KLASSENKAMPF 26

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Die „soziale Heimatpartei“ ohne Maske: FPÖ - Partei für die Reichen und Abzocker, gegen die arbeitende Bevölkerunngg! ! ISSN: 2220­0657 Nummer 26 / September 2016 Zeitung der Gruppe Klassenkampf - für Rätemacht und Revolution 2.-- Euro www.klassenkampf.net

FPÖ-Hofer: Der Freund der G’stopften und Abzocker

Glaubt man den rot-weißblauen Großkampf – pardon: Wahlkampfplakaten der FPÖ (denn deren „Volks“kandidat ist ja der heldisch starrende Bertl), dann soll man „Aufstehen für Österreich“, denn „Die Heimat braucht dich jetzt”. Und überhaupt – das „Volk” ist überall präsent, und die Heimat ruft aus allen Ecken und Enden. Nach dem Bertl? Wirklich?

Wahr ist vielmehr: Herr Hofer ist der Mann, den die Reichen jetzt brauchen, und offenbar müssen viele Berufstätige und Arbeitslose, die aus Protest gegen das bestehende politische System bei den bisherigen Wahlgängen (vielleicht gibt’s ja noch ein paar, bis die Strache­Partie zufrieden ist?) Hofer gewählt haben, nicht „aufstehen”, sondern aufwachen, um zu erkennen, wofür der beredte Bursche steht

Wir haben uns schon vor den Wiener Gemeinderatswahlen mit dem Mythos von der „Sozialen Heimatpartei” auseinandergesetzt, dieses Flugblatt kann man auf unserer Website herunterladen, es ist nach wie vor aktuell. Wir wollen nur ein paar Highlights aus den vergangenen Jahren aufzeigen, an denen man un­

schwer erkennen kann, in wessen Lager die FPÖ wirklich steht:

Es lebe der Zinsgeier!

2011 wollte die FPÖ die Beseitigung der seit 2010 geltenden Beschränkungen der Maklergebühren auf höchstens zwei Monatsmieten durchsetzen. Warum? „Die Änderungen sind für viele Immobilienmakler existenzbedrohend und haben mittlerweile auch zu erheblichen Umsatzeinbußen in der Branche geführt “

Hü und Hott, wenn’s um Privilegien der G’stopften geht!

In der Sitzung des Finanzausschusses vom 13 Februar 2014 stimmte die FPÖ gegen eine Vielzahl von Bestimmungen, die Reiche und Superreiche getroffen hätten. Die Parlamentskorrespondenz Nr. 104 vom gleichen Tag berichtet: „Abgeordneter Hubert Fuchs (F) kritisierte, dass Unternehmen beim Gewinnfreibetrag Realinvestitionen vorgeschrieben werden, obwohl der Gewinnfreibetrag der Gleichstellung mit Unselbst­

ständigen diene, denen nicht vorgeschrieben werde, wofür sie ihr Weihnachts­ und Urlaubsgeld verwenden” Klingt ein bisschen zynisch, oder? Aber man kann den Freiheitlichen nicht vorwerfen, dass sie keinen Blick für die echten Sorgen der kleinen Leute haben: die Parlamentskorrespondenz protokolliert: „Einen FPÖ­Entschließungsantrag zugunsten des Reitsports, den die Antragsteller mit dem Hinweis auf finanzielle Belastungen durch die neue Umsatzsteuerpflicht für das Einstellen von Pferden bei Bauern begründeten, vertagte der Ausschuss mehrheitlich”. Klar, da muss man drauf schauen, dass der Simmeringer Hackler sein Ross steuerbegünstigt unterstellen kann, net wahr?

tron des kleinen Mannes (aber nicht der kleinen Frau? Das wäre vermutlich „Genderwahnsinn”) per APA­Aussendung. „’Vermögensbezogene Steuern, wie heute von Bundeskanzler Faymann am SPÖParteitag gefordert, sind absolut ungerecht und asozial’, betonte der freiheitliche Bundesparteiobmann Heinz­Christian Strache ‘Vermögenssteuern sind ein Diebstahl an den arbeitenden Menschen, da diese nochmals bereits versteuertes Einkommen und langfristige abbezahlte Kredite für Immobilien versteuern sollen’, so Strache"

Am 7. Dezember 2015 antwortete ein geifernder Strache dann auf seiner Facebookseite auf einen Eintrag, in dem gefragt wurde, warum denn die Effen gegen Vermögenssteuern seien: „Welchen Unsinn schreiben sie hier? Genau das Gegenteil ist der Fall! Wieder so ein linkes Fake­Profil”.

Der fesche KarlHeinz tritt auf den Plan

Am 13 Oktober 2012 verlautete H C Strache, Schutzpa­

Unser volkstümlicher Bertl ist bekanntlich stolz darauf,

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Vermögenssteuern sind
„asozial”, außer in Wahlkampfzeiten
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dass „die Elite” nicht in seinem Lager steht – wen immer er damit auch meinen mag Einer, der also nicht elitär ist, hat jetzt endlich seinen Senf zur 3. Runde abgegeben: KarlHeinz Grasser (für ihn gilt natürlich die Umschuldsvermutung!), der nach jahrelangen Ermittlungen nun wegen massiver Korruptionsvorwürfe demnächst angeklagte ehemalige Finanzminister und JörgHaider­Bube „Van der Bellen hat sicher Qualitäten, aber Hofer hat das bessere Alter und scheint das Amt lebendiger interpretieren zu wollen”

Na, wenn das der Autotandlersohn aus Kärnten sagt, wird’s schon stimmen.

heißt es in Brechts „Dreigroschenoper” Leicht abgewandelt: Und um’s Eck geht H ­C Strache, der von allem nichts gewusst Korruption? Freunderlwirtschaft? Hypo­Alpe­Adria? Der rechtschaffene Zahntechniker hat vermutlich immer gerade in irgendeine aufgerissene Gosch’n geschaut, wenn was passiert ist

Am 6 September 2011 gibt Strache der „Presse” gegenüber bekannt: „FPÖ­Obmann Heinz­Christian Strache übt im Zuge der Telekom­Affäre Distanz zur früheren freiheitlichen Regierungsmannschaft. ‘Meine heutige FPÖ hat nicht das geringste mit diesen Machenschaften zu tun’, beteuerte er am Dienstag. Bereits zu schwarz­blauen Zeiten seien ‘Gerüchte’ kursiert, weswegen man sich schließlich politisch getrennt habe ‘Die heutige FPÖ hat sich 2005 von diesem schüssel'schen Ungeist befreit’, so Strache. ‘Un­

ter meiner Führung gibt es keine Korruption, keine Freunderlwirtschaft’ Alle Versuche, die ‘heutige FPÖ in diese damaligen Machenschaften hineinzuziehen’, würden ‘völlig ins Leere’ gehen”

Immerhin war Strache ab 2004 Mitglied des FPÖ­Bundesparteivorstandes, und Haider liebäugelte vor seinem Rückzug nach Kärnten damit, seiner Schwester Ursula Haubner den geschmeidigen Wiener Landesvorsitzenden als Stellvertreter anzudienen Aber 2005 kam es dann zum Zerwürfnis zwischen FPÖ und BZÖ

Die Liste der blauen Widersprüche – hie „soziale Heimatpartei”, da Klassenpartei der Kapitalisten, Abräumer und Glücksritter – lässt sich fortsetzen, und wir werden das auch tun Denn es ist bitter notwendig, der infamen Lüge von der „neuen Arbeiterpartei

Kollektivverträge brauch ma net

Abgeordneter Bernhard

Themessl (FPÖ), hat sich im „Sommergespräch” der „Vorarlberger Nachrichten” in gewohnt kompetenter Weise zum Thema Kollektivverträge geäußert: „Themessl stellte im Interview die Frage, ob es Kollektivverträge wirklich brauche Betriebsvereinbarungen seien individueller und deshalb sinnvoller: ‘Man kann doch nicht einen Kollektivvertrag über das ganze Bundesgebiet legen, obwohl die Situation in den Bundesländern so unterschiedlich ist ’ Außerdem gebe es ein paar Hundert Kol­

lektivverträge in Österreich ”

Tatsächlich finden sich unter den rund 450 jährlich in Österreich abgeschlossenen Kollektivverträgen eine große Zahl auf Bundesländer abgestimmte Verträge; weiters gibt es Branchen­ und sogar „Firmen”­Kollektivverträge, die stark individuell ausgehandelt werden.

Herr Themessl, von H C Strache im Oktober 2014 abgesägter Wirtschaftssprecher der „sozialen Heimatpartei” (seine parlamentarischen Anfragen seien „Rohrkrepierer” gewesen, habe der Obmann

FPÖ” entgegenzutreten Damit enttäuschte Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr glauben, dass sie von den feinen Burschen mit ihren Kornblumen etwas zu erwarten hätten

Mit diesem QR­Code kommst Du zu unserem Text über die „soziale Heimatpartei" auf unserer Homepage:

dem Vorarlberger vorgeworfen, munkeln blaue Insider) reitet hier eines der alten Steckenpferde der Freiheitlichen: Den Generalangriff auf überbetriebliche Tarifverträge und die Propagierung der Verlegung der Verhandlungen über Löhne, Arbeitszeiten und Sozialleistungen auf die betriebliche Ebene. Das ist natürlich zugleich ein Angriff auf die Gewerkschaften. Gerade Vorarlberg, die politische Heimat Themessls, ist ja nicht gerade als gewerkschaftsfreundlichstes Bundesland verschrien Die Möglichkeit, sich in Ge­

werkschaften zusammenzuschließen, um aus einer möglichst starken Position mit den Kapitalisten über den Preis der Ware Arbeitskraft verhandeln zu können, war ein bedeutender Durchbruch für die frühe Arbeiterbewegung. Das will die „soziale Heimatpartei” jetzt rückgängig machen.

Themessl ist ja in sozialen Fragen höchst bewandert, wie ein Diskussionsbeitrag im Na­

„Und am Kai geht Mackie Messer, der von allem nichts gewußt”...
Parlamentsdiretion /
(c) Foto Simonis
Achtung, Achtung: Hier spricht ein Experte der sozialen Heimatpartei!
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tionalrat gegen eine von ihm befürchtete „Reichensteuer” beweist:

„Sie müssen die Debatte anders führen, nämlich: Sie müssen mit den Reichen normal umgehen, Sie müssen mit den Reichen über eine eventuelle Solidarabgabe reden, wofür wir auch eintreten, und dann werden Sie sehen – und davon sind wir überzeugt –, dass die wirklich reichen Österreicher so viel Patriotismus an den Tag legen, dass sie bereit sind, in schwierigen Situationen zu helfen Aber mit dieser Neiddebatte, wo Sie mit ideologischen Scheuklappen, wie Sie es genannt haben, diese Diskussion führen, sind Sie auf dem Holzweg Das können Sie mir glauben (Lebhafter Beifall bei FPÖ, ÖVP und BZÖ ”) 6 12 2011, 135 Sitzung des Nationarats, zitiert aus dem Stenografischen Protokoll, S 46)

Da ist er ja, der vielbeschworene Patriotismus der Freiheitlichen! Bei den Reichen, die liebend gern freiwillig zur Kasse gebeten werden. Themessl, selbst erfolgreicher (?) Unternehmer in Hohenems, muss es ja wissen

Übrigens: Im Sommer 2012, ein halbes Jahr nach seiner beherzten Verteidigung der patriotischen Reichen, war Themessl in die Schlagzeilen geraten, weil er zur Abdeckung seiner privaten Schulden von 1,85 Millionen Euro die Partner seines Versicherungsmaklerbüros um einen Betrag von einer halben Million Euro geprellt und ihre Existenzgrundlage gefährdet haben soll [Wie immer in diesen Kreisen gilt auch hier die Unschuldvermutung, wir zitieren lediglich aus den Vorarlberger Nachrichten!]

ARBEITSLOSE IM FADENKREUZ DES KLASSENFEINDS

Die Jagdsaison ist eröffnet. Klubobmann Lopatka, der Mann fürs Grobe in der ÖVP sinniert einmal mehr über die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitssuchende. Wenn es nach der ÖVP geht, sollen künftig die Annahme eines Jobs mit 2,5 statt 2 Stunden täglicher Wegzeit zum Arbeitsplatz die Voraussetzung sein, um weiterhin Arbeitslosengeld beziehen zu können. Die bürgerlichen Medien haben Jahre und Jahrzehnte hindurch das Trugbild des schmarotzenden und arbeitsscheuen Arbeitssuchenden gezeichnet und diese dadurch an den Rand des gesellschaftlichen Daseins gedrängt.

vorgeschlagen, um die Arbeitslosenstatistik zu schönen Findet sich nach langer Suche endlich Arbeit, so ist diese oft zeitlich oder saisonal begrenzt und wird von den Unternehmern gekündigt, sobald der Kollege aus der Karenz oder dem Krankenstand zurück bzw die Saison zu Ende ist. Fast immer ist der neue Job nach der Arbeitslosigkeit schlechter bezahlt als der alte Es ist eine Lüge, dass die Menschen in Österreich trotz dieser widrigen Bedingungen nicht arbeiten wollen. Im 1. Halbjahr 2016 wurden 216 000 der 246.000 vom AMS vermittelten Stellen angenommen

IMPRESSUM: Die Zeitung

KLASSENKAMPF wird von der politischen Partei GRUPPE

KLASSENKAMPF (früher:

Trotzkistische Gruppe Österreichs)

herausgegeben Offenlegung nach § 25 Mediengesetz: Die politische Partei GKK ist finanziell an keinen anderen Druckwerken oder Unternehmen beteiligt Druckort: Wien Verleger: GKK

Die Wahrheit ist viel mehr: Die vom AMS angebotenen Stellen sind oft längst schon besetzt oder entsprechen nicht im Geringsten den Qualifikationen der Arbeitssuchenden. Jugendliche mit nicht ganz so tollem Zeugnis schaffen es oft gar nicht zu einem Bewerbungsgespräch für den ersten Job. Ortswechsel in oft hunderte Kilometer entfernte Städte werden von AMS Betreuern nahe gelegt, weil dort gerade ein angeblich passender Job frei geworden sein soll Mittlerweile gelten bereits 45­jährige als „ältere Arbeitssuchende“, deren Chancen am Arbeitsmarkt stark reduziert sind Oft werden vom AMS verpflichtend offensichtlich sinnlose Kurse verordnet (etwa EDV Basisschulungen für IT Experten) oder der Weg in die (Schein)selbstständigkeit

Zur Jagdgesellschaft gesellt haben sich neben Lopatka auch die ÖVP dominierten Wirtschaftskammern in Oberösterreich und Tirol Diese rufen ihre Mitglieder dazu auf, vom AMS vermittelte Arbeitssuchende zu melden, wenn diese keinen arbeitswilligen Eindruck machen sollten Ein Verfahren der Datenschutzbehörde dazu läuft. Ins selbe Horn stößt die ÖVP Wien, die eine „Leistungskampagne“ gestartet hat Zum Leistungsbegriff äußert sich ÖVP Wien Chef Gernot Blümel in der Wiener Bezirkszeitung „Stadtleben“ vom 10 /11 8 2016 wie folgt:“Es geht hier um die soziale Frage unserer Zeit Im 19 Jahrhundert ging es um die ausgebeuteten Arbeiter, heute geht es um den Mittelstand. Diese Menschen finanzieren das System, während andere in unserer Gesellschaft EUR 850 fürs Nichtstun bekommen “

Die Verschleierung der Klassenverhältnisse gehört zu den Kampfmethoden der Ausbeuterklasse Nach wie vor findet die Ausbeutung der Lohnabhängigen – unabhängig von den rechtlichen Konstruktionen ihrer Arbeitsverhältnisse – täglich statt, wird der von ihnen produzierte durch den Verkauf ihres Arbeitsprodukts für die von Blümel als „Mittelstand“ bezeichneten Kapitalisten in Profit verwandelt Entgegen den Behauptsungen von Blümel wird das System nicht vorwiegend durch Unternehmenssteuern sondern zu mehr als 80 % durch Lohnsteuer, Umsatzsteuer und sonstige Massensteuern, welche von der ArbeiterInnenklasse stammen finanziert.

MindestsicherungsbezieherInnen stehen in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten Dabei wird Minstestsicherung meist nur als finanzielle Ergänzung zu Arbeitslosengeld oder Teilzeitbeschäftigung ausbezahlt Dennoch befinden sich MindstsicherungsbezieherInnen im Brennpunkt von Angriffen bürgerlicher PolitikerInnen Niederösterreich und Oberösterreich haben bereits Kürzungen beschlossen, ÖVP Innenminister Sobotka will eine Obergrenze von EUR 1 500 und eine Mindestaufenthaltsdauer von fünf Jahren in Österreich. Verpflichtung von MindestsicherungsbezieherInnen zu sozialer Arbeit wird angedacht Die ideologische Vorarbeit zu einer Neuauflage von Schwarzblau auf Bundesebene ist also geleistet Parallel dazu läuft die Um­

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verteilung von Lohnabhängigen zu Kapitalisten auf Hochtouren Von 2000 bis 2014 ist die Produktivität in Österreich um 18,2 % gestiegen, die Löhne hingegen nur um 8,6 %. Die Lohnabhängigen mussten in dieser Zeit Reallohnverluste hinnehmen Eine weitere Verschärfung der Lage am Arbeitsmarkt wird die von FPÖ Chef Strache und Außenminister Kurz vorgeschlagene Einführung von verpflichtenden 1 Euro Jobs für Flüchtlinge bringen Diese bedeutet bis zu 30 Stunden wöchentliche gemeinnützige Arbeit für Gemeinden zu einem Hungerlohn nach Hartz 4­Modell Gebetsmühlenartig wird von bürgerlichen PolitikerInnen lamentiert, dass Arbeitslose an ihrer Situation vorwiegend selbst schuld sind, dass sie doch gefälligst ihre Ausbildung zu verbessern und generell mehr Eigeninitiative zeigen sollen, damit alles gut wird. Dabei ist die Ursache für das Entstehen der Geißel Massenarbeitslosigkeit im kapitalistischen Wirtschaftssystem zu finden. Die Lohnabhängigen produzieren Mehrwert, welcher durch den Ver­

kauf ihres Arbeitsprodukts zu Profit für die Kapitalisten wird Diese häufen (akkumulieren) Kapital an und investieren es teilweise in neue Produktionsmittel (Maschinen, Rohstoffe, Arbeitskraft), um die Produktion zu erhöhen und noch mehr Profit aus dem Mehrwert, den die Lohnabhängigen produzieren, zie­

hen zu können Kann die erhöhte Produktion nicht mehr verkauft werden, ist der wirtschaftliche Aufschwung zu Ende. Die kapitalistische Krise beginnt Lohnabhängige werden auf die Straße gesetzt, soziale Errungenschaften angegriffen.

Nur wenn die Lohnabhängigen dieses krisenhafte System

genannt Kapitalismus in einer sozialistischen Revolution hinwegfegen und selbst die Herrschaft über die Produktionsmittel übernehmen, kann mit Rassismus, Ausbeutung und Unterdrückung Schluss gemacht und mit dem Aufbau des Sozialismus begonnen werden

GRUPPE KLASSENKAMPF

Die Gruppe Klassenkampf (GKK) ist die österreichische Sektion des Kollektivs Permanente Revolution, das aus Sektionen in Frankreich, Peru und Österreich besteht und eng mit der Bewegung zum Sozialismus in Russland zusammenarbeitet.

Die GKK gibt die Zeitung KLASSENKAMPF heraus, organisiert den Marxistischen Studienzirkel (MSZ) und

beteiligt sich an politischen Aktionen im Interesse der österreichischen und internationalen Werktätigen.

Unter anderem haben wir in Japan mit der radikalen Eisenbahnergewerkschaft Doro Chiba bei der Solidaritätsarbeit für die Opfer der Katastrophe von Fukushima zusammen gearbeitet.

Öst. Sektion des Kollektivs permanente Revolution (CoReP)
| gruppe.klassenkampf@gmail.com
www.klassenkampf.net
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Wir vermuten: Würden Arbeitslose seltsame Kopfbedeckungen tragen, wäre Lopatka freundlicher zu ihnen.

Die Reaktion in der Offensive

Der folgende Text ist die Zusammenfassung einer Diskussion in der Gruppe Klassenkampf zur Einschätzung der Situation in Österreich nach der 2. Runde der Präsidentenwahlen. Er steckt den politischen Rahmen für unsere Arbeit in der kommenden Periode ab.

Nach dem 2. Wahlgang der diesjährigen Bundespräsidentenwahl ging ein hörbares Aufatmen durch das Lager der kleinbürgerlichen Demokratie: Mit 50,3 gegen 49,7 hatte Alexander Van der Bellen nun doch noch über seinen freiheitlichen Kontrahenten Norbert Hofer gesiegt, damit schien der „Griff nach der Macht” der FPÖ zumindest bis zu den kommenden Nationalratswahlen (fahrplanmäßig 2018) verzögert worden zu sein

Diese erste Euphorie war in vielerlei Hinsicht unverständlich. 2,22 Millionen Stimmen für den Vertreter einer arbeiterfeindlichen, rassistischen, frauenfeindlichen, nationalistischen Partei alleine sind schon eine ernste Warnung für alle werktätigen Menschen in diesem Land, die sich ihrer Lage auch nur halbwegs bewusst sind; 2,25 Millionen Stimmen für einen eingefleischten Verfechter des seinem Ende entgegentaumelnden EU­Projekts, das europaweit das Feigenblatt für Sozialabbau, Sparpakete und den Abbau demokratischer Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter (das Proletariat) ist, als positiv anzupreisen, ist unverfroren und zynisch

Dass das Ergebnis Van der Bellens bis weit hinein in Kreise der Sozialdemokratie und der kritischen Jugend als „Sieg” aufgefasst wurde, ist das Ergebnis des jahrzehntelangen Verrats der sozialdemokratischen Parteibürokratie an den Interessen der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend. Als Stütze der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung haben sich die Funktionäre der traditionellen österreichischen Arbeiterpartei schon seit Beginn des 1 Weltkriegs an die herrschende Klasse (Bourgeoisie) verkauft und wurden mit staatlichen oder kommunalen Posten oder Pöstchen belohnt Solange sie für das regierende bürgerliche System nützlich waren, indem sie die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Klassenkampf für ihre Interessen ablenkten, sie angesichts der bürgerlichen Angriffe entwaffneten, wurden sie von der Bourgeoisie gefüttert. Als die Masse der Arbeiterbewegung dann schon so demoralisiert und verwirrt war, dass sie sich nicht mehr in großer Zahl wehren konnte (1934), wurde nicht nur das Proletariat niedergeworfen, auch die sozialdemokratischen Bonzen bekamen einen Tritt, wurden ebenso verfolgt und eingesperrt wie ihre Basis, die sie wehrlos gemacht hatten.

Nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus setzte die alte Führung der österreichischen Sozialdemokratie ihr altes

Spiel, wenngleich anfangs unter dem neuen Markennamen „Sozialistische Partei” fort Der im Vergleich zu „Sozialdemokratische Partei” kämpferische Name war ein Zugeständnis an den linken Flügel der Partei, an jene Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Illegalität gegen die aufeinanderfolgenden faschistischen Regime in diesem Land gekämpft hatten

Die Worte waren andere als in der 1 Republik, die (Un)Taten die gleichen: Statt Klassenkampf Sozialpartnerschaft, statt einer Politik, die visionär das Ziel des Sozialismus propagierte, das muckerische bescheidene Predigen der „Realpolitik”, der „kleinen Schritte”.

In der Aufschwungphase des österreichischen und internationalen Imperialismus ab den 50er Jahren („Wiederaufbau”) genügte die objektive Stärke der Arbeiterklasse, um der herrschenden Klasse soziale und politische Zugeständnisse abzutrotzen Die gewerkschaftlich hochorganisierten österreichischen Arbeiter waren für die Unternehmer potenziell gefährlich, also gönnte man nach Außen hin ihren sozialdemokratischen Führern den einen oder anderen Erfolg in der Sozialpolitik, damit die SPÖ­Bonzen weiter die Kontrolle über die Parteiund Gewerkschaftsbasis behalten konnten.

In den 70er Jahren, der Kreisky­Ära, konnte die Sozialdemokratie erfolgreich ihre Rolle im Dienste des Kapitals erfüllen: Im Gegensatz zur behebigen Volkspartei, die Rücksicht auf ihre bäuerliche, kleinbürgerliche und beamtete Basis nehmen musste, konnte die SPÖ Österreich modern gestalten, wie einer ihrer Wahlslogans lautete Im Gegenzug konnten Reformen im gesellschaftlichen Bereich (mehr Rechte für Frauen und Jugendliche, frischer Wind in der antiquierten Kulturpolitik, Reformen im Bildungsbereich ) und eine Anhebung der Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Die SPÖ als „Staatspartei” verlor allerdings in weiterer Folge deutlich an Schwung: Der Glaube, dass nun ein lange anhaltendes „sozialdemokratisches Zeitalter” angebrochen wäre, musste bald korrigiert werden International gingen die reaktionären Kräfte in die Offensive ­ der Putsch in Chile 1973, die „islamische Revolution” im Iran 1979, die Niederschlagung der Arbeiterproteste in Polen 1980 und schließlich die verheerende Niederlage der amerikanischen und englischen Arbeiter­

6 September
EDITORIAL
2016 | Nummer 26

klasse gegen Reagan und Thatcher leiteten auch international eine Wende gegen die Arbeiterklassen ein

Je mehr sich die SPÖ im bürgerlichen Staat heimelig gefühlt hatte, desto mehr löste sie die alten Parteistrukturen auf Wozu auch nur ansatzweise die Idee einer „Gegenkultur” gegen die herrschende Klasse, wenn man doch ganz famos mit dieser kooperieren konnte? Wenn die SPÖ­Führung schon den Kapitalismus modernisiert hatte, dann auch gleich die Partei Die „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie” machte die innerparteiliche Demokratie hinfällig, die Schulungstätigkeit wurde zurückgefahren, der kleine Kassier musste dem Bankeinzug weichen

Die SPÖ als Partei reagierte wie der vereinzelte und verängstigte Arbeiter oder Angestellte, dem vom Chef immer mehr aufgebürdet wird, nach dem Motto: „Geht’s dem Herrl gut gehts dem Hunderl gut” Statt sich mit den anderen Gedemütigten, Übervorteilten und Ausgenützten zusammenzuschließen, kriecht der verängstigte Werkttätige noch mehr vor seinem Boss, will ja alles Recht machen, damit er seinen (immer schlechter werdenden) Arbeitsplatz halten kann Am Ende der Erniedrigung steht dann, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen wehren, die Rolle des Streikbrechers ­ dem Tritt in den Hintern, der ihn hinausbefördert, entgeht er trotzdem nicht

Und so machten sich die aufeinander folgenden SPÖ­Regierungen (egal, in welcher Koalitionskonstellation) zu braven Verwaltern der kapitalistischen Krise Sie waren die ersten, die Sparpakete schnürten; die von ihnen dominierten Gewerkschaften befleißigten sich einer „vernünftigen” Lohnpolitik, d.h., sie trugen dazu bei, dass die Schere zwischen Kapital und Arbeit immer weiter aufging

2000 kam dann der Tritt: Die „Wenderegierung” von FPÖVP begann ­ getreu dem Motto „Speed kills” ­ mit massivem Sozialabbau (Stichwort: Pensionsreform), eine ihrer Hauptstoßrichtungen ging in Richtung Verlagerung von Lohnverhandlungen weg von Kollektivverträgen hin zu Vereinbarungen auf Betriebsebene

Während sich die FPÖ im Wahlkampf als die „Partei des kleinen Mannes” verkauft (ein Vorgeschmack auf die „Soziale Heimatpartei”) und gegen die „korrupten Altparteien” gewettert hatte, bugsierte sie in der Regierung sofort ihre Parteigänger in gut bezahlte Positionen und Jörg Haider, seit 1999 Landeshauptmann von Kärnten, bescherte der Republik mit seinen zwielichtigen Bankgeschäften (Hypo Alpe Adria) einen „Beitrag” zum Budgetdefizit von 19 Milliarden Euro und richtete seine Wahlheimat finanziell zu Grunde Mittlerweile schwadro­

nierte sein gegelter Finanzsunnyboy Grasser was von Nulldefiziten und propagierte für die sozial Schwachen eine neue Runde des Gürtel­enger­Schnallens Dass vor dem Hintergrund einer solchen abenteuerlichen Abzockpolitik die FPÖ überhaupt noch existiert, verdankt sie der unglaublichen Servilität der sozialdemokratischen Parteibürokatie vor dem herrschenden System

Die Jahre 2000 ­ 2003 sahen einen für österreichische Verhältnisse unglaublichen Anstieg der Klassenauseinandersetzungen, Mobilisierungen auf der Straße, unter dem Druck aus den Betrieben musste der ÖGB erstmals nach Jahrzehnten wieder massiv mit Streiks auf die Angriffe der Regierung antworten Aber die abwieglerische Haltung der SP­Führung, ihre Angst vor einer tiefgehenden Radikalisierung, führte an der Basis zu Enttäuschung, Entmutigung, oft zu einer Abkehr von der Politik überhaupt.

Mit Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise 2007 wurde die Frage des Widerstands der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend in allen Ländern auf die Tagesordnung gesetzt Das bedeutet nicht, dass damit eine vorrevolutionäre Periode eröffnet wurde ­ im Gegenteil Aber die notwendigen Defensivkämpfe wären eine hervorragende Gelegenheit gewesen, die reaktionären Attacken zumindest zu stoppen, in den Klassenkämpfen Erfahrungen zu sammeln und revolutionäre Organisationen aufzubauen, welche die Kerne der künftigen Revolutionären Arbeiterpartei sind

Zwei Kernsätze des revolutionären Marxismus vom Beginn des vorigen Jahrhunderts bestätigten sich weltweit: „Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus.” und „Kann man vorwärts gehen, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu gehen?”

Die bürgerliche Arbeiterpartei SPÖ ­ denn das ist sie unserer Einschätzung nach nach wie vor ­ kann und will nicht zum Sozialismus vorangehen Sie ist der „Transmissionsriemen der herrschenden Klasse” in die organisierte Arbeiterklasse Dieser Transmissionsriemen hat sich über die Jahre abgenützt, wird immer dünner Die Bindungen zur Klasse lockern sich, weil die Sozialdemokratie immer weniger Zugeständnisse an die arbeitende Bevölkerung und die Jugend machen kann; ihre totale Unterordnung unter die Kapitalsinteressen hat ihren „proletarisch­klientelistischen” Spielraum deutlich verringert Ihre aktive Mitarbeit an Privatisierungen im staatlichen und kommunalen Bereich hat zur Zerstörung traditioneller gewerkschaftlicher Bastionen geführt

Editorial September 2016 | Nummer 26 7

Breite Teile der Arbeiterklasse haben das Vertrauen in die SPÖ verloren Sie sehen in ihr nicht mehr „ihre” Partei Die Unbeweglichkeit, Starrheit, Ignorierung der Probleme der arbeitenden und arbeitslosen Menschen und der Jugend haben zahlreiche Sympathisanten und Mitglieder der sozialdemokratischen Bewegung aus Protest in die Arme der sich sozial gebärdenden reaktionären FPÖ getrieben.

Die bürgerlichen Massenmedien präsentieren die FPÖ als „die neue Arbeiterpartei” Sie leisten damit der reaktionären, bürgerlichen FPÖ, die sich demagogisch als „soziale Heimatpartei” bezeichnet, Schützenhilfe Vor allem die einflussreichen Boulevardgazetten wie Kronen Zeitung und Heute agieren unverschämt und unverblümt als Sprachrohre der Freiheitlichen Auffallend ist dabei, wie sie bei dieser „Mission” die Spaltung der Gesellschaft in Klassen umlügen, um neue Feindbilder zu schaffen In den Spalten der Massenblätter stehen einander nicht gesellschaftliche Klassen gegenüber, sondern „die kleinen Leute” der „Elite”. Die „Elite” sind natürlich nicht die Reichen, die Großunternehmer, die Bankerdas sind Intellektuelle, Künstler, die Kaste der Berufspolitiker Unbildung wird zur Tugend erhoben, während ein widerlicher Antiintellektualismus gepredigt wird.

Und dann natürlich das Feindbild schlechthin ­ „die Ausländer”, „die Asylanten”, „die Muslims”,„die Flüchtlinge”.

Als im September vergangenen Jahres zum ersten Mal Flüchtlinge ­ von Ungarn kommend ­ in großer Zahl nach Österreich kamen, gab es eine erste Polarisierung: Einer spontanen Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, die sich auch öffentlich manifestierte, stand eine Ablehnungsfront gegenüber, die sich jedoch auf Grund der positiven Massenstimmung nicht allzu aggressiv nach Außen kehrte

Klarerweise versuchten die reaktionärsten bis hin zu faschistischen politischen Bewegungen, diese latent ausländerfeindliche Stimmung politisch auszunützen Die FPÖ war der Katalysator, der „die Ängste der Bevölkerung” (dazu weiter unten mehr) anheizte, um ein entsprechendes Klima zu schaffen Das Zusammenspiel zwischen ohnehin weit rechts angesiedelten Presseorganen wie der Krone, Heute und Österreich, der FPÖ und faschistischen Kleingruppen machte es erstmals möglich, dass bei von offenen Faschisten organisierten Demonstrationen (Spielfeld, Graz ) erstmals seit den 60er Jahren ein paar tausend Menschen faktisch ungehindert aufmarschieren konnten

Die „parlamentarische” FPÖ goss über ihre facebook­Seiten (die wirkungsvoller sind als ihre Parteihomepages) immer weiter Öl ins Feuer, indem unkommentiert und ungehindert bewusste Falschmeldungen (Plünderung von Supermärkten durch Asylwerber, Entführungsversuche von blonden [arischen?] Kindern auf offener Straße, usw ) verbreitet wurden und das Klima der Angst und des daraus resultierenden Has­

ses weiter geschürt wurde

Was den Reaktionären zu Gute kam, waren die massiven Fehler der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den vorangegangenen Jahrzehnten, als Arbeitsmigranten nach Österreich geholt wurden, um in schlecht bezahlten und wenig attraktiven Branchen das Wirtschaftswachstum zu garantieren. Hätten die Gewerkschaften schon damals eine klare internationalistische Position bezogen ­ die Gleichstellung aller Lohnabhängigen in politischen und sozialen Fragen und die Organisierung der beschönigend „Gastarbeiter” genannten Migrantinnen und Migranten in den Gewerkschaften ­ wäre das eine Basis gewesen, die auch in Zukunft dem Rassismus weitgehend den Boden unter den Füßen entzogen hätte

Allein: eine sozialdemokratische, vom Geist der Klassenzusammenarbeit und Anpassung an den Kapitalismus erzogene Gewerkschaftsbürokratie, hätte von sich aus diesen Weg nicht beschritten Das erdrückende Übergewicht der SPÖ in den Massenorganisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter verhinderte alle möglichen Schritte in diese Richtung

Zur „traditionellen” Spaltung der Arbeiterklasse in männliche und weibliche Lohnabhängige, in Junge und Alte, kam nun zusätzlich die Spaltung nach Herkunft und Geburtsort. Die widerwillige Gewährung von sozialen Rechten für migrantische Arbeiter ­ auch in den Gewerkschaften ­ verhindert eine Solidarisierung So bekommen Arbeitsmigranten mit nicht­österreichischer Staatsbürgerschaft erst 2006 (!) das passive Wahlrecht für Betriebsratskörperschaften (Betriebsräte sind zwar keine gewerkschaftliche Institution, starke Gewerlschaften hätten hier aber schon früher eine entsprechende Gesetzsänderung erzwingen können)

Seit den 90er Jahren hat die FPÖ kontinuierlich und mit wachsender Aggressivität das Ausländerthema zum Kern ihrer Propaganda gemacht. Im Rahmen der allgemeinen Sparpolitik, die von der Sozialdemokratie mitgetragen beziehungsweise vorangetrieben wurde, nahmen die Konfliktpotenziale zu: Einsparungen im Bildungssektor schlugen vor allem auf die ärmsten Schichte der Bevölkerung zurück Kinder aus migrantischen Arbeiterfamilien hatten so zwar Zugang zu Kindergärten und Volksschulen, das Sparen bei qualifizierten Lehrkräften verschlechterte aber das allgemeine Lernniveau, was reaktionäre Populisten dann den Ausländern anlasteten Ähnlich in der Wohnungspolitik: Die Wohnungsfrage ist seit dem Entstehen des modernen Proletariats ein Dauerbrenner Die Parallelgesellschaft, die Entstehung von Klein Istanbuls oder Klein Sarajewos in Wien, liegt nicht ursächlich im Wunsch der migrantischen Bevölkerungsschichten „unter sich” zu bleiben ­ hohe Mieten und rassistische Vermieter und Hauseigentümer haben dieses Problem tatkräftig verstärkt.

Die Ausgrenzung der migrantischen Werktätigen und ihrer Kinder war natürlich ein Nährboden für reaktionäre, haupt­

„ 8 September 2016 | Nummer 26 EDITORIAL
Kann man vorwärts gehen, wenn man Angst hat, zum Sozialismus zu gehen?

sächlich nationalistische und religiöse, Strömungen So, wie wir gegen die Fremdenfeindlichkeit der „einheimischen” Reaktionäre (FPÖ, ÖVP, Teile der SPÖ, diverse neofaschistische Kleinparteien und Bewegungen ) kämpfen, müssen wir gegen reaktionäre, nationalistische und faschistische Kräfte unter den Migranten kämpfen. Es ist fatal, aus einem kurzsichtigen „antirassisischen” Reflex heraus die Augen vor echten faschistischen oder nationalistisch­reaktionären Bewegungen, die sich aus Migranten rekrutieren, zu verschließen (gemeint sind hier nicht nur Frontorganisationen der türkischen AKP oder der Gülen­Bewegung, Graue Wölfe, MHP, Salafisten, Dschihadisten und so weiter, sondern auch serbische Tschetniki, kroatische Faschisten, polnische faschistische Klubs, etc ), wobei gerade serbische Reaktionäre gern gesehene Bündnispartner der FPÖ sind.

Wir müssen klar dazu stehen, dass die revolutionäre Arbeiterbewegung versucht, alle positiven Errungenschaften der vorherigen Gesellschaften aufzugreifen, zu verteidigen und voranzutreiben Das heißt auch, das wir im gemeinsamen Kampf mit migrantischen Arbeiterinnen und Arbeitern grundlegende Positionen beibehalten und nicht opportunistisch aufgeben dürfen. Dazu gehört etwa die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Frauen; dazu gehört die unzweideutige Trennung von Staat und Religion. Die Antwort auf den als antimuslimisch verkleideten Hass gegen Menschen aus der Türkei, dem Mittleren Osten, Nordafrika und Westasien kann keine Kapitulation vor dem Islam sein Wir verteidigen das Recht auf freie Religionsausübung, gleichzeitig sind wir aber entschiedene Feinde der Religionen, die in der Geschichte der Menschheit (als Funktion der Klassengesellschaften) Verfolgung, Kriege, Vertreibungen, Massenmorde an Minderheiten hervorgebracht haben. Das heißt nicht, dass wir der oder dem individuellen Gläubigen ablehnend gegenüber stehen; wir werden aber die Verbreitung des religiösen Gifts auf keinen Fall unterstützen

Das heißt aber im Umkehrschluss, dass wir genauso entschieden gegen die Mythen von der christlichen Leitkultur kämpfen müssen Faschistische Bewegungen wie die Identitären suchen den Schulterschluss zwischen alten klerikalfaschistischen und nationalsozialistischen Ideen zu vollziehen. Plötzlich sind sie nicht mehr Deutschnational, sondern österreichische Patrioten; und auf einmal ist das christliche Abendland und die Reconquista hoch in Kurs ­ wo doch das Christentum mit seiner Nächstenliebe den gestandenen Nazis als jüdische Gefühlsduselei immer ein Dorn im Auge war

Unsere Tradition, die Tradition der Arbeiterbewegung, ist eine andere ­ sie fußt in den revolutionären Ideen der Aufklärung, den fortschrittlichen Ansätzen der Revolutionen von

1848, der Rätemacht der Pariser Commune von 1871

Durch den gemeinsamen Kampf mit den proletarischen oder mit dem Proletariat verbündeten Schichten unter den Migranten aus dem Mittleren Osten, dem Maghreb und Machrek müssen wir nicht nur das verschüttete Klassenbewusstsein der österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter wieder anheben, wir müssen auch reaktionäre, durch die dort herrschenden Klassengesellschaften zum Massenbewusstsein gewordene, Vorurteile zurückdrängen. Nur wenn wir das glaubhaft vermitteln können, werden wir die fortschrittlichsten Elemente der Klasse gewinnen können

Wir gehen in die künftigen Auseinandersetzungen mit jenen Forderungen hinein, die wir am 1 Mai den Genossinnen und Genossen der SPÖ vorgeschlagen haben:

•Die Gewerkschaften müssen wieder ihrer ureigensten Aufgabe nachkommen – der Vertretung der grundlegenden Interessen der Werktätigen, unabhängig von Geschlecht, Religion oder Nationalität.

•Um Arbeitsplätze für alle zu schaffen und den geflüchteten Arbeiterinnen und Arbeiter die Möglichkeit zu einem menschenwürdigen Leben zu geben und zu verhindern, dass sie von profitgierigen Unternehmern als Lohndrücker eingesetzt werden können: Drastische Verkürzung der Tages­ und Lebensarbeitszeit, bezahlt aus Progressivsteuern auf das Vermögen der Reichen und Superreichen!

•Weg mit allen „Notstandsverordnungen“! Sie haben schon einmal dem Faschismus den Weg gebahnt! Offene Grenzen –nicht für das Kapital und die Geldschieber, sondern für die Opfer der imperialistischen Kriege, der raffgierigen herrschenden Eliten und der Islamofaschisten!

•Um Arbeitsplätze für alle zu schaffen – öffentliche Bauarbeiten zur Schaffung von leistbarem Wohnraum und Infrastruktur, die den arbeitenden Menschen und der Jugend zu Gute kommt!

•Um Arbeitsplätze zu schaffen – Geld für mehr Personal in Kindergärten, Schulen, Universitäten, Spitälern, Gemeinschaftspraxen Eine Gesellschaft kann nie genug Lehrerinnen, Pflegerinnen oder Ärztinnen haben!

•Für kostenlose, qualitativ hochwertige Bildungs­ und Gesundheitseinrichtungen! Errichtung von selbstverwalteten Jugendzentren und entsprechend ausgebildetem Personal, das die Jugendlichen beim Aufbau dieser Zentren unterstützt, ohne sie zu gängeln!

•Für echte Reichensteuern, weg mit den Massensteuern (Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer etc )! Steuerliche Entlastung der Klein­ und Kleinstbetriebe, die oft nur versteckte Formen

Editorial September 2016 | Nummer 26 9

“outgesourcter” Lohnarbeit sind!

•Offenlegung der Geschäftsbücher!

•Komitees der Beschäftigten sollen – gegebenenfalls unter Beiziehung von ihnen verantwortlichen Buchprüfern –kontrollieren, ob Vermögenssteuern und Sozialversicherungsabgaben korrekt abgeführt werden!

•Enteignung angeblich unrentabler Betriebe unter Arbeiterkontrolle!

•Abschaffung des Stiftungsrechts und der Gruppenbesteuerung!

•Höhere Grundsteuer für Luxusimmobilien!

•Einführung der Erbschaftssteuer für Vermögen über 1 Mio EUR!

• Rücknahme der „Pensionsreform“ von 2004! Senkung des Pensionsantrittsalters für Frauen und Männer auf 60 Jahre!

•Gegen den Abbau demokratischer Freiheiten! Gegen Vorratsdatenspeicherung und den Einsatz “verdeckter Ermittler”! Weg mit dem § 278!

•Für die völlige Trennung von Religionen und Staat! Keinen Cent für klerikale Erziehung! Pfaffen, Imams, Kleriker aller Religionen raus aus den Schulen! Freiheit der Religionsausübung, finanziert aus den Mitteln der Gläubigen der jeweiligen Religionsgemeinschaften!

•Überparteiliche Selbstverteidigungskomitees gegen Angriffe faschistischer Banden auf Migrantinnen und Migranten und

Einrichtungen der Arbeiterbewegung!

Die SPÖ versucht, mit typisch bürokratischen Methoden noch einmal auf der Wahlebene die FPÖ auszubremsen Den unseligen Faymann gegen den rhetorisch gewandten Christian Kern auszutauschen, war ein Versuch, das Auseinanderdriften der Partei zu verhindern Die „linken” Sprüche von Kern ­ pro Wertschöpfungsabgabe, gegen Anhebung des Pesnsionsalters etc ­ können für uns vielleicht Anknüpfungspunkte in Diskussionen mit SP­Mitgliedern sein; bei den Arbeiterinnen und Arbeitern die aus Protest die FPÖ und Hofer wählen, weil sie sich von ihrer ehemaligen Partei im Stich gelassen fühlen, zieht das nur wenig Kern kann eher bei Anhängern der Grünen und der Neos punkten, das bedeutet aber von einem Klassenstandpunkt aus betrachtet keinen wirklichen Durchbruch

Die nächste Phase ­ und diese kann Jahre dauern ­ wird für die österreichischen Arbeiterinnen und Arbeiter ­ aber auch international! ­ schwere Belastungen auf allen Ebenen bringen. Der Druck auf die bewussten Elemente der Klasse ­ die politischen Aktivistinnen und Aktivisten ­ wird zunehmen. Darauf müssen wir uns vorbereiten und beharrlich daran arbeiten, unsere Kräfte zu konsolidieren und unsere theoretische Ausbildung zu verbessern, um für unsere politische Praxis ein solides Grundgerüst zu schaffen

p://groupemarxiste.info

nkreich: OUPE MARXISTE ERNATIONALISTE
Das Kollektiv Permanente Revolution(CoReP)
REVOLUCION PERMANENTE (PERU)
www.revolucionpermanente.com Peru:
GRUPPE KLASSENKAMPF
http://luchamarxista.blogspot.fr/ Österreich:
http://klassenkampf.net gruppe.klassenkampf@gmail.com
10 September 2016 | Nummer 26 EDITORIAL

Nach dem Brexit Referendum:

Nieder mit dem Chauvinismus!

Niederlassungsfreiheit und Arbeitsgenehmigung für die Arbeiterinnen und Arbeiter!

Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa!

Nach dem Brexit Referendum

Nieder mit dem Chauvinismus! Niederlassungsfreiheit und Arbeitsgenehmigung für die Arbeiterinnen und Arbeiter! Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa!

Die europäischen Bourgeoisien sind unfähig, Europa in der Epoche des kapitalistischen Niedergangs zu vereinigen, während sie in der Epoche des aufstrebenden Kapitalismus in der Lage waren, Deutschland, Italien und die Vereinigten Staaten von Amerika zu vereinen Der geplante Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, die ein Versuch der beiden wichtigsten Bourgeoisien des Kontinents ­ jener von Deutschland und von Frankreich ­ war, die Enge der Grenzen zu überwinden, legt dafür Zeugnis ab

Ein reaktionäres Ereignis

Zuerst hatte die britische Regierung angesichts der im Jahr 1957 von sechs Staaten getroffenen Entscheidung für einen gemeinsamen Markt (Freihandel und gemeinsame Zolltarife), der zuerst EWG, später EU genannt wurde, versucht, diesen im Jahr 1960 durch ein Freihandelsabkommen (EFTA) zu torpedieren. Danach spaltete sich die britische Bourgeoisie über diese Frage Die dem Kontinent zugewandten Gruppierungen (und die "City", also die Londoner Börse) neigten dazu, der EWG beizutreten, was sich auf der politischen Ebene in der Liberalen Partei (jetzt umbenannt in Liberaldemokraten) und der Mehrheit der "Tories" (konservative Partei) widerspiegelte Die meisten kleinen Unternehmen (und auf andere Kontinente fokussierte Kapitalgruppen) waren eher dagegen Hinter

den Kulissen des Staates, der politischen Parteien, der Medien und Universitäten konnte das Großkapital den Sieg über die kleineren Kapitalisten erringen, so dass das Vereinigte Königreich 1963 um die Aufnahme in die EWG ersuchte

Zunächst dachte das Vereinigte Königreich, dass es seine besondere Beziehung mit den USA und mit dem Commonwealth beibehalten würde Zweitens dachte das Vereinigte Königreich, dass es seine Rolle als Weltmacht erhalten könne... Aufgrund dieser und anderer Differenzen, zog sich Großbritannien von den Verhandlungen zurück.. Als Reaktion auf die Gründung der EWG bildete das Vereinigte Königreich, gemeinsam mit Norwegen, Schweden, Dänemark und Österreich eine Freihandelszone (Guglielmo Carchedi, Für ein anderes Europa, 2001, Kap 1)

Das Vereinigte Königreich trat 1973 bei, als die französische Regierung, die das Beitrittsansuchen lange blockiert hatte, zustimmte, um ein Gegengewicht zur wachsenden Wirtschaftsmacht Deutschland zu schaffen Andererseits weigerte sich die britische Regierung 1992, den Euro einzuführen. Die EU mag anfangs gebildet worden sein, um Frankreich und Deutschland enger zusammen zu schweißen, aber in den späteren Jahrzehnten wurde sie zumindest eben so sehr von britischen Werten, Ideen und Entschlusskraft geprägt Die ehrgeizige Expansion nach Osten, der stetige Aufbau eines integrierten Binnenmarkt, der Fokus auf den internationalen Handel wurden in Großbritannien initiiert (The Economist, 2 Juli 2016)

Erklärung des Kollektivs Permanente Revolution CoReP september 2016 | Nummer 26 11 Kollektiv Permanente Revolution / CoReP

Es war die untergeordnete Fraktion der nationalen Bourgeoisie, die durch die ausländerfeindliche UKIP vertreten wird, und die Minderheit der Konservativen Partei, die diese Entscheidung mittels eines Referendums nun zu Fall gebracht hat Bei einer beträchtlichen Beteiligung von 72,2%, haben fast 52% der britischen Wähler am 23. Juni für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt Dieses Ergebnis wird wahrscheinlich den britischen Kapitalismus in seiner Gesamtheit schädigen Die wichtigsten Finanz­ und Industriesektoren befürchten zu Recht, in Hinkunft für die Möglichkeit, Geschäfte mit anderen europäischen Ländern zu machen, teuer bezahlen zu müssen Tatsächlich sind mehrere Alternativen möglich ­ die einfache Anwendung der WTO­Regeln, Sonderverträge oder bilaterale Verträge, oder ein zweitklassige Assoziationsabkommen mit dem Europäischen Wirtschaftsraum mit bestimmten Verpflichtungen, aber ohne Stimmrecht in den EU­Gremien Auf jeden Fall ist eine Zeit der Unsicherheit angebrochen, was die Menschen, die ernsthaft ihr Kapital vermehren wollen, verabscheuen. Zudem taucht das Risiko eines Zerbrechens des Vereinigten Königkreichs mit dem Anstieg des schottischen Separatismus (und der Vereinigung Irlands) wieder auf

Nur wenige Engländer, die am 23 Juni für den Austritt aus der Europäische Union stimmten zogen in Betracht, dass sie damit den Zerfall einer anderen Union auslösen könnten: nämlich der eigenen (The Economist, 2 Juli, 2016)

Aber der Brexit ist keineswegs ein Sieg für die Arbeiterklasse Nur weil viele Werktätige (Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose, Kleinhändler, Handwerker ), die Opfer der globalen kapitalistischen Krise und Deindustrialisierung (die sich aus den Entscheidungen der Kapitalisten und der Regierungen in ihren Diensten ergibt) und Opfer von Angriffen gegen das kostenlose Gesundheitssystem (NHS) geworden sind, für den Brexit gestimmt haben, macht das nicht automatisch das Ergebnis zu einer Abstimmung im Sinne der Arbeiterklasse. Viele Arbeiter und Studenten haben für den Verbleib in der EU gestimmt: London ist nicht voll von Kapitalisten und Maklern, Schottland und Nordirland noch weniger Niemand konnte als Klasse abstimmen, im vollen Bewusstsein seiner Interessen und bereit, die Führung der Nation (oder der Nationen) zu ergreifen, alle sind einer Fraktion ihrer Ausbeuter gefolgt, die entschlossen war, Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten als Sündenböcke hinzustellen Die entfesselte “Leave”­Kampagne ermutigte einen Faschisten dazu, die Labour­Abgeordnete Jo Cox zu ermorden

In Wirklichkeit wurden die Arbeiterklasse und die Jugend Großbritanniens in die Falle gelockt, zwischen der Unterstützung für die Politik Camerons mittels der Verteidigung des Europa der Kapitalisten als besten Weg zur Begrenzung der Einwanderung und einem reaktionären Nationalismus, der alle möglichen Lügen verbreitete, zu wählen Niemals wurde die

Verantwortung der aufeinanderfolgenden bürgerlichen Regierungen für die Verschlechterungen der Lage der Arbeiter und Jugendlichen von Thatcher (Konservative) bis Blair (Labour Party) und dann bis Cameron offen bloß gelegt, nie der Klassenfeind im eigenen Land als Hauptgegner präsentiert Einerseits lobte Cameron die Verdienste der Europäischen Union, die angeblich Wohlstand und Glück für die Werktätigen gebracht hätte, auf der anderen Seite denunzierten Johnson und Farage die “Einwanderer” als verantwortlich für das Elend der einheimischen Bevölkerung, und die Europäischen Union als den Hauptieferanten von Zuwanderern, die von Sozialleistungen lebten und Jobs stehlen In dieser Verwirrung wurden alle Klassengrenzen verwischt, fand sich die Labour Party von Corbyn, flankiert von Left Unity, auf der gleichen Linie wie Cameron und pries die Errungenschaften der Europäischen Union an, während sich auf Seiten der UKIP nicht nur ein großer Teil der Konservativen Partei wiederfand, sondern auch verschiedene Opportunisten der Arbeiterbewegung, darunter die CPB (Kommunistische Partei Britanniens), Respect, die SWP, die SPEW (Sozialistische Partei von England und Wales/KAI­CWI) ...

In der ganzen Geschichte der britischen Arbeiterbewegung gab es Druck von Seiten der Bourgeoisie auf das Proletariat (Leo Trotzki, Wohin treibt England?, 1925, Kapitel 4)

Diese Stimmenmehrheit für den Brexit bedeutet einen zusätzlichen Erfolg für einen extremen Nationalismus, der nach und nach Europa, aber auch die ganze Welt, erobert Das bedeutet, dass sich die Arbeiterklasse auf Grund des Widerspruchs zwischen zwei Fraktionen der Ausbeuter gespalten hat und sich Teile von ihr auf das reaktionärste Terrain begeben haben ­ den Hass gegen die Ausländer, die Migranten, die Wiederherstellung der “nationalen Souveränität”, das “England zuerst”. Hat nicht UKIP, sondern auch der jämmerliche Clown Boris Johnson, ein Spitzenmann der konservativen Partei und ehemaliger Bürgermeister von London, selbstgefällig das “Leave” als Brüskierung der reichen Eliten hingestellt und alle populistischen Tricks angewandt? Also diejenigen, die selbst der Bourgeoisie angehören und wohl kaum ein Problem damit haben, dass ihnen am Ende des Monats das Geld ausgeht?

Die Verstärkung der Grenzen und der Protektionismus durch ein imperialistisches Land sind ein Rückschritt, dem sich das Proletariat nicht anschließen darf Sie sind immer Begleiter des Militarismus und internationaler Spannungen.

In Deutschland wie in Frankreich, Italien und Rußland wurde die Umkehr zum Schutzzoll Hand in Hand mit Heeresvergrößerungen und in deren Dienste durchgeführt, als Basis des gleichzeitig begonnenen Systems des europäischen Wettrüstens erst zu Lande und dann auch zu Wasser (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, 1913, Kap 31)

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Nummer 26 Kollektiv Permanente Revolution / CoReP
september 2016 |

Die Irrationalität der zeitgenössischen Bourgeoisie

Premierminister Cameron hatte mit dem Feuer gespielt: um dem Vormarsch der rassistischen,, ausländerfeindlichen, nationalistischen und sich faschisierenden UKIP zu begegnen, die zunehmend Wähler der konservativen Partei ansaugte, versprach er nach den Wahlen 2015 ein Referendum über den Verbleib in der EU abzuhalten, das er auch als Druckmittel verwenden wollte, um einige zusätzliche Zugeständnisse von den anderen europäischen Bourgeoisien zu erzwingen

Und das tat er in Brüssel im vergangenen Februar, als er auf den Spuren der verstorbenen Thatcher gegen die Misswirtschaft bei den EU­Ausgaben, laxe Grenzen und viele andere Dinge wetterte, um zufrieden heimzukehren, weil er ja die britischen Interessen so gut verteidigt hatte. Er hatte in der Tat das Recht erhalten, bestimmte Sozialleistungen und Zulagen für EU­Bürger in den ersten vier Jahren nach ihrer Ansiedlung in Großbritannien nicht auszahlen zu müssen, sowie neuerliche Garantien für den "Zugang" der Londoner Börse zur EU und das Versprechen, weitere Zugangsbeschränkungen und Normen zu lockern Deshalb führte Cameron eine Kampagne für den Verbleib in der EU (“remain”).

Aber, ach! Der Wind, den er säte, hatte nur das Feuer geschürt, das andere entzündet hatten, und zwar nicht nur UKIP, sondern auch ein Gutteil der Konservativen Partei selbst Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Gewinner zunächst vor allem durch ihre Fähigkeit glänzten, vor ihrer plötzlich überwältigenden Verantwortung zu flüchten: Nigel Farage, UKIP­Vorsitzender trat sofort zurück, und Boris Johnson führte eine erbärmliche Farce auf, um ja nicht Premierminister zu werden! Die siegreichen Leave­Kampagnenführer haben sich als ein Haufen mittelmäßiger Figuren gezeigt, die sich während der Kampagne selbst blamiert haben Lügen über aufgeblähte Budgetausgaben und türkische Migranten, bevor sie nach der Abstimmung einfach verschwanden (The Economist, 2 Juli 2016)

Für die englische Bourgeoisie und jene des Kontinents sieht die Sache nach dieser Runde schwierig aus. Cameron weigerte sich, vor seinem Rücktritt die Verantwortung für den Austritt zu übernehmen Er überließ diese Aufgabe der neuen Premierministerin Theresa May, die drei Tory­Anhänger des Brexit zu Ministern in der neuen Regierung ernannte: Johnson als Außenminister, Davis als EU­Austrittsminister und Fox als Minister für Aussenhandel May möchte einerseits die wichtigste bürgerliche Partei stabilisieren und andererseits die vom Brexit Begeisterten die Verantwortung für die kommenden Schwierigkeiten tragen lassen. Die Rechtfertigung der SWP, diesem Lager beizutreten war das Ziel, Cameron zu verjagen Aber haben die Arbeiter mit May anstelle von Cameron gewonnen?

Nachdem sie ihre Regierung gebildet hatte, traf May Merkel und Hollande, was zeigt, wer "Europa" führt Sie hat den Austritt immer noch nicht formalisiert Die 27 verbleibenden Staaten sind bei den kommenden Verhandlungen mit der neuen To­

ry­Regierung nicht auf der gleichen Wellenlänge Die Bourgeoisien Zentraleuropas wollen die Gelegenheit nutzen, um den Griff Deutschlands und Frankreichs zu lockern Die deutsche Bourgeoisie, für die Großbritannien ein wichtiger Kunde ist, bleibt vorsichtig Ihre beherrschende Stellung verleiht ihr die Rolle einer Wächterin über einen gewissen Zusammenhalt, während die anderen keine klare Linie haben Aber sie will auch nicht durch eine zu versöhnliche Haltung andere Mitgliedsländer, vor allem im Süden und Osten Europas, zu möglichen Abenteuern ermutigen Die französische Bourgeoisie hat kein solches Zartgefühl, sie schürt energisch das Feuer, um die englische Bourgeoisie zu schwächen, vor allem, um die City von London zu verdrängen und die Pariser Börse an ihre Stelle zu setzen Nun ist die London Stock Exchange die Lunge des britischen Kapitalismus, die das Kapital aus aller Welt einatmet und einen Bilanzüberschuss an Dienstleistungen erzeugt, während der Saldo des Warenhandels stark defizitär ist

London verfügt über 250 ausländische Banken und 200 ausländische Rechtsanwaltsaltskanzleien Die Hauptsorge ist, dass die Finanzinstitute nicht mehr der gesamten EU dienen können, wenn ­ vermutlich zwei Jahre nach Beginn der Austrittsverhandlungen ­ England die EU verlassen hat. (The Economist, 2. Juli 2016)

Für proletarischen Internationalismus

Nur wenige haben die einzig mögliche Klassenposition vertreten, indem sie für den Boykott des Referendums aufgerufen haben, zum Kampf für den Sturz der Kapitalistenregierung in Großbritannien, für die Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa

Gegen Ende des 19 Jahrhunderts wurde der bürgerliche Staat mit seinen Armeen und Zollgrenzen die stärkste Bremse in der Entwicklung der Produktivkräfte, die eine sehr viel ausgedehntere Arena fordern. Ein Sozialist, der heute für die Verteidigung des „Vaterlandes“ eintritt, spielt dieselbe reaktionäre Rolle wie die Bauern der Vendée, die zur Verteidigung des feudalen Regimes, d h ihrer eigenen Ketten stürmten (Manifest der IV Internationale, Mai 1940)

Im Gegenteil, auch über Großbritannien hinaus sind etliche Organisationen in den Nationalismus abgeglitten oder haben weitere Schritte in diese Richtung gemacht, die sie schon länger verteidigen. So die KKE in Griechenland, Die Linke in Deutschland, Mélenchon in Frankreich, ehemaliger Minister und Gründer der Parti de Gauche, großer Verteidiger der "Nation", deren Feind nicht die französische Bourgeoisie, sondern Deutschland ist, und der nicht nur den Brexit begrüßte, sondern auch am 5 Juli 2016 im Europäischen Parlament die “Entsendearbeiter, die den einheimischen Arbeitern das Brot stehlen”, attackierte

„Der Arbeiter hat kein Vaterland" ­ das bedeutet, daß a) seine ökonomische Lage (le salariat)

september 2016 | Nummer 26 13 Kollektiv Permanente Revolution / CoReP
Boris Johnson: Soviel zum Thema Irrationalität der Bourgeoisie

nicht national, sondern international ist; b) sein Klassenfeind international ist;c) die Bedingungen für seine Befreiung gleichfalls; daß d) die internationale Einheit der Arbeiter wichtiger ist als die nationale (Lenin, Brief an Inessa Armand, 20 November 1916, LW Bd 35)

Die meisten Revisionisten des Trotzkismus (die Morenisten, Cliffisten, Lambertisten, Robertsonisten, die Taffisten, etc.), die sich angewöhnt haben, dem Stalinismus nachzulaufen oder von ihm beeinflusst sind, haben dem Brexit applaudiert. Die britischen Arbeiter haben vom Brexit nicht nur keine Verbesserung ihrer Lage zu erwarten, sondern müssen sogar das Gegenteil befürchten Vor allem haben sie durch größte Verwirrung ihre Klassenunabhängigkeit verloren, was der Bourgeoisie zusätzliche Waffen in die Hand gibt Darüber hinaus startete die Rechte in der Labour Party (Arbeiterpartei) unverzüglich mit Hilfe der bürgerlichen Medien eine neue Offensive gegen Corbyn, Mittlerweile zerfleischt sich Labour selbst. Am 28 Juni verlor Mr Corbyn mit 172 zu 40 eine Vertrauensabstimmung unter den Labourabgeordeten Seine Rolle als Parteiführer wird nun herausgefordert (The Economist, 2 Juli 2016)

Das Ergebnis des britischen Referendums ist Teil der starken Zunahme der fremdenfeindlichen oder faschistischen Parteien wie der FPÖ in Österreich, der FN in Frankreich, der AfD in Deutschland Jobbik in Ungarn, der PVV in Holland, der XA in Griechenland, der PIS in Polen, usw Seit 24 Juni jubelte Le Pen (FN) :"Brexit,und jetzt Frankreich!"

Frau Le Pen denkt, dass ihr diese nationalistische Stimmung helfen wird, die Präsidentschaftswahl im nächsten Frühjahr zu gewinnen. (The Economist,2 Juli 2016)

Es sind die "demokratischen" Regierungen selbst, die den Kapitalisten freie Hand bei Entlassungen geben, die Steuern der Bosse und Reichen senken, Sozialleistungen einschränken, den Nahen Osten bombardieren, Europa verbarrikadieren und Flüchtlinge an den Toren der EU sterben lassen, die Fremdenfeindlichkeit und Rassismus fördern, die also der Reaktion Treibstoff liefern Dieser Chauvinismus ist überall an der Arbeit Was soll man zum republikanischen Kandidaten Trump in den USA sagen, der den Protektionismus befürwortet, die Abschiebung aller Einwanderer aus Ländern, die vom US­Imperialismus zerstört wurden und die Errichtung einer Betonwand von Tausenden Kilometern an der mexikanischen Grenze verspricht

Dieser Nationalismus ist ein grundlegender Ausdruck der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise in der imperialistischen Phase: im Widerspruch zu den Interessen der wichtigsten Sektoren der Bourgeoisie in den kapitalistischen Ländern, die, so gut sie können, auf den ungehinderten Fluss von Waren und Kapital drängen, wird das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die ständig zunehmende Konzentration des produktiven­, des Handels­ und Bankkapitals, die zunehmende Konkurrenz der Bourgeoisien untereinander und die Beherrschung der Welt durch eine Handvoll imperialistischen Mächte mehr und mehr zum Hindernis nicht nur für das Kapital selbst, sondern für die Entwicklung der gesamten Menschheit

Alle imperialistischen Bourgeoisien haben die Globalisierung mitgemacht, alle kapitalistischen Konzerne träumen von der Öffnung aller Grenzen für ihr Kapital und ihre Waren, aber die dem Kapitalismus eigenen Gesetze machen diese Bemü­

hungen zunichte, alle Konzerne fordern Hilfe durch ihren Staat gegen die anderen, alle Staaten in ihrem Dienst streiten um die Vorherrschaft über den Planeten Es ist der Alptraum der Konfrontation zwischen den Nationen, der wieder an die Oberfläche drängt Der Kapitalismus im imperialistischen Stadium, das ist die organisierte Konkurrenz zwischen den Arbeiterinnen und Arbeitern aus verschiedenen Ländern und innerhalb der einzelnen Länder selbst.

Daher brauchen wir eine internationalistische Partei Diese kann nicht aufgebaut werden, wenn wir der Labour Party und den Gewerkschaften den Rücken kehren Aber die Labour Party kann die revolutionäre Arbeiterpartei nicht ersetzen, weil sie seit ihrer Geburt eine "bürgerliche Arbeiterpartei" ist: “ArbeiterInnenpartei” durch ihre Wurzeln in der Gewerkschaft und ihre ursprüngliche werktätige Wählerbasis, “bürgerlich” durch ihr Programm und ihren parlamentarischen Kretinismus

Der besitzenden Klasse eröffnen sich große Möglichkeiten der Staatsobstruktion, der gesetzlichen und administrativen Sabotage, denn, gleichgültig, wie die Parlamentsmehrheit beschaffen ist, der ganze Staatsapparat ist in jeder Beziehung aufs engste mit der Bourgeoisie verbunden Außerdem stehen ihr noch zur Verfügung: die gesamte Presse, die wichtigsten Organe der Selbstverwaltung, die Universitäten und Schulen, die Kirche, die zahllosen Klubs und sonstige freiwillige Verbände Zu ihrer Verfügung stehen die Banken und das ganze System des gesellschaftlichen Kredits, endlich der Transport­ und Handelsapparat, so dass der Unterhalt Londons einschließlich der Arbeiterregierung von den großen kapitalistischen Vereinigungen abhängig ist (Leo Trotzki, Wohin treibt England ?, 1925, Kap 5)

Keine sozialreformerische Politik konnte oder wollte irgendeine Aussicht auf eine nachhaltige Verbesserung der Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter bieten, geschweige denn das Kapital selbst angreifen Stattdessen haben die Reformisten ihren Bankrott dadurch bewiesen, dass sie eifrige Erfüllungsgehilfen der Wünsche ihrer Bourgeoisie waren Die Massen, die die Schläge der bürgerlichen Parteien an der Macht einstecken mussten, haben genauso die Nase von den bürgerlichen Arbeiterparteien voll, wenn diese die offen bürgerliche Regierung abgelöst haben Mangels einer revolutionären Organisation, welche die Perspektive einer Machtergreifung durch die Arbeiterklasse, den Sozialismus, den Internationalismus bietet, sind es die reaktionärsten bürgerlichen Strömungen, die punkten können Genau aus diesem Grund ist eine richtige Orientierung in der Frage des Brexit so wichtig: Der Aufbau einer revolutionären Arbeiterinternationale!

Wenn die Massen begreifen, wie lange man sie betrogen hat, machen sie Revolution (Leo Trotzki, Wohin treibt England ?, 1925, Kap 4)

22 Juli 2016

Internationales Büro des Kollektivs Permanente Revolution (Frankreich/Österreich/Peru) Marxistisch­Leninistische Tendenz (Brasilien)

14 september 2016 | Nummer 26 Kollektiv Permanente Revolution / CoReP

Türkei: Auf dem Weg in den Islamofaschismus?

Der folgende Text ist die Niederschrift eines Referats, das Ende August auf einem Plenum der Gruppe Klassenkampf in Wien gehalten wurde. Verschiedene Punkte, wie etwa eine genauere Einschätzung der kurdischen Frage, wurden aus zeitlichen Gründen nur angeschnitten. Auf der Homepage der Gruppe Klassenkampf www.klassenkampf.net finden sich dazu aber ausführliche Analysen und Stellungnahmen unserer internationalen Strömung, des Kollektivs Permanente Revolution.

Nach dem missglückten Putschversuch vom 15 /16

Juli 2016 hat Staatspräsident Recep Erdoğan mit der seit dem Militärputsch 1980 umfassendsten Säuberung von Staat, Medien, Wirtschaft, Justiz, Polizei und Armee in der Türkei begonnen Gewiss ­ das AKP­Regime ist noch weit von den mutmaßlich 650.000 damals von der Militärjunta unter General Evren festgenommenen „Oppositionellen“ entfernt Aber klare Anzeichen weisen darauf hin, dass Erdo an die Daumen­

schrauben enger anziehen will ­ unter anderem mit seinen wiederholten Forderungen nach der Wiedereinführung der Todesstrafe (1980 wurden 517 Todesurteile verhängt und 50 vollstreckt)

Der Putsch hat eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen: Wer waren die treibenden Kräfte, was waren die Ziele dieser „Militärerhebung“? Warum haben die „Putschisten“ so unprofessionell agiert? (Losschlagen, während Erdoğan nicht in Istanbul ist; keine Besetzung

der Radio­ und Fernsehstationen; kein Versuch, die Regierungsmitglieder zu verhaften; Luftangriffe auf das leere Parlamentsgebäude, aber nicht auf den Sitz des Geheimdienstes und Polizeikasernen). Hatten die offenbar dilettantisch agierenden „Putschisten“ gleichzeitig die Intelligenz und das Know­How, um das Internet und die sozialen Medien abzuschalten?

Warum gab es kein Blutbad unter den AKP­Anhängern, die von Erdoğan aufgefordert waren, auf die Straßen zu strömen, wie das bei früheren Putschversuchen der Fall gewesen wäre? Einen Tag nach dem gescheiterten Coup erklärte Erdoğan: „Der versuchte Putsch war ein Geschenk des Himmels Jetzt können wir die Armee säubern“

Gleichzeitig begann der Präsident, laut über die rück­

wirkende Einführung der Todesstrafe nachzudenken Ein Erklärungsversuch für den Putschversuch könnte eine geplante großangelegte Verhaftungswelle unter Offizieren, Soldaten, Richtern und Staatsbeamten gewesen sein, die in Verbindung mit der Hikmet­Bewegung Fethulla Gülens stehen

Gülen, der in zahlreichen westlichen Medien lange Zeit als Verfechter eines moderaten, modernen, prowestlichen Islam präsentiert wurde, verkörpert mit seiner “Bewegung“ lediglich eine Strömung im türkischen Islam, die tatsächlich von den „Hardcore­Islamisten“ teilweise gewalttätig bekämpft wurde. Sie beruft sich auf Said Nursi (1876 – 1960) und dessen Nurcu­Bewegung und propagiert offiziell eine Spielart des Islam, der keine eigene Partei bilden, sondern be­

Internationaler Klassenkampf September 2016 | Nummer 26 15

stehende (bürgerliche) Parteien unterstützen will Statt einer Umwandlung des Staates in einen Islamischen Staat sollen die einzelnen Staatsbürger „islamisiert“ werden. Im Gegensatz zum historischen „Stammvater“ Nursi, der selbst Kurde war, verfolgt die Gülen­Bewegung einen klaren türkisch­nationalistischen Kurs. Die von ihr betriebenen Schulen propagieren auch im Ausland einen türkischen Nationalismus

Die Gülen­Bewegung unterstützte die brutalste Miltärdiktatur in der Geschichte des Landes, die 1980 errichtet wurde; auch wenn sich die Evren­Diktatur in der Tradition von Staatsgründer Kemal Atatürk sah und eine klare Trennlinie zwischen Staat und Islam zog, hatte die militant antikommunistische Bewegung Fethulla Gülens keinerlei Skrupel, die Junta zu unterstützen Diese zerschlug brutal die Arbeiterorganisationen und beseitigte gleichzeitig islamistische Konkurrenten der Hikmet­Bewegung, die sich ja als „individuell­islamisch“ ausgab

Dass die „Bewegung“, wie sie gerne genannt wird, eine ganz andere Agenda hatte, wurde spätestens nach der Krise 1997 klar: Die „Wohlfahrtspartei“ von Premierminister Erbakan war immer offener als islamische Kraft aufgetreten, worauf hin die Militärführung in einem „Memorandum“ aktive Schritte gegen den politischen Islam forderte und Erbakan schließlich zum Rücktritt zwang

In einer Reihe von Prozessen wurde enthüllt, dass die Gülen­Bewegung systematisch den Staatsapparat – Armee, Polizei, Gerichtsbarkeit, Schulen, Universitäten – unterwandert hatte. Kinder, die in den Schulen der Bewegung ausgebildet wurden, sollten als jahrelange Schläfer auf den Moment warten, an dem sie auf Anweisung Gülens, Deckname: Hocaefendi, die politische Agenda der Hikme­

tisten umsetzen sollten: Eine westlich orientierte, marktwirtschaftlich geprägte islamische Ausrichtung des Staates zu befördern

Die Krise von 1997 führte zum Aufbrechen der alten Parteienlandschaft – die 2001 als Nachfolgerin der „Wohlfatrpartei“ gegründete „Tugendpartei“ wurde ebenfalls rasch von der Armee verboten, die „Glückseligkeitspartei“ war auch nicht wesentlich glückseliger

1999 strahlte der türkische Fernsehsender ATV eine (zusammengeschnittene) Rede Fethulla Gülens vor seinen Anhängern aus:

„Man muss die Stellen im Justiz­ und Innenministerium, die man in seine Hand bekommen hat, erweitern Diese Einheiten sind unsere Garantie für die Zukunft Die Gemeindemitglieder sollten sich jedoch nicht mit Ämtern wie zum Beispiel denen der Richter oder Landräte begnügen, sondern versuchen, die oberen Organe des Staates zu erreichen Ohne Euch bemerkbar zu machen, müsst Ihr immer weiter vorangehen und die entscheidenden Stellen

Freunde zu früh zu erkennen geben, wird die Welt ihre Köpfe zerquetschen, und die Muslime werden dann Ähnliches wie in Algerien erleben Die Welt hat große Angst vor der islamischen Entwicklung Diejenigen von uns, die sich in diesem Dienst befinden, müssen sich so wie ein Diplomat verhalten, als ob sie die ganze Welt regieren würden, und zwar so lange, bis Ihr diese Macht erreicht habt, die Ihr dann auch in der Lage seid, mit eigenen Kräften auszufüllen, bis Ihr im Rahmen des türkischen Staatsaufbaus die Macht in sämtlichen Verfassungsorganen an Euch gerissen habt“ (Quelle: wikipedia)

Um einer wahrscheinlichen Strafverfolgung zu entgehen, setzte sich Gülen in die USA ab und baute von dort aus sein Netzwerk weiter aus –immer in enger Fühlung mit amerikanischen Politikern und Medienleuten, denen er sich als „vernünftiger“ und „demokratischer“ Prediger präsentierte

2001 hatten sich jüngere, dynamische islamische Kräfte von der Wohlfahrtspartei abgespalten und die AKP („Par­

weltlichen, nicht religiösen) Medien, Religion nicht für politische Zwecke einsetzen zu wollen In der traditionellen „Kopftuchdebatte“ (die kemalistische Tradition untersagte das Tragen des Kopftuchs in Schulen, Universitäten, Ämtern ) würde die AKP nicht am gesamtgesellschaftlichen Konsens rütteln Die AKP bekannte sich zum freien Markt und der parlamentarischen Demokratie

Dass die Partei auf dem Boden „islamischer Werte“ stand, verhehlte sie nicht Aber ihr modernistischer Anspruch machte sie für den westlichen, vor allem den amerikanischen, Imperialismus und breitere, nicht fundamentalistische Schichten der türkischen Gesellschaft attraktiv Die AKP und die von ihr geformte Türkei sollte zum „modernen“ Gegenstück der gefährlichen Regionalmacht Iran mit ihrer „Islamischen Republik“ aufgebaut werden Der Fundamentalismus der Mullahs hatte offensichtlich dabei versagt, trotz der Zerschlagung der kampferprobten iranischen Arbei­

Ziemlich beste Freunde: Bis 2013 bildeten Erdoğan und Gülen (rechts) ein verschworenes islamisches Duo

des Systems entdecken Ihr dürft in einem gewissen Grad mit den politischen Machthabern und mit denjenigen Menschen, die hundertprozentig gegen uns sind, nicht in einen offenen Dialog eintreten, aber ihr dürft sie auch nicht bekämpfen. Wenn sich unsere

tei für Gerechtigkeit und Aufschwung“) gebildet Mit ihr begann die Erfolgsstory des „liberalen Islam“ ­ nicht nur in der Türkei, sondern als „internationales Erfolgsmodell“

Die Führer der AKP versprachen den säkularen (also

terklasse ein funktionierendes Wirtschaftssystem zu errichten. Nicht nur die ausländischen Embargos machten dem Land zu schaffen, das Beharren auf einer „islamischen Wirtschaftsordnung“, die sich der Industrialisierung

16 September 2016 | Nummer 26 Internationaler Klassenkampf

widersetzte und auf internationalen Märkten nicht agieren konnte und wollte, führte den Iran von Stagnation zu Stagnation und in die Krise

Die türkische Bourgeoisie hatte den Vorteil, dass ihr die Militärdiktatur die lästige Arbeiterbewegung weitgehend vom Hals geschafft hatte. Unter Evren und seinen Nachfolgern waren die Gewerkschaften teilweise aufgelöst oder unter Zwangsverwaltung gestellt worden, führende ArbeiteraktivistInnen waren als „Terroristen“ verschleppt, gefoltert und oft genug ermordet worden. Sich „kommunistisch“ oder „sozialistisch“ nennende Organisationen und Parteien wurden verboten.

Die Gülen­Bewegung schloss sich der AKP nicht nur an, ihre Mitglieder nahmen bald Schlüsselpositionen in der Partei ein Die gemeinsame Front von exportorientierten Geschäftsleuten, religiösen Intellektuellen und der unteren Ebene der Staatsbediensteten schufen die Basis einer politischen Stabilität, die das „türkische Wunder“ möglich machten. Es war die Zeit, in der Ministerpräsident Abdullah Gül erklärte, die „AKP sind die WASPS der Türkei“ [in den USA sind „weiße angelsächsische Protestanten“ der Inbegriff der leistungsorientierten, aufstrebenden bürgerlichen Mittelschichten]

Am 29 Juni 2004 erklärte US­Präsident George Bush am Ende des Nato­Gipfels in Istanbul programmatisch:

„Dieses Land gewann aufgrund seiner geografischen Lage an Bedeutung – hier an dem Punkt, wo Europa, Asien und der Nahe Osten aufeinander treffen Jetzt ist die historische Bedeutung der Türkei aufgrund Ihrer Eigenschaft als Nation noch größer geworden Die Türkei ist eine starke, säkulare Demokratie, eine mehrheitlich muslimische Gesellschaft und ein enger Bündnispartner freier Nationen Ihr Land, das 150 Jahre demokra­

tischer und gesellschaftlicher Reform erlebt hat, dient als Beispiel für andere und als Brücke Europas zur ganzen Welt Ihr Erfolg ist entscheidend für eine fortschrittliche und friedliche Zukunft Europas sowie des Nahen und Mittleren Ostens – und die Republik Türkei kann sich auf die Unterstützung und Freundschaft der Vereinigten Staaten verlassen

( ) Jetzt zieht die Europäische Union die Aufnahme der Türkei in Betracht, und Sie arbeiten an der raschen Erfüllung der Beitrittskriterien Mustafa Kemal Atatürk hatte eine Vision der Türkei als starke Nation unter anderen europäischen Nationen Dieser Traum kann für die gegenwärtige Generation von Türken in Erfüllung gehen

Nach Ansicht der Vereinigten Staaten gehört die Türkei als europäische Macht in die Europäische Union Ihre Mitgliedschaft wäre auch ein entscheidender Fortschritt in den Beziehungen zwischen der muslimischen Welt und dem Westen, weil Sie ein Teil beider Welten sind Die Aufnahme der Türkei in die EU würde beweisen, dass Europa nicht der alleinige Klub einer

Religion ist, und sie würde den “Kampf der Kulturen‘ als vorübergehenden Mythos der Geschichte entlarven “ (Quelle im Internet: http://blogs usembassy gov/amerikadienst/2004/06/29/demokratiebringt­gerechtigkeit­freiheitund­wohlstand/)

Es war offensichtlich: Die Türkei nahm in den strategischen Plänen der imperialistischen Mächte eine Schlüsselstellung ein, wenn es um die Einflussnahme in der „arabischen Welt“ ging.

Die kemalistische CHP, die Mitglied der „Sozialistischen“ Internationale ist, saugte mittlerweile zwar Mitglieder der vorhergehenden Arbeiterorganisationen auf, parallel zum Wachstum der AKP ging die Partei aber immer stärker zu ihren kemalistischen und nationalistischen Wurzeln zurück. Forderungen nach demokratischen Freiheiten oder der Anerkennung von Gewerkschaften wurden zugunsten von Forderungen nach der „Wahrung der nationalen Integrität“ des Landes zurückgestellt Erst der Sturz

von Parteivorsitzenden Deniz Baykal im Mai 2010 führte zu einem „Links“schwenk Ab 2008 zog die AKP die Schrauben fester an: Die Aufdeckung einer angeblichen Offiziersverschwörung unter dem Decknamen „Ergenekon“, die seit 2003 planmäßig durch Attentate, Terror und Desinformation den Sturz der Regierung Erdoğan betrieben haben sollte, lieferte den Vorwand, um den Staatsapparat und die Armee von kemalistischen Elementen zu säubern Erstmals stellte sich eine türkische Regierung offensiv gegen die Armee.

Tatsächlich ist die Existenz derartiger Umsturzpläne höchst wahrscheinlich – ähnlich agierten Teile der politischen Elite und der Geheimdienste etwa in Italien Die Ergenekon­Ermittlungen wurden aber zum jahrelangen Vorschlaghammer, mit dem wahllos Oppositionelle, bis hinein in die kurdische Bewegung, niedergeschlagen und wegen Hochverrats inhaftiert wurden

Zwischen 2008 und 2010 war das Bild der AKP­Regie­

Internationaler Klassenkampf September 2016 | Nummer 26 17
Streik der Tekel-Arbeiter 2010: Regierung warf kämpfende Arbeiter mit reaktionären Verschwörern in einen Topf

rung schillernd: Nach außen hin gab sich die Partei demokratisch Gesetze, die ethnische Minderheiten benachteiligten, wurden im Parlament abgemildert – in der Praxis wurde der Druck, vor allem

überprüfen und sich dazu an das Direktorat für allgemeine religiöse Fragen zu wenden

Der „arabische Frühling“ brachte eine dramatische Änderung für die Türkei: revolutionäreMassenbewegungen

monstrativer nach außen kehrte

auf die Kurdinnen und Kurden, ständig erhöht

Als es 2010 zum landesweiten Streik der Tekel­Arbeiter kam (Tekel war das staatliche Alkohol­ und Tabakmonopol, das privatisiert wurde), wurde dieser als „Pro­ErgenekonAktion“ denunziert und brutal unterdrückt. Die AKP­eigene Auslegung des Islam mit der Betonung auf das „Schicksal“ des einzelnen wurde von Erdoğan zynisch eingesetzt, um Kritik und Proteste der Ausgebeuteten nieder zu machen

Im Mai 2010 erklärte er in einer Ansprache vor Familienangehörigen der Opfer eines Bergwerksunglücks, dass das „Leiden der Bergleute Teil ihrer Arbeit“, ihr „Schicksal“ sei. Ähnlich wurden Erdbebenopfer abgekanzelt – sie seien selbst Schuld gewesen, wenn sie sich in unsicheren Gegenden angesiedelt hätten. „Schicksal“ Wer daran zweifelte, wurde zynisch aufgefordert, seinen Glauben zu

drohten, das gesamte Gefüge der islamischen Welt zu verändern und damit die privilegierte Position der Türkei als „Vorbild“ und „Brücke“ zum Westen in Frage zu stellen

Andererseits hatten islamistische Bewegungen in Tunesien und Ägypten viel aus dem Scheitern der „islamischen Revolution“ im Iran gelernt Vor allem die Muslembruderschaft knüpfte daher enge Verbindungen mit der Erdoğan­Regierung an, die ein Muster dafür war, wie man eine vom Imperialismus akzeptierte Synthese aus Islam und kapitalistischer Modernisierung wagen konnte

Der „demokratisch legitimierte“ Griff nach der Macht in Ägypten scheiterte am Militär Vielleicht einer der Gründe, warum Erdoğan, dem ähnliches aus der Geschichte seines Landes vertraut war, seine Unterstützung für die Muslimbruderschaft nach deren Unterdrückung noch de­

Zugleich spitzten sich – unter dem Eindruck der internationalen Wirtschaftskrise, die auch das „türkische Wunder“ erfasst hatte ­ gleich mehrere Krisen zu. Immer kritischer wurden die Stimmen, die Korruption und Bereicherung an der Spitze der AKP und beim Erdoğan­Clan selbst kritiierten Urbane, junge Schichten protestierten im Sommer 2013 rund um die geplanten Bauprojekte am Gezi­Park gegen die Regierung und wurden brutal niedergeschlagen Wahlweise wurden sie als kemalistische, kommunistische oder pro­kurdische Terroristen diffamiert

In dieser Situation kam es zum Bruch zwischen der Gülen­Bewegung und der AKP

Die einflussreichen Medien der Gülen­Bewegung kritisierten Erdoğan und die AKP nicht nur wegen des Gezi­Park Projekts; auch die überraschend kompromisslerische Haltung der AKP gegenüber der kurdischen Volksgruppe zu diesem Zeitpunkt (die wohl unter dem Druck der pan­arabischen islamistischen Ideologien, die wäh­

rend des „arabischen Frühlings“ grassierten, formuliert wurde) erregte den Zorn des Predigers im amerikanischen Exil

Der Bruch innerhalb der islamischen Bewegung war für Erdo an eine ernsthafte Gefahr Immerhin hatten sich mittlerweile neben Al Kaida mit Daesh Kräfte in der Region festgesetzt, die ein zwar komplett anderes, aber zumindest militärisch erfolgreiches islamistisches Projekt verfolgten: Die Errichtung eines Kalifats, wobei sich dieses plötzlich mit der Eroberung reicher Ölvorkommen in Libyen und der Ölindustrie im Irak zu einem gewichtigen regionalen Wirtschaftsfaktor entwickelt hatte.

Innenpolitisch hatte der Wahlerfolg der (prokurdischen) HDP die Alarmglocken schrillen lassen Die Armee, wegen ihrer säkularen kemalistischen Traditionen durch die AKP systematisch geschwächt, wurde nun wieder aufgewertet und in einen nicht deklarierten Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden im eigenen Land geschickt Zugleich wurden die Grenzen gegenüber Syrien für Unterstützer und Waffen für Daesh und Dschihadisten durchlässig gemacht Das türkische „Wunder“ ging im Kanonendonner an der Grenze den Bach hinunter.

Der islamistische Charakter der AKP­Regierung trat nun immer offener zu Tage Die Bombenanschläge auf kurdische Aktivisten und Demonstrationen wie jene vom Oktober 2015 in Ankara, die an die 100 Tote forderten, zeigten eine deutliche Radikalisierung der Methoden des Regimes, das immer offener die demokratische Maske fallen ließ

Das Attentat in Ankara wurde nach offiziellen Angaben von Daesh­Terroristen verübt; Fakt ist aber, dass die massiv anwesende Polizei nach dem Anschlag Tränengas gegen die Demonstranten einsetzte, viele Teilnehmerinnen und Teil­

18 September 2016 | Nummer 26 Internationaler Klassenkampf
Diyarbakir, September 2015: Türkische Polizei und Armee wüten in der kurdischen Stadt wie in einer besetzten Kriegsregion

nehmer wegen „kommunistischer“ Symbole festnahm und Ambulanzen an der Bergung von Verletzten hinderten Das erinnert stark an – Ergenekon.

Nun begann die AKP­Spitze, allen voran Erdoğan, auch die Parteibasis auf die Straße zu bringen. Dekrete zur Schließung kritischer und oppositioneller Zeitungen und Fernsehsender arteten zu Sturmangriffen bewaffneter AKPAnhänger auf Redaktionen und TV­Studios aus Islamistische Banden überfielen in den Großstädten Lokale, in denen Alkohol ausgeschenkt oder westliche Musik gespielt wurde. Unverschleierte Frauen wurden angepöbelt und geschlagen. Mittlerweile verwüsteten die Panzer der Armee die kurdischen Städte und Dörfer

Diese Kombinationen aus staatlichem Terror und gewalttätigen Massenmobilisierungen erinnern stark an klassische bonapartistische Regimes. Also an eine bürgerliche Herrschaftsform, die zwar ähnliche Züge aufweist wie der Faschismus, aber noch nicht stark genug ist, zum Generalangriff auf die Arbeiterbewegung und die bürgerlich­demokratischen Einrichtungen überzugehen Vor allem beanspruchen die Führer bonapartistischer Bewegungen, „die Nation“ zu verkörpern, über den Klassen zu stehen. Genauso agiert Erdoğan mit seiner AKP

Dass der Putsch „wie gerufen“ kam, kann daher nicht wundern Jetzt hatte die AKP endgültig die Gelegenheit, die Armee gründlich zu „säubern“ und ihre Anhänger noch massiver auf die Straßen zu rufen.

Gewiss gingen in den ersten Stunden nach dem Bekanntwerden des Putsches nicht nur AKP­Anhänger auf die Straßen, um sich den aufrührerischen Truppen entgegenzustellen Auch sozialistische Arbeiterinnen und Arbeiter, Gewerkschaftsaktivisten und

die Reste der Gezi­Park­Bewegung wussten, was putschende Militärs in ihrem Land schon an Massakern angerichtet hatten Aber noch in der Nacht von 15. auf den 16. Juli klärte sich das Bild: die „Demonstrationen für die Demokratie“ arteten in Überfälle auf alevitische (die Aleviten sind eine vom Mainstream des Islam abweichende Sekte) Gemeinden und AKPfeindlich gesinnte Stadtteile in Ankara, Istanbul und anderen Städten aus In Ankara zerstörten die seltsamen Demokraten der AKP das Gedenkmal für die Opfer des Attentats auf die Friedensdemonstration vom vergangenen Oktober Noch ehe die Anführer des Putsches festgenommen worden waren, hatte Erdoğan bereits bekanntgegeben, wer hinter dem Aufstand stecke: Die Gülen­Bewegung. Und wie aus dem Nichts tauchten sofort Listen mit tausenden Namen von „Verrätern“ auf, die umgehend verhaftet wurden.

Der Druck auf die kleinbürgerliche und bürgerliche Opposition war so groß, dass

auch die CHP an der von Erdo an angeordneten „Demonstration für die Demokratie“ drei Tage nach dem Putschversuch teilnahm Skrupellos nutzt Erdoğan die Situation, um seine persönliche Macht auszubauen.

Das Scheitern des „türkischen Wunders“ hat zu einer deutliche Abkühlung des Klimas zwischen dem türkischen Staat, der US­Administration und den Regierungen der wichtigsten imperialistischen Länder der EU geführt

Im Eilzugstempo hat Erdoğan daher versucht, eine neue Achse mit dem ebenfalls verfemten jungen russischen Imperialismus zu schmieden

Das Zweckbündnis trägt nun erste, blutige, Früchte: Die AKP­Regierung stößt mit Panzerverbänden nach Syrien vor, nicht, um dort ernsthaft Daesch zu bekämpfen, sondern um die mit den USA verbündeten kurdischen Verbände der Volksverteidigungskräfte zurückzudrängen

Denn nach wie vor will die Regierung einen möglichen kurdischen Staat an der türkischen Grenze verhindern

Auch unter dem Eindruck des seltsamen Putschversuchs kann es keinerlei Unterstützung für das AKP­Regime geben:

Für den Sturz des Erdoğan­Regime!

Nieder mit den putschistischen Offizieren!

Entwaffnung der Polizei, der Armee und der Geheimdienste!

Selbstverteidigungskomitees gegen die islamistischen Banden und das Militär in Fabriken, Universitäten, Stadtteilen und Dörfern!

Freilassung aller Klassenkriegsgefangenen in den türkischen Gefängnissen!

Anerkennung der nationalen Rechte der Kurden, Armenier und aller anderen unterdrückten Nationalitäten!

Sofortiger Rückzug der türkischen Truppen aus Syrien!

Für Rätemacht und Sozialismus!

Die Revolutionäre Arbeiterpartei auf dem Boden des marxistischen Programms aufbauen!

Internationaler Klassenkampf September 2016 | Nummer 26 19

DER BÜRGERLICHE ÖSTERREICHISCHE STAAT UND SEINE UNANTASTBAREN „UNABHÄNGIGEN“ INSTITUTIONEN

Jetzt ist es also amtlich: Die Stichwahl der Bundespräsidentenwahl vom 22 Mai 2016 muss wegen vom Verfassungsgerichtshof in 14 Bezirken festgestellter Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung von Briefwahlstimmen wiederholt werden Die Verfehlungen waren in allen Bezirken recht ähnlich: Briefwahlkuverts wurden zu früh geöffnet und/oder zu früh ausgezählt und/oder nicht in Anwesenheit der Wahlbeisitzer geöffnet und/oder ausgezählt

Die Gründe dafür sind einfach wie menschlich nachvollziehbar zugleich. Wer bereits den ganzen Sonntag im Wahllokal verbracht hat, will eben die Prozedur zumindest am Montag abkürzen.

Weder der Verfassungsgerichtshof noch eine Partei hat von Wahlmanipulation ge­

sprochen – wohl wissend, dass die Unregelmäßigkeiten genannten Schlampereien auch bei vergangenen Wahlen, für die die Einspruchsfrist längst abgelaufen ist, gelebte Praxis waren So blieb es der FPÖ, die etwa beim Verbotsgesetz für eine großzügige Interpretation plädiert vorbehalten, bei dem vorliegenden knappen Wahlergebnis von ca 30 000 Stimmen Überhang für Van der Bellen die Wahl anzufechten und damit Einspruch gegen die gelebte Praxis der Briefwahlstimmenauszählung zu erheben.

Sämtliche in den bürgerlichen Medien vertretenen Parteien, Organisationen und Einzelpersonen akzeptieren die Entscheidung des „unabhängigen“ Verfassungsgerichtshofs und erklären sie

für unantastbar Wer ein eingefleischter Anhänger des bürgerlichen Staates ist, wird sich davor hüten, dessen Klassencharakter zu thematisieren.

Der Staat ist und bleibt ein Unterdrückungsinstrument der herrschenden Klasse, das ist in unserer Epoche die Kapitalistenklasse In Vergegenwärtigung dieser Erkenntnis erscheint die erfolgreiche Wahlanfechtung der FPÖ in einem neuen Licht Aktuell ist die FPÖ die stärkste Fraktion in der bürgerlichen österreichischen Demokratie Das Fehlen von Neuwahlen auf Bundesebene und die katastrophalen Umfragewerte der ÖVP sind die einzigen Gründe dafür, warum die FPÖ noch immer in Opposition ist Norbert Hofer war dazu auserkoren, die Regierungsambitio­

nen der FPÖ als Bundespräsident mit den entsprechenden Amtskompetenzen zu fördern

Die „Unabhängigkeit“ seiner Institutionen ist ein Märchen, das der bürgerliche Staat gern bemüht, wenn es darum geht, die Interessen der stärksten Fraktion der herrschenden Kapitalistenklasse durchzusetzen Die FPÖ wollte eine Wiederholung der Stichwahl und der Verfassungsgerichtshof hat diesem Wunsch entsprochen

Willkommen in der kapitalistischen Normalität!

Für die Reprise der Stichwahl kommen weiterhin beide bürgerliche Kandidaten für lohnabhängige Menschen nicht in Frage

Der Kapitalismus ist und bleibt für uns keine Wahl!

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Alle Ausgaben des KLASSENKAMPF, unsere wichtigsten Flugblätter und Schulungsmaterialien!

Im freien Onlinearchiv der GKK! 20 September 2016 | Nummer 26

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