2 minute read
Hebamme Carole Lüscher
Rosa loslassen
Die Hebamme betreut ein zukünftiges Elternpaar, deren ungeborenes Kind keine Überlebenschance hat. Ein Schock auch für die werdenden Grosseltern.
Advertisement
Lena und Joel erwarten ihr erstes Kind, Lena ist im sechsten Monat schwanger mit Rosa. Das Ungeborene wird bereits mit dem Namen angesprochen, was Lena und Joel hilft. Rosa hat eine schwere Behinderung, Trisomie 18. Anders als beim Down-Syndrom, der Trisomie 21, hat Rosa keine Überlebenschance. Nach der Diagnose vor ein paar Wochen sassen sie bei mir in der Praxis – ratlos, verzweifelt, traurig, überfordert, schockiert – und mit vielen Fragen. «Zuerst einmal muss diese Information bei euch ankommen», sagte ich ihnen. «Medizinisch gibt es keinen Grund zur Eile.» Unser Instinkt möchte aber oft schnell eine Lösung, das Unausweichliche möglichst schnell hinter sich bringen, doch es lohnt sich, jetzt langsam vorzugehen. Die anstehenden Entscheidungen brauchen Zeit und Raum. Ich weiss, das fühlt sich für die zukünftigen Eltern gerade zusätzlich schwer an, doch ich kann ihnen versichern, dass es das ist, was andere Eltern in ähnlichen Situationen rückblickend am meisten schätzten: Langsamkeit, Zeit, Ruhe, um zu spüren, zu überlegen, auszuhalten, sich zu informieren, wichtige Gespräche zu führen. Ich entliess die beiden mit der Information, dass zwischen sofortigem Schwangerschaftsabbruch und Austragen der Schwangerschaft alles möglich sei und wir Fachpersonen jede Entscheidung wertfrei mittragen würden. Für Lena und Joel war nach dem ersten Schock schnell klar, dass sie die Schwangerschaft nicht abbrechen wollten. Es fanden interprofessionelle Rundtisch-Gespräche in der Klinik statt, wo nebst Lena, Joel und mir Geburtshel-
CAROLE LÜSCHER (47) ist Hebamme Msc, Geschäftsführerin der Hebammenpraxis 9punkt9 in Bern, freie Dozentin und engagiert sich berufspolitisch. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder. 9punkt9.ch
fer, Neonatologe, Psychologin, Intensiv-Pflegefachfrau und Spital-Hebamme teilnahmen. Nachdem das Vorgehen bei der Geburt, die palliative Begleitung des Sterbeprozesses von Rosa, das Wochenbett und viele andere Fragen geklärt waren, baten mich Lena und Joel, ihnen zu helfen, mit den zukünftigen Grosseltern zu sprechen. Beiden war es mittlerweile möglich, miteinander über alles zu reden, doch wenn sie an ihre Eltern dachten, schnürte es ihnen den Hals zu. Trotzdem wollten sie, dass ihre Eltern genauso informiert und unterstützt werden. Und so sitzen mir heute Eva, Hans, Judith und Thomas gegenüber – still, erwartungsvoll, unsicher. Sie kennen sich gegenseitig noch kaum, doch allen ist es wichtig zu wissen, wie sie ihre Kinder und die Enkelin unterstützen können. Es werden intensive 90 Minuten mit vielen Fragen, zuerst zurückhaltend, dann immer konkreter: «Wie müssen wir uns das vorstellen? Können wir unsere Enkelin sehen? Halten? Ist das pietätlos? Dürfen wir unsere Gefühle gegenüber Lena und Joel zeigen? Wie geht ein Wochenbett ohne Baby? Was ist mit der Milch? Jessesgott, es wird eine Beerdigung geben …», und viele mehr. Sorgen und Ängste werden ausgesprochen, es wird geweint, sogar gelacht, und verdaut. Wird anfangs noch vom «Baby» oder «es» gesprochen, wird im Verlauf immer öfter liebevoll Rosas Namen genannt. Als wir uns verabschieden, sind sich alle einig: Sie werden nicht erst in drei Monaten Rosas Grosseltern, sie sind es bereits jetzt. Die Zeit mit Rosa ist kurz und kostbar, auch für sie als Grosseltern. •