). Ich will mich nicht daran erinnern... Aber, damit nie mehr Krieg sein möge, müssen die Menschen freundlicher, verständnisvoller werden. Denn, wir alle haben nur ein Leben. Und es ist sinnlos, sich zu bekriegen. Wir haben eine einzige Welt. Und wir dürfen sie nicht durch Neid und alle Arten Verschmutzung zerstören... Ich kann denken, aber es fällt mir schwer zu reden... Ich wurde nicht nach Russland verschleppt, aber mein Vater. Ich war 15 Jahre alt und kam im Haus bei meinen Großeltern unter. War Ihr Vater Kriegsgefangener oder wurde er nach Russland deportiert? Deportiert, er wurde in den Donbass gebracht. Und ein Jahr später wurde er zurück geschickt, denn er hatte eine große Wunde, die nicht verheilen wollte. Als er zurückkam konnte er nicht arbeiten. Nur meine Mutter arbeitete. Bevor er kam, sendete er einen Brief, eine Nach­richt? Nein, bis er ankam. Und wie sind Sie ohne ihn ausgekommen? Wie schlägt sich ein Kind durch, wenn der Vater stirbt, oder eine Frau, wenn ihr Ehemann stirbt. Und wenn man jünger ist, kommt man einfacher drüber weg. Wir waren sieben Mädchen, die dort gearbeitet haben. Ich bekam die Zustimmung. Was kann ein Kind von 15 Jahren? Denn so alt war ich, als ich zu arbeiten begann. Was haben Sie gearbeitet? Alles, was ich bekam. Ich arbeitete an einer Drehbank - ich weiß nicht, wie das heißt.

Und wir machten Löffel für die Soldaten. Aluminiumlöffel. Aus Aluminium. In einem Raum, der nur von oben her beleuchtet war, Zementboden und Leitungswasser, so kam der Winter. Ich wusch Löffel dort. Aber alle Mädchen, die dort waren, hatten ein Problem zu Hause, jedem fehlte ein Elternteil. Wir arbeiteten wie Sklaven, wie Farbige, die singen und zur Arbeit gehen. Nach einer Zeit aber wurde es immer schwieriger. Mein Vater wurde in Temeschburg operiert und es wurde ihm ein Stück des Magens entfernt und man verlegte ihm dort... wie heißt das noch... die Speiseröhre... Er war ziemlich kränklich... Dann erkrankten Sie... Ja, ich will gar nicht daran denken. Ich möchte positiv denken. Ich versuche, meine Gedanken nur dahin zu lenken, als wir glücklich waren dort. Aber als ich zum Arzt ging, es war ein gewisser Dubovan, als ob ich ihn noch vor mir sehe, so grau, etwas rundlich... Und jeder wollte damals kommunistischer sein als der andere. Er sagte, dass ich mich verstelle, ich könnte nicht meine Hände bewegen, aber einfach nur nicht arbeiten wolle... Und dass ich den Fortschritt des Kommunismus, die Idee verhindern möchte, etwas in dieser Art... Sie wollten die Entwicklung des Kommunismus behindern... Ja, ja. Er schickte mich zur Arbeit. Und ich arbeitete noch sechs Monate. Ich blieb unbehandelt, bis ich nicht einmal den Mund mehr aufmachen konnte. Damals war ich 19 Jahre alt. Nach vier Jahren Arbeit... Ja. Glauben Sie, dass die Deportation Ihren Vater und Ihren Ehemann verändert hat? Vater hat kaum etwas erzählt. Er sagte nur,


Maria Ferenschütz

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es war schwer. Er hatte Angst, dass sein Arm nicht heilen würde. Dann die Operation. Aber er hat nie erzählt, wie es dazu kam, dass er so krank war. Es gibt viele, die nichts erzählen. Sie haben die Tür geschlossen und wollen nicht mehr reden. Ja, ich habe viele Fälle dieser Art gesehen. Wenn Sie jeden Moment denken, wie schlecht es war, was für eine Schande Sie erlebt haben, zerstört man sich nur selbst. Und wenn

andere sagen, dass sie ein Nazi und HitlerAnhänger waren. Besser halte ich den Mund. Das Schlimmste war, dass meine Tochter gestorben ist. Schlimmer als alles andere... Ich schaue, ich pflanze Blumen und genieße, wie schön es draußen ist... ich bin zu alt und kann nicht so... ich habe zu viel gelitten, um zu scherzen... ich kann nicht so... ich möchte nicht...

Die Bücher der Deportation

W

as wissen Sie über Deportation? Nun, aus der Reschitzer Gegend, aus einer rumänischen Familie kommend, wusste ich nicht allzu viel. Als ich nach Deutschland kam und Anti kennenlernte... Hier haben Sie ihn kennengelernt? Nein, ich kannte ihn schon in Rumänien, aber nicht so gut. Wir unterhielten uns oft und er erzählte mir sehr viel aus seinem Leben. Und ich habe auch sein Buch gelesen. Ich fand es sehr interessant. Es ist eine andere Welt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so viel Leid gab. Dann empfahl er mir ein anderes Buch. Sprechen Sie von „Die Opfer-Generation“... Ja, dann las ich ein anderes seiner Bücher „Kuckucksei“. Darin ist jedes Beispiel ein

Voichiţa Ferenschütz (Deutschland)

unvergessliches. Wie denken Sie, sollten Geschichtsbücher über die Deportation schreiben? Sie selbst sagen, Sie haben in Reschitz gelebt, wo viele deportiert wurden, aber Sie wussten nicht viel darüber... Präsentiert im Detail. Auch eine Situation, die trivial erscheinen mag - im Detail präsentiert, kann sie einen nicht gleichgültig lassen. Ich fand manche Dokumentation hier in Deutschland sehr interessant, die mit Schauspielern nach gewissen Büchern gedreht wurde und dies erschien mir wiederum sehr gelungen. Sie lassen dich jene Momente tiefster Trauer wiedererleben. Du fragst dich, wie konnte es solche Menschen geben...

Deportation, eine Geschichte, ausgegraben nach 1990

W

ir lernten uns hier in Bielefeld kennen, bei Herrn und Frau Ferenschütz. Ich möchte Sie fragen, ob Sie etwas über Deportationen aus den Erzählungen Ihrer Mitbürger in Reschitz wussten? Ich bin nicht aus Reschitz. Ich komme aus Oltenien. Als ich neun Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Reschitz. Mein Vater war

Ştefan Raicu (Rumänien)

Administrator im Stadion. Herrn Ferenschütz habe ich dort gekannt. Am Stadion war auch die Wohnung meiner Eltern. Ich begann mit zehn Jahren Handball zu spielen und Anti war mein Trainer. Habt ihr nicht über Deportation gesprochen, solang Herr Ferenschütz in Reschitz wohn­te? Nein, nie. So Sachen über Deportationen er-


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Entlassungsausweis des Zwangsarbeiters Hans Mayer in die Heimatlosigkeit 1947 Repro: Archiv der HOG Billed Entlassungsausweis der Zwangsarbeiterin Kรถlzer Maria in die Heimatlosigkeit 1949 Repro: Archiv der Landsmannschaft der Banater Schwaben e.V.

Inhalt


Dolomitsteinbruch von Ilionowka Malerei in Erinnerung an die Russlanddeportation von Franz Binder Kriwojrog - Malerei in Erinnerung an die Russlanddeportation von Franz Binder

„Der ewige Begleiter“ (Ausschnitt) und „Lager 1802“ (Ausschnitt) Malereien in Erinnerung an die Russlanddeportation von Anton Ferenschütz


„Kennscht mich noch“ (Kennst mich noch) - Malerei von Franz Ferch

Banater Bibliothek 13 • Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion

Lavinia Betea | Cristina Diac | Florin-Răzvan Mihai | Ilarion Ţiu

Der weite Weg ins Ungewisse

Die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion Herausgegeben von der Landsmannschaft der Banater Schwaben e. V.


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