ATLAS 08 deutsch

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ATLAS

DIE WELT BEWEGT: DAS MAGAZIN VON GEBRÜDER WEISS

AUSGABE 08

Konzentration RAINER GROOTHUIS

Das Schweizer New York CHRISTIAN HEINRICH

Von der Schraube bis zum OP-Saal CLEMENS PLANK

Gepresste Erde

ELISABETH SOBOTKA

Starke Behauptung HARALD MARTENSTEIN

Schokolade, Wein und kleine Filmchen Außerdem: Stadt und Verkehr, Fußball und Arbeit, Zwitschern und Züge



Unser Geist hungert nach Reizen. Ständig wollen wir etwas Neues sehen, hören, spüren, schmecken, riechen, erfahren, lernen. Das ist in der mensch­­­­­­ lichen Natur so angelegt, damit wir uns weiter­­­ent­­­­­­ wickeln können und nicht in Altvertrautem verharren. Wir strecken unsere Fühler in alle Richtungen aus, setzen unsere Fähigkeiten vielseitig ein und lassen uns dabei nur allzu gerne von Ablenkungen ver­­­­­­ führen. Das ist gut für die Abwechslung, aber schlecht für die Konzentration. Ständig vibriert das Smart­ phone, es dröhnt, blinkt und flimmert aus Laut­­ sprechern, von Bildschirmen und übergroßen Lein­ wänden.



Ablenkung und Daueralarm: Darunter leidet die ­L eistungsfähigkeit des Gehirns, kann es doch maxi­­mal zwei leichte Aufgaben gleichzeitig erfül­ len. Alles, was darüber hinausgeht, verwirrt: Bereits ab einem Lärmpegel zwischen 50 und 60 Dezibel, also der Lautstärke eines normalen Gesprächs, haben ­Forscher einen deutlichen Leistungsabfall festgestellt. Wer sich unter diesen Bedingungen konzentrieren muss, steht unter Stress. Schon der griechische Philosoph Diogenes, vielleicht der erste Minimalist der Menschheitsgeschichte, flüchtete sich in ein Fass, um Ruhe beim Nachdenken zu haben. Denn geistige Produktivität verlangt nach Umgebungen, die vor zu viel Ablenkung schützen.



Die konzentrierte Arbeit mit dem Kopf gewinnt im Vergleich zu Routinearbeiten, die auch von Maschinen erledigt werden können, an Bedeutung. Das kreative Nachdenken kann nicht einfach an Computer delegiert werden. Geistige Sammlung aber setzt ein reizarmes Klima voraus – ohne Aus­ richtung auf einen Punkt kann nur schwerlich etwas Großes entstehen. Und das Gehirn braucht Pausen: Schon eine Viertelstunde Mittagsschlaf erhöht die Leistungsfähigkeit von Büroangestellten um durch­ schnittlich 35 Prozent. In der Ruhe liegt die Kraft.


Nasser Bouchendouka hat gut lachen: Bei der Arbeit wird der gebürtige Algerier von seinen Kollegen sehr geschätzt, sie beschreiben ihn als hilfsbereit und humorvoll. Seit 1998 ­arbeitet er im Umschlag von GW Altenrhein und fertigt dort hauptsächlich Waren für den Export ab. Und abends halten ihn seine drei Kinder auf Trab.


D

ie Konzentration ist ein bewegliches Gebilde, sie lässt sich trainieren und steigern, sie ­ nimmt ab oder lässt sich stören, sie kommt und sie verlässt uns wieder. Und weil wir Menschen sind und keine Maschinen, brauchen wir diesen Wechsel aus ­A nregung und Entspannung für Gehirn und Körper. Allerdings gibt es Situationen, die keine Abschwei­ ­ eren fungen dulden: Wir haben Menschen besucht, d Beruf eine besonders starke Fokussierung ­erfordert. Außerdem haben wir uns angesehen, was die zu­ nehmende Verdichtung mit Städten macht – auch das ist eine Form der Konzentration. Wir waren in To­ronto und in Hanoi und stellen Ideen für wach­ sende Ballungsräume vor. Verengen Sie nun also bitte Ihre Aufmerksamkeit ganz auf die neue Ausgabe des ATLAS in Ihren ­Händen, oder schweifen Sie anhand der Geschichten ­darin ab – je nachdem, was gerade ansteht und wie es sich mit Ihrer Konzentration verhält.

Herzlich, Gebrüder Weiss


KONZENTRATION 1: AUF DER STRASSE Pkw-Dichte pro 1.000 Einwohner In Deutschland (2016)

672 Kfz

In Österreich (2015)

546 Kfz

KONZENTRATION 2: IN DER ATMOSPHÄRE 2016 war der Gehalt an CO2 in der Atmosphäre so hoch wie nie zuvor, er fiel nicht unter 400 ppm ­( parts per million, Teilchen pro Million).

Quelle: Kraftfahrzeugbundesamt, statista.com

CO2

Quelle: NOAA/Nasa

ALLEIN 1 Kapitäne bleiben an Land: Ingenieure bei Rolls-Royce entwickeln derzeit zusammen mit anderen europäischen Unternehmen das autonome Containerschiff. Allerdings ist die Gesetzgebung der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation noch ein Fährnis: Sie ist bislang nur auf bemannte und von einer Crew gesteuerte Schiffe ausgelegt. Jahr, in dem die ersten Geisterschiffe auf den Meeren unterwegs sein sollen:

2020

ALLEIN 2 Die Zahl der alleinlebenden ­Menschen wird in Österreich stark ansteigen:

2011: 1,33 Mio. Prognose für

2030:

1,56 Mio. Quelle: statistik.at

AUSWEITUNG Die Umsätze im Online-Einzelhandel in ­Westeuropa steigen stetig (in Milliarden Euro):

VERLÄNGERUNG In Kasachstan, flächenmäßig das neuntgrößte Land der Welt, sind umfangreiche S ­ traßenarbeiten geplant.

2.787 km lang und kurz vor der Fertigstellung ist der ­ kasachische Abschnitt des neuen Straßentransit­ korridors ­Westchina–Westeuropa.

2.000 km möchte die KazAutoZhol AG in den kommenden Jahren renovieren.

ITA

F

UK

2017 (Prognose)

8,34

30,68

64,10

2016

6,15

28,18

59,68

2015

5,60

25,72

54,84

Quelle: statista.com

FLUGSICHERHEIT Die Fluggesellschaften haben im Jahr 2016 weltweit rund 3,7 Milliarden Passagiere befördert – fast zwölfmal so viele wie im Jahr 1970. Statistische Wahrscheinlichkeit, bei einem Unglück mit einem Passagierflugzeug ums Leben zu kommen:

555 km sollen neu in Betrieb ­ genommen werden.

2.500 Raststationen gibt es bereits, 80 % davon e ­ ntsprechen nicht den 2015 in Kraft getretenen Qualitätsstandards.

260 Raststationen sollen neu errichtet werden.

Kasachstan verspricht sich ein steigendes Transitaufkommen und dadurch­ Investitionen in die Straßeninfrastruktur seitens der neuen Asia Infrastructure Investment Bank (AIIB ) und des Silk Road Fund. Quelle: wko.at

Im Durchschnitt der

1970er Jahre: 1 : 264.000

2016: 1 : 12.847.000

Fliegen ist also etwa

49-mal sicherer geworden.

Quelle: JACDEC (Jet Airliner Crash Data Evaluation Centre) und Aviation Safety Network (ASN)

GEWACHSEN Von 2006 bis 2016 wurden bei Gebrüder Weiss rund neue Arbeitsplätze geschaffen. Mitarbeiter

ca.

2017:

6.500

2.500


Die Welt bewegt:

RAINER GROOTHUIS

Das Schweizer New York

48

10

GUNTHILD KUPITZ

ELISABETH SOBOTK A

Eine starke Behauptung

CAROLA HOFFMEISTER

Der Weg ist das Ziel

53

Nachgelesen

SELMA KUHLMANN

25

27

Voll fokussiert Hände hoch

57

IMKE BORCHERS

Ganz schön schlau

28

CLEMENS PLANK

Gepresste Erde

60

MIRIAM HOLZAPFEL

Von allem viel

32

FAMILIENSEITE

Käpt’n Ferdi und seine Crew: Konzentriert euch!

66

GW-STIMMEN

Lieber Lichtgeschwindigkeit

37

ALEX RA ACK CHRISTIAN HEINRICH

Von der Schraube bis zum OP-Saal

Bis die Blase platzt

68

40

HARALD MARTENSTEIN

Schokolade, Wein und kleine Filmchen 71

44

Die Welt orange

#allevögelsindschonda 46

72

Impressum


R E Z I E W H C S S A D


NE W

YO RK


14  DAS SCHWEIZER NEW YORK

2

1

3

5

4

6 S. 10/11 Das Sharp Centre for Design  1 Straßenmusiker Jason Hard spielt auf.  2 Neugierig und lachend begegnet man dem Fremden.  3 Das große »Toronto« auf dem Nathan Phillips Square ist Treffpunkt für alle.  4 Schilderwäldchen an einer Ecke in Parksdale  5 Einkaufen in Chinatown  6 Sam lebt auf der Straße und schnitzt aus Seife Adler und andere Figuren.


DAS SCHWEIZER NEW YORK 15

»WE GOT JOBS. WE GOT NO PROBLEMS. IT’S A GOOD LIFE HERE.« ENRIQUE

reportage:  Rainer Groothuis

S

o viele Taxis hier am Flughafen auf Kunden warten, so viele unterschiedliche Fahrertypen blicken dir ent­ gegen – als würde die Welt dich anschauen. Wie über­ all, nimmt man das erste, und auch wenn die »Taxicab Bill of Rights«, die an der Rückseite des Vordersitzes hängt, regelt, dass dem Kunden »a silent ride« zu bieten ist: Die Neugier bricht das Schweigen. Man will wissen, wo der andere her­ kommt und warum. Nach zwanzigminütiger Fahrt über den zehnspurigen Highway 427 South runter nach Downtown, vorbei an den Hochbauten der letzten zwanzig Jahre, immer wieder mit Blick auf den Lake Ontario, fasst Enrique, der ­mexikanische Driver, seine Weltsicht zusammen: »Wir kom­ men fast alle von woanders, wir alle wollen die Chance auf ein neues Leben, also lassen wir sie auch den anderen.« Sagt noch »We got jobs. We got no problems. It’s a good life here.« und setzt mich am Hotel ab. Dessen Personal ist eine bunte Palette: Der junge Rezep­ tionist hat spanische Eltern, seine Kollegin ist aus Peru ein­ gewandert, die Kellnerin aus Indien, der Hausbote kommt aus Haiti. Wo die buntesten Menschenmischungen mit unge­ wohnter Selbstverständlichkeit zusammen sind, wird man leicht zum verblüfften Opfer eigener Klischees: Als am Abend eine Asiatin am Nebentisch serviert, erwarte ich Sushi – ist aber Pasta, wir sind beim Italiener, wir sind in Toronto. Kanada ist stolz auf seine Geschichte, die eine Geschichte der Hoffnung ist. Getrieben von dieser Hoffnung auf ein neues Leben – in dem man mit eigener Arbeit sich und seine Familie ernähren und der Verwirklichung seiner Träume nachgehen kann –, auf Respekt und eine Chance auf Glück, kamen Millio­ nen Einwanderer aus England, Frankreich, Deutschland, Ita­ lien, Irland, den Niederlanden, Ungarn, der Ukraine, Polen, Kroatien und aus den USA. Ihnen folgten Inder, Menschen aus der Karibik, Südafrika, Lateinamerika, viele aus China, längst auch Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Und Hoffnungen setzen Kräfte frei: Kanada gehört zu den reichsten Ländern der Erde, das Bruttoinlandseinkommen ist so hoch wie in Deutschland und Österreich.

Vielfalt prägt das Land, das 2017 erst seinen 150. Geburts­ tag feiert – er ist recht jung, dieser mit seinen fast zehn Millio­ nen Quadratkilometern zweitgrößte Staat der Erde. Damit ist er 28-mal größer als Deutschland, hat aber nicht halb so viele Einwohner. Fast die gesamte wirtschaftliche und kulturelle Wertschöpfung findet entlang der Grenze zu den USA statt, in einem schmalen Gürtel von 8.800 Kilometern Breite, aber nur 350 Kilometern Tiefe. In diesem Streifen leben 90 Prozent seiner 36 Millionen Einwohner, der Norden ist nahezu un­ besiedelt und weitgehend der Natur überlassen. Während wir uns in Europa schwertun mit »dem Frem­ den«, nimmt Kanada jährlich rund 300.000 Einwanderer auf und begrüßt sie in »Welcome Centres«. Viele der Neuen gehen nach Toronto, Hauptstadt der Provinz Ontario, längst größte Stadt des Landes, die mit 100.000 Zuzüglern jährlich schneller wächst als New York.

WHEREVER YOU MAY COME FROM »Wo Bäume am Wasser stehen« lautet etwa die Übersetzung des alten Mohawk-Wortes für Toronto und meinte einen Treff­ punkt für Handel und Tausch. Inzwischen stehen Hochhäuser an den Ufern des Wassers, doch ein Treffpunkt ist Toronto geblieben, vor allem: ein sehr bunter geworden. Mittlerweile ist mehr als die Hälfte seiner Einwohner nicht in Kanada ge­ boren, hier leben Menschen aus rund 180 Ländern und spre­ chen etwa 140 Sprachen und Dialekte, ein in der Aussprache je nach Herkunft gefärbtes Englisch ist Grundlage ihrer Ver­ ständigung. By the way: Von den Einwohnern wird die Stadt »Toronno« ausgesprochen, beide O ganz kurz und die N über die Zunge gerollt, das T danach gibt es nicht. Beim Einchecken im Hotel erlebe ich das zweite Merkmal Torontos: die Freundlichkeit des Alltags. Ob die Tonlage nun oberflächlich ist oder nicht, mit wenigen Worten hat man dem anderen ein wenig Respekt gezollt, im Kleinen zu guter Stimmung beigetragen, den Moment im freundlichen Griff. Wichtig dabei ist: Man schaut sich in die Augen.


Graffitis, die Kunst im Alltag und für jedermann, fast überall

Toronto duzt dich, die Atmosphäre der Stadt ist ein einziges Du – welcome, wherever you may come from. Und so be­ gegnen dir auch Leichtigkeit und Ironie: Eine Eisdiele nennt sich Death in Venice, eine Edelboutique Coalminer’s Daughter, eine andere Lazy Goose, ein Aushang bittet jene Gäste, die am Abend vor der Gaststätte stehen, ihre »lovely voices« zu senken. Gegenseitige Rücksicht kennzeichnet selbst den Straßen­ verkehr – so verhalten, ja langsam fahren alle, dass der Leih­ wagenfahrer aus Europa hier bald an das Ende seines Ge­ duldsfadens kommt. Konsequent wird Rauchen als Seuche behandelt, selbst an den Caféhaustischen auf den Straßen, ein wenig überhoben »patio« genannt, darf nicht gequalmt werden. Eine Schachtel kostet umgerechnet zehn Euro, am ehesten bekommt man sie noch bei Chinesen, wo sie unterm ­Tresen hervorgeholt wird wie fragwürdige Konterbande.

GANZ SCHÖN BUNT HIER  Die Straßenbahnen knarzen rot-weiß auf ihren Schienen, es gibt rot-orangene, grün-ockerne, schwarze, weiße Taxis, leuchtend orange schieben sich die school buses durch den ­Verkehr; an vielen Buden und Wänden prangen Graffitis, mit ­denen sich die Einwohner die Stadt zu eigen machen. Ob ­verträumt oder konkret – mit dieser Form der Urban Arts er­ zählen Menschen von Erfahrungen, Hoffnungen, Wünschen, von Sorgen und Ängsten, von Kultur und Politik, schmücken


die Torontonians ihren öffentlichen Raum. Eintrittsfreie Kunst für alle, die aus gesichtslosen Mauern individuelle Orte von Statement und Commitment macht, die hier niemand berei­ nigen will, im Gegenteil. Vergangenheit und Gegenwart treffen sich, oft steht das Alte direkt vor dem Neuen, was vielen Straßenzügen beson­ deren Reiz gibt: Hinter den zwei-, dreistöckigen Häusern – mit Shop an der Straße und Wohnen darüber – stehen die neuen Wohntürme. Der CN -Tower überragt mit seinen 550 Metern die ganze Stadt und ist von fast überall sichtbar, überhaupt hat Toronto nach New York die meisten Hochhäuser Nord­ amerikas. Die »Bay-and-Gable«-Häuser mit rotem Backstein, spit­ zen Giebeln und Erkern erinnern an bescheidene Londoner ­Reihenhäuser, klein sind die Vorgärten, ordentlich die Auf­ fahrten. Daneben, dazwischen, dahinter die Leuchttürme der internationalen Moderne, die seit den 60er Jahren in Toronto entstanden sind. Viljo Revell schuf die 1965 eröffnete neue City Hall, Mies van der Rohe baute ab 1967 das Toronto-­ Dominian Centre, das Sharp Centre for Design stammt von Will Alsop, der Umbau der Art Gallery of Ontario von Frank Gehry, der Erweiterungsbau des Royal Ontario Museum von Daniel Libeskind, Sir Norman Foster gestaltete das Dan ­Pharmacy Building, Fumihiko Maki entwarf das 2014 eröffne­ te Aga Khan Museum. Einen Kontrapunkt setzt der Distillery District, einst ­Produktionsstätte von Gooderham and Worts, der zeitweise

größten Whiskeybrennerei der Welt, heute ein Ort des Enter­ tainments. In den alten sanierten Ziegelbauten ist Platz ent­ standen für Kneipen, Galerien und besondere Stores. Zahlrei­ che über das Jahr gestreute Events unterhalten die neugierigen Städter; das gerade stattfindende Light Festival zeigt bewegte Lichtinstallationen, die in den frischen Abend leuchten. In der Bay Street und ihrem Umfeld erheben sich die ­Riesen der Banken und Versicherungen aus Stahl, Beton und Glas. Zwischen ihnen erscheint der Himmel in Ausschnitten, den Hotdog-Stand am Fuß des Towers der Bank of Nova Scot­ ia erreicht kein Sonnenstrahl. Dazwischen das British Colonial Building, das nostalgisch an den monarchischen Glanz der Vergangenheit erinnert. Im Distrikt der großen Geschäfte zeigt sich dann, dass auch in Kanada nicht alle mitkommen: Morgens um acht schlurft die Armut durch die Straßen, sucht in Müllkörben nach Pfandflaschen und Essbarem, Menschen leben in Schlaf­ säcken im Irgendwo und stieren aus großen Augen einem Dollar entgegen, der einen Kaffee bei Tim Hortons ermöglicht oder eine Dusche. Auch wenn die Gesundheitsgrundversorgung nahezu ­kostenlos ist, es mindestens zehn Tage Urlaub im Jahr gibt, der ­Eintritt in Schwimmbäder nichts kostet, die Steuern niedriger sind als in Deutschland und Österreich – das Leben ist teuer. Viele beginnen früh zu arbeiten, wer einen Nebenjob kriegt, verdient mit 16, 17 sein erstes eigenes Geld. In den meisten Familien gibt es kein oder nur ein geringes Taschengeld: Man


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DAS SCHWEIZER NEW YORK 19

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1 Die von Frank Gehry geschaffene Fassade der Art Gallery of Ontario spiegelt die gegenüberliegenden »Bay-and-Gable«-Häuser.  2 Blick auf den CN-Tower und die darunterliegende Main Station  3 Stein und Stahl begegnen sich: rechts die Fassade des Anbaus des Royal ­Ontario Museum von Daniel Libeskind  4 Blick in die Bay Street  5 Vor neuer Fassade die schillernde Zanzibar

4

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20  DAS SCHWEIZER NEW YORK

Straßenszenen einer bunten Stadt

erarbeitet sich jung und dann möglichst für immer seine ­eigenen Dollars. Für manche sind zwei, manchmal drei Jobs ­nötig, um sich ein Leben in der Stadt einrichten zu können. In der Nähe des Businessdistricts auch das Eaton Centre, Torontos größte Shopping-Mall, sechsstöckig – mit ihren 300 Geschäften, Kinos, Diskotheken und Hotels austauschbar wie die Shopping-Malls dieser Welt, deren Mieten nur die internationalen Unternehmen zahlen können und die überall fast das Gleiche anpreisen. Der St.-Lawrence-Market um die ­andere Ecke, eine Markthalle aus dem 19. Jahrhundert, ist da schon interessanter, wenn auch ein wenig touristisch auf­ gepeppt. Nebenan trifft man auch auf Eingänge zur PATH , ­Torontos wundersamem Underground, in dem sich auf rund 370.000 Quadratmetern unter der Erde 1.200 Shops befinden und größere Plätze, die durch Tunnel miteinander verbunden sind. In ihrer Farbigkeit und Widersprüchlichkeit zeigt die ­Architektur, dass diese Stadt nicht von einer über Jahrhunder­ te entstandenen Identität geprägt ist, an die sich »die Neuen« an- oder einzupassen hätten. Wohl ein Grund mehr, dass das Zusammenleben hier so gut funktioniert. Nebenbei: Trotz – oder gerade wegen? – des Vielvölkergemischs gehört sie zu den sichersten Städten des Planeten, die Kriminalität ist er­ staunlich gering für einen Stadtraum solcher Größe. Wie sagte Peter Ustinov? »Toronto ist so sauber und sicher wie ein von Schweizern geführtes New York.«

STRASSENKUNST UND NACHBARSCHAFT Sobald es wärmer wird – wobei die Vogelschar schon bei null Grad plus Sonnenschein so laut singt wie die europäische erst im Mai –, platzen die Häuser, die Straßen füllen sich mit Menschen, die sich der Sonne hingeben. Der Spirit scheint getrieben von Optimismus und Zukunftsneugier, er heißt auch jeden Straßenkünstler willkommen. Wie Jason Hard, einen jungen Songwriter aus Vancouver, der vor einem auf­ merk­samen Publikum seine Balladen zur Gitarre singt. Auf dem ­Dundas Square, dem Times Square Torontos, umgeben von großen digitalen Werbeflächen, folgen Hunderte Men­ schen den Künsten und Faxen eines Feuerschluckers, vor dem Eaton Centre trommelt sich ein begnadeter Schlagzeuger in die Fast­ekstase. Also vom Dundas Square die Dundas Street hinunter. Ihre rund 2.000 Hausnummern führen in ärmere Neighbourhoods, sie streift am Kensington Market vorbei und an Chinatown, Little Italy und Little Portugal, sie verbindet das Neureiche mit dem Älteren, dem etwas Brüchigen. Neben den wechselnden Gerüchen wechselnder Straßenküchen steigt dir im Vorbei­ gehen schon mal der Duft einer frischen Cannabis-Tüte in die Nase, und Patschuli ist hier nicht vergessen. In den erwähnten Neighbourhoods, die manchmal nur aus wenigen Straßen bestehen, bilden Menschen aus unterschied­ lichsten Gründen – Kultur, Religion, Herkunft, Interessen, Haltung, Geschichte – Communities Gleichgesinnter. Diese


ATLAS 21


22  DAS SCHWEIZER NEW YORK

Neighbourhoods aber sind durchlässig für jeden, sie laden die anderen mit Straßenfesten und Kulturangeboten ein, wer­ den nicht zu Ghettos. Je nach Zählart gibt es in Toronto bis zu 140 solcher Nachbarschaften. Viele haben eigene Websites wie downtownyonge.com oder chinatownbia.com, manche eige­ ne Wochen-, gar Tageszeitungen, es gibt eigensprachliche Radio- und Fernsehsendungen. Der Fremde ist hier allemal Anlass zur Neugier, und man­ che geben ihrem Interesse nach und sprechen dich unvermit­ telt an. »I’ve seen lots of people walking around, taking pic­ tures. Why?«, fragt ein Bewohner in Parksdale, einer ärmeren Nachbarschaft. Er weiß nicht, wie »pittoresk« sein farben­ froh-maroder Stadtteil für Stadtwanderer ist – und seine Au­ gen erzählen, wie abwegig er das findet.

ERFOLG OHNE PLAN Wenn es einen Plan für die Stadtentwicklung Torontos geben sollte, ist er ein großes Geheimnis – niemand kennt ihn. ­Toronto verdichtet nicht, Toronto dehnt sich vor allem, ­wuchert hinaus in die Metropolregion. Fläche, Land, gibt es genug. Und wenn diese Wucherungen groß genug sind, ­entstehen neue Zentren, Rathäuser, Bibliotheken, wie Missi­ sauga, das sich zu einer neuen Stadt in der Metropolregion entwickelt und allein mehr als 750.000 Einwohner hat. Vieles wächst scheinbar ohne Konzept, getrieben von öko­ nomischen Erfolgen und Eigendynamik, dorthin, wo vorher nicht viel war. Vielleicht aber auch, dass gerade deshalb so ­vieles zusammenfließt und in Bewegung bleibt. Die kultur­ übergreifenden Kompetenzen, Kombinationen, Erfahrungen,


DAS SCHWEIZER NEW YORK 23

Passionen und Ambitionen schaffen einen Markt der Ideen und Innovationen. Entrepreneurship ist Überlebenstechnik. Damit ist dieser Ort konzentrierter Vielfalt erfolgreich: ­Toronto hat die höchste Start-up-Dichte Kanadas, die Quote der Selbstständigen ist überdurchschnittlich, die Stadt ist nicht nur führend in der Dienstleistung, sondern auch in der Produktion: In der ­Metropolregion entstehen unter anderem Motorfahrzeuge und Maschinen, werden Eisen und Stahl pro­ duziert und verarbeitet, ebenso Lebensmittel, die Chemieund die Papierindustrie sind stark. Auch darum wird erwartet, dass sich die Zahl der Einwohner in den nächsten 25 Jahren verdoppelt.

Blick von Ward Island, einer der Toronto Islands, auf die Skyline

GAY PRIDE, SPORTS AND COFFEE Obwohl der Lake Ontario der kleinste der fünf Großen Seen ist: Mit seinen 19.000 Quadratkilometern ist er fast zwanzig­ mal so groß wie der Bodensee – die ersten Menschen, die ihn mit Einbäumen oder Kanus befuhren, werden angesichts ­seiner Ausmaße ein Meer vor sich gesehen haben. In ihm hat Toronto mit einem Idyll einen weiteren Superlativ zu bieten: Die Toronto Islands sind die größte Parklandschaft einer Stadt weltweit. Inseln, mit Brücken verbunden, mit Holzhäusern bestellt. Im Winter sind diese Inseln verträumte Flecken der Ruhe, kaum dass sich ein Mensch zeigt, Eichhörnchen tanzen durch die Gärten. Man denkt an Lektüre an knatterndem ­Kaminfeuer, an dicke Strickjacken und träge Familienhunde. Im Sommer allerdings sind die Inseln mit ihren Stränden eine der Partymeilen der Stadt. Es wird gebadet, gesurft, Kiter springen ihre Pirouetten. Der Sommer ist die Jahreszeit, in der hier von Feierabend zu Feierabend, von Wochenende zu Wochenende gelebt und gefeiert wird, in jenen Monaten ist Arbeit das Unumgängliche dazwischen. Überhaupt würde sich Hemingway, der in den 20er Jahren seine journalistische Arbeit beim Toronto Star begann und über die Langeweile dieser Stadt klagte, wundern über das heutige Kulturangebot: In Toronto gibt es inzwischen die dritt­ größte englischsprachige Theaterszene (nach London und New York), mit dem Four Seasons Centre eine 2.000 Menschen fassende Oper, eine bedeutende Literaturszene, eines der größten Gay-Pride-Festivals der Welt, das Hip-Hop-Festival, die weltgrößte Fetischparty – vom munteren Alltagsangebot zu schweigen. Da lebt zum Beispiel die Tradition der ­Musik­clubs, in denen man täglich ab 18 Uhr verschiedene Musiker hinter­ einander erleben kann. »Kanada ist auch über den Sport entstanden«, sagt John und lehnt sich über die Theke des Dog & Bear, einer stadt­ bekannten Kneipe. Hier gibt es zwölf Biere vom Fass, weitere zehn Sorten in Flaschen. Lacrosse gilt zwar als Nationalsport, doch auf den zahlreichen Flatscreens laufen Eishockey- und Basketball-Übertragungen parallel. Im kanadischen Eishockey steht man seinen Mann: Handfeste Prügeleien sind erlaubt, werden vom Publikum goutiert – liegt aber jemand am Boden, greifen die Schiedsrichter sofort ein. Wenn wie heute die ­Maple Leafs spielen, Torontos Eishockeymannschaft, sind die


1

1 Am Abend wird in vielen Clubs beste Livemusik gespielt. 2 Eine Inszenierung des Light Festivals im Distillery District

2

Kneipen voll, ist die Stimmung stürmisch, denn seit 1967 ­haben die Jungs keinen Pokal mehr geholt – das ist die längste Durststrecke eines Teams in der Liga. Jedes Tor wird erleich­ tert mit einem vielstimmigen »Yeah!« kommentiert. Man ­fachsimpelt vor und hinter der Theke, die Jungs werden ange­ feuert, als könnten sie die Begeisterung hören. Als die Maple Leafs schließlich 3 : 0 gegen die New York Islanders führen, bestellt man entspannt ein weiteres Bier – Leute und ihre ­Leiden- und Mannschaften. Am Morgen vor dem Rückflug ein letzter Gang durch die Nachbarschaft. Auf der Suche nach einem frühen Kaffee betrete ich Bu’na The Soul of Coffee und treffe auf Chris Ram­ pen. Chris spielte Basketball, bis er sich ernsthaft verletzte, überführte Limousinen, war Dokumentarfilmer, er offerierte Bootstouren auf dem Lake; was er in Nepal gemacht hat, soll man so genau nicht wissen. »Viele Wege führen durchs Leben. Ist der eine zu Ende, darfst du einen neuen finden«, sagt er

heiter. Wo Menschen ihr altes Leben zurücklassen und ein neues beginnen, da ist die ungerade Biografie die Normale. Auch im einzelnen Leben kann Vielfalt Stärke sein. Nun also hat er den ersten Coffeeshop in der Stadt mit ausschließlich äthiopischem Kaffee eröffnet, der Kaffee ist wirklich wunder­ bar, eine weitere Entdeckung. Klar, dass Chris eine Groß­ mutter in Salzburg hat. Take care, Toronno.

Rainer Groothuis, geboren 1959 in Emden  / Ost­ friesland, ist Gesellschafter der Kommunikations­ agentur Groothuis. www.groothuis.de Mit herzlichem Dank an Giuseppe Arba, Markus und Erna Larcher, Vincent Schwerdtfeger, Jan Polley und die Torontonians für Neugier, Gespräche, Hinweise. Übrigens ist Toronto Partnerstadt von Chongqing, siehe ATLAS 2.


ET CETERA: KANADA 25

KANADA Kanada ist der zweitgrößte Flächenstaat der Erde. Sein einziger Nachbar auf dem nordamerika­ nischen Kontinent sind die USA. Das nominelle Staatsoberhaupt ist Königin Elisabeth II., da das Land zum Commonwealth of Nations gehört. Die verfassungsrechtlichen Verbindungen zum V ­ ereinigten Königreich wurden aber 1931 gelöst.

LANDESHAUPTSTADT

Ottawa EINWOHNERZAHL

36.286.425

ALASKA yukon, nunavut &

nordwest-territorien

BEVÖLKERUNGSDICHTE

3,6 Einwohner / km2

KANADA britischkolumbien

alberta

FLÄCHE

manitoba & saskatchewan

9.984.670 km2

québec

Vancouver ontario

atlantik-kanada

Ottawa Montreal

USA

Toronto

AMTSSPRACHEN

Englisch Französisch

EIN STRAHLENDER EXOT Schon seit 1857 verkehren Züge zwi­ schen Toronto und Montreal, werden in Kanada Eisenbahnen gebaut. Auch wenn die Menschen heute eher mit dem Auto fahren oder fliegen, der Personen­ verkehr auf der Schiene keine große ­Rolle mehr spielt – der Gütertransport mit Zügen schon. Auf dem 700 Hektar großen Areal der Central Pacific Rail vor den Toren Torontos werden Züge zusammen­ gestellt, die Amerika mit Gütern versor­ gen. Das Ungewöhnliche daran ist nicht nur die mit vier, ja fünf Kilometern be­

sondere Länge dieser Züge: Die Contai­ ner stehen auch noch zweistöckig auf ­ihren Waggons. Die Canadian Pacific ist ein bewährter Partner von Gebrüder Weiss in Kanada und den USA . Gebrüder Weiss stellt sich auch in Kanada neu auf. Im Laufe des Jahres 2017 wird das Joint Venture zwischen Gebrüder Weiss und Röhlig schrittweise gelockert und beide werden wieder un­ ter ihren Hauptmarken auftreten (lesen Sie dazu auch S. 36). Die Standorte To­ ronto, Vancouver und Montreal werden unter Gebrüder Weiss weiter geführt.


26  ET CETERA: KANADA

Giuseppe Arba, Executive Vice-President WR Canada

»In diesem Land, in dem schon zehn ­Jahre als lang gelten, ist ein Unterneh­ men mit 500-jähriger Geschichte ein strahlender Exot, mit dem man gerne ­arbeitet – wenn man ihn kennt«, lacht Giuseppe Arba, Executive Vice-President von Weiss-Röhlig Canada, und e ­ rgänzt: »Wir können uns noch inten­siver um den einzelnen Kunden, seine An­forderungen und Wünsche kümmern, USA  und Ka­ nada rücken in der G ­ W -­Familie näher zusammen.« Und Markus Larcher, Sales Manager, fügt hinzu: »Die besondere Qualität unserer mittel­ständisch orien­ tierten Logistic Services wird deutlicher werden.« Neue Wege, neue Erfolge.

TEAM TORONTO

hinten: Nadine Voinot, Markus Larcher, Karl Marzec, Vincent Schwerdtfeger vorne: Ian Carlin, Richard Battice, Lydia Wu, Jayanthie Warnasuriya, Meenu Bassi, Romi Chanana

TEAM VANCOUVER

TEAM MONTREAL

Eric Hsing (links) und Philipp Slappnig

Carolyn Garner und Issa Hajjar

www.gw-world.com/standorte/

Der Luxuszug Rocky Mountaineer zuckelt gemächlich durch die Weite Kanadas.


ET CETERA: KANADA 27

DER WEG IST DAS ZIEL Natürlich hätte Gunthild Kupitz auch in 90 Minuten von Calgary nach Vancouver fliegen können. Doch sie nahm sich Zeit – und rollte mit dem Zug zwei Tage lang durch die kanadischen Rockies.


Ab und zu spaziert ein Schwarzbär am Gleis entlang.

text:  Gunthild Kupitz

A

ls hätte ein Riese die Erde mit ­einem kräftigen Faustschlag von innen nach außen gestülpt, so gewaltig, so schroff erhebt sich der kahle Felskamm des Cascade Mountain über Banff. Mit jedem Meter aber, mit dem der königsblaue Rocky Mountaineer den Bahnhof des 8.000-Einwohner-Städt­ chens unter dem Fauchen seiner beiden Dieselloks hinter sich lässt, wird der Rie­ se kleiner und kleiner. Dann ist er ganz verschwunden. »All aboard«, »Alles einsteigen« hat­ te der Schaffner uns kurz zuvor aufgefor­ dert. Und so waren wir über eine Treppe in die obere Etage eines der Panorama­ wagen der ersten Klasse gegangen, wo eine fast vollständig ver­glaste Kuppel ei­ nen Rundumblick bietet – CinemaScope mit 3-D-Effekt sozu­sagen. Von hier aus würden wir die Wunder der Natur er­ leben können, und wer weiß, vielleicht ­sogar die kanadischen Big Five: nämlich Elche, Grizzlys, B ­ isons, Berglöwen und Wölfe. Knapp 1.000 Kilometer, etwa ­anderthalb Tage also, hätten wir Zeit, bevor wir in Vancouver ankämen. Es ist noch früh an diesem August­ morgen, doch die Sonne strahlt schon seit Stunden von dem wolkenlosen Him­ mel. Seit der Abfahrt folgt unser Zug dem gemächlich dahinfließenden Bow River flussaufwärts tief in den Banff Na­ tionalpark hinein. Gegründet 1885, mit der Fertigstellung der transkontinenta­ len Eisenbahn, war er der erste des Lan­ des und zählt längst zum Weltkulturerbe der UNESCO . Die Uferseiten des Bow säumen mächtige Douglasien, die sich in seinem klaren Wasser ebenso spie­ geln wie die vorbeiziehenden schneebe­ deckten Gipfel der umgebenden Berge.

Und so wie viele bin auch ich tief be­ glückt von der majestätischen Schönheit und Stille der Landschaft. Plötzlich, es ist Mittag geworden, ruft jemand aufgeregt durch den Wagen: »Ein Bär, ein Bär!« Und tatsächlich: Ganz dicht an den Gleisen trabt ein aus­ gewachsener Schwarzbär unbeeindruckt vom Quietschen der Räder den Hang entlang. Nach zehn Sekunden ist er nicht mehr zu sehen. An besonders eindrucksvollen oder historisch interessanten Stellen fährt der Rocky Mountaineer noch langsamer, als er es mit seinen durchschnittlichen 50 Stundenkilometern ohnehin schon tut. Der Luxuszug, der seit 1990 Pau­ schalreisen für Touristen anbietet und von einer privaten Gesellschaft be­ trieben wird, muss immer warten, wenn ihm auf den einspurigen Strecken ein manchmal kilometerlanger Güterzug entgegenkommt. Der hat nämlich grundsätzlich Vorfahrt.

AM TOR ZUR HÖLLE Gerade mal 130 Jahre ist es her, dass der Osten Kanadas durch die Eisenbahn mit dem Westen verbunden wurde. Als besonders schwierig erwies sich erwar­ tungsgemäß der Bau der Strecke durch die Rocky Mountains, die in der Kreide­ zeit durch Verschiebung zweier tekto­ nischer Platten entstanden waren. Und die Ingenieure hatten nur zehn Jahre Zeit für dieses abenteuerliche Vorhaben. Zu den herausfordernden Stellen gehör­ te auch der Kicking Horse Pass. Dessen starkes Gefälle führte mehrmals zu Ent­ gleisungen. 1909 konnten zwei in den Berg getriebene Kehrtunnel – damals eine technische Meisterleistung – die ­ursprüngliche Route ersetzen. Und auch wir nutzen sie jetzt: Finsternis statt Aus­ blick.

Doch danach stehen wir wieder auf den Aussichtsplattformen zwischen den Waggons, spüren den Fahrtwind im ­Gesicht und haben nur Augen für die wildschönen Schluchten, funkelnden Gletscher und tosenden Wasser entlang unseres Weges. Bis Kamloops. Dort, in dieser kleinen unscheinbaren Stadt, nach etwa der Hälfte unserer Reise, ­machen wir Station für eine Nacht. Am nächsten Morgen folgen wir ein Stück dem Lauf des klaren Thomson ­River, der bald darauf in den braunen Fraser River mündet. Mit etwas Glück könnten wir Lachse beobachten, die auf ihrem Weg vom Pazifischen Ozean die Stromschnellen flussaufwärts springen, um zu ihren Laichplätzen zu gelangen. Aber wir haben kein Glück. Dafür sehen wir über unseren Köpfen einige Weiß­ kopfseeadler durch die Luft gleiten. ­Immerhin. Von nun an wird uns der ­Fraser River fast bis zum Ziel begleiten. Am Hell’s Gate ist der Fluss nur etwa 30 Meter schmal; knapp eine Milliarde Liter Wasser schießen und schäumen pro Minute durch die Schlucht, die der Zug über eine 34 Meter lange rote Hänge­­ brücke quert. Für Boote ist es ­nahezu unmöglich, die Stelle unbeschadet zu passieren – das Tor zur Hölle eben. Bald schon laufen die Berge sanft aus, und die grünen Vororte von Van­ couver beginnen. Die Stadt, die Zivilisation, der Lärm haben uns wieder.

Gunthild Kupitz arbeitet als freie Journalistin und Textchefin. Sie hat sich in die kanadische Natur verliebt und wird das Land ­irgendwann noch mal bereisen. Dann geht’s aber in den Norden, zum Eisbärenbeobachten.


Nachgelesen Angekommen

Ausgezeichnet

Als wir im letzten ATLAS über seine Tour berichtet haben, war Daniel Schachinger gerade in Tadschikistan einge­ troffen. Inzwischen hat er seine Charity-Radtour quer über den asiatischen Kontinent beendet und ist wohlbehalten in Mae Sot, Thailand, an der Grenze zu Myanmar an­ gekommen. Er hat in 295 Tagen über 18.000 km zurück­ gelegt, 19 Länder durchquert, 10 platte Reifen geflickt und mehr als 4.000 Euro Spenden für die Hilfsorganisation GGL (Gemeinsam gegen Landminen) gesammelt.

Heidi und Paul Senger-Weiss wurden mit dem Ehrenpreis der Vorarlberger Wirtschaft für ihr unternehmerisches Lebenswerk ausgezeichnet. In der Laudatio hieß es, nur wenigen Menschen gelänge es, in ihrer Schaffensphase ein solch traditionelles Unternehmen, wie es Gebrüder Weiss ist, nicht nur zu erhalten, sondern entscheidend weiter­ zuentwickeln.

Ehrung für das Erreichte: Heidi und Paul Senger-Weiss (Bildmitte)

Fast wie fliegen Unser Autor ist in Dubai noch mit einem gewöhnlichen Taxi unterwegs gewesen. Ab Juli 2017 soll es in der Metropole fahrerlose Drohnentaxis geben. Die Drohne ist ein Octocopter mit einer ei­ förmigen Passagierkabine und vier Aus­ legern, an denen jeweils zwei Rotoren

angebracht sind. Eingeklappt passt das Gefährt auf einen Parkplatz. Der Passa­ gier bestellt die Drohne per App, steigt am vorge­seh­enen Landeplatz ein, tippt das Ziel ins Navigations­system und hebt ab. Zwar fliegt die Drohne scheinbar führerlos, der Flug wird aber von einer

Boden­sta­tion aus über­ wacht. Die Flugdauer ist auf 30 Minuten beschränkt, die Reich­ weite liegt bei 40 bis 50 Kilometern. Die Drohne kann bis zu 100 kg trans­por­ tieren, je nach Körper­gewicht sollte man also das Gepäck entsprechend abwiegen.

Stühle zu Wasser Das von Gebrüder Weiss geförderte ­Designvermittlungsprojekt THONET STORIES , über das wir in der siebten Ausgabe des ATLAS berichtet haben, fand am 26. Oktober 2016 seinen ­Abschluss, als das von Studenten aus Thonet-Stühlen konstruierte Boot ­Anthonethe auf der Kura in Tiflis zu ­Wasser gelassen wurde – und schwamm. Anthonethe und die Beteiligten am Projekt THONET STORIES


Ganz schön schlau

Neue Ideen für das Leben in der Stadt

2016 gab es 512 Städte mit mindestens 1 Million Einwohnern, 2030 werden es laut UN -Schätzungen schon 662 Städte sein. Dann leben etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung in Städten, das entspricht fast 60 Milliarden Menschen, die sich auf engstem Gebiet konzentrieren.


GANZ SCHÖN SCHLAU 31

text:  Imke Borchers illustration:  Pia Bublies

D

as stete Wachstum bringt für die Städte viele Probleme mit sich: Wie können sich die ­Bewohner freier durch die Metro­ pole bewegen, ohne dass der Verkehr kollabiert? Wie lässt sich der Energie­ verbrauch bei steigendem Bedarf ­re­du­zier­en? Wie können die Städte den Wasserkonsum verringern? Und wie kann der täglich anfallende Müll in

Energie verwandelt werden? Aufgrund der fortgeschrittenen digitalen Möglich­ keiten entwickeln Forscher und Unter­ nehmen zunehmend intelligente städ­­ tische Steuerungssysteme – »smarte« Lösungen. Siedlungsräume, die sich auf ökologischer, ökonomischer oder sozia­ ler Ebene besonders um nachhaltige Lösungen bemühen, unterstützt von vernetzten Informations- und Kommu­ nikationstechnologien, nennen sich »Smart Cities«. »Smart« nach Plan In Asien entstehen gegenwärtig hoch­ technologisierte Planstädte, die der­ artige Strukturen schon von Anfang an mitgedacht haben. Zum Beispiel der

Songdo International Business District: In der Region Seoul ist seit fast 15 Jahren ein neues Wohn- und Arbeitsareal für etwa 70.000 Einwohner im Bau, die Fertigstellung des letzten Abschnitts ist für 2020 geplant. Von den Menschen, die dort leben und arbeiten, werden rund um die Uhr umfangreiche Daten gesammelt: Der öffentliche Raum, ­bis­weilen auch der private, ist video­ überwacht, die Anwohner haben multi­ funktionale Chipkarten für die ÖPNVNutzung, Krankenversicherung, Zugang zu Wohnung und Bankdiensten. In den Appartements werden unter anderem individuelle Verbrauchs- und Zugangs­


32  GANZ SCHÖN SCHLAU

daten erhoben, sodass Bewegtbilder entstehen, die die Steuerung der Ener­ gieversorgung unterstützen. Durch die Vernetzung sollen bis zu 30 Prozent des Energie- und Ressourcenverbrauchs ­gegenüber konventionellen Siedlungen eingespart werden. Während die Optimierung der All­ tagsabläufe in diesen Städten schon in der Entwicklung mitgedacht worden ist, geht es in über Jahrhunderte oder Jahr­ zehnte gewachsenen Wohngebieten ­darum, die vorhandenen Strukturen zu verbessern. Um das Leben der Bewoh­ ner vor allem in den Bereichen Verkehr, Energie und Datenmanagement zu er­ leichtern und digitale Systeme in Ver­ waltung und öffentliches Leben zu inte­ grieren, müssen die Lösungen einfach und effizient sein. Lebensqualität erhalten In Kopenhagen in Dänemark erfassen beispielsweise Sensoren in Laternen,

Kanälen, an Ampeln und Abfallbe­ hältern die Abfallmenge, den Lärm, die Kohlendioxidemissionen und Luft­ verschmutzungsdaten. Mithilfe der ­Ergebnisse lassen sich Abläufe in der Stadtverwaltung nutzer- und klima­ freundlicher gestalten. Wien gilt derzeit als Stadt mit der höchsten Lebensqualität weltweit ­(Studie Quality of Living, MERCER 2016). Damit dies auch in Zukunft so bleibt, hat die Verwaltung eine Smart­City-Strategie entwickelt. Zu den res­ sourcenschonenden Innovationen ge­ hört unter anderem die Bereitstellung

einer App ANachB, die den günstigsten Weg von A nach B plant, unter Berück­ sichtigung von Verkehrsfluss, persönli­ chen Neigungen und Wetterlage. Reise­ zeiten und der CO 2-Ausstoß der unter­ schiedlichen Verkehrsmittel werden verglichen (www.anachb.vor.at). Ein weiteres Großprojekt ist der Bau der Seestadt Aspern. Auf einem Gebiet von 240 Hektar entsteht bis 2028 ein »smarter« Stadtteil für 20.000 Men­ schen mit einem Gesamtenergiekonzept und intelligenter Mobilitätsstrategie. Das eigentliche Ziel dieser und an­ derer Projekte ist jedoch nicht die Opti­ mierung durch Digitalisierung, sondern eine klimaverträgliche und somit zu­ kunftsfähige, lebenswerte Stadt für alle ihre Bewohner. An wegweisenden ­Ideen mangelt es nicht, auch an der Um­ setzung wird fleißig gearbeitet. Die ­Zukunft kann kommen.


GANZ SCHÖN SCHLAU 33

EILE AUF DER LETZTEN MEILE

DPD CITY HUB IN SEESTADT ASPERN, WIEN

DPD Austria, dessen Partner und größter Mitgesellschafter Gebrüder Weiss ist, hat in der Seestadt Ende letzten Jahres einen »DPD City Hub« eröffnet. Er soll als Zwischenlager für Pakete dienen, die von dort aus mit einem Elektrolastenrad oder –transporter in dem modernen Stadtteil umweltfreundlich und emissionsarm verteilt werden. Der City Hub kann natürlich auch zur Aufgabe von Paketen oder zur Aufbewahrung bis zur Abholung durch den Empfänger zu kundenfreund­lichen Öffnungszeiten genutzt werden.

Mit dem starken Wachstum des E-Com­ merce in den letzten Jahren, vor allem im B2B - und B2C -Markt, haben die An­ forderungen an das Geschäft auf der letzten Meile zugenommen. Es konzen­ triert sich auf einen immer knapperen Zeitraum. Infolgedessen rücken Lager­ flächen näher an das Stadtzentrum, die Lieferwege verkürzen sich. Same Day Delivery ist schon längst keine Sel­ tenheit mehr, Auslieferungen innerhalb ­weniger Stunden sind das ehrgeizige Ziel vieler Anbieter. Um dies leisten zu können, setzen die Kurier-, Express- und Paket (KEP )-Dienstleister auf innova­ tive, smarte Lösungen bei der Wahl von Zustellfenstern oder alternativen Zu­ stellmöglichkeiten:   Lieferung des Pakets mit einer ­Drohne oder einem Liefer-Roboter.   Ablage der Ware im Kofferraum des geparkten Pkw des Empfängers.   Hinterlegung der Lieferung in Paket­ shop, Paketstation oder Paketbox.   Nutzung der Paketboxen als Zwi­ schenlager der KEP -Dienstleister, um die Ware dann auf der letzten Meile per Fahrrad oder Elektromobil zuzustellen.   Änderung von Zustellort oder -zeit während des Zustellprozesses: Vernetzte Buchungssysteme ermög­ lichen Rerouting durch den Kunden.   Versendung eines aktiven Liefer-­ Avis mit genauer Information über den Zustellzeitpunkt.

Imke Borchers, geboren 1982, ist Literaturwissenschaftlerin und ­Redakteurin des ATLAS .


V IEL VON ALLEM

Unterwegs auf Hanois Straßen text und fotos:  Miriam Holzapfel



36  VON ALLEM VIEL

»Menschen, Motorroller, Autos und Abgase; Früchte in Körben, Vögel in Käfigen«

K

aum eine Beschreibung der vietnamesischen Hauptstadt kommt ohne die Erwähnung des massi­ ven Einsatzes von Hupen im Straßenverkehr aus. Als sei es das Wichtigste überhaupt, was sich dazu sagen ließe. Im Chaos der Großstadt regiere das akustische Signal, hört man, es werde andauernd von allen eingesetzt, in erster Linie natürlich von den Millionen Motorrollern, die die Straßen Hanois verstopfen, aber auch von Autos und Bussen. Den Ver­ kehrsteilnehmern gehe ein beständiges Fanal voraus: ­Achtung! Ich! Hier! – Und Achtung ist in der Tat angeraten: Die Fahr­ zeuge auf den Straßen fahren in mehreren Spuren nebeneinan­ der, überholen links und rechts, während am Fahrbahnrand Verkäuferinnen ihre mit Blumen oder Früchten über und über beladenen Fahrräder schieben, vom Lärmpegel scheinbar völlig ungerührt.

Volle Gehwege Hanoi ist anzusehen, dass es nicht langsam gewachsen ist, sondern rasant und unkontrolliert – und dieser Entwicklungsund Urbanisierungsprozess hält an. Von allem, was man sieht und hört, gibt es viel: Menschen, Motorroller, Autos und ­Abgase; Früchte in Körben, Vögel in Käfigen, Fleisch auf den Tischen direkt an der Straße. Gerüche. Dreck. Ein der­artiges Wachstum stellt hohe Ansprüche an die Infrastruktur der Stadt, die nicht befriedigend eingelöst werden. Bereits die Gehwege sind als solche kaum benutzbar, es wird dort ge­ arbeitet, gesessen, gehandelt und durchaus auch gefahren. Geparkt allerdings auch, denn der Anteil an offiziell ausgewie­ senen Parkplätzen deckt den Bedarf nicht einmal annähernd. Und genau wie die Straßen werden auch Gehwege nicht in­ stand gehalten, an vielen Stellen klaffen Löcher im Asphalt.

Volle Straßen Bemerkenswert ist aber vor allem die Tatsache, dass es trotz des extrem hohen Verkehrsaufkommens in Hanoi auf den Straßen überhaupt vorangeht, wenn auch nur langsam. In einer synchronen Bewegung schiebt sich die Masse wie ein Schwarm immer vorwärts, unaufhörlich, panta rhei. Das ist erstaunlich, denn eigentlich erscheint die Stadt viel zu voll für stetes Fortkommen. Das Moped ist das wichtigste Verkehrs­ mittel, Mitte der 90er Jahre hat es das Fahrrad in dieser Rolle abgelöst. Fast jeder Haushalt in der Hauptstadt besitzt min­ destens eins, die motorisierten Zweiräder werden genutzt wie hierzulande Autos, man transportiert damit L ­ asten aller Art: Die ganze Familie kommt mit, die Kinder schlafen an den Fahrer gelehnt oder stehen wach ganz vorne hinterm Lenker. Zudem wächst das Interesse am eigenen Auto: Jeder Prozent­ punkt Wirtschaftswachstum im Land führt zu fast einem Pro­ zentpunkt mehr Privathaushalten mit Auto. Auf den Straßen aber ist dafür viel zu wenig Platz. Zu Fuß gehen ist in Hanoi ­dagegen völlig unpopulär, jedenfalls dann, wenn man ernst­ haft von A nach B kommen und nicht nur am Ufer eines der Seen in der Stadt flanieren möchte.

Hoher Bedarf an Entlastung Auf engstem Raum findet hier eine ungeheure Verdichtung statt: Der Anteil von Verkehrsflächen an der Gesamtfläche beträgt in Hanoi nur etwa 7 – 9 Prozent, der Weltdurchschnitt liegt bei 20 – 25 Prozent. Und Verdichtung heißt neben Enge und Lärm eben auch: dicke Luft. Der Air Quality Index, der von der amerikanischen Botschaft täglich aktualisiert und veröffentlicht wird, gibt Werte an, die zeigen, dass Hanoi zu den Städten mit der höchsten Luftbelastung in ganz Asien gehört, an manchen Tagen herrscht dort die höchste Luft­ schadstoffbelastung auf dem gesamten Planeten. Viele Men­ schen tragen Mundschutz, wenn sie das Haus verlassen, ei­ nige zusätzlich zum Schutz vor dem Staub einen bodenlangen dünnen Stoffmantel mit Kapuze. Gefährlich und belastend bleibt der Alltag auf den Straßen aber trotzdem. Verkehrs­ unfälle sind die häufigste Todesursache in Hanoi, die Rate der Verkehrsunfälle mit Todesfolge ist eine der höchsten welt­ weit. Die Regierung begegnete diesen Zahlen vor wenigen Jahren unter anderem mit der Einführung einer Helmpflicht für alle Mopedfahrer und ihre Beifahrer. Doch das, was die Vietnamesen auf dem Kopf tragen, um dieser Vorschrift zu



38  VON ALLEM VIEL

entsprechen, ist kein solider Kopfschutz. Es ist nicht viel mehr als eine dünne Schale aus Plastik, die allerdings durchaus schick aussieht. Der öffentliche Personennahverkehr, der die angespannte Lage etwas entschärfen könnte, spielt bislang nur eine unter­ geordnete Rolle: Die Subventionen für kommunale Verkehrs­ betriebe wurden Ende der 80er Jahre eingestellt. Der Bedarf an einer verkehrsvermeidenden Stadtplanung ist indes groß, die vietnamesische Regierung setzt dabei vor allem auf ­Dezentralisierung. Vom Zentrum mit seinem engen Altstadt­ viertel aus gesehen, befinden sich die Hochhäuser der Stadt an ihrem Rand, dort wurden Satellitensiedlungen errichtet, der Sitz mehrerer Universitäten wurde dorthin verlagert. ­Mithilfe der Weltbank und anderer Entwicklungsbanken soll zudem nun ein Bus-Rapid-Transport-System finanziert wer­ den, mit eigenen Fahrspuren, modernen Fahrzeugen und ­Betriebsleittechnik. Außerdem sind ober- und unterirdische Stadtbahnen im Bau, die eine finanziert von der VR China, die andere von Japan. So soll bis 2020 der Anteil öffentlicher Verkehrsmittel im Personenverkehr auf 50 Prozent steigen, was erheblich zur Entzerrung der Situation auf den Straßen beit­ragen würde. Und im Hinblick auf den Lärm in Hanoi wäre diese Verlagerung ebenfalls eine Entlastung. Denn das mit dem Gehupe stimmt wirklich. OFFIZIELLE INFORMATIONSSEITE ZU DEN NEUEN VERKEHRS­ SYSTEMEN IN HANOI: www.mrb.gov.vn

Miriam Holzapfel ist Kultur­wissenschaftlerin und Redakteurin für den ATLAS .

VIETNAM Der Küstenstaat in Südostasien wird von seinen Bewohnern aufgrund seines Umrisses auch »Bambusstange mit zwei Reisschalen« genannt. Im Norden und Süden des Landes befinden sich sehr fruchtbare Reisfelder, dazwischen liegt ein schmales bergiges Waldgebiet. Die schmalste Stelle des Landes ist nur 50 km breit, die breiteste 600 km (Ost-West).

LANDESHAUPTSTADT

BEVÖLKERUNGSDICHTE

Hanoi

282 Einw. / km2

EINWOHNERZAHL

DURCHSCHNITTLICHES EINKOMMEN PRO KOPF

92.000.000

2.109 USD (nominal, 2015)

AMTSSPRACHE

Vietnamesisch

Hung Pham (ganz rechts) und seine Mitarbeiter in Hanoi von links: Mr. Dung, Ms. Phuong, Ms. Hoa, Ms. Trang

Neue Markenstrategie bei Gebrüder Weiss und Röhlig: Beide Unternehmen präsentieren sich im Air & Sea-Bereich künftig unabhängig Seit 1999 arbeiten die Logistiker Gebrüder Weiss und Röhlig mit ihren Air & SeaStandorten in Übersee unter der Marke »Weiss-Röhlig« zusammen. Diese enge Verbindung wird nun schrittweise gelo­ ckert, sodass beide Unternehmen mittel­ fristig wieder unter ihren Hauptmarken auftreten. Alle Standorte bleiben unver­ ändert und werden – je nach Eigentümer­ schaft – entweder unter »Gebrüder Weiss« oder »Röhlig« firmieren. Die operative ­Kooperation aber bleibt b ­ estehen, die ­Geschäftsbeziehungen zu Partnern und Kunden werden sich nicht verändern. Ebenso wie die Niederlassung in Ho Chi Minh Stadt wird auch das Büro in ­Hanoi unter der Marke »Gebrüder Weiss« weitergeführt werden. Es liegt im oberen Stockwerk an der belebten Tay-Son-Straße, in Dong Da, einem der vier Innenstadt­ viertel. Niederlassungsleiter Hung Pham lebt gerne in der Hauptstadt. Ihm ist schon klar, dass es gerade junge Leute eher in den Süden nach Ho Chi Minh Stadt zieht, die Stadt gilt als moderner, nahezu alles dort wurde erst im letzten Jahrhundert ­erbaut. Hanoi dagegen ist die älteste noch bestehende Hauptstadt Südostasiens – ­darauf ist er stolz.


GW-STIMMEN 39

Lieber Lichtgeschwindigkeit GW -Mitarbeiter über das Leben in der Großstadt

W

er in eine Stadt gezogen ist, befindet sich weltweit in großer Gesellschaft, denn die stärksten Migrations­bewegungen ­finden innerhalb von Staatsgrenzen statt: In den kommenden Jahrzehnten werden Milliarden Menschen in den urbanen Raum z ­ iehen. Aber lohnt sich das? Wir haben nachgefragt, wie GW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter ihr L ­ eben in der ­jeweils größten Stadt ihres ­Landes empfinden.

JAN ENGEL, INTERNATIONALER ­S PEDITIONSLEITER JENEČ, LEBT IN PRAG – 1.259.079 EIN­ WOHNER (2015), TSCHECHIEN

ALEXANDRA HARSÁNYI, KUNDENCENTER LOGISTIKLÖSUNGEN, LEBT IN BUDAPEST – 1.754.000 EINWOHNER (2015), UNGARN

Als ich in die ungarische Hauptstadt gezogen bin, wollte ich in erster ­Linie meine Komfortzone verlassen und herausfinden, ob ich überhaupt alleine zurechtkomme. Und noch immer entdecke ich hier jeden Tag ­etwas N ­ eues, ein wunderschönes altes Gebäude etwa oder ein kunstvolles Street-Art-Painting. In Budapest ist alles gut organisiert, der öffentliche Personennahverkehr zum Beispiel oder Sportveranstaltungen. Es gibt hier so viele Möglichkeiten, etwas zu unternehmen, dass mir eine Entschei­ dung manchmal sehr schwerfällt: Soll ich eislaufen gehen oder lieber eine Ausstellung besuchen? Zugleich genieße ich es, meine Familie in meinem kleinen Heimatort zu besuchen, wo ich jeden kenne, wo mir jede Ecke vertraut ist, wo ich alles in kurzer Zeit mit dem Fahrrad erreichen kann. Und im Gras zu sitzen und einen Hirsch vorbeispazieren zu sehen – das erlebe ich eben nur dort.

Das Wochenende oder die Ferien am Land zu verbringen, ist für mich sehr ­entspannend. Dennoch kann ich es mir nicht vorstellen, irgendwo anders als in Prag zu leben. Die Kinder besuchen in unserem Stadtviertel, nur wenige Minu­ ten voneinander entfernt, die Schule, den Kindergarten, die Musikschule und den Sportverein. In nur 20 Minuten bin ich auf der Prager Burg und kann die mittelalterliche Architektur genießen. Für größere Entfernungen nehme ich die U-Bahn oder die Straßenbahn. Ich muss nie lange überlegen, was ich in meiner Freizeit mache: Hier gibt es so viele Theater, Kinos, Galerien, Restau­ rants, Sportclubs usw. Ich glaube aller­ dings schon, dass die Kinder auf dem Land mehr Freiheit haben, zum ­Beispiel können sie alleine von der Schule nach Hause gehen.


40 GW-STIMMEN

EKATERINE IOSAVA, LANDVERKEHR, LEBT IN TIFLIS – 1.118.035 EINWOHNER (2014), GEORGIEN

Es ist für mich sehr angenehm, in der Hauptstadt Georgiens zu leben. ­Tiflis ist aufregend und voller Möglichkeiten, irgendetwas Interessantes passiert immer, egal ob Tag oder Nacht. Großstädte entwickeln sich schneller als Kleinstädte: Sie sind Zentren von Kultur, Industrie und ­Handel, hier werden Innovationen rascher identifiziert und umgesetzt.

CORINA GEORGESCU, MARKETING, LEBT IN BUKAREST – 1.883.425 EINWOHNER (2011), RUMÄNIEN

Bukarest – hier lebt man fast in Licht­geschwindigkeit. Die Zeit ist so kon­ zentriert, dass man tatsächlich sagen kann, sie fliegt. In der rumä­ni­ schen Hauptstadt hat man viele Möglichkeiten, seine Zeit zu verbringen: schöne Parks, große Museen, abwechslungsreiche Events. Auch das ­kulinarische Angebot bietet viel: Es gibt eine große Auswahl an Restau­ rants, schnellen Service und individuelle Lieferung zu jeder Zeit. Man ­findet auch immer einen Ort, um Party zu ­machen – Tag und Nacht. Wenn ich mich aber erholen möchte und Ruhe brauche, dann ist eine ­kleinere Stadt die bessere Wahl. Das Leben verläuft dort eben eher in ­Zeitlupe. Hier kann ich die Batterien aufladen für das Leben im großen, ­wunderbaren, lauten und schlaflosen Bukarest!

CHRIS GUO, EXPORT CUSTOMER SERVICE, LEBT IN SHANGHAI – 24.150.000 EIN­W OHNER (2015), CHINA

Die »Boomtown« Shanghai ist eine Stadt voller Möglichkeiten. Zwar gehört sie mitunter zu den teuersten Städten der Welt, aber es lässt sich auch hier günstig leben: Neben den traditionellen chine­ sischen Restaurants findet man in der ganzen Stadt Starbucks und einen guten Italiener – eine gute Mischung aus Ost und West. Shanghai ist die größte und eine der wirtschaftlich am besten ent­ wickelten Städte Chinas, das wirkt sich auch positiv auf den Arbeitsmarkt aus. Was spricht für das Leben in einer klei­ nen Stadt? Die frische Luft! In den ver­ gangenen Jahren hat die Luftverschmut­ zung stark zugenommen, aber noch erreichen wir hier nicht das gefährliche Niveau der Schadstoffbelastung, dem die Bewohner Pekings ausgesetzt sind.


GW-STIMMEN 41

EDA GÜNES, SALES & MARKETING, LEBT IN ISTANBUL – 14.800.000 EINWOHNER (2016), TÜRKEI

ALIM KULMAGAMBETOV, BUSINESS DEVELOPMENT MANAGER, LEBT IN ALMATI – 1.703.481 EINWOHNER (2016), KASACHSTAN

Almati ist zwar nicht mehr Regierungssitz, aber noch immer Kasachstans größte, lebendigste und faszinierendste Stadt. Menschen aller Nationen leben hier, Luxusmarken investieren Millionen in den Ausbau, die Stadt boomt und wächst in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Zugleich ist die Sowjetvergangenheit allgegenwärtig. Die Stadt liegt an der Seiden­ straße, ihre eine Hälfte ist umgeben von den hohen Bergen des Tien Shan. Auf der anderen Seite ist Steppe. Genau diese Mischung macht ­Almaty aus, und darum lebe ich so gerne hier. Und zu den Wintersport­gebieten ist es von hier aus auch nicht weit.

SABINE MEIERHOFER, MARKETING, LEBT IN WIEN – 1.852.997 EINWOHNER (2016), ÖSTERREICH

In Wien lebt es sich gut. Die Stadt hat so viel zu bieten: so viel Grün, so viele Kulturangebote und andere Freizeitmög­ lichkeiten. Da ist für jeden etwas dabei. Und die Anonymität kann jeder selbst durchbrechen. Ich wohne allerdings am Stadtrand und kann mir nicht vorstellen, im Zentrum zu leben. Seit meiner Kind­ heit wurde hier sehr viel neu gebaut, und der Bezirk ist kaum mehr wiederzu­ erkennen. Das macht mich schon sehr weh­mütig. Und was Luftqualität, Verkehr und Kriminalität betrifft, würde ich sehr wohl ein Leben am Land vorziehen.

Das Leben in einer großen Metropole wie Istanbul bietet wesentlich mehr Perspek­ tiven als das Leben am Land. Aufgrund der geografischen Lage sowie der kultu­ rellen Geschichte dieser großartigen Stadt leben hier Menschen aus den ver­ schiedensten Kulturkreisen. Es gibt un­ zählige Möglichkeiten, Leute kennenzu­ lernen und sich sozial zu vernetzen. In Istanbul habe ich auch weitaus bessere Chancen, mich beruflich weiterzubilden und weiterzuentwickeln. Die hohe Bevöl­ kerungsdichte in Istanbul hat natürlich auch negative Seiten, wie den starken ­Verkehr und die Umweltverschmutzung. Dennoch: Ich lebe lieber in einer großen Stadt, profitiere von den Möglichkeiten und mache gelegentlich zur Erholung am Wochenende einen Ausflug aufs Land, das von hier aus rasch und einfach zu er­ reichen ist.


VON DER SCHRAUBE BIS ZUM OP-SAAL Innerhalb weniger Tage kann die Hilfs­organisation Ärzte ohne ­Grenzen praktisch überall auf der Welt ein Camp samt kleinem ­ ospital aus dem Boden stampfen. H Möglich machen das eine aus­­­­­­ge­ klügelte Logistik – und das ­Engagement der Mitarbeiter


ÄRZTE OHNE GRENZEN 43

Andreas Karden, Logistiker bei Ärzte ohne Grenzen

text:  Christian Heinrich

I

Da Ärzte ohne Grenzen an vielen abgelegenen Orten weltweit ­tätig ist, stellt die Logistik eine besondere Herausforderung dar – und bildet zugleich die Basis einer erfolgreichen Nothilfe.

m Juni 2015 brechen 21 Menschen auf, um 80.000 Menschen in der Wüste zu retten. Andreas Karden ist einer von diesem kleinen Team, das die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kurzfristig in den Südsudan entsendet. Während Karden im Flugzeug sitzt, denkt er darüber nach, was vor ihm liegt. Der Bürgerkrieg im Südsudan hat sich verschärft, ein Vertriebenenlager, in dem 40.000 Menschen leben, wird förmlich überrannt von neuen Binnenflüchtlingen, 80.000 sind schon eingetroffen, jetzt sind 120.000 dort. Karden und die anderen werden versuchen, die Versorgung in dem Camp aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass es zu einer humanitären Katastrophe kommt. Aber was kann das kleine Team schon bewegen? Nun, Karden ist es gewohnt, eine ganze Menge zu bewegen. Der 36-Jährige ist bei Ärzte ohne Grenzen zuständig für die Logistik. Er war bereits im Tschad, im Jemen, der Demokratischen Republik Kongo und in der Zentralafrikanischen Republik, teilweise dauerten seine Einsätze acht, neun Monate. Karden ist Installateur, Rettungssanitäter, Bauingenieur, er hat einen MBA -Abschluss in Projektmanagement. Wenn es darum geht, Probleme zu lösen und Dinge zu beschaffen, dann ist er der richtige Mann. Wie kompliziert die Situation auch ist, die Karden vor Ort vorfindet, wie ausweglos die Lage auch scheinen mag – am Anfang stehe immer eine Frage, sagt Karden: »Was brauchen die Menschen?« Als Karden in dem völlig überfüllten Camp im Südsudan ankommt, wird ihm sofort klar, dass es erst einmal darum gehen muss, die Basisbedürfnisse zu befriedigen. Das bedeutet: Holz muss beschafft werden, um Latrinen zu bauen. Es fehlt an Trinkwasser, Nahrung, Medikamenten, von Strom ganz zu schweigen. Wie lässt sich das alles beschaffen? Das Netzwerk von Ärzte ohne Grenzen, auf das Karden zurückgreifen kann, hat drei Ebenen. Da ist einmal die Ebene direkt vor Ort mit einem sogenannten »Emergency Coordi­ nation Team«, diese Rolle übernehmen im Südsudan Karden und seine Kollegen. In den Hauptstädten und größeren Städten der jeweiligen Länder, wo die Hilfseinsätze stattfinden, ist ein Koordinationsteam. Und dann sind da noch die Head-


44  ÄRZTE OHNE GRENZEN

Auch die Bereitstellung von sauberem Trinkwasser aus Tanklastwagen gehört zu den Aufgaben der Hilfsorganisation.

quarter in Europa. Wenn Karden etwas beschaffen muss, was er vor Ort nicht bekommt, wendet er sich an die Koordina­ toren in den Hauptstädten, im Falle von Südsudan ist das Juba. »Die Kollegen versuchen dann auf den Märkten und in den Geschäften das zu bekommen, was ich brauche, und mir ­zukommen zu lassen. Dinge wie Holz oder Eimer gibt es hier immer, die würden wir nie aus Europa einfliegen lassen«, sagt Karden.

»Auf 6.500 Quadratmetern lagern ­Medikamente, Hilfsgüter und fertig g­ epackte Notfall-Kits.« Erst wenn etwas nicht verfügbar ist in den Hauptstädten, wenden sich die Städtekoordinatoren an die nächste Ebene: die Einsatzleiter in Europa. Hierbei schafft die schiere Größe des weltweiten Netzwerkes von Ärzte ohne Grenzen Möglichkeiten, die nur wenige Organisationen haben: Die jährlichen Ausgaben belaufen sich auf fast 1,3 Milliarden Euro. Derzeit betreibt Médecins Sans Frontières, so der internationale Name der 1999 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Hilfsorganisation, Projekte in mehr als 60 Ländern weltweit, mit teilweise mehr als 1.000 Mitarbeitern in einem Einsatzland. In einem der Logistikzentren in Brüssel lagern auf 6.500 Quadrat­ metern Medikamente, Hilfsgüter und fertig gepackte NotfallKits. 20.000 verschiedene Artikel hält Ärzte ohne Grenzen hier bereit, von der winzigen Chlortablette, die Trinkwasser

bereitstellt, über medizinische Instrumente und aufblasbare OP -Säle bis hin zum mehrere Tonnen schweren Stromgenerator. Für den Transport selbst hat die Organisation nur wenige eigene Maschinen, Jeeps und Boote, das meiste mietet man kurzfristig an. Das ist weniger teuer. In dem Camp im Südsudan kann die Basisversorgung überwiegend durch Beschaffungen vor Ort und in Juba oder Nairobi in Kenia gewährleistet werden. Doch Karden und sein Team nutzen auch alle Ressourcen und Vorarbeiten, die im Lager bereits geleistet wurden. So war in der Nähe des Camps ein 200 Meter tiefes Bohrloch vorhanden, um daraus Trinkwasser zu gewinnen, es fehlten nur noch Pumpen und Rohre. Auch im Camp gab es schon neun Bohrlöcher. Trotz dieser bereits vorhandenen Quelle bleibt die Bereitstellung von Trinkwasser für die insgesamt 120.000 Menschen eine Mammutaufgabe. Das Team von Karden war damit jedoch nicht allein gelassen. »30 unserer Kollegen von Ärzte ohne Grenzen waren schon seit Monaten im Camp, als noch 40.000 Menschen dort lebten. Zusätzlich, und das ist entscheidend, haben wir innerhalb kurzer Zeit viele Leute vor Ort angeworben«, sagt Karden. Erst diese angeworbenen Mitarbeiter machen die Organisa­ tion so wirkungsvoll, wie sie ist, nicht nur wegen ihrer Zahl, auch wegen ihrer Kenntnisse: Karden und sein Team haben bald 500 Menschen überwiegend aus dem Südsudan an­ gestellt, vom einfachen Lastenträger bis zum Chirurgen sind alle möglichen Arten von Befähigungen darunter. Und die


ÄRZTE OHNE GRENZEN 45

Um die Verletzten zu ­versorgen, werden in ­Krisengebieten auf­blasbare Krankenhäuser aufgestellt.

braucht Ärzte ohne Grenzen auch. Denn die Basisversorgung war erst der Anfang. Bereits ein paar Wochen nachdem Karden in dem Camp eingetroffen ist, hat die Hilfsorganisation ein kleines Krankenhaus errichtet, geführt von 50 Mitarbeitern, mit 180 Betten. Inklusive Operationssaal! Als die Ärzte am ersten Tag ihre Arbeit aufnehmen, beginnen sie eine mehrere Hundert Meter lange Schlange von Kranken »abzuarbeiten«. Leben retten am Fließband. Gerade medizinische Dinge können besonders schwierig zu transportieren sein, müssen sie etwa besondere Hygienestandards erfüllen oder gar gekühlt sein, wie es etwa bei Impfstoffen der Fall ist. Die Logistiker müssen daher noch mehr Sorgfalt und Planung in den Transport einfließen lassen, als ohnehin schon notwendig ist. Auch wegen des Werts der Transporte kommt es sehr darauf an, verlässliche Partner zu haben. Hier hilft die Erfahrung der Organisation, die in mehreren Jahrzehnten in den meisten Ländern bewährte Partner gefunden hat. Manchmal entsteht so um einen Einsatz herum schon nach ein paar Tagen eine eigene Infrastruktur. Kleine Transport­ maschinen fliegen fast im Stil von Linienmaschinen zwischen Juba und dem Camp hin und her. Die Materialien und Medi­ kamente für den Südsudan aus Europa werden mit Linien­ fliegern oder über den Seeweg nach Nairobi gebracht und von dort aus weitertransportiert. So wird von den Lagern in Brüs-

sel oder Amsterdam das durchgereicht, was die 120.000 Binnenflüchtlinge in der Wüste von Südsudan so dringend brauchen. Karden und sein Team konnten in dem überlasteten Camp einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die humanitäre Lage der Menschen zu verbessern. Bei anderen Einsätzen geht es nicht um Wochen, sondern um Tage oder gar Stunden. »Wenn eine Cholera-Epidemie ausbricht, dann kommt es tatsächlich auf Stunden an, um eine Basisversorgung aufzubauen«, sagt Karden. Auch nach dem Erdbeben in Haiti, als innerhalb von ein paar Minuten Hunderttausende Menschen obdachlos wurden, musste schnellstmöglich Hilfe geleistet werden. ­Not­einsatzteams wie Karden und seine Kollegen können dann Hunderte oder gar Tausende Leben retten. Um besonders schnell Hilfe leisten zu können, sind die Notfall-Kits ­unentbehrlich, die Ärzte ohne Grenzen in Lagern wie Brüssel bereithält. In manchen finden sich Medikamente für die Grundversorgung für 1.000 Menschen, in anderen steriles Operationsbesteck für aufwendige Eingriffe im Bauchbereich. Vor allem in Kriegsgebieten ist die Situation auch dort, wo Ärzte ohne Grenzen hilft, politisch oft äußerst angespannt. Die Hilfsorganisation hat viel Erfahrung darin, für die Sicherheit der Mitarbeiter zu sorgen. Landes- und Projektkoordinatoren schätzen die Lage und die Gefahr für die Mitarbeiter auf Einsätzen vor Ort ein. »Auf deren Urteil verlassen wir uns«, sagt Karden. Ein mulmiges Gefühl bleibt manchmal trotzdem für die Mitarbeiter, wenn sie in Krisenregionen unterwegs sind. Aber sie wissen immerhin, dass sie für eine Organisation arbeiten, die hoch angesehen ist – unter allen ­Konfliktparteien. Einer der Gründe: Ärzte ohne Grenzen gewährt allen Menschen Hilfe, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft und poli­tischen oder religiösen Überzeugung. Das Symbol der Organisation, eine weiß-rote Figur, aus Strichen gezeichnet, wird an allen Fahrzeugen gut sichtbar angebracht, fast jeder kennt es und weiß, was es bedeutet. Wenn Karden in einem Jeep unterwegs ist, kommt nicht selten eine jubelnde Gruppe von Kindern auf ihn zu. Denn sie wissen: Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen sind ihre große Hoffnung, die Situation ohne bleibende Schäden zu überstehen. »Vor Ort wird mir immer wieder aufs Neue klar, dass ich hier wirklich gebraucht werde, wohl mehr als irgendwo sonst auf der Welt«, sagt Karden. Dann breite sich natürlich auch eine Gewissheit in einem aus, das Richtige zu tun. Für solche Momente ist an jedem Tag im Einsatz Platz. Und wenn es erst am Abend geschieht, wenn alle erschöpft zusammensitzen und zufrieden ein Bier trinken – und sich das Gefühl einstellt, an diesem Tag wieder einiges bewegt zu haben.

Dr. Christian Heinrich hat in Mainz und Valencia Medizin studiert und besuchte anschließend die Deutsche Journalistenschule in München. Heute ­arbeitet er als freier Journalist und schreibt neben Medizin auch über Wirtschaft und Gesellschaft, Reise und Zeitgeschehen.


46  DIE WELT ORANGE

AUSGEDRUCKT

AUSGEBAUT

Im Hafen von Rotterdam ist ein 3-D-Druck­ zentrum eröffnet worden. Dort soll eine Art digitales Warenlager für Ersatzteile des ­maritimen Sektors in einer Cloud aufgebaut werden. Rotterdam will sich damit als Hub für 3-D-Druck im Schiffsbereich etablieren.

Der Hafen Wien, Österreichs größter trimodaler Hafen mit ca. 7 Millionen Gütertonnen, wird weiter ausgebaut. Durch Zuschüttung von Teilen des Hafenbeckens sollen 70.000 Hektar Manipulationsfläche entstehen, außerdem wird das Container­ terminal WienCont erweitert.

USA Bei der Melges24-Weltmeisterschaft in der Miami Beach Arena in Florida startete auch ein G ­ W -gebrandetes Boot mit dem Schweizer Team um den Europa­­meister Chris Rast. GW wickelte außerdem den empfind­ lichen Transport der Segelyacht in einer speziellen Vorrichtung von Memmingen in die USA ab.

ÖSTERREICH Für die Zumtobel Group übernimmt Gebrüder Weiss nun auch einen Großteil der Distributions­logistik von Vorarlberg nach Ost­­europa und intensiviert damit die Zusammen­ arbeit. Bisher realisierte GW für den Lichtkonzern Transportaufträge in Europa, Asien und Australien sowie die Lagerlogistik in Lauterach, Shanghai und Singapur.

SCHWEIZ Das Team von GW Altenrhein hatte einen dicken Brocken zu bewältigen: Eine Steinbrecheran­lage sollte von der Schweiz nach Kroatien be­för­dert werden. Nach Startschwierigkeiten aufgrund des unterschätzten Ge­wichts konnte der Schwertransport mit einem Gesamtgewicht von 90 Tonnen schließlich in nur zwei Tagen zum Zielort gebracht werden.

DEUTSCHLAND Der Gebrüder Weiss-Standort im bayerischen Memmingen wurde erweitert. Mit zwei neuen Lager­ hallen mit jeweils 1.200 Quadrat­ metern Fläche und einer um 3.000 Quadrat­meter vergrößerten Umschlagshalle ist die Nieder­ lassung seitdem in der Lage, das gestiegene Auftragsvolumen gebündelt an einem Standort ab­zuwickeln.


DIE WELT ORANGE  47

AUSGETÜFTELT

AUSPROBIERT

Die weltweit erste Brücke, die mit einem inte­grierten digitalen Überwachungssystem gebaut wurde, steht in der Nähe von Nürnberg. Das ein­gebaute System überwacht den Zustand der Brücke, beobachtet den Verkehrsfluss und gibt Rückmeldung zu ihrer voraussichtlichen Lebensdauer.

Der erste Flugkorridor für Drohnen auf dem afrikanischen Kontinent ist 40 Kilometer lang. In Malawi soll auf der Teststrecke ausprobiert werden, wie die Geräte zum Beispiel bei der Lieferung von Medikamenten in abgelegene Gebiete eingesetzt werden können.

TÜRKEI Seit Herbst 2016 verantwortet Gebrüder Weiss auch in der Türkei die lokale Distributions- sowie Retourenlogistik für Hewlett Packard Enterprise. Hierfür betreibt das Team von GW Istanbul ein eigenes Cross-Dock-Lager, in dem die einzelnen Warenströme zusam­ mengefasst und für die anschließende Verteilung zuge­ordnet werden. Zudem kümmert sich das Team um die Zollabfertigung.

SINGAPUR Seit 2015 ist Gebrüder Weiss in dem südostasiatischen Stadtstaat vertreten. Ab sofort bietet der Standort noch mehr Service: Das Terminal darf auch als Zolllager genutzt werden. Die Waren können dort also zoll- und steuerfrei – und damit ohne Zusatzkosten für den Kunden – bis zur Wiederausfuhr oder Importabfertigung gelagert werden.

JAPAN In Takayama in der Präfektur Gunma ist ein gigantisches Photovoltaik-Feld entstanden. Auf einem ehemaligen Golfplatz mit 82 He­k­ tar Fläche wurden 100.638 Solar­­pa­neele installiert. Isolux Engineer­ ing G. K. hat dafür den japanischen Standort des GW -Konzerns als Partner gewonnen. Die Nieder­ lassung überzeugte mit hafennahen Lagermöglichkeiten in mehreren Städten.

CHINA Während der Weihnachtsfeiertage 2016 stiegen die zu transportie­­ renden Volumina des AutomotiveGroßkunden FAW von rund 250 auf über 490 Tonnen im Monat. Da es wegen der Feiertage keine Linienflüge gab, charterten die Verantwortlichen aus der Air & Sea-Zen­ trale kurzfristig eine Boeing 747 8F Extended Range in Frankfurt und lieferten die Fracht pünktlich nach Peking.


48 TWITTER

Hamlet @ william_shakespeare Vermutlich 1602 #Sein oder #Nichtsein, das ist hier die Frage.

#allevögelsindschonda Verdichtetes Gezwitscher auf Twitter

JFK @ KennedyClan 26. Juni 1963 Ich bin ein #Berliner.

Johanna von Orléans @ maertyrerin Etwa 1429 Wer, wenn nicht #wir? Wann, wenn nicht jetzt?

W

er Twitter als Sprachrohr nutzt, der muss sich kurz fassen: Höchstens 140 Zei­ chen stehen zur Verfügung, um einen Sachverhalt darzustellen, das fordert in der Regel ein erhöhtes Maß an Reduk­ tion. – Verflachung! Unzulässig! Epic Fail!, meinen da vielleicht die Befür­ worter der ausführlichen, durchdachten Kommunikation. Haha! Super!, sagen die anderen, für die der treffende Zu­ schnitt von Texten auf die kurze Form eine i­ ntelligente Leistung ist. Dass Twit­ ter nun auch von der Politik mitunter recht intensiv genutzt wird, ist stellen­ weise dennoch gewöhnungsbedürftig, entfällt umständehalber dabei doch das,

Gustav Klimt @ WienerSecession 1897 Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre #Freiheit.

woraus der politische Diskurs gemacht ist: das Argument. Allerdings kann das nicht dem Nachrichtendienst zur Last gelegt werden, denn die Verdichtung von ­Sprache ist eine der ältesten kultu­ rellen Leistungen der Zivilisation. ­Anders ausgedrückt: Die Würze liegt schon ewig in der Kürze. Und so wurden berühmte Worte gesprochen, lange bevor es Twitter gab – was fast schade ist: Sie hätten sich so gut gemacht als Tweet. Schauen Sie mal.


TWITTER 49

Gaius Julius Caesar @ nachderschlachtbeizela 21. Mai 47 v. Chr. Veni, vidi, vici. Ich kam, sah und #siegte.

René Descartes @ freigeist 1641 Ich #denke, also bin ich.

Marylin @ NormaJeane In den 1950ern Gib einem Mädchen die richtigen #Schuhe, und sie wird die Welt erobern.

Neil Armstrong @ flymetothemoon 20. Juli 1969 Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für die #Menschheit.

Maggie @ iron_lady 1980 Die #Dame lässt sich nicht #verbiegen.



EINE STARKE BEHAUPTUNG

Die Intendantin Elisabeth Sobotka über das Flirren auf der Seebühne, über Verführung, Lüge und Wahrheit


52  EINE STARKE BEHAUPTUNG

Von Wien ans Schwäbische Meer: Elisabeth Sobotka

interview:  Miriam Holzapfel

J

edes Jahr im Sommer herrscht sechs Wochen lang ­großer Andrang in Bregenz: Es ist Festspielsaison, die Uhren gehen anders, der Takt ist hoch. Dahinter steht ein sensibler, fein eingestellter Apparat mit Elisabeth Sobotka an der Spitze. Die gebürtige Wienerin war zuletzt Opern­­­­­di­­­­­­­r­ek­ torin der Berliner Staatsoper Unter den Linden und anschließend Intendantin der Grazer Oper. Anfang 2015 übernahm sie die künstlerische Leitung in Bregenz. Gebrüder Weiss ist offi­ ziell­er Logistikpartner der Festspiele und fördert das Festival auf der größten Seebühne der Welt mit einem Co-Spon­soring. Frau Sobotka, Sie waren unter anderem in Wien und in ­Berlin. Was ist der Standortvorteil einer vergleichsweise kleinen Stadt wie Bregenz? Ist es der See? Für Gefühl und Inspiration: ja. Aber der Standortvorteil innerhalb meines Berufs sind natürlich die Festspiele, die in der Form nur am See funktionieren. Von einem Ganzjahresbetrieb hierherzuwechseln, war für mich eine große Veränderung. Das Flirren dieser sechs Wochen ist einmalig und stark durch das Wasser geprägt. Der Bodensee ist ein sehr belebter See, der sich andauernd verändert. Das ist eine irre Herausforderung für das Bühnenbild. Für die Lebendigkeit insgesamt ist

es unglaublich. Jeder Tag schaut anders aus: Der See ist mit Nebel toll, er ist mit Schnee toll, er ist bei strahlendem Sonnenschein toll, in der Früh und am Abend. Und das ist der persönliche Standortvorteil, ich habe mir immer das Meer gewünscht, und nun bin ich am Schwäbischen Meer gelandet. Was müssen die Festspiele dieser Naturgewalt entgegen­ setzen? Ein sehr starkes Bild. Wir setzen Ikonen in den See, die für ein Stück stehen und in den Köpfen bleiben, das Auge für die Tosca zum Beispiel oder das Skelett für Maskenball. Das Bild muss von alleine wirken, gleichzeitig muss es eine Bühne sein für das Stück und seine Atmosphäre mittragen. Es muss die Spielmöglichkeit so gestalten, dass alles wie geplant ­statt­finden kann, und es muss gegen die Kraft der Natur eine sehr starke Behauptung aufstellen. Wenn das klappt, entsteht daraus ein Spannungsfeld, das großartig ist. Wie gut kennen Sie Ihr Publikum, das diesen Behaup­­ tungen f­ olgen soll? Was die Zusammensetzung angeht: sehr gut. Es sind natürlich unterschiedliche Publikümer, wie wir zu sagen pflegen. Wir sind irrsinnig stolz darauf, dass draußen wirklich alle sitzen: von Opern-Aficionados bis hin zu Menschen, die vielleicht noch nie in der Oper waren oder nur ganz selten. Für beide muss es funktionieren, es muss künstlerisch so hochwertig sein, dass ein Kenner sagt: Wow! Und gleichzeitig muss es so


EINE STARKE BEHAUPTUNG 53

»WIE VIEL MACHT HABE ICH ÜBER MEIN LEBEN? WIE MUSS ICH SEIN, DASS DIE GESELLSCHAFT MICH AKZEPTIERT? UND WIE BIN ICH WIRKLICH? JA, SO ETWAS BESCHÄFTIGT FRAUEN ÜBLICHERWEISE ETWAS MEHR ALS MÄNNER.«

verführerisch sein, dass auch einer, der sich zuvor noch nicht für diese Kunst interessiert hat, drin sitzt und sagt: Ich glaube, ich mag Oper doch. Gilt das besonders für Bregenz, oder gilt das für Oper ­allgemein? Nein, das gilt ganz besonders für Bregenz. Weil wir so einen Sog erzeugen können, dass auch Leute kommen, die sich einfach einen tollen Abend in Bregenz machen wollen – dass es sich hier um Oper handelt, ist dann vielleicht Nebensache. Und auch die wollen wir faszinieren. Wir sind hier nah an der Schweiz und an Deutschland, und die Städte, an denen wir uns orientieren, sind eher München, Zürich und Stuttgart und nicht Wien, das ist zu weit weg, auch hinsichtlich der Menta­ lität. Der gesamte Bodenseeraum ist nicht so auf Hochkultur fokussiert wie eine Hauptstadt, davon profitieren wir. Zugleich ist er kulturell sehr lebendig. Wir sind in Bregenz also der Anbieter für ein sehr großes Gebiet und versuchen, das Wunder Oper allgemein zugänglich zu machen. Haben der See und sein Publikum einen Effekt auf die ­Auswahl der Stücke? Es ist schon wichtig, dass ein Stück bekannt ist, denn das Spiel auf dem See ist der Motor der ganzen Festspiele. In einem guten Jahr haben wir 200.000 Besucher, und es wäre vermessen, zu glauben, das könnte mit jedem Stück gelingen. Die Auswahl ist also durchaus eingeschränkt. Ich wurde am Anfang gefragt: »Wie kannst du nach Bregenz gehen? Da kannst du ja nur die zehn großen Stücke spielen!« Von diesen sogenannten zehn großen Stücken sind allerdings noch nicht alle am See gewesen, was ich sehr lustig finde. Und die Auswahl ist natürlich trotz allem größer als zehn. Aber es muss schon Zugkraft haben, denn wenn wir auf der Seebühne nicht das Geld für alles andere reinholen, dann kommen die Festspiele in eine Schieflage. Es muss hier aber auch in die Tiefe gehen können, nicht nur in die Breite. Dass der Vorverkauf für ­Carmen nun besser läuft als für die Zauberflöte, hätte ich nie gedacht, das ist verblüffend für uns alle. Wenn man so will, hat Carmen aber gerade eine ­besondere Aktualität im Hinblick auf die Wiederbelebung von Frauen­ rechtsbewegungen in der westlichen Welt, ­finden Sie nicht?

Das Problem bei Carmen ist, dass wir das Stück sehr klassisch im Kopf haben, weit weg von der Idee der Emanzipation, dafür tief im ­Klischee … … Sie meinen das der wilden, ­ungezähmten Frau … … die am Ende für ihre Freiheit bestraft wird. Mir war wichtig, für das Team Menschen zu finden, die das Stück nicht auf die Folklore reduzieren, sondern Fragen stellen wie: Wie viel Macht habe ich über mein Leben? Wie muss ich sein, dass die Gesellschaft mich akzeptiert? Und wie bin ich wirklich? Und ja, so etwas beschäftigt Frauen üblicherweise etwas mehr als Männer. Carmens ­Stellung als Schmuggler- und Zigeunerfrau macht es zusätzlich schwer für sie, ihren Platz zu finden. Und auch das ist ein ganz aktuelles Thema, das man bei Carmen oft übersieht. Mir ist daran gelegen, dass wir in unseren Produktionen diese Bezüge herstellen, erst dadurch werden die Stücke wirklich bereichernd: wenn das, was auf der Bühne passiert, etwas mit mir zu tun hat, wenn ich etwas ­wiedererkenne. Beispielsweise verführt ­Carmen den Don José ja nicht aus Bösartigkeit, sondern aus Leidenschaft. Und dann


54  EINE STARKE BEHAUPTUNG

»NATÜRLICH MUSS MAN SICH FÜR EINE ­V ERFÜHRUNG AUCH BEREIT MACHEN UND ­Z ULASSEN, DASS MAN AN DER HAND GENOMMEN UND IN EINE ANDERE WELT GEFÜHRT WIRD.«

wird er ihr halt fad – na, so etwas kann passieren! Und Don José selbst ist nicht einfach nur überfordert, sondern er hängt auch an der Mutter. Micaela wiederum wird oft so unterbelichtet gezeigt, als blondes Lämmchen. Dabei ist sie eine sehr starke Frau, die hingeht und zu Don José sagt: »Du, mach, was du tun musst, aber hör zu, deine Mutter stirbt. Und ich sage dir das. Ich habe nichts davon, aber du sollst es wissen.« Solche Aspekte sind für mich in ganz klassischen Inszenierungen oft nicht vor­handen, dabei sind sie durchaus angelegt. Und wenn man sie zulässt, dann wird es tatsächlich ein wahnsinnig aktuelles, zeitgenössisches Stück. Apropos Macht und gesellschaftliche Akzeptanz: Haben Sie es in Ihrem Beruf als Frau schwerer? Nein. Ich bin gerade in die Zeit hineingerutscht, in der Quotenfrauen wichtig waren, und manchmal bin ich in dieser Rolle, das ist mir voll bewusst. Hier bei den Festspielen, glaube ich, gar nicht. Aber in Aufsichtsräten oder so, da sucht man manchmal eben einfach noch irgendeine Frau, und so viele Intendantinnen gibt es ja nicht. Was in unserem Geschäft aber schwer ist, ist der Umstieg von der dienenden Frau zur anschaffenden Frau. Immer noch werden wir Frauen im Theater und in der Oper hauptsächlich in den Jobs gesehen, die den großen Genies zuarbeiten. In Berlin war ich »Die­ nerin« von Barenboim und Mussbach, zwei sehr ausgeprägte Künstlergestalten. Danach zu sagen, okay, ich habe viel gelernt, das kann ich jetzt, und jetzt mache ich es selbst – das war für mich ein großer Schritt. Aber schauen Sie zum Beispiel, was Dirigentinnen leiden mussten, um dorthin zu kommen, wo sie sind, Simone Young zum Beispiel. Das kann man sich überhaupt nicht vorstellen. Ist die Oper, so gesehen, ein Anachronismus? Es kommt drauf an, wie man sie betrachtet. Wenn man sie als Vergnügungsort reicher Leute sieht, die mehr oder weniger gelangweilt in schöner Umgebung sitzen, dann ja. Ich stehe aber für Oper, die einen mitreißt und im Idealfall verändert, aus der man rausgeht und entweder erfüllt und begeistert ist oder sagt: »War das entsetzlich! So blöd und so falsch!« Das ist immer noch besser, als wenn man sagt: »Ah ja, war ein ganz netter Abend.« Ein Anachronismus ist vielleicht, dass wir sehr viel Geld ausgeben. Es ist einfach teuer: Orchester, Chor, Bühne, Solisten, der ganze Apparat, das geht nicht billig.

Aber wenn alles gut zusammenkommt, dann kann es von nichts geschlagen werden. Was muss ich selbst tun, damit die Oper mich mitreißt und zu mir spricht? Natürlich muss man sich für eine Verführung auch bereit machen und zulassen, dass man an der Hand genommen und in eine andere Welt geführt wird. Ob ich diese Welt erobere, ob die mich erobert, das wird man sehen. Bei mir war es ganz klassisch, ich habe eines Abends Domingo gehört, das hat mich als 14-Jährige damals am Stehplatz wirklich umgehauen. Und das kann nicht nur mir passieren, sondern das ist in der Kombination aus Musik und Stimme angelegt, die direkt ins Herz oder in die Seele gehen kann, wenn man zuhört und sich öffnet. Ich halte außerdem sehr viel von Heranführungen, das kann für den Einstieg sehr hilfreich sein. Unser Job ist es deshalb auch, früh genug die Saat zu legen und Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, diese möglicherweise anachronistische Kunstform in ihrer Lebendigkeit wahrzu­ nehmen. Es muss nicht jeder ein Opernnarr werden. Trotzdem ist es unglaublich wichtig, dass Kinder Instrumente lernen, dass sie aufeinander hören lernen. Dafür brauchen wir mehr Musik- und Kunstunterricht in den Schulen und insgesamt mehr gemeinsames Tun. Kunst ist immer eine Form von Geben und Nehmen, darauf muss man eingestellt werden, auch als Mensch. Das kommt nicht vom Himmel. Wenn wir uns aber von ihr ergreifen lassen, dann kann sie uns mehr über die Welt erzählen als nur das, was wir sehen. Wenn die Oper etwas von der Welt erzählt: Lügt sie, oder sagt sie die Wahrheit? Das ist für mich das allergrößte Faszinosum am Theater: Wir wissen ganz genau, dass es nicht Realität ist. Und doch gibt es Momente, die uns auf besondere Art und Weise ergreifen. Wir sind nicht direkt in der Auseinandersetzung mit einem anderen Menschen gefangen und können deshalb das, was wir sehen und hören, anders umwandeln. Es ist uns bewusst, dass es nicht wahr ist, und wir weinen trotzdem. Auf diese Art mit sich und der Welt in eine Kommunikation zu treten und sich neue Gedanken machen zu können, ist ein Geschenk. Es ist unser Seelengeflecht, das sich von Kunst ernährt und gleichzeitig Kunst nährt. Und deshalb ist die Oper eine Lüge und wahr zugleich. | MH


Voll fokussiert Wer kennt das nicht: Wir sitzen am Schreibtisch, die Gedanken schweifen ab, ein Blick aus dem Fenster – und die Ablenkung siegt. Erfreulicherweise nicht bei den vier Meistern der Fokussierung, die im Folgenden von ihrem Arbeitsalltag erzählen. protokolle:  Carola Hoffmeister illustration:  Annegret Mair

JÖRG LÜDEKING, Uhrmacher in zweiter Generation mit eigener Werkstatt

Sobald ich die Lupe über meine Brillengläser klappe, um eine Armbanduhr zu reparieren, befinde ich mich in einer anderen Welt – einer Mikrowelt aus winzig kleinen Zahnrädern, Schräubchen und Federn. Ihnen nähere ich mich mit Pinzette und Schraubendreher. Vorsichtig richte ich die s­ chneckenförmige Metallspirale an der Unruh richtig aus, das ist das mechanische Herz der Armbanduhr. Dabei bin ich hoch konzentriert. Denn wenn ein Mini-Teilchen durch eine ungeschickte Bewegung davonspringt, finde ich es in der Werkstatt womöglich nie wieder. Während ich eine Uhr repariere, kommt es mir vor, als stünde die Zeit still. Ich fühle mich entrückt und entspannt wie beim Meditieren. Erst wenn ich das Gehäuse wieder schließe und die Lupe von der Brille nehme, merke ich, wie anstrengend die Arbeit war.


56  VOLL FOKUSSIERT

MARTIN HOPFE, Sprengmeister, hat schon mehr als 500 Bauwerke zum Einsturz gebracht

Kurz vor einer Sprengung fühle ich mich wie der einsamste Mensch auf der Welt – obwohl ich über Walkie-Talkie mit meinen Mitarbeitern und der Polizei in Kontakt stehe und sich manchmal über 40.000 Schaulustige an den abgesperrten Straßen ­versammeln. Aber in diesem Moment mischt sich die Sorge, etwas könnte schieflaufen, mit der Erkenntnis, den Lauf der Dinge nicht mehr ändern zu können. Sobald der ­Zündknopf gedrückt ist, gibt es kein Zurück mehr. Mit diesem Gefühl muss ich alleine klarkommen. Natürlich: Wenn wir ein Gebäude sprengen, haben wir mithilfe von Ingenieuren und Abbruchstatikern monatelang alles bis ins kleinste Detail berechnet und geplant. Nach bestem ­Wissen und ­Gewissen. Hundertprozentig sicher bin ich mir aber erst, wenn ich die Baustelle nach dem Einsturz ­besichtige. Diese konzentriert-kribbelige Anspannung in den Minuten vor dem Ereignis gehört dazu. 34 Jahre Berufs­erfahrung helfen mir, diesen Moment gut zu überstehen.


VOLL FOKUSSIERT 57

ULRIKE MÜNZER, Fluglotsin, sieht die Flugzeuge als flimmernde schwarze Vierecke auf ihrem Radar

Wenn es auf dem Weg zur Arbeit aus grauen Wolken blitzt, weiß ich, dass ich mich gleich doppelt und dreifach konzentrieren muss. Ich arbeite als Fluglotsin für die Deutsche Flugsicherung und bin für einen bestimmten Abschnitt des Luftraums südlich von Frankfurt zuständig. In diesem Sektor drängeln sich stündlich bis zu 40 Passagier­flugzeuge. Das ist eine Menge, denn oftmals muss ich zwölf Maschinen gleichzeitig im Blick haben und dafür s­ orgen, dass sie nicht kollidieren – beispielsweise wenn der Pilot einer Gewitterfront ausweichen will und dafür seine Flugroute ändern muss. Ich passe auf, dass der ­Mindestabstand nicht unterschritten wird, und gebe dem Cockpit A ­ nweisungen, damit es nicht zu einer ­ gefähr­lichen S ­ ituation kommt. Den Luftraum überwache ich zusammen mit einem Kollegen, Zeit für einen Kaffeeplausch nebenbei haben wir nicht. Als Lotsen m ­ üssen wir uns so stark konzentrieren, dass wir nur zwei Stunden am Stück im Einsatz sind. In den Pausen stricke ich zur Entspannung.


58  VOLL FOKUSSIERT

RENÉ LAY, Stuntman, ist nach 30 Jahren professionellem Springen und Stürzen immer noch topfit

Ich stehe auf dem Fensterbrett eines Hochhauses im sechsten Stock und spüre eine Backsteinwand im Rücken, den Wind im Gesicht. 15 Meter unter mir auf der Erde stapeln sich Pappkartons. Auf ihnen lande ich, wenn ich in die Tiefe springe. Kameramann, Regisseur, ­Rettungssanitäter, sie alle blicken zu mir herauf. »Bist du eigentlich verrückt?«, schießt es mir kurz durch den Kopf. Schließlich riskiere ich mein Leben. Doch dann breitet sich Ruhe in mir aus. Ich habe alles bedacht, die Wetterverhältnisse, den Untergrund, die Höhe. Ich habe mir vorgestellt, der Schauspieler zu sein, den ich double, einen Mann auf der Flucht. Eine doppelte Anspannung. Nun bin ich so weit. Nur noch einatmen, ausatmen. Tunnelblick – und Sprung.

Carola Hoffmeister hat Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft studiert. Als Radio- und Magazin-Jour­ nalistin zieht es sie immer ­wieder in die weite Welt. Ihre Reisereportagen über Iran und Albanien sind im PicusVerlag Wien ­erschienen.


HÄNDE HOCH Wütend oder ­liebevoll mit jemandem sprechen, sich verhaspeln oder etwas laut und deutlich ­artikulieren: Für all das braucht man seine Stimme – oder aber seine Hände. Denn nahezu alle sprachlichen Inhalte lassen sich zu Gebärden v­ erdichten, und deshalb kann man mit Gebärdensprache alles ausdrücken, was man mit gesprochenen Worten übermitteln kann, nur eben auf einem anderen Weg.


60  HÄNDE HOCH

P

robieren Sie es aus: Wir stellen wichtige Gebärden aus dem Bereich Verkehr und Mobilität vor – je nachdem, wo Sie sie benutzen mögen, in der Deutschen Gebärdensprache (DGS , diese Seite) und der American Sign Language (ASL , rechte Seite). In Lautsprachen werden mithilfe des Sprechapparats einzelne Wörter nacheinander artikuliert, die ­zusammen einen Satz bilden: »Das Auto rast durch eine k ­ urvige Straße.« In Gebärdensprachen hingegen k ­ önnen mehrere Informationen gleichzeitig ausgedrückt w ­ erden, sodass das MOTOR

SCHIENE

AUTO

BOOT

ZUG

FLUGZEUG

VERKEHR

ENTFERNUNG

NAH

FERN

LANGSAM

SCHNELL

eben genannte Beispiel in einer ein­zigen Gebärde artikuliert werden kann. Durch die Nutzung des dreidimensionalen Raums werden H ­ andformen, Bewegungen, Körperhaltung und Mimik zu Gebärden kombiniert, wodurch sich Informationen überlagern können. Gebärden Sie beispielsweise SCHNELL und schütteln dabei den Kopf, so drücken Sie aus, dass etwas »nicht schnell« ist. Wenn Sie NAH gebärden und gleichzeitig die Augenbrauen hochziehen, stellen Sie eine Frage: »Ist das in der Nähe?« Und je nachdem, wie weit


HÄNDE HOCH 61

Sie bei ENTFERNUNG die rechte Hand nach vorne be­ wegen, können Sie andeuten, ob es sich um eine große oder eine kleine Distanz handelt. So und noch weitaus komplexer können in Gebärdensprachen zahlreiche Informationen simultan und zeitlich konzentriert übermittelt werden. In Lautsprachen da­ gegen werden diese konsekutiv artikuliert – »Das Auto rast durch eine kurvige Straße« lässt sich eben schlecht gleichzeitig aussprechen. In dieser Hinsicht ist Gebärdensprache viel effizienter. MOTOR

RAILROAD

CAR

BOAT

TRAIN

PLANE

TRAFFIC

DISTANCE

CLOSE

FAR

Selma Kuhlmann kann sowohl simultan als auch konsekutiv ­geäußerte Informationen verstehen: Sie hat Gebärdensprachen, Anglistik und Mehrsprachigkeit an der Universität Hamburg ­sowie Erziehungswissenschaft an der University of Southampton studiert und arbeitet heute als ­Redakteurin.

SLOW

FAST


Gepresste Erde Aus dem Vorhandenen etwas Gutes formen


GEPRESSTE ERDE 63

interview:  Frank Haas  fotos:  Alexander Kofler

D

er Vorarlberger Clemens Plank, Architekt und Dozent an der Universität Innsbruck, baut Häuser aus dem Naheliegendsten und schafft damit Arbeitsplätze, wo sie dringend gebraucht werden. Ein Gespräch über eine genial einfache Lösung, die (noch) nicht weit verbreitet ist. Clemens, ihr baut also eine Kinderbetreuungsstätte aus Stampflehm. Diese ursprüngliche Baumethode hat Martin

Rauch, ein genialer Baukünstler aus Vorarlberg, optimiert, und ihr habt sie aufgegriffen. Die Konstruktion ist sogar erd­ bebensicherer als die herkömmliche Bauweise. Für Laien: Was ist die Pointe daran?

Die Pointe ist – und das ist fast schon wie ein Wunder –, dass du im Prinzip mit Erde baust. Mit steinigem Material in unterschiedlicher Körnung, das mit Lehm mehr oder weniger vermischt wird oder schon vermischt ist. Manchmal kann man es einfach so aus der Erde nehmen, wie es kommt, mal muss man ein bisschen Kies dazutun, mal ein bisschen Lehm, damit es besser schmiert. Das Gemisch wird einfach in eine Scha-

links: Das Grundstück für die Bildungsstätte von Wayna Warma in Cusco liegt auf lehmhaltigem Boden. oben: An der frisch gestampften Wand erkennt man noch die einzelnen Schichten verdichteter Erde.


64 ATLAS

Clemens Plank (7. v. r. im Bild oben): »Der soziale Aspekt liegt nicht nur in dem, was im Haus passiert, sondern auch im Entstehen der Gebäude.«

Die Architektur sieht drei funktionale Raumgruppen vor: Gemeinschafts-, Lern- und Administrationsbereich.

lung, wie man sie auch zum Betonieren verwendet, in Schichten von circa zwölf Zentimetern eingegossen. Und das wird händisch oder maschinell verdichtet. So wächst die Wand Schicht für Schicht nach oben und wird dann ausgeschalt. Von der Druckfestigkeit her hat das Material die gleichen Eigenschaften wie Beton. Dadurch, dass der Stampflehm verpresst wird, verzahnen sich die Steine. Du kannst da Nägel reinschlagen wie in eine Betonwand. Und wenn es auf die Wand regnet, wird ein wenig Lehm rausgeschwemmt, und die Steine bilden eine natürliche Erosionsbremse, das Wasser dringt nicht in die Mauer ein. Das ist eine uralte Technik zum Häuserbau, die auch in Europa gang und gäbe war. Martin Rauch meint, das ist eigentlich die Bauweise für die Not. Auch in Deutschland und Italien gibt es Wohnhäuser, die so gebaut worden sind. Das weiß nur keiner, weil die ganz normal verputzte Wände haben. Und wie funktionierte die traditionelle Bauweise ohne ­Verdichtung? Bei der traditionellen Bauweise produzierst du Lehmziegel, ganz normale Ziegelsteine. In Peru werden die nicht gebrannt, sondern getrocknet. Und dann einfach miteinander verbaut. Die Häuser fallen dann zusammen, weil sie keinen festen Verbund haben. Ich dachte immer, diese Bauweise sei auf Peru beschränkt oder nur mit peruanischem Lehm oder Ton machbar. Aber das stimmt gar nicht, oder?

Nein, das kannst du überall machen. Im Jemen zum Beispiel gibt es ganze Städte mit zehnstöckigen Gebäuden, die so gebaut sind, dieses wunderschöne Weltkulturerbe. Und in Asien auch. In Lima gibt es uralte Inka-Mauern, die vermutlich auf eine ähnliche Art und Weise gemacht worden sind. Und was ist das Innovative an der Technik, die ihr ver­ wendet? Es ist eine uralte Technik, die einfach wiederbelebt wird. Jetzt kommt das Know-how dazu, das man als Wunderwerk sieht. Das ist es aber nicht. Heute stampft man das mit Pressluft runter, früher wurde es mit Holz- oder Steinstößeln händisch verdichtet. Das kann man immer noch machen, aber dann steigen die Personalkosten noch mehr. Wir wissen jetzt, dass mit unserer Bauweise für Wayna Warma die Wand pro Qua­ dratmeter in Peru 350 Sol gekostet hat, ungefähr 100 Euro. Von diesen 350 Sol waren etwa 50 Sol Materialkosten. Und 300 Sol sind in die Arbeitsleistung gegangen. 80 Prozent dieser Leistung ist ganz, ganz unaufgeregte händische Arbeit, die eigentlich jeder machen kann. Also ist bei dieser Bauweise vor allem Arbeitsleistung relevant. Das macht sie in Österreich unattraktiv, weil Arbeit teuer ist und das Material im Verhältnis viel, viel günstiger. Das lässt sich auch ganz schwer maschinell verbessern oder maschinell übernehmen. Aber in Peru geht die Rechnung auf ? Wenn ich zum Beispiel 10.000 Euro für den Bau des Bildungshauses in dieser Bauweise spende, gehen 9.500 Euro zu einem Arbeiter, der in Peru am unteren Existenzminimum lebt, 500 Euro gehen in ein Material, das Schotter ist. Würde man das Ganze jetzt in Peru in Stahlbeton bauen, erhielte das Geld die Stahl- und die Betonindustrie. Wenn wir es mit nor­ malen gebrannten Ziegeln machen würden, erhielte es die Ziegel­industrie. Und die Ziegelindustrie, die Stahlindustrie und die Betonindustrie gehören europäischen oder amerika­ nischen Firmen. Das heißt, ein Großteil des Geldes ginge im Prinzip wieder nach Amerika oder nach Europa zurück. Bei der Bauweise mit Stampflehm findet die Wertschöpfung im Land statt.

»Das ist eine uralte Technik zum Häuserbau, die eigentlich auch in ­Europa gang und gäbe war. « Ihr tut also nicht nur den Kindern etwas Gutes, sondern ­eigentlich profitieren davon genauso die Leute, die am Bau beteiligt sind. Genau. Am Anfang fand ich als Architekt diese Bauweise

ästhetisch interessant, sie hat eine schöne Optik. Und erst jetzt


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66  GEPRESSTE ERDE

sind wir darauf gekommen, dass es bei dem ganzen Projekt nicht nur darum geht, Kindern eine wertschätzende Um­ gebung zu ermöglichen mit einem Verein, der ein sinnvolles Konzept hat, sondern dass das Sozialprojekt schon zwei Jahre läuft, weil zehn Arbeiter eine Arbeit haben, zehn Familien versorgt werden mit dem Geld, das wir von den europäischen Geldgebern bekommen haben. Und die Arbeiter haben eine neue Bauweise gelernt, wie sie mit dem Material, das sie normalerweise zum Ziegeln verwenden, so umgehen können, dass es erdbebensicherer und viel nachhaltiger ist. Unser Entwurf besteht aus drei Häusern. Das erste Haus haben die Arbeiter mit unserer Hilfe gemeinsam entwickelt. Und das zweite Haus haben sie schon alleine umsetzen können, mit den Materialen, die wir zur Verfügung gestellt haben, den Lehmstampfern, der Schalung. Das Know-how ist jetzt in Peru. Es fehlt noch das dritte Gebäude – sobald wir das Geld dazu haben. Der nächste Schritt wäre jetzt, in dieser Gegend zum Beispiel anderen Familien mit dem Wissen und den Maschinen, die wir schon vor Ort haben, die Möglichkeit zu geben, ihre Häuser auf die gleiche Art und Weise zu bauen. Ein klassisches Lehmziegelgebäude muss jährlich saniert werden, muss gewartet werden. Aber ein Stampflehmhaus

Die Bildungsstätte wird dort errichtet, wo die Familien leben, die Unterstützung brauchen, am Rand des Weltkulturerbes Cusco.

geht in hundert Jahren nicht kaputt, wenn du nur darauf auf­ passt, dass das Dach dicht bleibt. Das ist eine Voraus­setzung. Die Stampflehmkonstruktion ist erdbebensicherer als die Ziegelbauweise, sagtest du. Was noch? Sie ist sehr ökologisch, weil du zum Beispiel den Aushub aus der Baugrube verwendest. Du hast keine Recyclingprobleme. Du produzierst keine Umweltschäden mit dem Lehm. Klimatechnisch ist er fürs Innenleben im Haus günstig, weil der Lehm feuchtigkeitsregulierend wirkt. Das ist ein unglaublich positiver Effekt.

»Ein Stampflehmhaus geht in hundert Jahren nicht kaputt. « Und wem muss diese Bauweise jetzt nahegelegt werden?

Das ist eine gute Frage. Vor allem einmal den Entwicklungshilfe-Institutionen. Wir kriegen momentan Geld für die Anwendung der Lehmkonstruktion, weil die Geldgeber diese Bauweise als sinnvoll betrachten, sie erkennen die Nachhaltigkeit des Systems an. Wenn es nur um das Gebäude für die Kinderbetreuung geht, dann kann ich eine günstige Wellblechbude bauen, oder ich baue in traditioneller Lehmziegelbau-


weise oder mit Stahlbeton. Aber das ist zu kurz gedacht, und genau hier muss der Shift passieren: Das Gebäude an sich und die Errichtung des Gebäudes ist schon das erste Entwicklungshilfeprojekt. An dem Bau sind ganz viele verschiedene Leute beteiligt. Warum funktioniert die Zusammenarbeit für dich so gut? Die Methode ist verbindend. Du baust so lange an der Bildungsstätte, das ist ein meditativer Prozess. Mir als Architekt geht das Herz auf, dass auf einmal die Architektur ein Kata­ lysator wird, dass das Gebäude zum Katalysator wird: Der soziale Aspekt liegt nicht nur in dem, was da drinnen einmal passieren wird, sondern auch schon in der Entstehung. Was nimmst du aus dem Projekt für deine Arbeit als ­Architekt und Dozent mit? Das ist eine schwierige Frage. Also, wenn man mal die ganze Kosten-Nutzen-Rechnung weglässt – was bringt es meinem Büro? Was bringt es der Universität? Dann kann ich von mir sagen: Das Gefühl, sinnstiftend zu arbeiten, ist eine große Bereicherung. Das ist das Fundament. Dann habe ich als Dozent ein sehr interessantes Projekt, das ich für Forschung und Lehre verwenden kann. Das Haus, das wir da bauen, dient als Anschauungsmodell, und es ist eine Herausforderung für alle Beteiligten. Das Material, das wir verwenden, ist zum Beispiel für die Statiker etwas Neues. Bis jetzt haben sie mit Stahl und Beton zu tun gehabt. Dann ist da noch ein Geograf, der das mit mir von der Universität aus betreut, der ist an den sozialen Aspekten interessiert: Wie entwickelt der Verein sich? Was hat das Gebäude für Effekte und Auswirkungen? Das Ding hat viel Geld gekostet. Das ist moderne Architektur. Ist es ein Problem, dass wir in einem Armenviertel so ein Ding hinstellen? Oder ist es ein Attraktor, haben die Leute das Ge­ fühl, da wird wertschätzend mit einem Material umgegangen und mit den Kindern? In diesem Projekt zeigt sich für uns die Kernaussage von Architektur: der Mensch als Ausgangspunkt für die umgebende Form. Was wünschst du dir abschließend? Wenn die Hilfsorganisationen den Mehrwert dieser Bauweise erkennen würden und in die Architektur ihrer Projekte investieren würden, auch in Afrika oder Asien beispielsweise, das wäre sehr sinnvoll.

Frank Haas wurde 1977 ­geboren und studierte ­Geschichte und Philosophie. Er ist verantwortlich für die Unternehmenskommuni­ka­tion bei Gebrüder Weiss und ­Chef­redakteur des ATLAS .

WAYNA WARMA

Seit den 1990er Jahren unterstützt die Familie Camacho aus Cusco mit der Initiative Wayna Warma (auf Quechua »Kinder und Jugendliche«) den Nachwuchs aus armen ­Familien der Region. Der Verein betreut die Kinder über lange Jahre und bietet ihnen Rückzugsmöglichkeiten, ­Bildungschancen oder einfach nur Gelegenheit zum Spielen, Tanzen und Kreativsein. Als die angemieteten Räumlichkeiten zu klein wurden, hat der Verein das Grundstück erworben, auf dem nun mit finanzieller Unterstützung aus Europa das Bildungshaus entsteht.

Die Kinder können schon einen Teil ihrer neuen Räume nutzen.


68 FAMILIENSEITE

An Bord von Käpt’n Ferdis Schiff ist dicke Luft. Die Tampen hängen schief und krumm herum, die Segel sind schlampig gesetzt, und ­­ der Kurs geht kreuz und quer durch den Ozean. Der Käpt’n muss einschreiten.

BEIM KLABAUTERMANN, SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN,

ALLE AUF DAS ACHTERDECK!

SO KOMMEN WIR NIE AN, LEUTE! KONZENTRIERT EUCH!

O.k. Käpt’n, aber wie?


69

Wir üben das jetzt! Alle klopfen mit der Hand auf den Kopf, dabei streicht die andere Hand in Kreisen über den Bauch. Über den Bauch?

Ja, über den Bauch ...

Jetzt werft ihr zwei Bälle gleichzeitig mit beiden Händen (oder Flügeln) in die Luft und fangt sie wieder auf.

Sehr schön. Und jetzt schreiben wir noch spiegelverkehrt. Seht ihr? So.

Nun wird es schwieriger: Ihr steht auf einem Bein und dreht das andere Bein im Kreis. Dabei kreist ihr mit dem anderen Arm in die andere Richtung. Wer es schafft, macht das mit geschlossenen Augen.

Später  am Tag …

Na also, geht doch!

Könnt ihr das auch? Probiert die Übungen doch mal aus! Ihr müsst danach ja nicht gleich in See stechen.

He, fliegen zählt nicht!


Bis die Blase platzt Noch sind die Stadien voll, die Einschaltquoten hoch und die Spieler auf dem Platz. Doch vieles deutet darauf hin, dass das System Profifußball langsam, aber sicher an seine Grenzen stößt.


DIE 20 UMSATZSTÄRKSTEN FUSSBALLVEREINE DER WELT in Millionen Euro, Saison 2015/2016, ohne Transfer-Erlöse (Quelle: Deloitte)

Manchester United: 689,0 FC Barcelona: 620,2 Real Madrid: 620,1 FC Bayern München: 592,0 Manchester City: 524,9

text:  Alex Raack

E

ine ganz normale Woche im deutschen Fußball: ­Montag? Spitzenspiel der 2. Bundesliga. Dienstag und Mittwoch? Champions League. Donnerstag: Europa League. Freitag, Samstag und Sonntag? Spieltag der 1. und 2. Bundesliga. Jeden Tag Fußball – und das nur, wer ausschließlich auf Fußball made in Germany steht. Aus­ dauernde fügen noch Spiele aus England, Italien, Österreich oder S­panien in diese Liste mit ein. Fußball, Fußball, Fuß­ ball. Ist das noch gesund? »Nein«, sagt einer, der es wissen muss. Julian Baumgart­ linger, Kapitän der österreichischen Nationalmannschaft und Profi von Bayer Leverkusen. »So geht es hoffentlich nicht w ­ eiter«, erklärte der 29-Jährige jüngst im Interview mit dem Standard, »denn das System ist krank.« Der Mittelfeld­ mann steht mit dieser Meinung nicht alleine da, er hat pro­ minente Fürsprecher. »Es wird immer mehr und immer mehr. Manchmal spürt man, dass das dem Fußball nicht gut­ tut«, sagt DFB -Nationaltrainer Joachim Löw. »Wir killen die Spieler, wir verlangen zu viel von ihnen«, meint Pep Guar­ diola. Jürgen Klopp, Trainer beim FC Liverpool und damit

­ ngestellter in einer der aufreibendsten Ligen der Welt, A ­forderte: »Wir müssen irgendwann das Rad zurückdrehen.« Und selbst Thomas Müller, der notorisch gut gelaunte Stür­ mer des FC Bayern, beklagte sich nach der allzu kurzen Som­ merpause im EM -Sommer 2016: »Du darfst drei Wochen Luft holen, dann wirst du wieder unter Wasser gedrückt. Mental ist das schon eine große Belastung.« Was ist nur geschehen? Der Fußballwelt ist die Konzentration auf das Wesent­ liche abhandengekommen. Längst geht es nicht mehr nur um die Freude am Spiel. Menschen, denen es in erster Linie um Profit geht, haben sich des Volkssports angenommen. Menschen, die viel Geld mit ihm verdient haben und noch mehr damit verdienen wollen. Geld ist der entscheidende Faktor, warum Spieltage auseinandergezogen werden wie Kaugummi, warum gerade im Spitzenfußball immer mehr Spiele in immer breiter gefächerten Wettbewerben ausge­ tragen werden. Dem ehe­maligen (und aktuell wegen Kor­rup­ tion gesperrten) UEFA -Präsidenten Michel Platini ist es zu verdanken, das bei der letzten Europameisterschaft 24 statt 16 Teams antraten. Ein kleines großes Dankeschön an sein Wahlvolk – mehr Teilnehmer gleich mehr zufriedene Funktio­näre. Und erst im Jänner entschied Gianni Infantino,


»Wir sind im Spitzenfußball an einem Punkt ­angekommen, wo man die Anzahl von Spielen der Spitzenspieler nicht mehr erhöhen kann und darf. Wir befinden uns in einem Zirkus. Die Topleute s­ pielen jetzt schon fast alle drei Tage über neunzig Minuten unter dieser intensiven Belastung .« Bernhard Peters, damaliger Direktor für Sport und Nachwuchsförderung der TSG Hoffenheim, in der FAZ vom 15.12. 2013

Nachfolger von FIFA -Präsident Sepp Blatter, dass die Welt­ meisterschaft 2026 mit 48 statt wie bisher 32 Mannschaften ausgetragen werden soll. All das hat zur Folge, »dass unser Produkt seit Jahren ­immer mehr verwässert«, wie Ewald Lienen, der stets streit­ bare Trainer vom Hamburger FC St. Pauli, stellvertretend für so v ­ iele befindet, »unser Fußballbetrieb ist völlig aufge­ bauscht«. Insbesondere bei der EM im letzten Jahr war unter den Fans in Europa ein deutlicher Rückgang der Begeiste­ rung für den Fußball zu spüren, und auch im normalen ­Ligabetrieb ist eine Übermüdung längst zu erkennen. ZEIT ONLINE erklärte in einem Artikel (10. 07. 2016): »Der Fuß­ ball läuft Gefahr, sich selbst zu erdrücken.« Das Übermaß an Fußball mindert nicht nur die Attrak­ tivität des Spiels, es geht auch auf Kosten der Spielergesund­ heit. »Bei Spitzenspielern«, sagt Jürgen Klopp, der seine Mannschaften sehr intensiven Fußball spielen lässt und häu­ figer als andere Trainer über verletzte Akteure zu klagen hat, »sind wir schon lange über den Bereich hinaus, in dem es vertretbar ist.« Die Evolution des Fußballs frisst ihre Kinder. Wie also kann es weitergehen? Schwer vorstellbar, dass sich der Markt »regulieren« wird, wie es Julian Baumgart­

linger glaubt. Zu viele Menschen haben mit der Verdichtung des Spiels sehr viel Geld verdient. In der englischen Premier League schüttete ein neuer TV -Vertrag erstmals mehr als eine Milliarde Euro an die Vereine aus, mehr Geld war noch nie im Fußball. Und doch lebt der Sport von der Begeisterung seiner Fans. Sinken die Zuschauerzahlen und Einschalt­ quoten, geht der aufgeblähten Fußballwelt irgendwann die Luft aus. Vielleicht würde das dem Spiel guttun, wenn aus­ gerechnet das Volk dem Volkssport Fußball seine Grenzen aufzeigt, von denen einige denken, es gäbe sie nicht. Dem Spiel an sich und allen, die es lieben, kann man es eigentlich nur wünschen.

Alex Raack war von 2009 bis 2016 Redakteur beim Fußball-Magazin 11 FREUNDE. 2012 ­erschien sein erstes Buch ­Volle Pulle, die ­Biografie des Fußballers und ­Alkoholikers Uli ­Borowka, 2015 veröffentlichte er Den muss er ­machen – ­Phrasen, Posen, ­Platti­­tüden aus der wunderbaren Welt der Fuß­ball-­Klischees. Raack lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin.


MARTENSTEIN 73

Schokolade, Wein und kleine Filmchen HARALD MARTENSTEIN über Aufmerksamkeit

unter erschwerten Bedingungen

I

ch muss zum Beispiel einen Text schreiben, der heute noch fertig werden soll. Im Internet gibt es diese lustigen kleinen Filme. Kinder tun etwas Süßes oder Komisches. Erwach­ senen unterläuft ein Missgeschick. Ein Politiker baut Mist. Die Filme sind meis­ tens wirklich lustig, und ich kriege von verschiedenen Personen regelmäßig welche zugesandt. Der Computer macht dann ein Geräusch, und die Nachricht ploppt auf. Ich versuche, das zu ignorie­ ren. Aber nach einer Weile bin ich doch neugierig und schaue mir den Film an. Erwartungsgemäß ist er lustig. Aber ich ärgere mich die ganze Zeit, weil ich jetzt gedanklich auf einer anderen Spur bin. Ich kann den Absendern nicht böse sein, sie meinen es gut, sie wollen mir Gutes tun. Ich kann den Absendern unmöglich zurückschreiben: »Bitte keine lustigen Clips mehr!« Ich mag diese Filmchen. Ich will sie! Aber jetzt kann ich mich nicht mehr auf den Text konzentrieren. Der Text soll von Hamburg handeln. Das war so bestellt. Der kleine Film ­handelte von Donald Trump. Holländer erklären Donald Trump in der stark re­ duzierten Donald-Trump-Sprache, was Holland überhaupt ist. Sehr komisch. Kriege ich eine Verbindung zwischen Donald Trump und Hamburg hin? Das darf ich nicht machen, der HamburgText erscheint doch erst in ein paar Wo­ chen, wer weiß, was dann in der Politik

los ist. In so einer Situation esse ich zum Beispiel gern Schokolade. Es ist aber ­keine mehr im Haus. Gehe ich raus und kaufe welche? Dann ist die Konzentra­ tion erst recht perdu. Soll ich ein Glas Wein trinken? Am frühen Nachmittag? Auf keinen Fall, dann ende ich wie He­ mingway. ­Seine Texte waren natürlich gut. Das ist das Fatale, die Texte waren gut. Nun habe ich eine Idee. Ich höre ein Schaben an der Tür, der Hund möchte hinein. Ich öffne die Tür. Der Hund liebt mich, er will zu mir, ­obwohl er schon Futter gekriegt hat. Na ja, was geht schon in einem Hund vor? Liebe in unserem Sinn ist es sicher nicht. Haben Tiere so etwas wie eine Seele? Haben diejenigen recht, die fordern, dass auch Tiere Grundrechte bekom­ men? Um Gottes willen, darüber darf ich jetzt auf keinen Fall nachdenken, ich muss an Hamburg denken. Eine Stadt mit viel Wasser – die Idee, die ich gerade hatte, ging irgendwie in diese Richtung. Aber das ist doch banal, die Idee kann nicht gut gewesen sein. Nun klingelt das Telefon. Ein freund­ licher Herr fragt, ob ich an einer Podi­ umsdiskussion über das Denkmal zur deutschen Einheit teilnehmen würde. Wie kommt er auf mich? Habe ich mal was über dieses Denkmal geschrieben? Auszuschließen ist es nicht. Er habe auch schon vor einer Woche eine Mail geschickt, es gehe nämlich um Folgen­

des. Um die Sache abzukürzen, sage ich einfach zu, klar, ich mache das, in der Mail stand ja alles. Tatsächlich dauert das Gespräch nur drei Minuten. Ich habe überhaupt keine Meinung zu diesem Denkmal. Ich suche nach der Mail, die ist verschwunden. An welchem Tag ist die Diskussion überhaupt? Und wo? Ich muss noch mal fragen. Die Telefon­ nummer des Herrn war unterdrückt, das sollte verboten werden. Alle Verabre­ dungen, die mit Menschen mit unter­ drückter Telefonnummer getroffen wer­ den, sind hoffentlich juristisch nichtig. Zurück zu Hamburg. Jetzt betritt meine Frau das Zimmer, sie fragt: »Was essen wir heute?« Ich sage: »Ich muss mich echt konzentrieren jetzt.« Sie sagt: »Aber die Tür stand doch offen.« »In dem Moment, als ich die Tür offen gelassen habe, war ich wohl nicht konzentriert, und weil ich vorhin an der Tür nicht konzentriert war, kann ich mich jetzt erst recht nicht konzentrieren.« Die Frau geht kopf­ schüttelnd hinaus. So gibt immer eines das andere.

Harald Martenstein ist Autor der Kolumne ­»Martenstein« im Z ­ EIT magazin und Redakteur beim Berliner Tages­ spiegel. ­Zuletzt ist von ihm ­erschienen Nettsein ist auch keine Lösung: Einfache Geschichten aus ­einem schwierigen Land.


Der nächste ATLAS : Freundschaft

Der nächste ATLAS erscheint im Herbst 2017 – wir freuen uns, dass Sie bis hierher ­gelesen oder zumindest geblättert haben. Noch mehr freuen wir uns, wenn Sie uns ­sagen, wie Ihnen dieser ATLAS gefallen hat, damit wir das, was wir tun, noch besser tun können. Schreiben Sie uns doch per E-Mail: redaktion@gw-atlas.com

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kornzentieren? nichts leichter als das!

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Der achte ATLAS mit Nachrichten, Kolumnen, Interviews, vielen Bildern und der Lust, die Welt zu bewegen.


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