5 minute read
Neuausgabe von Ursula Wölfels «Das grosse Geschichtenbuch zum Lachen und Staunen».
Das grosse Geschichtenbuch zum Lachen und Staunen. Bettina Wölfel, Thiemann Verlag 2021. 312 Seiten, 23 Franken. Ab 5 Jahren.
Eine volle Geschichtenkiste für Enkel von heute
Advertisement
Ursula Wölfels «Suppengeschichten» hat ein Betriebsgeheimnis, das an sich leicht zu kopieren wäre. Doch niemand hat das in über fünfzig Jahren geschafft. Jetzt gibts eine Neuausgabe.
Die Geschichte, um die es hier geht, habe ich schon als studentischer Teilzeitbuchhändler empfohlen. Wir haben sie später unserem Sohn vorgelesen, meine Mutter hat sie ihren Enkelkindern erzählt und so weiter. Ich argumentiere also mit «Generationenerfahrung». Die Autorin Ursula Wölfel (1922–2014) hatte im Krieg geheiratet, brachte die Tochter Bettina zur Welt und war früh verwitwet. Als alleinerziehende Mutter lernte sie Grundschullehrerin, studierte Pädagogik und arbeitete dann am neugegründeten Institut für Jugendbuchforschung an der Uni Frankfurt. Als Kinderbuchautorin setzte sie Zeichen der Offenheit wie ganz wenige in der BRD vor 1968. Mit «Fliegender Stern» schrieb sie die Entwicklungsgeschichte eines Indianerjungen, die für Abertausende von Kindern das erste «richtige» Kinderbuch wurde, das sie selbst gelesen haben. Und in der Kurzgeschichtensammlung «Die grauen und die grünen Felder» griff sie praktisch alle sozialen und psychologischen Themen auf, die später die zeitgenössische Kinderliteratur ausmachten. Wölfel schien alles zu können, von kurzen Stücken bis zu umfangreichen Romanen, sprachlich einfach und behutsam direkt. Aber sie konnte noch mehr.
EINE EIGENWILLIGE IDEE Sie setzte ein Buchkonzept durch, das Vorlesenden und Kindern entgegenkommen würde, aber allen Vorstellungen des Verlags widersprach, wie eine Geschichtensammlung auszuschauen habe. Die ~
Artikelfortsetzung auf Seite 76
Mutter und Tochter beim Werkstattgespräch.
Rechte Seite: Eine Geschichte aus dem Buch mit Erklärung von Hans ten Dornkaat
Die Geschichte von der Nachtente
Einmal wollte eine Ente wissen, wie die Nacht ist. Sie ist am Abend nicht mit den anderen Enten in den Stall gegangen, sie hat sich auf die Wiese gesetzt und hat zugesehen, wie es immer dunkler geworden ist. Die Sonne ist untergegangen und die Sterne sind gekommen. Das war sehr schön und die Ente hat gestaunt über die Sterne. Aber dann ist es noch dunkler und immer dunkler geworden und der Himmel war riesengross und die Ente auf der Wiese war so klein.
Auf einmal war auch der Mond da. Ganz langsam ist er hinter den Bergen heraufgekommen. Da ist die kleine Ente erschrocken. Sie wollte weglaufen vor dem Mond, aber der Mond war überall. Sie hat die Augen zugemacht, aber der Mond war immer noch da.
Die Ente ist schnell zum Stall gelaufen und sie hat laut geschrien: «Maak! Maak! Maak!» Da ist die Frau gekommen, sie hat gelacht und sie hat die Ente in den Stall geholt zu allen anderen Enten. Und die Nachtente hat ihnen erzählt, wie schön die Sterne sind und wie gross der Mond ist.
So einfach war die Idee und doch so ungewöhnlich: Keine der Geschichten ist länger als eine Seite, viele sind sogar kürzer als «Die Nachtente», die hier als Vorleseportion abgedruckt ist. Klar verkörpert die Ente kindliche Neugier, und kein Wunder, übernimmt sich die Kleine. Doch keine Spur von Tadel. Die Geschichte zeigt Verständnis für Wünsche und Ängste. Die Frau lacht erlösend, aber lacht die Nachtente nicht aus. Und die hat viel zu erzählen. Mit dem Vorleseton im Ohr und den Augen auf dem Bild nehmen Kinder die Geschichte intensiver auf. Und wenn sie verklungen ist, bleibt die Bildebene noch da. Jetzt können sich zwei Generationen austauschen, weil sie zwei Medienformen in einem Medium vor sich haben. Das ist bei allen illustrierten Büchern so, aber hier sind die Bilder als Erzähllandschaften angelegt und vor allem respektieren die Geschichten nicht nur ihre Figuren, das Konzept drückt die gleiche Haltung aus. Keine Ebene drängt sich vor, Sorgfalt und Leichtigkeit formen und ermöglichen ein Ganzes.
BETTINA WÖLFEL
ersten der «Suppengeschichten» schrieb und illustrierte sie für ihre Tochter Bettina (*1944). Diese studierte später Grafik in Darmstadt und an der Hochschule für bildende Kunst in Berlin. «Weder der Verlag noch ich hatten damals eine Wahl, meine Mutter bestand darauf, dass ich die Bilder mache», erklärt Tochter Bettina später. «Und obwohl ich wusste, dass ich es eigentlich noch nicht kann – handwerklich waren meine Möglichkeiten noch sehr beschränkt –, stand für mich ausser Zweifel, dass ich es tun musste, zu sehr waren diese Geschichten mit unserer Beziehung verbunden. Von meiner Mutter selbst geschrieben, gezeichnet und als Buch gebunden, waren die Ur-Suppengeschichten das Geschenk zu meinem zweiten Geburtstag.» An dieser Stelle danke ich dem Kind von damals und der späteren Illustratorin. Sie hat meine Fragen per Mail beantwortet, hat mir ein von Mutter und Tochter redigiertes Gespräch gesandt und privates Bildmaterial für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt.
EIN WERK VON MUTTER UND TOCHTER
Dass berühmte Kinderklassiker als Geschichten für den Hausgebrauch entstanden sind, wird gerne erwähnt. Bei den «Suppengeschichten» liegt die Sache etwas anders. Die Mutter war keine naive Geschichtenerfinderin und ihre Tochter stolperte in ihren zukünftigen Beruf, viel zu früh, im Schlepptau der schon bekannten und erfolgreichen Autorin. Bettina Wölfel hat bald nicht nur Texte ihrer Mutter illustriert, sondern Buchumschläge gestaltet und verhalten-intensive Covermotive gemalt, an die ich mich noch nach Jahrzehnten erinnere. Nun sind die 140 Suppengeschichten wieder erhältlich, in einem dicken Band versammelt. Weshalb der erste der fünf ursprünglichen Einzelbände «Suppengeschichten» heisst, wird erklärt: Ein Kind will die Suppe nicht essen, die Mutter hält ihm einen vollen Löffel hin. Das Kind dreht den Kopf weg. Die Suppe ist ihm zu heiss, und es will lieber spielen. «Da hat die Mutter dem Kind eine Suppengeschichte erzählt.» Ob am Tisch oder am Bett, ob unterwegs oder als Ruhemoment tagsüber: Die Kürze der Texte und ihr paralleler Auftritt mit einer Illustration für die Zuhörenden sind ein wunderbarer Geschichtenschatz und ein immerwährender Vorrat. •
HANS TEN DOORNKAAT (69) hat nie aufgehört, Kinderbücher zu lesen. So hat er ein vielseitiges Wissen über Lesestoffe für Kinder und Jugendliche gesammelt. Er ist als Lektor, Literaturkritiker und Dozent tätig.