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Vom Haus in die Wohnung
Kein Neuanfang, ein Weiterziehen
Von KARIN DEHMER (Text) und CHRIS ISELI (Fotos)
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Im nächsten Frühling wird Tochter Sandra Rachmühl (vorne) mit ihrer Familie das Einfamilienhaus übernehmen, in dem sie aufgewachsen ist. Ihre Eltern, Doris und Edy Müller (hinten), ziehen derweil weiter in eine Eigentumswohnung. Was jahrelang unvorstellbar schien, ist plötzlich nicht mehr abwegig: Der Gedanke, das leer gewordene Familienheim zugunsten einer kleineren Wohnung aufzugeben.
«Ohne das hier wäre ich schon aufgeschmissen», sagt Elsbeth Specht bei der Begrüssung auf ihrem Gartensitzplatz. «Ich bin froh, haben wir immer noch die Möglichkeit draussen zu sitzen und gibt es diese Töpfe und Rabatten, um die ich mich kümmern kann.» Seit zweieinhalb Jahren wohnen Elsbeth (76) und Pit (78) Specht in der Überbauung am Rand ihrer Wohngemeinde im Aargauer Reusstal, in der sie seit über 40 Jahren heimisch sind. Hergezogen sind sie aus einem anderen Teil des Dorfes. 40 Jahre haben sie dort in einem Reiheneinfamilienhaus gelebt, über 20 Jahre mit ihren beiden Kindern, danach nur noch zu zweit. «Bis 65 habe ich gearbeitet. Da ist mir all die überflüssige Arbeit gar nicht aufgefallen», sagt Elsbeth Specht. «Die unbewohnten Zimmer staubsaugen, die vielen Fenster putzen, den Garten im Schuss halten – ich habe es einfach erledigt, obwohl ich immer weniger Lust darauf hatte.» Vor ungefähr acht Jahren dachten die Spechts schliesslich zum ersten Mal darüber nach, ihr Haus zu verkaufen. Aber ihre Kinder waren noch ungebunden und kinderlos. Wer weiss, vielleicht wollten ihre Tochter oder ihr Sohn das Haus ja einmal übernehmen? Vier Jahre und zwei Enkelkinder später kam es schliesslich zum entscheidenden Gespräch. Keines der beiden Kinder meldete Bedarf am Familienheim an. Die Tochter hatte sich mit ihrer Familie mittlerweile in Zürich angesiedelt, der Sohn zeigte ebenfalls kein Interesse. «Die beiden haben uns klipp und klar gesagt, dass sie zudem keine Lust hätten, einmal das Haus für uns räumen zu müssen.» Elsbeth Specht lacht. «Das kann ich verstehen. Pit hortete gefühlt Tausende von Kartonkisten mit Krimskrams, überall, ich weiss gar nicht, was da überall drin war.» ~
«Bei der neuen Wohnung ist ein altersgerechter Ausbau wichtig, sonst würde das Ganze wenig Sinn machen», Grosseltern Edy und Doris Müller mit Enkel Noah.
Nun also stand den beiden nichts mehr im Weg, sich nach einer neuen Bleibe umzusehen. «Wir hatten ein Affenglück, ich kann es nicht anders sagen», sagt Elsbeth Specht. «Zuerst fanden wir diese super Wohnung hier – optimale Grösse, Lift, alles rollstuhlgängig, falls nötig, und der Vermieter erlaubte uns zudem, die Badewanne herauszureissen und eine schwellenlose Dusche einzubauen.» Das Beste an Spechts «Affenglück» war, dass der Mietbeginn mit der Übergabe des Hauses an die neuen Besitzer übereinstimmte. Und dann kam der Moment, in dem sich Elsbeth und Pit mit ihrer in über 40 Jahren angesammelten Materie auseinandersetzen mussten. «Es war ein Krampf. Ich bin froh, haben wirs gemacht. Schon jetzt, zwei Jahre später, wüsste ich nicht, ob ich nochmals die Kraft dazu hätte», sagt Elsbeth Specht, die alles andere als einen unfitten Eindruck macht. Ein lokales Zügelunternehmen erstellte nach einer Bestandesaufnahme eine erste Offerte für Umzug und Entsorgung und lieferte eine Menge leerer Kisten an. Zimmer für Zimmer gingen Spechts danach ihr Haus durch. «Bei den grösseren Gegenständen arbeiteten wir mit farbigen Klebepunkten. Eine Farbe für alles, was gezügelt wird, eine andere für alles, was weg kommt.» Gab es Meinungsverschiedenheiten? «Nein, wir waren uns stets einig.» Und romantische Momente, in denen man über einer Kiste mit Fotoalben oder Briefen die Zeit vergisst? «Auch nicht, nein. Wir gingen sehr pragmatisch vor. Die Fotoalben habe ich gar nicht gesehen, die sind in Pits Kisten.» Das hört sich alles nicht besonders wehmütig an für einen Abschied nach so langer Zeit. Elsbeth Specht bestätigt den Eindruck: «Ich war nie traurig. Auch bei unserem Abschiedsfest im Quartier nicht. Traurig waren eher die Nachbarn und Freunde, die gekommen sind. Für uns war klar, dass es das Richtige ist. Wir blieben ja im Dorf. Das alles war kein Neuanfang oder Aufbruch, es war bloss ein Weiterziehen.»
DAS HAUS RÄUMEN – EIN KRAFTAKT Was die Spechts hinter sich haben, haben Doris (63) und Edy (67) Müller aus Winterthur noch vor sich. Im kommenden Frühjahr werden sie nach 27 Jahren aus ihrem dreistöckigen Einfamilienhaus in eine Viereinhalbzimmerwohnung ziehen. Übernehmen wird ihr langjähriges Familiendomizil, in dem sie zwei Kinder grossgezogen haben, Tochter Sandra mit ihrem Mann und den beiden Kindern. «Obwohl Sandra schon seit einigen Jahren Interesse am Haus angemeldet hat und wir von der Idee angetan waren, haben wir einen definitiven Entscheid vor uns hergeschoben», sagt Doris Müller. Ähnlich wie Elsbeth Specht bereitet auch ihr die viele unnötige Arbeit im zu gross gewordenen Haus längst keine grosse Freude mehr. Im letzten Jahr schliesslich stiessen Müllers auf ein Bauprojekt mit Wohnungen, das ihnen entsprach. Plötzlich musste es schnell gehen. Eine Reservation und Anzahlung für die zukünftige Wohnung musste innerhalb einer Woche geleistet werden. Eine Woche, die den Beteiligten blieb, um zur neuen Situation «Ja» zu sagen. «Ja» sagen musste auch Sandra Rachmühls Bruder. «Es war ein
Weg», fasst Sandra die Gespräche mit ihm zusammen. «Das Ganze sollte fair und gerecht verlaufen, das braucht Offenheit und Ehrlichkeit.» Und auch eine gewisse Kompromissbereitschaft. «Wir haben das Haus zum Schätzpreis an unsere Tochter und unseren Schwiegersohn verkauft», sagt Edy Müller. «In einem Bieterverfahren hätte man natürlich mehr herausholen können.» Schlussendlich war aber allen Familienmitgliedern, auch dem Sohn, wichtiger, dass das Haus in der Familie bleibt. Haben sich Müllers schon Gedanken um das Verkleinern ihres Haushaltes gemacht? Immerhin warfen Elsbeth und Pit Specht 3,5 Tonnen weg. «So viel haben wir nicht», wehrt Doris Müller ab. «Ich räume immer einmal im Jahr gründlich auf, so kann sich nicht viel ansammeln.» Man ist sich einig, was behalten und weggeworfen wird. «Bis auf die riesigen Lautsprecher meines Mannes. Da müssen wir noch eine Lösung finden.» Zurzeit beschäftigt Müllers jedoch weniger das Räumen ihres Hauses als der Innenausbau ihrer künftigen Wohnung, die sich noch im Rohbau befindet. Schauen sie dabei auch auf einen altersgerechten Ausbau? «Klar», sagt Edy Müller. «Sonst würde das Ganze keinen Sinn machen.» Elsbeth Specht führt am Ende des Gesprächs durch die drei Zimmer ihrer neuen Wohnung. Eines für Wohnen/Essen, eines für sie, eines für Ehemann Pit. Die Tür zu Letzterem lässt sich wegen den herumstehenden Kartonkisten nicht ganz öffnen. «Der Inhalt dieser Kisten wartet noch immer auf einen geeigneten Platz», lacht sie und schliesst die Tür schnell wieder. Vor einer Wand im Flur mit Kinderzeichnungen bleiben wir stehen. «Beim Umzug habe ich im alten Keller unzählige vergilbte Zeichnungen meiner Kinder von den Wänden genommen und jetzt hängen hier wieder neue Kunstwerke, von den Enkelkindern.» Eine Art Kreislauf, wie er sich auf andere Weise auch bei Müllers in Winterthur vollziehen wird: Enkel Noah wird schon bald im ehemaligen Kinderzimmer seiner Mutter schlafen. •
«Das Ansammeln von Dingen geschieht über Jahre, dann kann das Loslassen nicht in kurzer Zeit erfolgen»
Einen Hausrat zu verkleinern ist kräftezehrend, kann einem aber im besten Sinne das Leben erleichtern. Wem das Loslassen schwerfällt, kann sich bei Lis Hunkeler Unterstützung holen. Die Innerschweizerin ist Entrümpelungsexpertin.
Foto: zvg LIS HUNKELER bietet älteren Menschen vielseitige Unterstützung in deren Alltag. Sie übernimmt administrative Aufgaben, Reisebegleitungen, bietet Hilfe im Haushalt und ist Räumungscoach. lhunkeler.ch Frau Hunkeler, aller Anfang ist schwer: Ist es auch beim Entrümpeln eines langjährigen Hausrates so: Wenn man mal damit begonnen hat, läuft es von selbst? Noch wichtiger als der Anfang ist das Dranbleiben. Wenn man sich kein Zeitlimit setzt oder keine strikten Termine, kommt man kaum vorwärts. Oft ist es so, dass die Freude am Loslassen oder die Freude über weniger Ballast motiviert und Energie gibt. Dann ist die grösste Hürde überwunden.
Wie setzt man sich Zeitfenster, ohne sich unter Druck zu setzen? Der Prozess des Aufräumens kann in allen Bereichen kräftezehrend sein. Deshalb sollte man auf jeden Fall genug Zeit einplanen. Man kann sich vornehmen, über eine gewisse Anzahl Wochen oder Monate jeden Tag eine ~
Stunde fürs Aufräumen aufzuwenden, oder man setzt sich ein zeitliches Limit, sagt, «bis Ende Monat ist der Estrich geräumt». Man kann auch fixe Tage in der Agenda eintragen, an denen man sich der Arbeit annimmt. Denn es ist eine Arbeit. Eine definitive Zeitlimite ist wichtig, sonst bleibt man ewig dran.
Wie muss man sich Ihre Arbeit als Räumungs-Beraterin vorstellen? Manchmal begleite ich Menschen für zwei Stunden und kann sie so zum Start motivieren. Sie zeigen mir alles, was sie haben, und ich stelle Fragen zu Gegenständen, die ihnen Sorgen bereiten. Oft kommt nach diesem Gespräch der Ansporn, loszulegen. Ich melde mich dann alle paar Wochen und frage nach oder gehe vorbei. Es gibt aber auch Menschen, die wollen, dass ich dabei bin und sie physisch und mental unterstütze.
Welches ist die am häufigsten geäusserte Furcht von Menschen, die ihren Hausrat verkleinern müssen? Das Vergessen. Die Furcht durch das Weggeben von gewissen Dingen, Erinnerungen zu löschen. Dem ist aber nicht so. Wir erinnern uns an die schönen Sachen in unseren Leben auch ohne einen Gegenstand, der dafür steht. Ich beobachte, dass vor allem ältere Menschen, die noch mit wenig aufgewachsen sind, mehr an Dingen festhalten als die nachkommende Generation.
Wie oft gibt es Streit unter Paaren, die sich uneinig sind, was behalten werden soll und was weg muss? In vielen Partnerschaften gibt es einen Sammler oder eine Sammlerin. Es hilft, sich gemeinsam bewusst zu werden, dass man sich verkleinert. Beide Seiten müssen dazu beitragen. Ich empfehle, dass zuerst jeder seine eigenen Sachen aufräumt, und dass auch hier Ziele gesetzt werden. Zum Beispiel ein Drittel der Kleider muss weg, oder alles, was in den letzten zwei Jahren nicht gebraucht worden ist. In einem zweiten Schritt überlegt man dann gemeinsam, was man behalten will. Hier braucht es Kompromissbereitschaft.
Wovon trennen sich Menschen am wenigsten gern? Das ist sehr individuell. Für viele Menschen sind Fotos etwas sehr Wichtiges. Andere können sich nicht von Büchern trennen. Sachen, die man wirklich liebt und die einem teuer und wertvoll sind, sollte man denn auch unbedingt behalten. Es kommt nicht darauf an, wie viel ich in meiner Wohnung habe, aber es kommt darauf an, dass die Sachen, die darin sind, mich glücklich machen. Minimalismus stimmt nicht für alle. Es gibt auch Menschen, die brauchen viele Sachen um sich herum. Das ist okay. Wenn sich aber jemand von gar nichts trennen kann, versuche ich herauszufinden, woran das liegen mag. Sind es alte Glaubenssätze im Sinne von «Das ist doch noch gut» oder «Früher wäre ich froh darum gewesen»? Oder ich versuche herauszufinden, welche Emotionen mit den Gegenständen verbunden sind.
Hilft es, wenn erwachsene Kinder dem Prozess beiwohnen? Erwachsene Kinder können unterstützen, indem sie sich darum kümmern, Gegenstände weiterzugeben, ins Internet zu stellen oder ins Brockenhaus zu bringen. Entscheiden, was geräumt wird, sollen aber die Elternteile. Sie dürfen nicht gedrängt werden.
Ich stelle mir vor, dass die eine oder andere Person auch stundenlang über Fotoalben, Briefen oder Ähnlichem verweilt? Auf jeden Fall. Das muss Platz haben. Dieser Prozess ist für den «Abschluss» wichtig. Für solche Kisten sollte man sich aber extra Zeit einräumen. Nicht während der «offiziellen» Räumungszeit über ihnen hängenbleiben, sondern sie an einem Abend oder Wochenende in aller Ruhe durchforsten. •
TIPPS, WIE MAN DAS MINIMIEREN UND ENTRÜMPELN SCHRITT FÜR SCHRITT ANPACKT.
1. Bestandesaufnahme – Wie viel besitze ich? Gehen Sie dazu von Zimmer zu Zimmer, durch den Estrich oder Keller, und schreiben Sie grob auf, welche Möbelstücke und Dinge sich darin befinden, was der Inhalt von Schränken und Kisten ist. 2. Ziel setzen – Wie viel will ich loswerden? Beispielsweise: Die Hälfte, ein Drittel, jedes Regal/ jeder Schrank soll nur noch zur Hälfte gefüllt sein etc. 3. Hilfe – Welche Hilfe und Unterstützung brauche ich? Aufräumen kostet viel Energie, Kraft und Zeit. 4. Termine – Zeitdauer realistisch planen, Etappenziele setzen. 5. Weggeben – Bevor Sie mit dem Aufräumen beginnen, Familienmitglieder und Freunde fragen, was sie haben wollen. 6. Loslegen – Mit den Dingen beginnen, von denen man sich am leichtesten trennen kann. 7. Positive Haltung – Freuen Sie sich darüber, Ballast loszuwerden.
8. Dranbleiben
WENN SIE SICH VON DINGEN NICHT TRENNEN KÖNNEN, FRAGEN SIE SICH:
● Welche Erinnerungen habe ich daran? ● Wieso bedeutet mir dieser Gegenstand so viel? ● Wann habe ich ihn zum letzten Mal wirklich gebraucht oder angesehen? ● Könnte ich diesem Gegenstand ein neues Zuhause geben, in dem er wieder gebraucht wird und wo auch jemand Freude daran hat?