4 minute read
Lesen
Was die Bilder auch noch erzählen
Zeig mir, wie du lebst und ich rate, wer du bist. So oder ähnlich könnte man die detailreichen Illustrationen dieses Bilderbuchs verstehen, dessen Inhalt sich eigentlich um etwas ganz anderes dreht.
Advertisement
Ein Grossvater und sein Enkel ziehen «früh los» – bergwärts. Auf der Wanderung gibt es viel zu entdecken, aber letztlich geht es um unterschiedliche Kräfte, um das Jungsein, das Altwerden und das gegenseitige Verständnis. Erst hüpft das Kind voraus, dann fordert die Müdigkeit des Alten die Umkehr. Der Berg funktioniert auch als nicht-erreichtes Ziel gut: Dass der Grossvater früher ganz oben war, benennt Tatsachen von damals und ergibt ein Sinnbild für heute. Doch passend zum Thema dieses Magazins schaue ich jetzt auf die Wohnverhältnisse: Bevor die Geschichte einsetzt, sehen wir, wie Jon am Vorabend von zu Hause aus allein zum Grossvater geht. Eine Übersichtlichkeit à la Bullerbü. Vor dem Hof von Jons Eltern steht eine Hüpfburg; vor dem Haus des Grossvaters auch. So wohnt kein Alpöhi. Nein, Daniel Fehr erzählt von einem Rentner (Witwer?), der Brot backt und das Schlafsofa einrichtet für seinen Enkel. Die meisten von uns kennen das Foto der aufgekratzten Seniorin, die aus der SBB-Werbung grinst und die Ticket-App fürs Handy anpreist. Auch Illustratorin Lotte Bräuning zeigt einen lachenden Alten. Aber die Küchenmöbel und die Bundesordner im Regal charakterisieren ihn als im besten Sinn «gewöhnlichen» älteren Mann. Es gehört zu kurzen Texten und Illustrationen, dass sie verdichten, typisieren. Aber machen wir nicht ein Gleiches, wenn wir eine Wohnung betreten? Wir nehmen einige «Signale» wahr und schliessen auf die Bewohnerinnen und Bewohner. Natürlich geht es in einem Bilderbuch um die Geschichte. Aber die Figurenzeichnung und Kulisse erzählen mit. Wie Bräuning Clichés nutzt und sie zugleich nuanciert, das illustriert auch, was die Illustratorin kann. Sie erzählt mit Fussbodenfarben und Möbeldesign, dass sich dieser Mann vor rund 50 Jahren eingerichtet hat. Dass er beim Abendessen die Finken abstreift unterm Tisch, dass er die Fotoschachtel holt, die auf einem früheren Bild neben den Ordnern zu sehen war, das sind wichtige Details. Sie tauchen nicht auf im Text, die Illustratorin hat sie imaginiert und illustriert. Wir haben die Erfahrung, dass Kinder solche Zeichen beim wiederholten Anschauen entdecken und aufgreifen. Vermutlich lesen sie auch Einrichtungen genauer als wir annehmen. Bloss ist das selten Gesprächsthema. •
früh los, Daniel Fehr und Lotte Bräuning, Thienemann, 2021. 32 Seiten, ca. 24 Franken. Ab 4 Jahren HANS TEN DOORNKAAT (68) hat nie aufgehört, Kinderbücher zu lesen. So hat er ein vielseitiges Wissen über Lesestoffe für Kinder und Jugendliche gesammelt. Er ist als Lektor, Literaturkritiker und Dozent tätig.
1 2
4 5 3
Empfehlenswert Für grosse Leserinnen und Leser und solche, die es noch werden
1 Bilderbuch: Warum wir vor der Stadt wohnen, Peter Stamm, Fischer Verlag, 25 Franken. Eine Grossfamilie reist auf der Suche nach einem neuen Zuhause durch die Welt. Die Familie landet an ungewöhnlichen Orten. Überall bekommt eines der Familienmitglieder ein Problem, sodass die Familie weiterziehen muss, bevor ihre Reise in einem Haus vor der Stadt endet. Die Bilder von Jutta Bauer machen dieses Bilderbuch zu einem Schmuckstück. 2 Kinderbuch ab 10 Jahren: So ein verflixtes Erbe, Andrea Schomburg, Hummelburg bei Ravensburger, 22 Franken. Opas Testament hat es echt in sich: Malina, ihre Eltern und ihr kleiner Bruder Joschi erben die Villa. Aber sie bekommen das Haus nur, wenn sie dort zusammen mit Tante Röschen und ihrem uncoolen Sohn Alexander einziehen. Doch Papa und Tante Röschen sind doch seit Jahrzehnten verfeindet! Und dann taucht auch noch dieser zwielichtige Eddie auf. Gemeinsam müssen Malina und Alexander herausfinden, wer es auf Opas Erbe abgesehen hat. Eine sehr schöne Geschichte über Familie, Andersartigkeit, Gemeinsamkeit und Toleranz. 3 Kinderkochbuch: Grüner Reis und Blaubeerbrot, Felicita Sala, Prestel, 23 Franken. Die Bewohner und Bewohnerinnen der Gartenstrasse 10 wollen zusammen ein Fest feiern. Alle kochen ihr Lieblingsgericht. Pilar macht eine spanische Salmorejo-Suppe, Herr Ping dünstet Brokkoli im Wok, es wird Fisch filetiert und Cookies, Crumble und Blaubeerbrot gebacken. Herr Singh braucht für seinen Linsen-Dal Kokosmilch und auch Spaghetti und Baba Ghanoush dürfen nicht fehlen. So kommen Speisen aus aller Welt auf den grossen Tisch unter den Bäumen. Ein wunderschön illustriertes Buch. 4 Erwachsenenbuch: Ruthchen schläft, Kerstin Campbell, Oktopus bei Kampa, 29 Franken. Frau Lemke wohnt schon ihr ganzes Leben in dem Haus, welches Georg geerbt hat. Seit vierzig Jahren bäckt sie an seinem Geburtstag für ihn und sie feiern bei Kuchen und Kaffee. Doch nun erzählt sie ihm, dass ihr Sohn möchte, dass sie zu ihm nach New York zieht. Frau Lemke würde lieber in Berlin bleiben. Georg hat eine Idee. 5 Jugendbuch ab 14 Jahren: Die Insel der besonderen Kinder (5 Bände), Ransom Riggs, Knaur, 24 Franken. Nach dem mysteriösen Tod seines Opas reist Jacob nach Wales, um mehr über ihn und seine eigenartigen Schauergeschichten zu erfahren, die er immer erzählt hat. Auf einer Insel trifft er auf eine Gruppe Kinder mit besonderen Fähigkeiten und auf Monster, die auf der Suche nach ihnen sind. Der sechste und letzte Band erscheint am 1. Dezember.