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Hausarzt Edy Riesen

Ängstliche Gesunde, renitente Kranke

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Mit überängstlichen, kerngesunden Patient:innen, die mit Pseudowissen aus dem Internet auffahren, kann es für den Hausarzt schon mal schwierig werden.

Patient Peter hat gesundheitlich wahrlich den Kürzeren gezogen. Neben einem Diabetes, kaputten Hüften, einem Stotterherz, Übergewicht und Arthrosen hat er noch weitere Hypotheken, deren Aufzählung kein Ende nehmen würde. Man muss zugeben, dass ein Teil der Probleme hausgemacht sind, nach jahrzehntelangem Zigarettenkonsum, fettem Essen und Problemen im Geschäft und in der Liebe. Patient Walter hat gesundheitlich eine makellose weisse Weste. Doch das reicht ihm nicht, nein! Er «googelt und äppt» sich durchs Leben, um sich stets noch mehr zu optimieren. Sein Handy notiert ihm die Schlafzeit, die Anzahl Schritte und

Illustration: Irene Meier

neuerdings misst ein kleines Armband auch noch ständig Blutdruck und Puls. Allerdings gab es kürzlich einen falschen Alarm wegen einer Rhythmusstörung, was zu einem Besuch der Notfallstation führte und zu einer teuren Abklärung, die Walter wegen seines hohen Selbstbehaltes selbst bezahlen muss. Der Hausarzt kann sich schon einmal über den Peter ärgern, aber über die vielen Jahre ist er ihm ans Herz gewachsen, da er ein dankbarer und treuer Patient ist. Zwar verdampfen die ärztlichen Empfehlungen im Dunste des Zigarettenrauches (immerhin nur noch ein halbes Päckli täglich), aber auf menschlicher Ebene verstehen sich Patient und Arzt. Schwierig zu sagen, warum. Es hat etwas mit Ehrlichkeit zu tun, mit Empathie, mit einer kuriosen Männerfreundschaft. Die zwei lachen viel in der Sprechstunde. Und es gibt eine stille gegenseitige Bewunderung. Vom Patient für den Arzt sowieso, denn er kann sich nicht vorstellen, dass einer so viel weiss wie sein «Dokter». Der Arzt beneidet umgekehrt die Sorglosigkeit und naive Unbeschwertheit, mit der Peter durchs Leben mäandert, stolpert, fällt und wieder aufsteht. Ob sein Patient glücklich ist, weiss der Arzt nicht, aber es ist etwas Freies und Wildes um ihn. Wenn jener von den Basteleien an seinem Wohnwagen im Oberland erzählt, kann sich der Arzt entspannen, denn es gibt immer eine gute Story zu hören, die die Sprechstunde zum Hörbuch macht. Der Patient entführt den Arzt für Minuten in eine andere Welt. Dieses interessierte Zuhören ist die Basis für das unbedingte Vertrauen zwischen den beiden. Man kann sich ja fragen, ob der Hausarzt eine korrekte medizinische Arbeit macht, aber es ist menschliche Medizin. Ob jemand anders den Sünder gesünder machen könnte, ist sowieso fraglich. Als dieser einen längeren psychischen Absturz erleidet, zieht ihn der Arzt mit grosser Geduld, Medikamenten und freundlichen Worten wie einen Schiffbrüchigen an Land. Es ist bei allem Elend eine befriedigende und dankbare Arbeit. Welch harter Schwenker, wenn dann jemand wie Walter auftaucht. Vollgestopft mit Pseudowissen aus dem googelschen Universum, gefüttert mit Daten seiner diversen Gadgets (der alte Dokter weiss nicht so recht, was das ist) und doch immer besorgt um seine Gesundheit, lässt sich der kerngesunde Mann kaum je beruhigen und geht frustriert von dannen, was umgekehrt auch eine Verärgerung beim Mediziner auslöst. Diese Wechselwirkung ist ungünstig und die Konsultationen verlaufen harzig und unharmonisch. Gestern hat der Hausarzt allen Mut zusammengenommen und den Perfektionisten konfrontiert. Er hat ihm ein Entzugsprogramm angeboten, bei dem er vorerst eine Woche, dann zwei, dann drei auf Recherchen bei Google verzichtet und gleichzeitig Mobiltelefon, Armbändchen und Apps nicht mehr medizinisch anwendet. Unglaublich, denkt der Arzt, ist ja wie bei einem Alkohol- oder Drogenentzug. Der digitalisierte Walter kann sich noch nicht so schnell entscheiden, ist aber doch sehr verunsichert durch diese Intervention. Endlich funkt es zwischen den beiden und der Hausarzt ist sicher, dass er etwas ins Rollen gebracht hat. Sie vereinbaren eine Kontrolle nach zwei Wochen. Diese Geschichte zeigt, dass die Medizin nicht nur aus Regeln und Daten besteht, sondern ganz wesentlich aus einem Bündnis zwischen Patient und Arzt. Patienten mit Krankheiten und Defiziten müssen nicht notwendigerweise schwierig sein. Gesunde können sehr viel mühsamer sein. Paradox? Nein! Es gilt immer wieder, das Verhältnis zwischen Arzt und Patient zu klären. Selbst, wenn es (selten) zu einem Bruch führen sollte, lohnt es sich. Auch dann ist beiden gedient. •

«Es gibt keinen Arzt, keine Ärztin ohne Fehler und ohne Schuld. Wichtig ist die Ehrlichkeit, die Bescheidenheit und die Einsicht, dass man auch nur ein Mensch unter Menschen ist. »

EDY RIESEN (74) war als Hausarzt in Ziefen (BL) tätig. Er führte bis vor Kurzem eine Praxis mit seinem Schwiegersohn und ist mehrfacher Grossvater.

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