ATLAS 04

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ATLAS AUSGABE 04

DIE WELT BEWEGT: DAS MAGAZIN VON GEBRÜDER WEISS

Tradition RAINER GROOTHUIS

Gestern in Marienbad HEIDI SENGER-WEISS

Lieber nach Bauchgefühl WLADA KOLOSOWA

»Nirgendwo schläft man besser«

HARALD MARTENSTEIN

Viel los im Zwischenraum RÜDIGER SAFRANSKI

Wider die Konvention Außerdem: Wunderkisten, Wasserstraßen, Wanderschaft



»Gerade noch war ich eine durchschnittliche 22-Jährige aus der Londoner Vorstadt, und im nächsten Moment schon lebte ich ein Glamourleben, reiste kostenlos um die Welt und war umgeben von Royals und Prominenten.« Betty Riegel

Als Flugbegleiterinnen ganz offiziell noch Stewardessen hießen, war der Beruf einem exklusiven Zirkel junger Frauen vorbehalten. In der Stewardessenschule der Lufthansa stand 1955 auf dem Lehrplan folgerichtig neben Benimm und ErsteHilfe-Regeln auch das anmutige Gehen auf hohen Absätzen. In eleganten Kostümen flogen die schlanken und perfekt frisierten Damen durch die Welt und bedienten über den Wolken die wenigen, die sich das Fliegen Mitte des letzten Jahrhunderts leisten konnten. Heute ist das Bordpersonal kaum noch für Glamour, sondern in erster Linie für die Sicherheit zuständig. Und dazu sind Männer und Frauen gleichermaßen geeignet.


»Das Leben ist eine Reise, die heimwärts führt.« Herman Melville

Herman Melville muss es wissen: Er hat als Schiffsjunge, Steuermann und Matrose auf Postschiffen, Walfängern und Lastfrachtern die Meere befahren. Melville desertierte aufgrund unhaltbarer Bedingungen an Bord, verbrachte einige Wochen in Gefangenschaft auf einer Südseeinsel, rebellierte mit Mannschaftskameraden gegen die Schiffsführung, wurde letztendlich Schriftsteller und kehrte doch im Alter als Zollinspektor an den Hafen zurück. Es sind wohl nicht zuletzt die vielen Stunden auf den unendlichen Meeren, die einen Charakter fürs Leben prägen. Die Verbindung, die Matrosen seit jeher mit der See eingehen, ist darum eine besondere. Und noch immer zieht es junge Männer auf Schiffen hinaus in die Welt, obwohl schon längst nicht mehr in jedem Hafen ein Mädchen wartet.



4 ATLAS


»Ich   kenne nur die Bahnhöfe, aber die kenne ich gut.« Polina Konowalowa

Ob Orient Express, Glacier Express oder Transsib, ob Tren a las Nubes in Argentinien, Rocky Mountaineer in den USA oder Royal Scotsman in Schottland: In allen Erdteilen gibt es Züge mit klingenden Namen, viele von ihnen gelten unter Reisenden als legendär. Aber was dem einen ein komfortables Verkehrsmittel ist, ist dem anderen ein Arbeitsplatz. Im Idealfall sind Zugbegleiter mit Geduld und Menschenkenntnis ausgestattet und können nicht nur Fahrkarten kontrollieren, sondern darüber hinaus gelassen mit den Wünschen der Reisenden umgehen. Vermutlich hilft dabei, dass sich vor dem Fenster beständig die Kulisse verändert, während der Arbeitsalltag im Zug doch meist derselbe bleibt. – Einblicke in und Ausblicke aus der Transsibirischen Eisenbahn finden Sie übrigens auf Seite 56.


Jagtar Singh stammt aus Punjab in Indien und machte sich 1992 zu einer Europareise ­auf. In Österreich hat er sich auf Anhieb so wohlgefühlt, dass er bis heute ­geblieben ist. Mit seiner Lebensfreude ­begleitet Singh als Chauffeur und Frächter schon seit 15 Jahren seine ­Kol­legen bei GW in ­Maria Lanzendorf. Und nach der Arbeit chauffiert er gut gelaunt seine sieben Kinder.


N

iemand sei eine Insel, schrieb einst John Donne und hat recht: Der Mensch v­ erortet sich nicht nur geografisch, sondern auch in ­einem histo­r ischen Zusammenhang. Er bewegt sich in e­ inem Feld von ­ nregung Überlieferungen und Erzählungen, die der A ­ önnen. und der Bereicherung dienen k Was Marienbad aus seinem Erbe macht, ­erfahren Sie in unserer Titelreportage. Wie kontinuierliche ­A n­passungen den Sprung in die Gegenwart ermög­­ lichen, zeigen die Artikel über Standard­container und über die größte Modelleisenbahn der Welt. Und ­bisweilen bleibt, wie bei der Tradition der Walz, aus gutem Grunde fast alles beim Alten. Dass es aber ­ e­freiend sein kann, mit Übereinkünften zu auch b ­brechen und neue Wege zu gehen, lesen Sie im gro­ßen Interview mit Rüdiger Safranski über Goethe. – ­Bewahren, ­modernisieren oder überwinden: Was wir aus dem Schatz unserer Traditionen machen, liegt an uns, ­immer wieder neu.

Herzlich, Gebrüder Weiss


GESCHONT

GEMESSEN

GEFLOGEN

Die Schifffahrt verantwortet am TreibhausgasAusstoß der EU einen Anteil von:

Verschiffung von Panamakanal-Tonnen (2,8 Kubikmeter) im Geschäftsjahr 2013/2014:

Laut World Air Cargo Forecast steigt der Luftfrachtverkehr in den nächsten 20 Jahren jährlich um:

4%

Quelle: EU-Kommission

326,8 Mio.

Quelle: dpa

4,7 %

VERL ADEN

GELIEFERT

Im Jahr 2013 hat der nach wie vor größte Seehafen der Welt in Shanghai 33,6 Mio. TEU umgeschlagen. Für diese Gesamtmenge müsste ein vollbeladenes Schiff der Klasse »MSC Oscar« den Hafen 1.748 Mal anlaufen, das sind etwa 4,7 Ladungen dieses Schiffstyps pro Tag.

Die Tonnage in der Luftfracht belief sich 2014 bei GW auf:

49.500 t

Quelle: Österreichische Verkehrszeitung

Per Seefracht hat GW 2014 verschifft:

131.000 TEU

WELTWEIT UNTERWEGS

IN DIE HÖHE I

Die fünf größten Reedereien der Welt nach Anzahl der Schiffe:

Auf dem Bürgenstock in der Schweiz zieht der Hammetschwand-Lift seine Fahrgäste in die Höhe. Er wurde 1905 gebaut und ist fast so hoch wie der Kölner Dom:

APM Maersk, Kopenhagen

605

MSC , Genf

497

CMA CGM , Marseilles

447

Evergreen, Taipeh

197

5 Hapag Lloyd, Hamburg

152,8 m

186

IN DIE HÖHE II

GEHANDELT

Die wichtigsten Handelswege 2013 nach transportiertem Warenwert in Milliarden Dollar:

491

••••••• • • • • • • •• • ••

237

Deutschland

225

China

Japan

••

••

••

45 m

279

•••••••••••• • • • •••••• • • • ••• • • • • 200

Quelle: PricewaterhouseCoopers

•••••Südkorea

••••••

••

Frankreich

USA

Der Elevador de Santa Justa in Lissabon wurde 1902 errichtet und verbindet zwei unterschiedlich hoch gelegene Stadtviertel. Er ist genauso hoch wie das Blumenrad im Wiener Prater und misst:

GEZOGEN

Die Cable Cars in San Francisco wurden 1873 in Betrieb genommen. Noch Heute bewegen 4 Motoren die Seile mit einer konstanten Geschwindigkeit von:

BELIEBT

Eine Ausbildung in der Logistik wird für den Nachwuchs immer attraktiver. Auf den ersten fünf Plätzen stehen nach der Menge der abgeschlossenen Ausbildungsverträge folgende Berufe:

1. Fachkraft für Lagerlogistik 2. Fachlagerist Quelle: Handelsblatt

3.

Kaufmann für Spedition und Logistikdienstleistungen

4. Berufskraftfahrer

5. Fachkraft für Kurier-, Express- und Postdienstleistungen

m 15,3 k

/h


Die Welt bewegt: RAINER GROOTHUIS 10

20

Gestern in Marienbad Schön ist, was tschechisch ist et cetera

48

Auf der Wortwalz – Reporterin unterwegs HARALD MARTENSTEIN

49

Viel los im Zwischenraum

ANDREAS BERNARD 20

22

23

Der ungekannte Reiz der oberen Stockwerke

DAS FAMILIENGEWINNSPIEL 50

Nachgelesen Die WunderkistenRevolution

Schöne Traditionen TILL HEIN

52

55

Matterhorn ahoi! Auf den Spuren der Geschichte

HEIDI SENGER-WEISS 27

Lieber nach Bauchgefühl

WLADA KOLOSOWA 56

FLORIAN AIGNER 34

Vergessen Sie’s! 60

»Nirgendwo schläft man besser« Wie die Feste fallen

RÜDIGER SAFRANSKI 37

Wider die Konvention

64

JESSICA SCHOBER 44

Die Walz – Tradition auf Wanderschaft

Universum in der Nussschale

70

Die Welt orange

72

Impressum


Die Kolonnaden, auf das Schรถnste wiederhergerichtet, im Spiegel der Trinkhalle.


Gestern in Marienbad Verlasst mich hier, getreue Weggenossen! Lasst mich allein am Fels, in Moor und Moos; Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen, Die Erde weit, der Himmel hehr und groß; Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt, Naturgeheimnis werde nachgestammelt. Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, Der ich noch erst den Göttern Liebling war; Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren, So reich an Gütern, reicher an Gefahr; Sie drängten mich zum gabeseligen Munde, Sie trennen mich – und richten mich zugrunde. a us z ug a u s joh an n w o l f g an g von goe t h e s » m a r i e n ba d e r ele gi e « , se pte mbe r 1823


Eine der vielen sanierten Fassaden erzählt vom Glanz der frühen Jahre: das »Grandhotel Pacifik«.


GESTERN IN MARIENBAD 13

»Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert.« OS CA R WI LDE

REPORTAGE: Rainer Groothuis

S

chaut man am frühen Morgen, wenn alles noch ruhiger und verträumter ist als ohnehin, auf den großen Kurpark, das Zentrum der Stadt, kann man sie sehen und hören, die Damen und Herren der Goldenen Jahre. Die Frauen in fast bodenlangen Kleidern, nie ohne Handtäschchen, die Herren in Ausgehanzügen mit Gehstöcken – Menschen unter modischen Hüten, wie sie sich ergehen, flanierend, plaudernd, flirtend, tuschelnd, einander zugewandt. Ihr Gemurmel erfüllt den Park, das Kurorchester spielt Walzer, Die Moldau von Smetana, zu späterer Stunde vielleicht eine Nocturne, man speist zu Abend, geht ins Casino – gleichwohl früh zu Bett, denn es ist Kur und ihr Schatten nicht immer lang. Das nächtliche Leben blüht eher im Verborgenen, im Privaten, in der Pension, im Hotel. Goethe weinte hier 1823, nachdem die 55 Jahre jüngere Ulrike von Levetzow den Heiratsantrag des schwärmerischen 72-jährigen Geheimrats abgelehnt hatte – »keine Liebschaft war es nicht«, schrieb später die unverheiratet Gebliebene. Goethe dichtete danach, wohl mit der Energie des Verzweifelten, den Faust zu Ende und schenkte der Welt eines der schönsten Liebeskummer-Gedichte, die Marienbader Elegie, und verabschiedete »die Liebe« aus seinem Leben. Chopin trauerte 1836 um Maria Wodzińska, deren Eltern sie dem tuberkulösen Musiker nicht anvertrauen wollten. »Marienbad – die gemütlichste und modernste Stadt auf dem Kontinent. So schön, wie man sich nur wünschen kann …«, schwärmte Mark Twain 1891 auf seinem Bummel durch Europa, Isadora Duncan tanzte 1902 im Stadttheater. Kafka suchte im Sommer 1916 im Kurpark wieder Wege zu Felice Bauer, 1923 spielte Albert Schweitzer öffentlich Klavier. In Marienbads mondänen Zeiten der Belle Époque gaben sie sich die vergoldeten Klinken der Hotels in die Hand: Kaiser, Könige, Herzöge, Adlige aller Grade, Schriftsteller, Wissenschaftler, Berühmte, Berüchtigte, Scharlatane und Schöne aus vieler

Welt flanierten durch Kurpark, Straßen und auf den nahen Waldwegen, tuschelten sich bei Kurkonzerten die Neuigkeiten über diesen und jenen, das und dies in die klatschoffenen Ohren. Ein Kururlaub in Marienbad war Statussymbol für den Geld- und Geistesadel Europas, man wollte sehen und gesehen werden.

»Marienbad: berühmter Badeort in der böhmischen Bezirkshauptmannschaft Tepl ( … ) besteht aus sauberen, geschmackvoll erbauten Häusern, welche von Gärten, Blumengruppen und wohlgepflegten Rasenflächen umgeben sind.« MEYER S KO N V ER SAT I O N SL EXI K ON , 1 8 7 7 Marienbad, tschechisch: Mariánské Lázně, wurde 1808 offiziell zum Kurort erklärt, der Kurbetrieb 1815 aufgenommen. Es erlebte in rund 100 Jahren die rasante Entwicklung von einer Ansammlung von auf trockengelegten Mooren stehenden Häusern zu einem der gefragtesten Kurbäder der Welt – »die glückliche Fabelprinzessin«, wie der Literat Jan Neruda es nannte, erwachte und erblühte. 1872 kam die Eisenbahn und verband den Ort mit Karlsbad und Prag, 1893 zählte man 16.000 Gäste, 1897 kurte der englische König Edward VII . das erste Mal, war begeistert und wirkte als Magnet: 1904 kamen schon 25.000 Gäste. Die Zahl stieg – unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg – auf 41.000 im Jahr 1929, den bisherigen Höhepunkt der Zählung. Währenddessen drehte sich draußen die Welt: Der Untergang der »Titanic« gab dem unbeirrten Zukunftsoptimismus der Belle Époque 1912 einen ersten Stoß, der 1. August 1914 versetzte den zweiten, die Gräuel des Ersten Weltkriegs setzten den Schlusspunkt einer Epoche, die lustvoll einer Kultur des Unbeschwerten frönen wollte. Die Kaiserreiche waren 1918 am Ende, neue Staaten und Demokratien wurden gegründet. Auch die k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn zerfiel, am 28. Oktober 1918 wurde die Tschechoslowakei gegründet.


14 GESTERN IN MARIENBAD

Doch nicht alles fand neue Besitzer und Investoren, besonders der Verfall des ehemaligen »Hotel Weimar« grämt viele Marienbader; gegenüber das Römische Bad im »Nové Lázně«.

Die »Golden Twenties« begannen und brachten auch für Marienbad für wenige Jahre langsame Erholung, die aber mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus zu Ende ging. Bereits im August 1933 wurde hier der deutsch-jüdische Philosoph Theodor Lessing von Nazis ermordet, und mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Nazi-Deutschland im August ’38 gehörte Böhmen fortan zum »Protektorat Böhmen und Mähren«. In der Reichspogromnacht im November ’38 wurde auch in Marienbad die große Synagoge niedergebrannt, flohen die jüdischen Bürger die Stadt, und mit ihnen so manche der gefährdeten Tschechen. Im Krieg war Marienbad Lazarettstadt und blieb von Zerstörungen weitgehend verschont. Nach der Befreiung durch die Amerikaner und die anschließende Übergabe an die Rote Armee wurde das Land wie u. a. Ungarn und Polen zum »Bruderstaat« der Sowjetunion.

1946 wurden die Hotels und Kureinrichtungen verstaatlicht, viele von ihnen durch den tschechoslowakischen Gewerkschaftsbund übernommen. Aber die neuen Gärtner rissen viele Blumen aus: Ständige Auslastung bei ausbleibenden Investitionen in Erhalt und Sanierung der Einrichtungen führten auch in Marienbad zu katastrophalen ökonomischen und ökologischen Zuständen. Die westliche Welt hatte sich in die Globalisierung hineinentwickelt, als der Eiserne Vorhang sich 1989/90 endlich hob – die Staaten des ehemaligen RGW * wurden in sie hineingerissen, in Privatisierung und Renditeorientierung. Vieles, was vorher über den Staat oder entsprechende Organisationen (wie Gewerkschaften, Kulturbünde usw.) verwaltet worden war, war auch in Marienbad nicht zu privatisieren. Noch heute * RGW = »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe«. Mitglieder des RGW waren die Sowjetunion und ihre west- und südwesteuropäischen Nachbarstaaten, gern »Bruderstaaten« genannt, die von der UdSSR auch als Puffer gegen die Natostaaten betrachtet wurden.

TSCHECHIEN Die Republik Tschechien wurde 1993 nach Teilung der Tschechoslowakei gegründet und setzt sich aus den historischen Ländern Böhmen (Čechy), Mähren (Morava) und Tschechisch-Schlesien (Slezsko) zusammen. Seit 2004 ist Tschechien Mitglied der EU.

LANDESHAUPTSTADT

Prag EINWOHNERZAHL

10.521.600

POLEN

Karlsbad Marienbad

DICHTE

Prag

134 Einw. / km2 FLÄCHE

78.866 km2 Brünn DEUTSCHLAND

SLOWAKEI ÖSTERREICH

STAATSFORM

Parlamentarische Republik


KÄSE FÜR BERLIN 15


16 GESTERN IN MARIENBAD

lungern schönste Bauten aus den mondänen Zeiten vor sich hin. Auch das einst erste Haus am Platz, das Palais Klebelsberg – in dem Goethe wohnte und King Edward VII ., das spätere Hotel Weimar, nach der Verstaatlichung umbenannt in »Kavkaz« (Kaukasus) –, ist eine Ruine vergangenen Glanzes. Traurig und ein wenig trotzig hofft es auf den Prinzen, der es wach küsst und in seine Rettung investiert. Marienbad ist eine Legende des mondänen Kurens geblieben, jener Kombination aus »herrlichem Quartier, freundlichen Wirten, guter internationaler Gesellschaft, hübschen Mädchen, Musikliebhabern, angenehmer Abendunterhaltung, köstlichem Essen, neuen bedeutenden Bekanntschaften und wiedergefundenen alten, leichter Atmosphäre«, wie Goethe gesagt haben soll. Bei gesund machender Bewegung und entsprechender Trinkkur, versteht sich. Trinken, also Heilwasser trinken, spielt in Marienbad – wie auch in Karlsbad und Franzensbad – noch heute eine große Rolle, sprudeln hier doch rund einhundert Quellen, von denen man sieben in der Trinkhalle kosten kann. Kurgäste und Einwohner strömen herein, füllen ihre Kurbecher und Flaschen mit der ihnen zugeordneten flüssigen Heilkraft – sei es gegen allergische Erkrankungen, Osteoporose, Erkrankungen von Magen und Darm, der Nieren und der Harnwege, bei Stoffwechselstörungen oder Atemwegserkrankungen – und trinken sie in kleinen, spitzen Schlucken. Auch für Mineralbäder und Inhalationen werden die Quellwasser genutzt und sollen, hier und da, Wunder wirken. Die schöne Pegaea, Nymphe, Tochter des Zeus, Hüterin der Heilquellen, ist übrigens die Patronin des neu gestalteten Kurtrinkbechers »La Fontaine«. Aus ihm trinkt, wer auf sich hält.

Nicht nur die Tradition der besonderen Oblaten wird fortgeführt – in der Trinkhalle nimmt man, wie ehedem, das heilende Wasser der Quellen zu sich.



18 GESTERN IN MARIENBAD

»Architektonische Perle. Die Stadt im Park und der Park in der Stadt. Schatzkammer der Heilquellen. Die Stadt, wo berühmte Könige, Adelige, Künstler und Wissenschaftler ihren Aufenthalt genossen haben.« A UFTAKT DER OFF I Z I E LLE N M ARI E NBADIN TERNET SEITE 20 15

»Pomalu – immer schön langsam, lautet das Credo der Tschechen, denen Gemütlichkeit über alles geht«, meint der Reiseführer. Doch die wirtschaftliche Dynamik widerlegt diese Beschreibung einer »Volksseele«: Die Tschechische Republik hat sich, nachdem die Slowakei 1993 abgetrennt und souverän wurde, zu einer der erfolgreichsten Volkswirtschaften des ehemaligen RGW -Raums entwickelt. Die tschechische Wirtschaft war ohnehin vor dem Zweiten Weltkrieg eine der stärksten in Europa. Ihre traditionellen Industriezweige Eisen, Stahl, Kohle, Maschinenbau, Glas, Porzellan, Textil, Holz, Papier, Zellstoff und Bier sorgten für Prosperität. Die traditonelle Fertigung von Glas und Porzellan spielt heute keine Rolle mehr – dafür spricht der Erfolg von Skoda umso lauter. Diese Dynamik spiegelt sich auch im Erfolg von Gebrüder Weiss. Aus den kleinen Anfängen zu Beginn der 90er Jahre wurde ein Netz von heute neun Niederlassungen, im Sommer 2015 wird in Brünn eine neue Ausbaustufe mit rund 33.000 Quadratmetern in Betrieb genommen: Es entsteht »ein hochmodernes Logistiklager, nach TAPA -Sicherheitskriterien erbaut, ausgestattet mit einem Ortungssystem, mit dem wir die Warenströme noch effizienter verfolgen können«, sagt, stolz auf das Erreichte, Harald Prohaska, Landesleiter von GW Tschechien.

Einer der Hauptkunden ist international ein David, national ein Goliath: Mall.cz ist in Tschechien deutlicher Marktführer im Online-Versandhandel, sein Wachstum lag 2014 bei 35%. Mall.cz bietet rund 77.000 Produkte, und GW liefert an die Mall-Kunden in Tschechien, der Slowakei und Ungarn innerhalb von nur 24 Stunden. GW Tschechien besorgte 2015 rund 1,3 Millionen Sendungen – Perspektive Wachstum. Das Wachstum in Tschechien soll auch 2014 über dem EU -Durchschnitt liegen, 71 % der Filialleiter österreichischer Unternehmen rechnen mit weiteren Umsatzsteigerungen: Optimismus und Tatkraft treiben die tschechische Wirtschaft an, die besser durch die Finanzkrise kam als manch andere. Es gibt die Marienbader Elegie, das seit 1960 jährlich stattfindende Chopin-Festival, Alain Resnais’ Film Letztes Jahr in Marienbad, 1961 im Kurpark gedreht – aber an die Tradition des mondänen Kurbads konnte nicht angeknüpft werden. Die Reichen und Schönen dieser Welt suchen sich heute andere Ziele. Doch kommen bescheidenere Kurgäste aus Russland, der Ukraine, aus Moldawien, Deutschland, Österreich und Tschechen selbst in wachsender Zahl. Längst gibt es neben der einheimischen Küche mit Liwanzen, böhmischem Rauchfleisch, Schweinebraten mit Knödeln, Palatschinken auch Döner, Pommes frites, Espresso. Und aus den Lautsprechern, die an einigen Geschäften der Hauptstraße Hlavní hängen, säuseln schmeichelnd die Hits des Weltpop. Vieles aus Jugendstil und Neo-Renaissance wurde von russischen, deutschen, internationalen Investoren gekauft und aufwendig saniert. Die Stahlkonstruktion der 1888/89 gebauten Kolonnaden beeindruckt ebenso wie die Wiederherstellung des »Grandhotel Pacifik« oder des »Nové Lázně«, des 5-Sterne-Hotels mit original römischem Bad von 1896. Die Musik des vom Architekten Pavel Mikšík geschaffenen Springbrunnens »Singende Fontäne« schallt nach genauem Zeitgitter – mittwochmorgens um 7 Uhr gibt sie beispielsweise den


Links: Goethe und Ulrike von Levetzow grüßen von ihrem Sockel, während der Fahrer der Kutsche auf neue Gäste wartet; oben: Tradition und Gegenwart, Goethe und »Reality Future«.

Gefangenenchor aus Verdis Nabucco, samstags um 21 Uhr Spiel mir das Lied vom Tod von Ennio Morricone, donnerstags um 12 Tschaikowskys Konzert Nr. 1 b-moll, op. 23. Anna und Jiri, mit denen ich im »Classic Café« ins Gespräch komme, studieren beide in Prag, besuchen ihre Eltern in Marienbad. Arbeit für sie werde es hier nicht geben, schade sei es, dass ihre Heimatstadt bislang kein Konzept gefunden habe, das zukunftsträchtig und mehr sei als die Hoffnung auf das weitere Wachstum des Tourismus. »Der Bädertourismus überaltert – Marienbad muss wieder ein kulturelles Zentrum werden, so wie es das früher war, denn auf Kultur ist Marienbad gegründet«, sagt auch der erst 29-jährige parteilose Bürgermeister Vojtěch Franta, der im November 2014 auf der Liste der tschechischen Piratenpartei stand und mit 21 % der Wählerstimmen Bürgermeister wurde.

Doch wie früher kann man sich mit dem Fiakerl fahren lassen, und dem Kutscher zuhören, der ungefragt, aber gerne in wundervollem deutsch-tschechischem Singsang vom Alten und Neuen erzählt. Wandert man dann über den Goethova cesta (Goethe-Wanderweg) und schaut auf die Stadt, bekommt man nicht nur einen Eindruck von ihrer mondänen Vergangenheit – sie liegt ein wenig in der Luft. Und bildet mit Grandezza und Talmi, Morbidem, Geschichte und Kurreizen eine besondere Atmosphäre, eine eigene, sehr ruhige Stimmung, die einlädt wiederzukommen. Rainer Groothuis, geboren 1959 in Emden /Ostfriesland, ist Gesellschafter der Kommunikationsagentur Groothuis. www.groothuis.de


20 ET CETERA

Fahrstühle und Hotels

TEXT: Andreas Bernard

H

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Ein kleines Volk geht eigene Wege Anders als in allen anderen Ländern, die mit lateinischen Buchstaben schreiben, ist in Tschechien nicht der Internetriese Google Marktführer bei den Suchmaschinendiensten, sondern der lokale Anbieter Seznam.cz. Seznam.cz wurde 1996 gegründet, mit dem Ziel, die im Internet verfügbaren Informationen für die Tschechen übersichtlich zugänglich zu machen. Damit Suchanfragen der Komplexität der tschechischen Sprache gerecht werden, arbeitet Seznam.cz eng mit Sprachwissenschaftlern an tschechischen Universitäten zusammen. Zudem bietet die Firma ihren Kunden einen kostenlosen E-Mail-Service, ein Streamingportal, verschiedene Nachrichten- und Informationsdienste und neuerdings auch interaktive (Rad-)Wanderkarten. Um überall nah am Kunden zu sein, betreibt Seznam.cz. im ganzen Land insgesamt 14 Filialen, Google dagegen nur eine einzige Niederlassung in Prag. Eine ähnliche Strategie verfolgt auch Mall.cz, ein Online-Versandhandel, Kunde von GW Tschechien, dessen Erfolg den internationalen Handelsriesen Amazon bislang davon abgehalten hat, den tschechischen Markt zu erobern. Damit Mall.cz Marktführer bleibt, setzen die Unternehmer aus Prag genau wie Seznam.cz vor allem auf Regionalität und Kundenzufriedenheit: Bis 14 Uhr im Netz bestellte Waren können bereits ab 16 Uhr in einer der vielen Filialen persönlich abgeholt werden. Der Kontakt am Serviceschalter schafft Vertrauen, Liefergebühren und das Warten auf den Paketboten entfallen. »Schön ist, was tschechisch ist«, sagt ein Sprichwort – und behält hier offenbar recht.

Der ungekannte Reiz der oberen Stockwerke

E

Schön ist, was tschechisch ist

otels waren im späten 19. Jahrhundert die ersten mehrgeschossigen Bauten, in denen der Fahrstuhl obligatorisch wurde. Die besten Häuser warben damit, dass sie ihren Gästen schon mit dieser Bequemlichkeit dienen konnten, und die enge, mobile Kabine, in der sich Fluktuation und Hermetik, Intimität und Anonymität auf so reizvolle wie manchmal auch beklemmende Weise verbanden, wurde rasch zum Mittelpunkt des Hotellebens. (Vor einigen Jahren hat der Film Lost in Translation diese Konstellation noch einmal gewürdigt; die Annäherung der beiden Hauptfiguren im »Park Hyatt« von Tokio ist ganz um den Fahrstuhl herum inszeniert, vom ersten Blickkontakt in der vollbesetzten Kabine bis zum Abschied vor der Aufzugslobby im Erdgeschoss.) Grandhotels gehören heute zu den letzten Orten, an denen zuweilen noch Liftboys den Dienst verrichten – allerdings nur zu repräsentativen Zwecken, denn die Druckknöpfe zu den Etagen könnte auch jedes Kind bedienen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein, als die Fahrstühle noch mit Seilen, Hebeln oder Kurbeln gesteuert wurden, war das anders. Die Profession des Fahrstuhl-


ET CETERA 21

führers musste in langer Ausbildung erlernt werden, mit Prüfungen und Lehrbüchern. Welche Gestaltungsmöglichkeiten diesem Berufsstand damals aber noch gegeben waren, zeigt anschaulich die Geschichte des berühmtesten Liftwärters der deutschen Literatur: Thomas Manns Romanheld Felix Krull ist einer der letzten Virtuosen unter den Fahrstuhlführern. Von Beginn an geht es ihm um die vollendete Beherrschung der mit elektrischer Hebelsteuerung funktionierenden Kabine. Der Fahrstuhl, sagt er, »will mit Liebe gehandhabt sein. Ich werde nicht ruhen, bis ich nicht die kleinste Stufe mehr zwischen Kabinenboden und Stockwerk mache.« Im Verlauf des Romans zeigt sich dann, wohin Chauffeurskünste einen Liftboy um 1900 führen können; Krull verdankt ihnen die lukrative Affäre mit Mme. Houpflé, die zum wichtigen Markstein seiner Karriere als Hochstapler wird. Seine Souveränität als Fahrstuhlführer hat aber einen historischen Index. Bereits kurze Zeit nach der Mitte der 1890er Jahre angesiedelten Romanepisode wäre sie nicht mehr möglich. Der Druckknopf und neue automatisierte Steuerungsweisen beenden die Herrschaft des Liftwärters über die technische Apparatur; ob die Kabine sich möglichst sanft durch die Stockwerke bewegt, ob die Schwelle beim Abstellen an den Etagen größer oder kleiner ausfällt, hat mit dem Feingefühl der menschlichen Hand fortan nichts mehr zu tun. Der Fahrstuhl, diese magische Kabine, hat aber auch einen weitreichenden Einfluss auf die räumliche und architektonische Ordnung von Hotels (und allen anderen mehrgeschossigen Gebäuden, in denen er installiert ist). Denn das Transportmittel führt zu einer Umkehr ihrer vertikalen Struktur. In den Grandhotels des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fallen Qualität und Status der Zimmer und ihrer Bewohner in dem Maß, in dem die Etagenzahl steigt, bis hin zu den kargen Kammern des Personals

direkt unter dem Dach. In Joseph Roths Roman Hotel Savoy von 1924 heißt es noch über diese vertikale Ordnung: »Was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit.« Zweifellos hängt der schlechte Leumund der hohen Stockwerke mit ihrer beschwerlichen Zugänglichkeit über endlose Treppen zusammen. Der Fahrstuhl befreit die oberen Geschosse von diesem Stigma und verleiht ihnen einen ungekannten Reiz. Gleichzeitig korrigiert er eine bis ins 20. Jahrhundert hinein anhaltende symbolische Disharmonie: dass die Stufenleiter der Architektur zu der des sozialen Lebens im Gegenssatz steht. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwinden jene »hoch Begrabenen« des Hotellebens. Mit der Etablierung des Fahrstuhls lässt sich die Gesellschaftspyramide nun ebenso im Aufbau mehrstöckiger Gebäude getreu abbilden. Diese Wandlung ist auch der Gestaltung der Zimmerpreise klar zu entnehmen. In den Baedeker-Reiseführern des späten 19. Jahrhunderts ist das Verhältnis noch klar; in einer Ausgabe von 1883 heißt es über die Preise in Berliner Luxushotels: »in den oberen Stockwerken und nach dem Hofe hinaus 2–2½ Mark, Parterre und erster Stock 4–7 Mark«. Etwa dreißig Jahre danach beginnt sich das Bild umzukehren, erst in den vielgeschossigen Hotels in New York und anderen Großstädten der USA , ein wenig später dann in den europäi-

schen Metropolen. Die Bel-Etage als glamouröses Zentrum der Gebäude verschwindet; an seine Stelle tritt das Penthouse im obersten Stock, das seitdem in der kollektiven Vorstellungskraft als luxuriöseste Form des Wohnens in vielstöckigen Häusern verankert ist. Wie unumstößlich seine soziale und kulturelle Strahlkraft bis heute ist, zeigt in einer besonders pointierten Variante der Spielfilm Pretty Woman. Der von Richard Gere gespielte Geschäftsmann Edward nimmt in diesem Film zum ersten Mal die Prostituierte Vivian (Julia Roberts) mit in sein Hotel in Beverly Hills, in dem er wie gewöhnlich das Penthouse bewohnt. Vivian tritt sofort auf die großzügige Terrasse hinaus, wo sie folgendes Gespräch beginnt: »Wow, tolle Aussicht! Ich wette, von hier aus kann man sogar das Meer sehen.« Edward: »Das glaub ich Ihnen. Ich war noch nie auf der Terrasse.« – »Wieso gehen Sie denn nicht raus?« – »Ich hab extreme Höhenangst.« – »Haben Sie? Und wieso wohnen Sie dann in einem Penthouse?« – »Weil ich’s so gewohnt bin. Ich hab vergeblich nach einem Penthouse im ersten Stock gesucht.« Der Fahrstuhl ist jene Apparatur in der Geschichte des Hotels, die einen solchen Dialog möglich gemacht hat.

Andreas Bernard, geboren 1969 in München, ist Professor für Kulturwissenschaften an der Leuphana-Universität Lüneburg und Autor der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Im FischerVerlag erschien 2006 sein Buch Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne.


22 NACHGELESEN

Nachgelesen

Die »fünfte Art des Transports« Der Hyperloop, den der Entwickler Elon Musk (PayPal, Tesla, Space X) vor eineinhalb Jahren vorstellte und über den wir im ATLAS II berichtet haben, ist vielleicht schon bald Realität: Das Start-up Hyperloop Transportation Technologies arbeitet mit über 100 führenden Ingenieuren und Designern auf Hochtouren an der Umsetzung von Musks Idee. Ein zweites Startup, finanziert von Wirtschaftsmanagern, hat schon konkrete Pläne für eine Hyperloop-Teststrecke zwischen dem Hafen von Los Angeles und Las Vegas entwickelt. The future is now.

Empfehlungen Wieder möchten wir Ihnen einige Bücher unserer Autoren ans Herz legen: Rüdiger Safranski hat eine ausführliche Biografie über den großen Dichter geschrieben: Goethe – Kunstwerk des Lebens. Unsere Autorinnen Jessica Schober und Wlada Kolosowa haben an dem Band Russland – Menschen und Orte in einem fast unbekannten Land mitgearbeitet.

JESSICA SCHOBER WLADA KOLOSOWA RUSSLAND MENSCHEN UND ORTE IN EINEM FAST UNBEKANNTEN LAND Corso

RÜDIGER SAFRANSKI GOETHE KUNSTWERK DES LEBENS Hanser Verlag

Gewinner Die Sieger des Familiengewinnspiels unserer LeidenschaftLeidenschaft Ausgabe stehen fest! Madelaine und Robert aus Rumänien dürfen sich über einen ferngesteuerten GW -Truck freuen. Einen Sonderpreis bekamen die Kinder der Spielgruppe »Rappelkiste Kirchfeld« in Österreich, die sich alle einen Orden gebastelt haben – nach Ansicht der Erzieherin Christine Schäfler übrigens hochverdient: »Es sind ganz besondere Kinder!« Die Spielgruppe war einen Tag zu Gast bei Gebrüder Weiss. Wir gratulieren herzlich und drücken allen Teilnehmern des Gewinnspiels in diesem Heft die Daumen. Sie finden es auf Seite 50.

Istanbuls Brücken Im ATLAS I berichteten wir von der Galata-Brücke, Istanbuls »schwimmendem Boulevard« über das Goldene Horn. Seitdem diese Brücke über die Bosporus-Bucht 1856 in Betrieb genommen wurde, ist die Stadt stetig gewachsen. Mittlerweile gibt es zwei Brücken, die weiter nördlich über den Bosporus führen, die dritte befindet sich im Bau. Die Yavuz-SultanSelim-Brücke, eine kombinierte Hänge- und Schrägseilbrücke, wird die Meerenge ganz im Norden auf 1,5 km queren und eine Eisenbahnstrecke sowie eine 8-spurige Autobahn überführen. Eröffnung ist voraussichtlich im Oktober 2015.


RADSPORT 23

DIE WUNDERK ISTENRE VOLUTION Zur Geschichte des Frachtcontainers


24 DIE WUNDERKISTEN-REVOLUTION

TEXT: Imke Borchers

M

FOTOS: Jakob Börner

alcom McLean, der 1956 mit der »IdealX« den ersten Containerfrachter auf Reisen schickte,  konnte nicht ahnen, welche Auswirkungen das auf die Weltwirtschaft haben würde. Heute gehört das Bild von scheinbar unendlich weit reichenden Container-Depots im Hafen von Rotterdam, Singapur oder Hamburg fest zum Alltag in der Logistik. Die Idee, Waren in Umbehältern zu transportieren, war Mitte des letzten Jahrhunderts allerdings keineswegs neu. Sie konnte sich nur lange nicht gegen die Gepflogenheiten in der Seefahrt durchsetzen. Die Entwicklung neuer Kräne, typengleicher Lastwagen und Container erschien viel zu aufwendig. Als Malcolm McLean wieder einmal mit seinem Fuhrunternehmen im Hafen auf die Löschung von Ware wartete, entschloss er sich, das nun endlich zu ändern und das Frachtgut

»McLean beförderte mit seinem ersten Containerschiff in den 1950ern gerade mal 58 Container, heute gibt es Frachter, die über 19.000 laden.« in Blechkisten zu packen, die viel schneller verladen werden konnten als einzelne Säcke oder Paletten. Kurzerhand verkaufte er sein Fuhrunternehmen und erwarb eine Reederei. Zunächst wollte außer ihm niemand an die Rentabilität und die Vorteile der Containerwirtschaft glauben – zu groß waren die Vorbehalte gegen die neumodischen »Schachtelschiffe« und die Sorge um Arbeitsplätze in den Häfen. Die ersten Jahre fuhr McLean mit seinen Containerschiffen daher nur an der US -Küste entlang. Doch nachdem er erfolgreich die US -Streitkräfte in Vietnam versorgt hatte, erkannten selbst die größten Pessimisten die Vorteile dieser Art von Warentransport.

In den 1960er Jahren wurden die auf dem Land und zu Wasser transportierbaren, stabilen Boxen nach ISO -Standard normiert, und der Container eroberte die Seehäfen. Ein gängiger 20-Fuß-Container wiegt 2,4 Tonnen und kann das Zehnfache an Gewicht aufnehmen – dabei ist er achtfach in die Höhe stapelbar. McLean beförderte mit seinem ersten Containerschiff in den 1950ern gerade mal 58 Container, heute gibt es Frachter, die über 19.000 laden. Die »CSCL Globe« der Reederei China Shipping, das derzeit längste Container-


DIE WUNDERKISTEN-REVOLUTION 25

Beulen und Risse werden im Container-Depot dokumentiert und repariert.

schiff, ist 400 m lang und etwa 58,6 m breit, kann aber maximal 19.000 TEU (20-Fuß-Standardcontainer) transportieren. Das sind 224 weniger als die »MSC Oscar« der Mediterranean Shipping Company. Diese Baureihe, von der derzeit drei Schiffe existieren, ist 395,4 m lang und 59 m breit und momentan Spitzenreiter in Sachen Transportkapazität. Auch wenn heute alle Transport- und Hebeeinrichtungen weltweit auf die Standardmaße abgestimmt sind und für die rasche Umladung der ca. 15 Millionen Container sorgen, die

MASSE 20-FUSS-CONTAINER

L: 6,095 m, B: 2,352 m, H: 2,393 m Kapazität: 33,2 m³ Gewicht: 21.740 / 28.230 kg Lebenserwartung: ca. 12–13 Jahre TEU = Twenty-foot Equivalent Unit Über 30 Millionen 20-Fuß-Container und über 15 Millionen 40-FußContainer sind weltweit im Umlauf.

KURIOSE FUNDE NACH CONTAINER-HAVARIE

29.000 gelbe Plastikenten, 1992 in einem Container über Bord gespült. 61.000 Nike-Turnschuhe, 1990 in schwerem Sturm im Container von Bord geweht. 5 Millionen Lego-Komponenten, 1997 im Container bei Sturm über Bord gegangen.


26 ATLAS

Kühlcontainer in der Waschanlage.

auf den Ozeanen, Schienen und Straßen dieser Erde unterwegs sind: Auf die riesigen Containerschiffe muss sich die maritime Wirtschaft erst einstellen. Beispielsweise können den Panamakanal nur Schiffe mit bis zu 8.000 Containern queren; noch in diesem Jahr soll er daher erweitert werden. Und auch so mancher Hafen sieht sich durch die großen Mengen an Ladungen herausgefordert. Bisweilen können die Container gar nicht so schnell weitertransportiert werden, wie sie vom Schiff kommen. In der Folge staut sich die Ware in den Häfen und fehlt an anderer Stelle. Trotz ihrer enormen Stabilität sind die Container aber keineswegs unkaputtbar. Zudem gehen infolge von Havarien jährlich schätzungsweise 10.000 Container über Bord, die dann herrenlos in den Weltmeeren umhertreiben. Diejenigen, die ihren Bestimmungsort erreicht haben und nicht sofort wieder befüllt und aufs Schiff geladen werden, machen in einem Depot- und Reparaturbetrieb Station. Hier wird zunächst die Anamnese aufgenommen: Auf einer Skizze vermerkt ein Mitarbeiter – wie bei einer Autovermietung – den Zustand

des Containers, etwa Beschädigungen der Wände durch unvorsichtiges Rangieren oder durch starken Seegang. Diese Schäden werden dann von Schlossern oder Tischlern behoben. Und natürlich wollen die Boxen nach einer langen Reise auch gereinigt und von unangenehmen Gerüchen befreit werden, die beispielsweise Tierfelle hinterlassen können. Von Zeit zu Zeit ist auch ein neuer Anstrich nötig. Das wird heute aus Kostengründen nur noch in Asien gemacht – hier haben sich dank der Containerrevolution die weltweit größten Seehäfen gebildet.

Imke Borchers, geboren 1982, ist Literaturwissenschaftlerin und Redakteurin des ATLAS.


ATLAS 27

Lieber nach Bauchgef端hl Heidi Senger-Weiss 端ber Verwurzelung und Offenheit, Instinkt und Verstand


28 LIEBER NACH BAUCHGEFÜHL

INTERVIEW: Frank Haas

G

ebrüder Weiss gilt als das älteste Transportunternehmen der Welt. Macht Sie

diese Tradition persönlich stolz? Natürlich. Es ist sehr ungewöhnlich,

dass eine Generation nach der anderen in die Fußstapfen ihrer Vorgänger getreten ist und mit demselben Thema berufliche Erfüllung gefunden hat. Und wir sind nicht nur der Branche, sondern auch der Gegend verbunden: In 500 Jahren Unternehmensgeschichte hat sich der Stammsitz nur um 30 km verlagert. Wir haben in dieser Region unsere Kraft entwickelt und sind hier verwurzelt, zugleich aber offen nach außen. Als Sie 1968 gemeinsam mit Ihrem Mann die operative Führung dieses Unternehmens übernommen haben, war das eine Zäsur. Zum ersten Mal stand eine Frau an der Spitze dieses sehr traditionsreichen Unternehmens, und das zu einer Zeit, als Frauen selbst für die Eröffnung eines Bankkontos noch das Einverständnis des Ehemannes brauchten. Das mit dem Bankkonto hat mich weniger gestört, aber ich brauchte sogar das

Einverständnis des Ehemanns, damit meine Kinder, die ich geboren habe, in meinen Pass eingetragen werden. So war die damalige Situation. Und hätte ich einen Bruder gehabt, wäre mein Leben anders verlaufen. Aber ich war das einzige Kind meines Vaters und der letzte Namensträger. Einen anderen Gesellschafter, der das Unternehmen als offene Handelsgesellschaft hätte führen können, gab es auch nicht. Und dann hat man es halt versucht mit diesem jungen Mädchen von 27 Jahren. Wie wurde das bei den Mitarbeitern aufgenommen? Hat man Ihnen das zugetraut? Die Mitarbeiter waren froh und dankbar, dass ich diese Aufgabe übernommen habe, denn sonst wäre das Unternehmen an irgendeinen Konzern verkauft worden. Sie haben mich von Beginn an immer unterstützt, auch wenn ich nicht immer für voll genommen wurde. Ist ja klar: Ich hatte keinerlei Erfahrung. Mein Vater ist mit 66 Jahren gestorben, und die verdienstvolle Führungsmannschaft von Gebrüder Weiss war so zwischen 63 und 70 Jahre alt, als mein Mann und ich begonnen haben. Wir haben als Erstes einen Generationenwechsel durchgeführt, und innerhalb von drei Jahren bestanden die

KLEINE FIRMENCHRONIK


VOM GLÜCK ZU REISEN 29

Pressekonferenz anlässlich der Eröffnung der ersten Speditionsanlage in Ungarn im Frühjahr 1990.

1474

1781

1788

1823

Der Mailänder Bote, den die Familien Spehler und Vis (Weiss) im Auftrag der Stadt Lindau in Fußach betreiben, etabliert sich durch den Ausbau des alten Weges durch die Via-MalaSchlucht.

Johann Kasimir Weiss, Mailänder Bote, wird Kompagnon in der Faktorei in Fußach, die für Zwischenlagerungen und die Kontrolle der Botendienste zuständig war.

Johann Wolfgang von Goethe nimmt auf dem Rückweg einer Italienreise die Dienste des Mailänder Boten in Anspruch.

Josef Weiss, im Alleinbesitz der Faktorei, führt die Geschäfte mit seinen Halbbrüdern unter neuem Namen weiter: Spedition Gebrüder Weiss.


30 LIEBER NACH BAUCHGEFÜHL

Führungsetagen der Niederlassungen aus lauter 40- bis 45-Jährigen. Das hat Gebrüder Weiss sehr gutgetan (lacht). Was hat Ihnen die Sicherheit gegeben, solche rigorosen Entscheidungen treffen zu können? Es war einfach notwendig. Und jeder hat verstanden, dass jemand, wenn er 68 oder 70 ist, die Niederlassungsleitung in jüngere Hände legen sollte. Natürlich war nicht jeder happy darüber, aber im Wesentlichen haben wir bei der älteren Führungsmannschaft keinen großen Widerstand gefunden, auch weil wir uns dabei immer fair verhalten

haben. Der Innovationsschub war gerade zu diesem Zeitpunkt wichtig, zum Beispiel der Aufbau direkter internationaler Lkw-Verkehre. Inwiefern hat sich Ihre Art der Führung von der Ihres Vaters unterschieden? Ich würde sagen: vollkommen. Ich bin Ende 1965 ins Unternehmen gekommen, zwei Jahre vor seinem Tod, und ich weiß, dass er damals schon müde und abgekämpft war. Er hat die Alleinverantwortung für das Unternehmen im Jahr 1921 im Alter von nur 19 Jahren übernommen. Das war eine wahnsinnig

schwierige Zeit, und er hat das großartig gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir fast kein Kapital mehr hatten, hat er dann nochmals alles wieder aufgebaut. Wir konnten eine starke Basis mit einem Niederlassungsnetz über fast ganz Österreich übernehmen. Aber er wäre nicht noch ein weiteres Mal neu durchgestartet. Hatten Sie andere Vorbilder oder moderne Theorien, an denen Sie sich orientiert haben? Ich würde eher sagen, es war Instinkt und der Versuch, es so gut wie möglich zu machen. Ich habe zwar Welthandel studiert, aber diese ganzen Managementtheorien, die waren damals noch sehr vage. Es hat halt jeder seine Stärken und seine Schwächen. Ich behaupte, meine Stärke lag in der Motivation von Mitarbeitern. Ich konnte gut mit Menschen umgehen und sie für dieses Unternehmen gewinnen. Wir hatten dementsprechend wenig Fluktuation und viele begeisterte Mitarbeiter. Dagegen habe ich mir nie eingebildet, der bessere »Spediteur« zu sein. Die Leute, die die Spedition von der Pike auf gelernt haben, die waren alle viel besser, und das habe ich auch akzeptiert. Ich habe andere Dinge gemacht. Und ich hatte in meinem Mann einen tollen Partner, mit dem ich mich sehr gut ergänzt habe. Gemeinsam haben wir meistens die richtigen Entscheidungen getroffen. Alleine hätte ich das nicht geschafft. War diese berufliche Partnerschaft für Ihr Privatleben manchmal auch belastend? Jeder von uns hat sein Ressort gehabt, für das er hauptverantwortlich war. Sowohl in der Firma als auch zu Hause. Und wir haben uns gegenseitig vertreten, wenn einer ausgefallen ist. Ich

1872

bis 1914

1921

1945

Mit der Eröffnung der Bahnlinie von Lindau nach Bludenz wird der Firmensitz von Fußach nach Bregenz verlegt.

Erste Expansionsphase: Filialen in Wien, Triest und Görz – aber auch in Venedig und Genua sowie im deutschen Lindau und in der Schweiz in Buchs, St. Margrethen und Romanshorn werden gegründet.

Ferdinand Weiss übernimmt in Zeiten der Weltwirtschaftskrise die Geschäftsführung und baut das Unternehmen aus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg muss GW neu beginnen: mit Versorgungstransporten für die Bevölkerung (Liebesgaben) und die Industrie (Marshallplanhilfe).


Im Januar 1962 feiert Ferdinand Weiss mit Tochter Heidi, Frau Gertrude und leitenden Mitarbeitern seinen 60. Geburtstag.

habe ja in den ersten Jahren drei Kinder geboren, also hing viel von meinem Mann ab. Man kann sich als Mutter nicht alleine um die Familie kümmern, wenn man gleichzeitig ein Unternehmen führt. Wir haben uns also immer gegenseitig gebraucht und gegenseitig respektiert. Mussten Sie nie Regeln für die Trennung von Beruflichem und Privatem aufstellen? Wir haben uns bemüht, in Anwesenheit der Kinder vor allem eines nicht zu tun: die Probleme der Firma besprechen. Führungskräfte beschäftigen sich wenig mit den Dingen, die gut gehen. Die nimmt man mit Freude zur Kenntnis und hakt sie ab. Dagegen beschäftigt

man sich permanent mit Problemen: »Da ist mir wieder der Kunde oder ein Partner abhandengekommen, dort hat mich die Konkurrenz unterboten, und jener Mitarbeiter hat gekündigt.« Und dann wundern sie sich, wenn die nächste Generation sagt: »Nein, also den Laden will ich nicht übernehmen.« Was würde Ihr Vater wohl sagen, wenn er heute noch mal für einen Tag hierherkäme und sehen würde, was inzwischen alles passiert ist? Na, wenn er das neue Headquarter hier sehen könnte, würde er sich sehr wundern … Ich nehme an, er würde sich wie Sie an den grünen Möbeln stören, oder?

(Lacht.) Zum Beispiel. Das Orange haben wir ja ihm zu verdanken. Das war damals eine absolute Innovation, sonst waren alle Lkw mausgrau oder schwarz. Mein Vater war der Erste, der den Mut hatte, Lkw farbig anzumalen.

ab 1950

1968

1985

1989

Expansionsphase in Österreich und erste Westeuropaverkehre.

Heidegunde und Paul SengerWeiss übernehmen die Führung des Unternehmens.

Nach 113 Jahren wird die Zentrale von Bregenz in das nahe gelegene Lauterach verlegt.

Gebrüder Weiss expandiert in die benachbarten mittel- und osteuropäischen Länder. Gleichzeitig wird in Shanghai die erste Niederlassung in Fernost gegründet.


32 LIEBER NACH BAUCHGEFÜHL

Heidegunde Senger-Weiss wurde am 20. 05. 1941 in Wien geboren. Nach Volksschule und Realgymnasium in Bregenz studierte sie an der Wiener Hochschule für Welthandel. Nach einem Speditionspraktikum in der Schweiz, in Holland und in den USA stieg sie 1965 bei Gebrüder Weiss in Wien als Assistentin des Niederlassungsleiters ein. 1968 übernahm sie gemeinsam mit Paul Senger-Weiss die Gesamtverantwortung für Gebrüder Weiss mit 1.000 Mitarbeitern in Österreich und einer Niederlassung in Hamburg. 1969 traten beide die Geschäftsleitung an. Geburt der Kinder Wolfram (1971), Elisabeth (1972) und Heinz (1974). 2005 wechselte Heidi Senger-Weiss in den Aufsichtsrat und ist derzeit Aufsichtsratsvorsitzende. Die Söhne Wolfram und Heinz sind in den Vorstand nachgerückt.

Aber war das nicht anfangs ein Versehen? Das war ja die Rostschutzfarbe.

Ja, das war die Rostschutzfarbe auf einem Lkw, der noch nicht fertig war, aber eingesetzt werden musste. Als mein Vater den gesehen hat, hat er gesagt: »Super, den sieht man ja von der Ferne schon! Diese Farbe nehmen wir für unsere Lkw.« Damit es nicht gar so krass ist, hat man zunächst die grauen Planen beibehalten und es später mit blauen Planen versucht. Aber der Lkw war immer orange. Ja, das würde ihn sicher freuen, dass wir ansonsten nach wie vor das Orange hochhalten. Gibt es umgekehrt ein Ereignis in der Firmengeschichte, bei dem Sie gerne dabei gewesen wären? Ja, da gibt es sicherlich eine ganze Reihe, beispielsweise das Jahr 1781, als mein Vorfahre Johann Kasimir Weiss eingeladen worden ist, sich an der Fußacher Faktorei zu beteiligen, einer

Vorgängerfirma der Spedition. Der Bruder des Faktoreibesitzers hatte mit einem anderen Investment Konkurs gemacht, und es wurde wohl Kapital gebraucht. So war unsere Familie dann bereits mit 50 Prozent beteiligt. Der älteste Sohn, Josef Weiss, hat dann geschickt geheiratet und wurde der Schwiegersohn seines Partners. Auf diese Art und Weise sind dann 100 Prozent bei der Familie Weiss gelandet. Das war sicher eine spannende Zeit. Und was würde die heutige Frau Senger-Weiss der Frau Senger-Weiss von 1968 raten? Ehrlich gesagt: Ich hab damals gesundheitlich gelitten. Die Verantwortung, die da über mich hereingebrochen ist, ging ein bisschen über meine Kräfte. Der Heidi Weiss von damals würde ich deshalb zu etwas mehr Gelassenheit raten. Und auch zu der Bereitschaft, anzuerkennen, dass man Fehler machen

darf. Das Wichtige ist nur, dass die Summe der Fehler deutlich kleiner ist als die Summe der richtigen Entscheidungen. Aber wenn man so neu anfängt, dann hat man eine wahnsinnige Angst davor, Fehler zu machen. Und das belastet. Haben Sie bei Ihren Entscheidungen eher auf Ihren Kopf oder eher auf Ihren Bauch vertraut? Ich bin eine Frau. Und Frauen sind stark emotional orientiert. Wenn ich gegen mein Gefühl entschieden habe, dann war das meistens falsch. Aber es gibt natürlich Menschen, die ihre Entscheidungen rein rational treffen. Das Kerngeschäft Ihrer Ahnen, der Botendienst zwischen Lindau und Mailand, war sehr strapaziös und gefährlich. Hat sich daraus ein Verhaltenskodex entwickelt? Mit Sicherheit. Unsere heutigen Werte leiten sich direkt daraus ab. Zum Bei-

2000/2001

2003/2004

2005

2008/2009

Weiss-Röhlig erweitert die Überseepräsenz um Singapur und Hongkong. In Kroatien wird eine Landesorganisation gegründet. Durch Beteiligungen an Speditionen in Rumänien und Bulgarien dehnt sich Gebrüder Weiss auf die AlpenDonau-Region aus.

Die Überseepräsenz von WeissRöhlig wird nach Nordamerika und Dubai erweitert. Gebrüder Weiss ist nun auch operativ in Serbien-Montenegro tätig.

Heidi und Paul Senger-Weiss wechseln in den Aufsichtsrat. Wolfgang Niessner als Vorstandsvorsitzender und Peter Kloiber stehen gemeinsam mit Wolfram und Heinz SengerWeiss an der Spitze des Unternehmensvorstands.

Durch Firmenübernahmen baut GW die Air & Sea-Aktivitäten weiter aus. Mit Markteintritt in Bosnien-Herzegowina und Mazedonien stärkt GW sein Netzwerk in der Balkanregion. Weiss-Röhlig eröffnet Büros in Thailand und Japan.


LIEBER NACH BAUCHGEFÜHL 33

Mit Heinz, Elisabeth und Wolfram in der Via-Mala-Schlucht – eine der gefährlichsten Passagen, die der Mailänder Bote zurücklegen musste.

spiel die Risikobereitschaft. Mein Mann und ich sind im Oktober über die Schlüsselstelle der Mailänder Botenroute gewandert, von Thusis bis hinunter nach Isola. Dazwischen liegen drei Schluchten, die Via Mala, die Rofflaschlucht und das Cardinell. Und der 2.100 Meter hohe Splügenpass. Wir haben das in drei Tagen geschafft, der Mailänder Bote hat dafür nur zweieinhalb Tage gebraucht. Dabei hatten wir nichts zu tragen, wir hatten keine Maulesel zu führen, wir hatten wunderbares Wetter. Damals war das ein enormes Risiko und eine große Verantwortung: Die Boten mussten hohe Kautionen leisten, sie hatten die volle Verantwortung für ihre Waren. Wenn der Maulesel ausgerutscht und die Ladung in die Schlucht gefallen ist, dann sind sie oft hinuntergeklettert und haben versucht, das wieder heraufzuholen. Außerdem mussten sie auch Sprachen können,

Schwyzerdütsch, Italienisch, sie mussten die Zollbestimmungen kennen, mussten geschickt sein und wissen, wie man abgefertigt wird. All das sind Dinge, mit denen wir auch heute noch konfrontiert sind. Und trotz dieser Herausforderungen ist es bereits Ihren Vorfahren gelungen, die Erben jeweils zur Nachfolge zu bewegen. Was hat die Leute damals motiviert? Der Beruf war doch auch toll! Der Bote kommt hinunter nach Mailand, der kommt in eine total andere Welt, aus diesem kleinen Dorf Fußach direkt in eine Weltstadt! Vielleicht bringt er Orangen mit, oder Seidenstoffe, er hört und sieht, was sich im Mittelmeerraum tut. Dann kehrt er zurück und erzählt am Stammtisch davon. Das ist doch hundertmal interessanter, als wenn ich meinen Bauernhof bewirtschafte und höchstens einmal eine Kuh ein neues Kalb bekommt. Nichts gegen einen Bauernhof, aber Bote zu sein war ein sehr spannender Beruf. Und diese Begeisterung für den Beruf der Mobilität hat sich fortgesetzt, die Nachkommen waren zunächst als Gehilfen dabei, später als Stellvertreter, und schließlich waren sie selbst verantwortlich. Das heißt, im Grunde war das Gewerbe immer auch ein großes Abenteuer? Ein Abenteuer auch, ja. Vor allem liegt unserer Familie aber die Freude an der Mobilität im Blut. Und dafür bedarf es auch einer Offenheit gegenüber anderen

Kulturen. Bodenständigkeit ist gut, aber ein Fuhrwerker, der sich Mobilität auf seine Fahnen geschrieben hat, der muss zugleich weltoffen sein gegenüber anderen Einflüssen, anderen Kulturen, die er dann nach Hause mitbringt und dort erzählt: »Horch einmal, ich hab was Tolles erlebt!« Wo man bereit ist, andere zu respektieren, und nicht immer nur meint, dass man selber das Allerbeste tut, entstehen positive neue Impulse. Aber das hat jetzt wieder nichts mit Tradition zu tun. Eigentlich schon. Das Gefühl einer Verortung ist mir jedenfalls sehr wichtig. Zu wissen, wo gehöre ich hin, was ist meine Heimat. Und dann kann ich auch weltoffen und innovativ sein. Schauen Sie sich die großen und erfolgreichen Familienunternehmen in Vorarlberg an, die haben alle beides: Die sind am Ort verwurzelt, und gleichzeitig sind sie überall in der Welt aktiv. Und das ist eine Gabe, die wir auch bei Gebrüder Weiss immer gehabt haben und hoffentlich auch in Zukunft immer haben werden: dass wir uns auf unsere Wurzeln besinnen und gleichzeitig die Bereitschaft haben, neue Wege zu gehen. Natürlich darf kein Experiment so risikoreich sein, dass das Unternehmen als Ganzes gefährdet wird. Aber wir sollten mutig bleiben und offen für Neues. Auch wenn nicht sicher ist, dass jedes Experiment gelingt. | FH

2011

2012

2013

2015

Das Air & Sea-Netzwerk in Südamerika wird um die Länder Argentinien, Bolivien, Paraguay und Uruguay erweitert.

Gründung eines Joint Ventures in Tiflis (Georgien). Ausbau der Präsenz in Süddeutschland und Aufnahme des operativen Geschäfts am Standort Montenegro.

Übernahme des Transportunternehmens Far Freight, Ausdehnung des Wirkungskreises weiter Richtung Zentralasien.

Gebrüder Weiss ist mit 150 Standorten in 27 Ländern vertreten. Rund 6.000 Mitarbeiter tragen zum Erfolg des Unternehmens bei.


34 ATLAS

Vergessen Sie’s!

Ohne Tradition, Erinnerung und Vergangenheitsbewusstsein wären wir nicht wir selbst. Doch auch das Vergessen ist eine wichtige Leistung unseres Gehirns.

ESSAY: Florian Aigner ILLUSTRATIONEN: Mareike Engelke

S

olomon Shereshevsky war verzweifelt. Er konnte sich problemlos lange Zahlenreihen merken und sie sogar Jahre später noch wiedergeben, doch er konnte nicht vergessen. Sosehr er es sich auch wünschte, es gelang ihm nicht, die nutzlosen Daten wieder aus seinem Gedächtnis zu vertreiben. Er schrieb die Zahlen sogar auf Papier, um sie zu verbrennen und auf diese Weise loszuwerden. Doch auch wenn die Zettel zu Asche zerfielen – die Zahlen blieben in seinem Gedächtnis eingebrannt. Während das Erinnern für Shereshevsky, einen russischen Journalisten der 1920er Jahre, etwas ganz Selbstverständliches (und gleichzeitig Belastendes) war, gibt es Menschen, deren Gedächtnis dahinschwindet, die durch degenerative Erkrankungen oder durch Unfälle ihre Erinnerung verloren haben. Für die Angehörigen ist das meist sehr bitter – denn ohne Gedächtnis ist ein Mensch nicht mehr der, der er war. Was wäre Paris ohne den Eiffelturm und frisch gebackene Baguettes? Was wäre Wien ohne Kaffeehäuser und klassische Musik? Und was wäre Tante Ulrike ohne die Geschichten, die sie erzählt, und den Hefekuchen, den sie jeden Sonntag bäckt? Egal ob wir über die Gesellschaft, über den Charakter einer Stadt oder über bestimmte Personen nachdenken – Identität hat immer mit Tradition, mit Erinnerung, mit Gedächtnis zu tun. Das kollektive Gedächtnis bringt Traditionen hervor, die eine Gesellschaft formen. Und wir selbst definieren uns durch das, woran wir uns erinnern, durch das, was wir lieber wieder vergessen, und durch das, was wir gerne wiederholen.


VERGESSEN SIE’S 35

Ein besonders bemerkenswertes Beispiel dafür, wie Gedächtnisverlust das Leben durcheinanderwirbeln kann, ist die Geschichte von Clive Wearing. Er war ein erfolgreicher britischer Musikwissenschaftler und Dirigent, er leitete einen Chor, in dem auch seine Frau Deborah sang. Doch 1985 wurde er plötzlich von einem Virus befallen, das Teile seines Gehirns zerstörte. Beschädigt wurde insbesondere der Hippocampus, eine Hirnstruktur an der Schläfe, die entscheidend daran beteiligt ist, zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis zu vermitteln. Wearing kann seither weder alte Erinnerungen abrufen noch neue Informationen im Langzeitgedächtnis abspeichern. Für ihn gibt es keine Vergangenheit und keine

»Völlig verstanden sind die Mechanismen des menschlichen Erinnerungsvermögens noch immer nicht.« Zukunft, ständig hat er das Gefühl, gerade eben aufgewacht zu sein. Er erklärt seinem Pflegepersonal, er sei nun zum ersten Mal endlich wieder bei Bewusstsein und könne wieder klar denken – und Minuten später erzählt er genau dasselbe wieder. Doch ganz verschwunden ist seine Erinnerung nicht. Zwar weiß er nicht, wo er ist, und er kann sich nicht an die Namen seiner Kinder erinnern, doch er sehnt sich nach seiner Frau, wenn sie nicht da ist, und umarmt sie innig, wenn sie ins Zimmer kommt – egal ob er sie monatelang nicht gesehen hat oder ob sie nur mal eben ein paar Minuten draußen war. Auch seine musikalischen Fähigkeiten sind zumindest teilweise geblieben. Seine Finger finden sich immer noch am Klavier zurecht, die Musik gibt ihm die zeitliche Struktur zurück, die sein Gehirn verloren hat. Die Wissenschaft hat schon viel darüber gelernt, wie es unserem Gehirn gelingt, Informationen abzuspeichern und

zu behalten – nicht zuletzt durch Untersuchungen an Gedächtniskünstlern und Menschen mit Gedächtnisstörungen. Doch völlig verstanden sind die Mechanismen des menschlichen Erinnerungsvermögens noch immer nicht. Fest steht, dass die Verschaltungen zwischen unseren Nervenzellen, die sich ständig verändern, eine entscheidende Rolle spielen. Die Neuronen in unserem Gehirn werden aktiv und können ein elektrisches Signal an viele andere Nervenzellen weiterleiten, mit denen sie verbunden sind. Ein Gedanke ist nichts anderes als ein wohlgetaktetes elektrisches Aufblitzen einer bestimmten Gruppe von Nervenzellen. Wenn Zellen oft gemeinsam aktiv sind, dann kann sich dadurch die Verbindung zwischen ihnen verstärken. Damit wird es einfacher, durch eine elektrische Aktivität der einen Zelle auch die andere Zelle zu aktivieren. So entstehen festere Verbindungen zwischen Zellen – und letztlich auch Gedankenverbindungen, Assoziationen, neu erlernte Fähigkeiten. Es gibt keine zentrale Nervenzelle, die den anderen befiehlt, was sie speichern sollen. Das Gedächtnis liegt in einem neuronalen Netz, im komplizierten System der unzähligen Verschaltungen und Verbindungen zwischen den einzelnen Zellen. Dass beim Einspeichern neuer Sinneseindrücke ins Langzeitgedächtnis bestimmte Hirnareale im Schläfenlappen eine Schlüsselrolle spielen, weiß man von Patienten wie Clive Wearing. Bestimmte Verletzungen dieser Areale führen zu Gedächtnisproblemen. Ob aber auch umgekehrt ein besonders gutes Gedächtnis eine biologische Ursache im Gehirn haben muss, ist nicht ganz geklärt. Gedächtniskünstler, die sich bei internationalen Wettbewerben Zahlenkolonnen einprägen oder die genaue Reihenfolge zufällig gemischter Kartendecks auswendig lernen, arbeiten mit Techniken, die jeder von uns lernen kann. Ein außergewöhnlich gebautes Gehirn ist dafür nicht nötig. Unser Gehirn ist normalerweise ziemlich schlecht darin, sich trockene, langweilige Daten zu merken. Spannende,


36 VERGESSEN SIE’S

»Unser Gedächtnis und alles, was wir gelernt und abgespeichert haben, macht uns zu der Person, die wir sind.«

bunte, emotionale Geschichten allerdings kann es hervorragend abspeichern. Man muss also eine Methode finden, trockene Gedächtnisinhalte in etwas umzuwandeln, womit das Gehirn gut arbeiten kann. Wenn man etwa jeder Spielkarte eine bekannte Person zuordnet und sich dann eine Geschichte ausdenkt, in der all diese Personen in der richtigen Reihenfolge vorkommen, wird es plötzlich viel einfacher, sich das Kartendeck einzuprägen. Ganz Ähnliches dürfte auch im Kopf des russischen Gedächtniskünstlers Solomon Shereshevsky vorgegangen sein, der nicht vergessen konnte. Shereshevsky war Synästhet, bei ihm waren unterschiedliche Sinneseindrücke eng verknüpft. Ein Synästhet kann beispielsweise beim Hören eines Tons auch eine Farbe wahrnehmen, oder eine Berührung kann gleichzeitig eine Geschmackswahrnehmung hervorrufen. Die Zahl Eins war für Shereshevky ein stolzer, gut gebauter Mann, die Zahl zwei eine übermütige Frau. Solche Assoziationen musste er sich nicht erarbeiten, sein Gehirn brachte sie ganz automatisch hervor. Zu beneiden war Shereshevsky allerdings nicht. Er fühlte sich von der vielen Information überwältigt und konnte zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen nicht unterscheiden. Mit metaphorischer Sprache konnte er nicht umgehen, Poesie war für ihn unverständlich. Gerne wäre er seinen Erinnerungsballast wieder losgeworden – doch man kann nicht aktiv und bewusst vergessen, so wie man aktiv und bewusst etwas auswendig lernt. Auch die Amerikanerin Jill Price empfindet ihr Gedächtnis eher als Last. Sie kann Jahrzehnte ihres Lebens lückenlos wiedergeben und weiß genau, was sie an welchem Tag gemacht hat. Sie berichtet, dass Gefühle und Stimmungen beim Erinnern wieder in der ursprünglichen Stärke zurückkehren, und beklagt, dass sie dadurch unerfreuliche Ereignisse nie wieder loswerden kann, auch wenn sie eigentlich schon längst keine Rolle mehr spielen sollten. Wenngleich wir uns oft über unser schlechtes Gedächtnis ärgern – das Vergessen ist eine wichtige Fähigkeit. Erst indem

wir manches behalten und anderes vergessen, legen wir für uns fest, was wichtig ist und was nicht. Unser Gedächtnis und alles, was wir gelernt und abgespeichert haben, macht uns zu der Person, die wir sind. Um das Leben erfolgreich bewältigen zu können, brauchen wir allerdings unbedingt auch die Fähigkeit zur Veränderung. Wir müssen Neues dazulernen und Altes vergessen. Vielleicht verhält es sich mit dem kollektiven Gedächtnis, mit unseren sozialen Konventionen, unseren Bräuchen und Traditionen ganz ähnlich. Wie unsere Erinnerungen in einem Netz aus verbundenen Nervenzellen wohnen, leben Traditionen in einem Netz aus miteinander verbundenen Menschen. Ohne Erinnerung an das Vergangene weiß man nicht, wer man ist. Doch es gehört auch zum Leben, Neues hinzuzufügen, unwichtig Gewordenes zu verwerfen, Altes zu verbessern. Die wichtigste aller Traditionen ist die ständige Veränderung.

Florian Aigner wurde 1979 geboren. Er ist promovierter Quantenphysiker und arbeitet als Wissenschaftserklärer in Wien. Neben journalistischer Arbeit widmet er seine Zeit dem Einsatz für wissenschaftlich-rationales Denken und gegen esoterischen Aberglauben.


ATLAS 37

Wider die Konvention

Rüdiger Safranski wurde 1945 geboren und studierte Philosophie, Germanistik und Geschichte. Bekannt wurde Safranski durch seine Biografien über Arthur Schopenhauer und Martin Heidegger. Im Januar 2002 übernahm er zusammen mit Peter Sloterdijk die Moderation des Philosophischen Quartetts im ZDF. Rüdiger Safranski ist als einer der profiliertesten deutschen Denker Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und des Pen-Clubs Deutschland.

Ein Gespräch mit RÜDIGER SAFRANSKI über Goethes Welterfahrungen diesseits und jenseits der Konvention Teil 1: Von Weimar in die Welt

INTERVIEW: Frank Haas

J

ohann Wolfgang von Goethe ist der wohl prominenteste Kunde in der langen Firmengeschichte von Gebrüder Weiss. Rüdiger Safranski hat mit seiner Biografie Goethe. Das Kunstwerk des Lebens nicht nur die Reisen des Dichters, sondern die gesamte Bandbreite seiner Interessen und Tätigkeiten beleuchtet und zeigt, wie der Dichter sein Leben zum Kunstwerk veredelte.

Als Goethe 1788 von einer Italienreise zurückkehrte, hat er sich in Mailand dem Lindauer Boten angeschlossen, der ihn über die Alpen führte. Auf diese Weise wurde Goethe Teil der Firmenidentität von Gebrüder Weiss. Kann man Goethe generell als mobilen Menschen bezeichnen? Ja, auf jeden Fall. Goethe ist gerne

gereist, und er ist viel gereist, weit über 10.000 Kilometer. Gemessen an der

Bewegungsform seiner Zeit war er ein Vielreisender. Seltsamerweise konnte er in den wackligen Kutschen und auf den schlechten Wegen beim Fahren lesen. Und nicht nur das, er konnte unterwegs sogar schreiben. Die Marienbader Elegien zum Beispiel hat er noch in der Kutsche entworfen, als er von Marienbad zurück nach Weimar aufbrach. Was hat ihn seinerzeit an Italien so interessiert? Italien war damals in Deutschland besonders für die Bildungsschicht das gelobte Land der Kunst – wegen der Malerei, wegen des berühmten südlichen Lichtes, aber auch der, wie man dachte, lockeren Sitten wegen. Außerdem war Italien das Land der Antike. Und unter den Gebildeten in Deutschland gab es eine große Ehrfurcht vor der antiken Kunst, der antiken Tragödie und den antiken Philosophen. Es kam


38 WIDER DIE KONVENTION

Johann Wolfgang von Goethe 28. 08.1749 Goethe wird in Frankfurt geboren. 1765 –1771 Studium der Rechtswissenschaften in Leipzig und Straßburg 1773 Mit der Veröffentlichung des Dramas Götz von Berlichingen erreicht Goethe erstmals nationale Bekanntheit. 1774 Die Leiden des jungen Werther machen den jungen Autor europaweit berühmt. ab 1775 Staatsrat in Weimar 1786 –1788 Reise nach Italien 1788 Goethe lernt Christiane Vulpius kennen. 1794 Beginn der engen Freundschaft zu Schiller 1795/96 Wilhelm Meisters Lehrjahre. Roman 1806 Hochzeit mit Christiane Vulpius 1808 Faust. Eine Tragödie. Drama 1810 Zur Farbenlehre. Wissenschaftliche Abhandlung 1816 Tod von Christiane Vulpius. 1819 West-östlicher Divan. Gedichtzyklus 1823 Reise nach Marienbad. Auf dem Rückweg schreibt der alte Goethe die berühmte Marienbader Elegie. 22. 03.1832 Goethe stirbt in Weimar.

aber noch etwas Persönliches hinzu: Sein Vater war in Italien gewesen und hatte auch ein Buch geschrieben, einen braven Reisebericht. Und dem kleinen Goethe, der alles sah, was der Vater aus Italien mitgebracht hatte, war schon früh klar, dass er auch dorthin musste. Er wollte zum Vater aufholen und gewissermaßen auf Augenhöhe mit ihm sein. Es gibt sogar ein recht bekanntes Buch von Kurt Eissler, einem Psychoanalytiker und Freud-Schüler, der für dieses Motiv noch eine zusätzliche Begründung gefunden hat: Er behauptete, dass Goethe, indem er den Vater in Italien »eingeholt« hat, überhaupt erst sexuell potent geworden sei. Aber das ist eine Spekulation, und ich halte nicht viel davon. Ich erwähne das nur, weil die ganzen Überlegungen, warum Goethe nach Italien gefahren ist, mitunter sehr skurrile Blüten getrieben haben. Die Reise nach Italien als Erfüllung eines lang gehegten Traums? Auch. Goethe entscheidet sich zudem für diese Reise in einer Krisensituation. Als er 1786 aufbrach, war er in Weimar

bereits hoch aufgestiegen, ein hoher Beamter, direkt neben dem Herzog. In diese Geschäfte war er sehr eingespannt, und er hatte Angst, seine poetische Ader könnte austrocknen. Er fährt also auch nach Italien, um sich als Künstler wiederzufinden. Wenn Sie so wollen, ist das eine wirklich existenzielle Reise, mit der er die Frage beantworten will: »Bin ich noch ein Autor, oder bin ich ein ehemaliger Autor?« Er nimmt einen Riesenstapel von Manuskripten in der Kutsche mit, um in Italien ordentlich zu schreiben und all seine angefangenen Werke endlich zu Ende zu bringen. Insofern ist es nicht einfach nur eine Vergnügungsreise, nicht einfach nur eine Reise zur Kunst, sondern auch eine Reise, um herauszubekommen, ob er noch ein Autor ist, der mit seinen Werken fertig wird. Eigentlich ein sehr moderner Gedanke: ein Sabbatical gewissermaßen. Und der Herzog hat sich sogar auf volle Lohnfortzahlung in Italien festlegen lassen, obwohl er von den Reiseplänen nicht begeistert war. Goethe


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Bis kurz vor seinem Tod besuchte und pflegte Goethe sein Gartenhaus im Park an der Ilm.

aber bleibt erst weitaus länger als ursprünglich vereinbart und will dann nach seiner Rückkehr auch noch eine Gehaltserhöhung. Lässt sich daraus ablesen, wie wichtig er am Hof in Weimar war? Goethe geht hier durchaus ein beträcht-

liches Risiko ein. Er setzt so gut wie keinen in Kenntnis von seinen Plänen, noch nicht mal seine damalige Geliebte, die Frau von Stein. Dem Herzog sagt er im allerletzten Moment, dass er Urlaub braucht und in Richtung Süden fahren möchte. Mehr nicht. Und der Herzog gewährt ihm Urlaub. Goethe fährt inkognito nach Italien, damit er nicht zurückgerufen werden kann, und will auf jeden Fall erst mal nach Rom. Von dort schreibt er dem Herzog und bittet darum, ihn nicht fallen zu lassen, auch auf die Gefahr hin, dass der Herzog sagen könnte: »So haben wir nicht gewettet.« Aber Goethe hat viel Glück gehabt im Leben, und hier eben auch. Denn wie reagiert der Herzog? Erst ärgert er sich. Aber Goethe hat vor seiner Abreise für eine Vertretung

gesorgt, und dieser Kollege, Christian Gottlob von Voigt, macht die Arbeit vortrefflich – als Amtsmensch ist Goethe nämlich gut, aber nicht unersetzlich. Das sieht auch der Herzog. Und er merkt, dass Goethe für ihn nicht nur als Amtsmensch wichtig ist, sondern als

ler. Kurzum, seine Wünsche waren erfüllt. Es wirkt so, als sei Goethe als Mensch ein Leben lang seiner ersten Italienreise treu geblieben. Hätte danach nicht ein neuer Traum an die Stelle Italiens treten können?

»Es zog ihn immer hinaus. Er kam aber auch immer gerne wieder zurück.« Persönlichkeit, als Freund. Und so kommt es bei der Rückkehr nach 18, 19 Monaten zur Halbierung der Pflichten und Verdoppelung des Gehalts. Goethe hat sich in der Zwischenzeit neu erfinden können und ist im Übrigen auch wieder davon überzeugt, dass er doch ein Autor ist und nicht nur ein Geheimrat. Einige seiner Werke, die bis dahin nur als Fragmente existierten, hat er bei dieser Reise fertiggestellt. Er hat sich verliebt und erotisch auch sonst sicher noch so einiges erlebt, er hat eine wunderbare Landschaft gesehen, er hat die Antike kennengelernt und viele Künst-

Ja, er hat lange davon gezehrt, danach aber immer wieder neue Reisen unternommen. Er ist nie nur in seinem kleinen Weimar geblieben, es zog ihn immer hinaus. Er kam aber auch immer gerne wieder zurück. Weil er sich immer wieder diese Ausbrüche erlaubt hat, war Weimar nie zu eng. Es war eine Lebenstechnik Goethes, Gegensätze in eine Balance zu bringen. Die Sesshaftigkeit und die Mobilität. Bloß nicht nur mobil, bloß nicht nur sesshaft, immer ein Wechsel. Dabei darf man nicht vergessen, dass das Reisen damals beschwerlich war. Diese Beschwerlichkeit hat


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Goethe bis ins hohe Alter auf sich genommen, er ist 1824 immerhin noch nach Marienbad gereist. Da war er schon 75, für die damalige Zeit war das uralt. Weimar war auch damals schon alles andere als eine Weltstadt. Welchen anderen Lebensmittelpunkt hätte Goethe sich vorstellen können? Mehrmals hat ihn seine Heimatstadt Frankfurt angezogen, und mehrmals hat er das letztlich ausgeschlagen. Die Frankfurter wollten ihn natürlich sehr gerne zum Ratsherrn in ihrer schönen Stadt machen. Aber Goethe wollte nicht auf diese Weise in die eigene Vergangenheit zurückkehren. Eine andere Stadt, die er sehr schätzte, war Leipzig,

auf hundertachtzig, das geht nicht. Also raus ins Gartenhaus.« War ja auch ein schönes Haus, aber eben nicht so zentral. Danach kamen die Feldzüge von 1792, wo er den Herzog in der Allianz gegen das revolutionäre Frankreich begleitet und richtig ins Kriegsgetümmel hineingerät. Als Schlachtenbummler, aber doch an vorderster Front und in gefährlichen Situationen. Dafür ist ihm der Herzog so dankbar, dass er ihm das Haus am Frauenplan zum Geschenk macht. Vor aller Augen zieht er also mit seiner Christiane wieder dort ein, mitten im Zentrum. Bis er sie dann ganz offiziell heiratet, vergehen aber noch mal etwas mehr als zehn Jahre.

»Er hat es eben vorgezogen, in einer kleinen Residenz das absolute Zentralgestirn zu sein.« als junger Mensch hatte er dort studiert. Eine prachtvolle, damals relativ junge Stadt, aufstrebend, Mittelpunkt der intellektuellen Szene, große Buchmesse. Das war schon sehr attraktiv. Und als er in Italien war, ging ihm durch den Kopf, in Rom zu bleiben. Dass er doch immer wieder nach Weimar zurückgekehrt ist, wunderte ihn selber. Aber er hat es eben vorgezogen, in einer kleinen Residenz das absolute Zentralgestirn zu sein. Und dennoch hat man ihm dort nicht verziehen, dass er sich mit der nicht standesgemäßen Christiane Vulpius eingelassen hat. Er musste vorübergehend sogar vor die Tore der Stadt ziehen. Warum hat er sich das gefallen lassen? Es wäre standesgemäß gewesen, dass der Geheimrat sich diese Frau als Mätresse hält. Aber dass er mit ihr einen Hausstand gründete, das war, gemessen an den damaligen Normen bei Hofe und im Bürgertum, absolut skandalös! Und ich finde es beeindruckend, wie Goethe sich nicht davon hat abbringen lassen. Er hat es einfach in Kauf genommen, aus dem gemieteten Haus am Frauenplan ausquartiert zu werden. Der Herzog sagte wahrscheinlich sinngemäß: »Ich habe eigentlich nichts dagegen, aber wir können das mit meinen ganzen Hofschranzen nicht machen, die sind

Als Ehepaar sind sie dennoch nie im Mittelpunkt der Weimarer Gesellschaft angekommen. Christiane Vulpius blieb immer ein wenig außen vor. Goethe hat Christiane Vulpius vor aller

Augen geliebt, aber bei Hofe war sie nicht dabei. Diese Lebensform hat er nur für sich selbst durchgesetzt. Aus dem Briefwechsel zwischen den beiden geht aber hervor, dass sie damit kein Problem hatte. Erstens liebte sie ihren Goethe, und zum Zweiten war sie erfüllt von dem, was er ihr alles gegeben hat. Und umgekehrt war sie auch für Goethe ein Glücksfall. Er fand bei ihr, was er gesucht hatte. Sie war genau der Typ, für den er sich entscheiden konnte – lebensklug, vital, hübsch, erotisch, anhänglich. Wenn man die Briefe liest, hat man den Eindruck, das war ein recht glückliches Paar, jeder hatte da so seinen Part. Und doch hat Goethe sich manchmal geärgert, zum Beispiel in der Freundschaft mit Schiller … … der ja selbst eine Adelige geheiratet hat … … und von dem er erwartet hat, dass er sich der Christiane etwas mehr annimmt. Schiller verhielt sich da aber sehr konventionell. Der nahm die Christiane kaum wahr und blieb sehr steif und zurückhaltend. Das hat Goethe nicht gefallen. Er hätte sich mehr Offensivität


Bozen Trento Torbole Malcesine Verona

MAILAND   Piacenza

Vicenza

Cento

Ferrara

Parma Modena

VENEDIG

Padua

BOLOGNA Loiano Giredo FLORENZ Civita Castellana Siena

Perugia Terni

ROM Velletri Fondi

NEAPEL

PALERMO

Messina

Alcano

Taormina

Castelvetrano Sciacca

Catania Caltanissetta

Goethes erste Italienreise.


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Christiane Vulpius mit dem gemeinsamen Sohn August nach einer Zeichnung von Goethe.

gewünscht. Die Integration von Christiane in seine Welt klappte nicht sonderlich gut. Aber was gut klappte, war die Ehe selbst und die Beziehung, die die beiden untereinander hatten. In Weimar hat diese Mesalliance sogar eine besondere kulturelle Entwicklung angestoßen. Johanna Schopenhauer zum Beispiel, die Mutter des Philosophen, hat ihren eigenen Salon gegründet und war damit nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil sie Christiane Vulpius neben Goethe mit eingeladen hat … Sie sagte: »Wenn Goethe sich dieser Frau hingibt, dann kann ich ihr doch wohl auch eine Tasse Tee spendieren.« Und lud sie ein. Blieb das eine Ausnahme – oder kann man allmählich einen generellen Wandel der Wertehaltung feststellen? Na ja, es gab vor allem einfach auch einen Gewöhnungseffekt. Außerdem war die Christiane eine sprudelnde, hochvitale Frau, die suchte sich ihren eigenen Kreis, voller Schauspieler und anderer interessanter Menschen – man könnte darüber spekulieren, ob sie Goethe immer treu geblieben ist. Das war keine Frau, die zu Hause rumsaß

und wartete. Nein, die war gesellig, präsent und wollte nicht immer nur dem Goethe nachzockeln. Die hatte ihre eigenen Leute, trank auch ordentlich und tanzte gerne. Die brauchen wir nicht rückwirkend erlösen, die hat selber schon nach dem Rechten geschaut. War das Weimar dieser Zeit auch deshalb ein gutes Biotop für Goethe, weil es zwar kulturell attraktiv, zugleich aber überschaubar war und damit einen idealen Rahmen für ein maßvolles Leben bot? Maß und Form sind sehr wichtig, ja. Ohne Maß geht es nicht, Wildwuchs war Goethe verhasst. Und zu viel Maß lässt verkümmern. Er suchte fortwährend nach Anregungen – aber bitte nie zu viel! Eine große Stadt wie Berlin oder auch Paris, wo Napoleon ihm den roten Teppich ausgerollt hätte, wäre ihm viel zu unruhig gewesen, zu hysterisch. Und Weimar war zwar klein, aber keinesfalls hinterwäldlerisch. Goethe sorgte dafür, dass da kulturell einiges geschah, aber immer so, dass er es noch im Griff haben konnte. Er wollte sich nicht überschwemmen lassen und die Dinge immer in der Balance halten. Er wusste genau, manchmal fällt ihm beim Schreiben etwas ein –

und manchmal nicht. Wenn er mit einer Sache nicht weiterkam, dann ließ er sie für eine Weile liegen, um nur nichts zu erzwingen, nicht zu verkrampfen. Er ließ die Dinge lieber kommen. Mal arbeitete er ein bisschen am Faust, mal pflegte er seine Gesteinssammlung, und dann nahm er seine Naturforschungen wieder auf oder seine Ministergeschäfte. Ständig versuchte er, alles so zu arrangieren, dass jedes gut funktionieren kann. Und abends, wenn man seine Sache gemacht hatte, kam die Erholung und man ging ins Theater. Dieser Rhythmus hat ihm ein Höchstmaß an Lebendigkeit ermöglicht. Denn Goethe war nicht nur ein Macher, er war auch ein großer Lasser. Freuen Sie sich mit uns auf die kommende Ausgabe des ATLAS und den zweiten Teil dieses Gesprächs.

Frank Haas wurde 1977 geboren und studierte Geschichte und Philosophie. Er ist verantwortlich für die Unternehmenskommunikation bei Gebrüder Weiss und Chefredakteur des ATLAS.


ATLAS 43

Der Mailänder Bote ist wieder unterwegs Vier Sonderbriefmarken zur Frühgeschichte von Gebrüder Weiss

W

enn derzeit Briefe mit dem Mailänder Boten   verschickt werden, bedeutet das nicht,   dass sie wie vor 500 Jahren mit dem Pferd unterwegs sind. Auch nicht, dass sie per Schiff über den Bodensee transportiert werden oder mit dem Säumerzug abenteuerlich über die Alpen kraxeln. Die Postanstalten aus der Schweiz, Liechtenstein, Österreich und Deutschland gedenken mit einer gemeinsamen Aktion des Mai­länder Boten, der je nach Blickwinkel auch als Lindauer oder Fußacher Bote bezeichnet wird: Vier Sonderbriefmarken zeigen vier verschiedene Motive zum historischen Kurierdienst zwischen Lindau und Mailand, aus dem Gebrüder Weiss hervorgegangen ist.


44 ATLAS

Die Walz – Tradition auf Wanderschaft TEXT: Jessica Schober FOTOS: Chiara Dazi

S

eit Jahrhunderten gehen Wandergesellen auf Tippelei. Für mindestens drei Jahre und einen Tag ziehen sie los, um sich in ihrem Handwerk weiterzubilden. In Kluft, mit Hut und Wanderstab mögen sie manchem aus der Zeit gefallen scheinen – und doch halten sie so die Tradition der Walz am Leben. Sie sind selten und doch kaum zu übersehen: Die weiten Schlaghosen, der Hut und der Stenz, ein in sich gedrehter Wanderstab, das sind die Insignien der Reisenden. Auf die Walz zu gehen bedeutet jedoch viel mehr, als sich eine Kluft anzulegen. Die alte Tradition steht für Freiheitsgeist und die Sehnsucht, aufzubrechen. Neues dazuzulernen in Handwerk, Beruf und Leben. Und reisend die Welt zu entdecken. Kein Wunder, dass diese Idee aus dem Mittelalter bis heute junge Menschen fasziniert.

Als die ersten Gesellen loszogen, war es oft große Not, die sie auf die Straße trieb. Nicht bloß Abenteuerlust. Wer seinen Meister machen wollte, musste auf Wanderschaft gehen. Im Laufe des 14. Jahrhunderts entwickelte sich das zu einem festen Bestandteil des Handwerkerlebens. Schächte wurden gegründet, die ersten Gesellenbruderschaften. Später kamen weitere Gewerke hinzu. Nicht nur Zimmermänner gehen auf Reisen, auch Bäcker, Schneider und Buchbinderinnen. Seit einigen Jahrzehnten sind auch Frauen auf der Straße. Die Walz wandelte sich stets und blieb in ihrem Kern doch gleich. Die Tradition ist haltbar. Wie in einer Frischebox überdauerte sie selbst Repressionen. Zu Zeiten des Naziregimes wanderte das Gesellenleben in den Untergrund. Einer der vielen Gründe, warum Gesellen heute streng ihre Geheimnisse hüten. Heute ist das Leben der rund 500 Reisenden und etwa 50 Frauen auf Wanderschaft – so schätzen Gesellen die Zahlen – ein anderes. Das erkennt man schon daran, dass mancher


TRADITION AUF WANDERSCHAFT 45

Sachte Erneuerung: Seit einigen Jahrzehnten gehen auch Frauen auf die Walz.

Wanderbursche einen Facebook-Account hat. Was sie jedoch nicht bei sich tragen, sind Handy oder Laptop. Weiterhin gilt die Regel: Kein Geld für Übernachtungen oder Reisen ausgeben. Das Mittel der Wahl ist das Trampen. Also Daumen raus und vertrauen haben in die Straße.

»Die Walz wandelte sich stets und blieb in ihrem Kern doch gleich. Die Tradition ist haltbar.« So steht auch Hanna Anderer heute am Autobahnzubringer. Seit die 24-jährige Schreinerin vor acht Monaten ihren Heimatort bei Karlsruhe verlassen hat, hat sie ihren Nachnamen abgelegt. Genannt wird sie nun nur noch: Hanna fremde freireisende Schreinerin. So steht es in ihrem Wanderbuch, einem dicken grauen Einband, in dem sie Arbeitszeugnisse und

Stadtsiegel von den Orten sammelt, in denen sie schon war. Von der Ostsee bis auf die Zugspitze ist sie gereist. Zu Fuß oder per Autostopp. Schlupp. Schlupp. Schlupp. So hört es sich an, wenn Hanna in ihrer braunen Cordhose mit 80-Zentimeter-Schlag vorwärts geht. Mit jedem festen Tritt schwingt der Saum über ihre ledernen Wanderstiefel. Mal singt sie ein Lied: »Heute hier, morgen dort.« Der Klassiker. »Wenn man die alten Liedtexte aus unseren Büchern singt, dann schwingt in jeder Strophe mit, wie die Wanderschaft früher einmal war, als es noch Kutschen gab und keine Autos«, sagt Hanna. Geschultert trägt sie ein Bündel mit dem Nötigsten. Charlottenburger wird das Reisegepäck genannt, das mit bedruckten Tüchern den Schlafsack, das Werkzeug und Wechselwäsche verschnürt. Ein Schlafhemd, zwei Stauden, mehr hat Hanna nicht dabei. Ein Reiseradio ist ihr einziger Luxus. Die rotblonden Haare schiebt sie unter den Hut. Unter der Krempe funkeln zwei unternehmungslustige blaue Augen hervor. »Wenn ich auf Reisen bin, lasse ich mich einfach vom Wind treiben«, sagt sie. Hält ein Auto am Straßenrand an, steigt sie ein. Manchmal hat sie unterwegs schon die Wochentage vergessen. »Es kommt, wie es kommt. Wir sind Sonntagskinder. Wir leben in den Tag hinein und vertrauen darauf, dass alles klappt.« Als gelernte Schreinerin hat Hanna unterwegs auch in einer Zimmerei gearbeitet. Hat gelernt, wie man Dachbalken zuschneidet. Und sie hat gelernt, das Heimweh zu verlernen. »Tradition kann auch bedeuten, dass man Weihnachten eben nicht mit der Familie feiert«, sagt Hanna. Statt bei Geschwistern und Eltern verbrachte sie die Feiertage mit anderen Wandergesellen. Denn sie alle dürfen sich nicht in ihrem Bannkreis aufhalten, der sich 50 Kilometer um ihren jeweiligen Heimatort zieht. Manche Gesellen, so erzählt Hanna, hätten gar »Bannkreisträume«. Sie wachten nachts schweißgebadet auf, weil sie dachten, in der Tabuzone gelandet zu sein.


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ich wollte etwas von der Welt sehen«, sagt Malte Simon heute. Deshalb tippelte er nach Thailand, Italien und in die Schweiz. Im englischen York wurden seine Steinmetzkünste gerühmt. »Steine werden dort ganz anders bearbeitet, mit einem feinen Zahneisen.« Mehr als bei jedem Praktikum habe er auf Wanderschaft gelernt, sagt der Norddeutsche. »Dafür zieht man die strengen Regeln gern durch.« Die Walz ist für Malte Simon mehr als eine berufliche Weiterbildung. Sie ist Herzensbildung. Offener und selbstsicherer sei er durch seine Wanderjahre geworden. »Man muss sich auch an schlechten Tagen selber hochraffen, da hilft einem keine Mutti«, sagt er lachend. Seinen Oberarm ziert tatsächlich ein »Mutti«-Tattoo. Wer Kluft trägt, fällt auf. Manchmal sei es lästig, ständig darauf angesprochen zu werden, meint Malte Simon. »Aber wenn du zu Hause bist, vermisst du es.« Ein reisender Zimmer-

Das Ohrloch für den traditionellen Ohrring wird mit einem Nagel gestochen.

Zurück in seinen Bannkreis darf Malte Simon inzwischen. Der 27-jährige Steinmetz war von 2009 bis 2013 auf der Walz. Aber die Tippelei lässt ihn noch lange nicht los. Inzwischen lebt er in Freiburg als einheimischer Wandergeselle. Dass er Mitglied im Schacht der rechtschaffenen Fremden Maurer und Steinhauer ist, erkennt man an seiner schwarzen Krawatte. »Ehrbarkeit« wird das Stück Stoff genannt, das Malte dreieinhalb Jahre lang um den Hals gebunden trug. Heute hängt sie im Schrank, aber noch immer zieht er gerne einmal im Monat zum Gesellentreffen seine hellgraue Kluft und das blaue Jackett an. »Ein Wandergeselle heiratet und stirbt in Kluft«, sagt Malte Simon. Ihm ist es ernst mit der Tradition. Nach seiner Lehre in einem kleinen norddeutschen Betrieb wollte er mehr über Natursteinrestauration lernen. »Und


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mann aus Nordrhein-Westfalen erzählt von einem Spruch, den ihm sein Reisekamerad mitgegeben habe: »Im ersten Jahr verzaubert dich die Kluft, im zweiten Jahr lernst du, mit der Kluft zu zaubern, und im dritten Jahr verstehst du: Es ist die Kluft, die zaubert.«

»Die Walz ist Herzensbildung.« Jedes Mal, wenn wieder ein Wagen am Straßenrand hält oder ein Passant herüberruft: »Hey, Wandergeselle!«, öffnet sich eine neue Tür. Beim Trampen nehmen die Gesellen Platz auf den Beifahrersitzen der Republik. Jede Mitfahrgelegenheit eine neue Welt. Ein neues Panoptikum. Im Porsche eines Fernsehmoderators jagte Malte Simon durchs Land, später mit dem größten Papierproduzenten des Nordens. Schreinerin Hanna saß neben Lkw-Fahrern und Erotik-Schriftstellerinnen.

Oft musste sie sagen: »Ja, ich darf wirklich drei Jahre und einen Tag lang nicht nach Hause.« Oft erntete sie Staunen. Und immer wartete das Abenteuer schon an der nächsten Straßenecke. Wie die Walz früher einmal war, was sie heute ist, das ist ständig in Bewegung. Eine Reisegeneration vergeht, und schon gilt ein anderer Schnack auf der Straße, so sagen die Gesellen. Auch Wandergeselle Malte Simon sagt: »Wenn du ein paar Jahre wieder zu Hause bist, kennt keiner auf der Straße mehr deinen Namen. Gewöhnungsbedürftig für einen Steinmetz, der immer etwas Dauerhaftes erschaffen will, mal keine Fußspuren zu hinterlassen.« Schreinerin Hanna hingegen fühlt sich als Teil einer langen Geschichte: »Es ist cool, dass eine Tradition wie die Walz sich so lange hält und lebendig bleibt. Und dass wir heute aus den gleichen Gründen losziehen wie die Wandergesellen vor 800 Jahren: die Welt sehen, das Handwerk verbessern und als erwachsener Mensch zurückkehren.«

KLEINES WALZLEXIKON

Bannkreis. 50-Kilometer-Radius um den Heimatort, den Wandergesellen für drei Jahre und einen Tag nicht betreten dürfen.

Ehrbarkeit. Krawatte, die durch ihre Farbe die Zugehörigkeit zum Schacht anzeigt. Kluft. Traditionelle Kleidung, bestehend aus Schlaghose, Weste, Jackett. Dazu tragen Wandergesellen ein Staudenhemd, einen Hut und den Stenz. Schacht. Sechs Schächte, zum Beispiel die Freien Vogtländer Deutschlands oder die Rolandsbrüder, sind auf der Straße zu treffen. Außerdem gibt es die freireisenden Wandergesellen, die sich keinem Schacht zuschreiben und keine Ehrbarkeit einbinden. Stenz. Wanderstock aus Holz, der von einer Schlingpflanze, typischerweise dem Geißblatt, umrankt ist und dadurch seine spiralförmige Form erhält. Unter Wandergesellen heißt es: »Einen Stenz findest du nicht, der Stenz findet dich.«


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Auf der Wortwalz – Reporterin unterwegs

U

nsere Autorin Jessica Schober hat sich im Sommer 2014 auf Wanderschaft begeben. Sie ging auf »Wortwalz« und besuchte Lokalredaktionen im ganzen Land. Dabei hielt sie sich an die Regeln der traditionellen Walz, verzichtete auf Handy und Laptop. Sie trampte, schlief mal im Wald, mal unter der Brücke, mal bei Kollegen auf der Couch. Auf ihrer Reise begegnete sie immer wieder Wandergesellen, die ihr einen Einblick in ihre Welt gewährten.

Loderndes Lagerfeuer, knackende Äste. Wir sitzen im Kreis, ich starre in die Flammen. Es ist ein warmer Sommerabend in der Nähe von Lübeck, und ein langer Arbeitstag auf der Baustelle liegt hinter uns allen. Um mich herum sitzen nur Menschen in Kluft. Sie sprechen ihre eigene Sprache, das Rottwelsch, sie haben ihre eigenen Erkennungszeichen. Ich hingegen sitze hier in meinem blau karierten Hemd und staune. Ich bin zu Gast auf der Sommerbaustelle der freireisenden Wandergesellen. Einem Treffen, bei dem sich rund 50 Wandergesellen für ein soziales Projekt engagieren, um sich für die Hilfe aus der Bevölkerung zu bedanken. Dieses Jahr ist es ein Bauspielplatz für schwer erziehbare Kinder, auf dem sie ehrenamtlich arbeiten. Dass ich überhaupt hier sitzen darf, macht mich wundern. Denn ich bin keine Handwerkerin. Ich bin reisende Reporterin. Und ich bin »Kuhkopp«, wie Wandergesellen all jene nennen, die keine zünftig Reisenden sind. Als Journalistin habe ich mich auf den Weg gemacht, die Welt der Walz kennenzulernen. Ich reise durch Lokalredaktionen und biete meine Arbeit an, ich will etwas über mein Handwerk lernen. Dass ich diese Reise »Wortwalz« nenne und darüber blogge, finden nicht alle Wandergesellen gut. Sie hüten und pflegen ihre Tradition. Und sie verteidigen sie. Schließlich hat nur deshalb der alte Brauch all die Jahrhunderte seit dem Spätmittelalter überlebt, weil ein kleiner Zirkel seine Geheimnisse zu schützen wusste. Und doch erlebe ich hier etwas ganz Besonderes: geselliges Beisammensein, Kameradschaft und Freundschaft unter Menschen, die alle heimatlos sind. Für drei Jahre und einen Tag nicht nach Hause zu dürfen ist eine so lange Zeit, wie sie

sich die meisten Menschen wohl kaum vorstellen können. Auch ich wollte auf meiner Wortwalz ursprünglich bloß drei Monate und einen Tag unterwegs sei. Doch die Reise ging weiter. Zum Schluss aber lerne ich das »Tippeln«, wie Wandergesellen das Reisen nennen, so schätzen, dass ich das Bleiben tatsächlich ein wenig verlernte. Auf meinen Stationen durch den Lokaljournalismus habe ich in vielen Redaktionen gearbeitet. Tatsächlich klappte das Wortwalz-Prinzip wunderbar: Ich klopfte unangekündigt an die Tür und sprach um Arbeit vor. Irgendwo fand ich Unterschlupf, arbeitete eine Woche oder zwei in der Redaktion mit und zog dann weiter. Beruflich lernte ich in dieser Zeit viel dazu über Recherchemöglichkeiten, Redaktionssysteme und über den Lokaljournalismus an sich. Doch vor allem menschlich beeindruckte mich diese Reise. Wie offen und hilfsbereit sich meine Landsleute zeigten. Und wie wenig man im Leben braucht. Zum Ende meiner Wortwalz zog ich schließlich mehrere Wochen mit einer Schreinerin durch die Gegend. Täglich geschahen absurd schöne Dinge. Eine Frau kam auf uns zugerannt und rief: »Brauchen Sie Brot?« Man lud uns zum Essen und zur Übernachtung ein, nahm uns beim Trampen an der Autobahn mit und schenkte uns ein prächtiges Stückchen Walnussholz. Wenn wir dann singend die Landstraße entlanggingen, war ich froh, mich auf diese Reise begeben zu haben. Ich fühlte mich wie aus der Zeit gefallen. Seitdem denke ich nun an jedem Lagerfeuer, an dem ich sitze, an meine Tage mit den Reisenden. Und ich erinnere mich gern an den Satz, den mir eine Wandergesellin auf der Bäckerwalz mitgab und der wohl auch fürs weitere Leben gelten darf: Walz ist, was du draus machst.

Jessica Schober arbeitet als freie Journalistin in München. Sie schreibt für Magazine und Zeitungen, gibt Seminare und ist als Referentin in der politischen Bildung aktiv. Sie hat Politikwissenschaft, Soziologie und Journalismus studiert und die Deutsche Journalistenschule besucht. Hier hat Jessica Schober über ihre Reise gebloggt: www.wortwalz.de


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ch habe versucht zu recherchieren, welche Länder in ihrer Tourismuswerbung Wert auf die Feststellung legen, dass sie sich »zwischen Tradition und Moderne« befinden. Nach China, der Schweiz, Japan, Äthiopien, Indien, dem Oman, der Mongolei und Sri Lanka habe ich aufgehört zu zählen. Interessant ist die Tatsache, dass selbst stark verfeindete Staaten wie Israel und der Iran sich immerhin in der Einschätzung einig sind, dass sie sich beide »zwischen Tradition und Moderne« befinden und dass diese Eigenschaft, obwohl sie keineswegs selten ist, eine Attraktion für Touristen darstellt. Irritierend fand ich einen Artikel in der Zeitschrift Focus mit der These, sogar die Arktis sei eine Gegend »zwischen Tradition und Moderne«. Da lebt doch kaum jemand. Ganz stark, und deutlich glaubwürdiger als die Arktis, hat sich die Kulturstadt Weimar »zwischen Tradition und Moderne« verortet. Das Gleiche gilt, nach Recherchen der Zeitung Die Welt, für die südkoreanische Metropole Seoul und, laut NDR , für Braunschweig. Auf der Website Frankfurt.de wird darauf hingewiesen, dass der Stadttteil Kalbach-Riedberg »zwischen Tradition und Moderne« liege. Kalbach-Riedberg ist das Braunschweig von Frankfurt. Nicht nur Orte und Länder, auch Kulturtechniken und Berufe können sich in der dicht besiedelten Zone zwischen Tradition und Moderne ihren Platz suchen. Bleiben wir in Frankfurt: Laut Frankfurter Neuer Presse ist der Steinmetz ein Beruf zwischen Tradition und Moderne. Ähnliches gilt, nach anderen Quellen, für den Sattler, die Hausärzte und die Frauen in Dubai. Erstaunlicherweise liegt sogar die relativ junge Kunstform Poetry Slam »zwischen Tradition

Viel los im Zwischenraum HARALD MARTENSTEIN

über eine Formulierung, die Platz für fast alles lässt

Harald Martenstein ist Autor der Kolumne »Martenstein« im ZEITmagazin und Redakteur beim Berliner Tagesspiegel. Zuletzt ist von ihm Die neuen Leiden des Alten M. erschienen.

und Moderne«, das findet zumindest der Rapper Sulaiman Masomi in einem Buch zu diesem Thema. Kann man den Abstand zwischen Tradition und Moderne eigentlich essen, obwohl es, streng genommen, ein Vakuum ist? Ohne weiteres. Der Hessische Rundfunk strahlte am 21. 11. 2014 einen Fernsehbeitrag mit dem Titel aus: Plätzchen – ein Weihnachtsgebäck zwischen Tradition und Moderne. Unter dem Aspekt der Geschlechtergerechtigkeit ist hervorzuheben, dass es zwischen Tradition und Moderne trotz des lebhaften Andrangs genug Platz gibt für beide, Männer und Frauen. Ina Harder, die Frontfrau der Beueler Weiberfastnacht, wagt, laut Bonner GeneralAnzeiger, den »schwierigen Spagat zwischen Tradition und Moderne«. Genau das Gleiche tut der Politiker Michael Nötzel, der in Neubrandenburg für das Amt des Oberbürgermeisters kandidiert hat. Der Spagat ist, wie erwähnt, schwierig – seine Familie gibt ihm dabei viel Kraft. Es ist nicht verwunderlich, dass auch im Wirtschaftsleben in der Zone zwischen Tradition und Moderne ein reges Treiben herrscht. Unternehmen, die nach eigener Einschätzung oder nach Ansicht der Fachpresse zwischen Tradition und Moderne tätig sind, heißen unter anderem Ray-Ban (Brillen), Leica (Kameras) und Gaggenau (Küchen), nicht zu vergessen die Tischlerei Büttner in Hartmannsdorf. Es fällt auf, dass auch diese Firmen dabei in der Regel einen »Spagat« ausführen, obwohl man sich in komplizierten Geschäftsverhandlungen weiß Gott bequemere Positionen vorstellen kann. Als Journalist glaube ich übrigens, dass die Formulierung »zwischen Tradition und Moderne« den Zenit ihrer Originalität mittlerweile überschritten hat.


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Was wir übernehmen und weitergeben

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o seltsam es klingen mag: Die längste Zeit auf der Erde hat es uns nicht gegeben. Die meisten Dinge, die passiert sind, haben ohne uns stattgefunden, und wir haben zwar davon gehört, können uns aber nicht daran erinnern. Weil wir es nicht selbst erlebt haben. Vieles, was passiert, wiederholt sich aber, bestimmte Anlässe laufen immer wieder ähnlich ab: Wir feiern den Beginn des neuen Jahrs, wir begehen Geburtstage und Weihnachten auf eine ganz bestimmte Art. Das war schon vor langer Zeit so und wird wohl auch so bleiben. In regelmäßigen Abständen werden die Olympischen Spiele oder Weltmeisterschaften veranstaltet, und selbst im Alltag gibt es Erlebnisse, die wir auf die immer glei-

che Art und Weise tun, über Jahre oder Jahrzehnte hinweg: Oft fangen unsere Tage auf dieselbe Art an, und auch wenn wir ins Bett gehen, ähnelt ein Abend meist dem anderen. Etwas, das immer wiederkehrt, verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart und mit der Zukunft. Wir tun Dinge, die bereits unsere Großeltern so getan haben, und begründen Gewohnheiten, die möglicherweise eines Tages von unseren Kindern oder sogar noch von deren Kindern übernommen werden, wenn wir selbst schon längst wieder von der Erde verschwunden sind. Ist das nicht beruhigend?


Die Gewinner werden postalisch oder per E-Mail benachrichtigt und erhalten die Gewinne bis Ende September 2015. Gebrüder-Weiss-Mitarbeiterinnen Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Teilnahme eilnahme von Gebrüder Gebrüder-WeissMitarbeiterinnen und -Mitarbeitern aus rechtlichen Gründen nicht gestattet. Der Rechtsweg echtsweg ist ausgeschlossen. Die Gewinne sind nicht in bar ablösbar.

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Kennst Du einen Menschen, der sehr viel älter ist als Du? Dann unterhaltet Euch einmal darüber, welche Traditionen er oder sie kennt, die Du ebenfalls pflegst – so oder so ähnlich. Sicher hat sich sehr vieles geändert, seit diese Person so jung war wie Du. Aber vielleicht ist einiges auch geblieben, wie es damals schon war. Schicke uns ein Foto, von Dir und jemandem, der sehr viel älter ist als Du, bis zum 31. August 2015 an: redaktion@gw-atlas.com oder in einem Umschlag: Gebrüder Weiss GmbH | Redaktion Atlas Bundesstraße 110 | A-6923 Lauterach, Österreich

Wir freuen uns auf viele Bilder. Mit etwas Glück gewinnst Du eins von drei LEGO City Paketen mit Lkw und Gabelstapler.


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Matterhorn ahoi! Seit Jahrhunderten träumen Visionäre von einer Wasserstraße über die Alpenkette. Der jüngste Vorschlag führt untendurch.

TEXT: Till Hein

D

ie Wucht der Alpen ist atemberaubend. »Alle Kräfte der Natur – wilde Stürme, Erdbeben und der Zusammenprall der Eisberge – genügen nicht, um ein adäquates Abbild wiederzugeben«, notiert der amerikanische Geistliche George Cheever Mitte des 19. Jahrhunderts auf einer Reise durch die Schweiz. Pietro Caminada aber traut sich bereits wenige Jahrzehnte später zu, diese Urkräfte zu überwinden. Mit Schiffen. Er plant eine Wasserstraße über die Alpenkette. Caminada ist kein weltfremder Romantiker. Er gehört zu den führenden Ingenieuren seiner Zeit. Und er kennt sich aus in den Bergen. 1862 wurde er in Vrin, einem Dorf im Schweizer Kanton Graubünden, geboren. Um Wirtschaft und Handel in dieser einst armen Region anzukurbeln, schwebt ihm ein durchgängiger Wasserweg von der Nordsee bis zum Mittelmeer vor. Doch ist eine Schiffsroute über die Alpen technisch möglich?

»Seine Technologie erinnert an das Rohr einer Wasserleitung im Gebirge.« Das Universalgenie Leonardo da Vinci forschte bereits im 15. Jahrhundert an Methoden, um Wasser über Stock und Stein an jene Orte fließen zu lassen, wo es die Landwirtschaft benötigte – auch gegen die Schwerkraft. Allerdings nicht über Hunderte Meter hohe Felswände, wie es Caminada 1907 für seinen Alpenkanal am Splügenpass vorschlägt. Im 17. Jahrhundert träumten niederländische Kaufleute vom Bau eines »Transhelvetischen Kanals«, der durch die Mittelgebirgslandschaft zwischen Alpen und Jura verlaufen und Rhein und Rhône miteinander verbinden sollte. Über diese Abkürzung wollte man das Mittelmeer erreichen, um

von dort aus weiter nach Indien zu segeln. Das erschien günstiger als die klassische Atlantik-Route, auf der Piraten und Freibeuter ihr Unwesen trieben – ließ sich aber technisch nicht realisieren. Auch die Idee eines Schiffskanals über die Alpen selbst formuliert Pietro Caminada nicht als Erster: Die Habsburger wollten bereits rund 200 Jahre früher eine Wasserstraße zwischen Wien und Mailand erschaffen. Doch wie die gewaltigen Steigungen am Malojapass überwinden? Mit Hilfe von Zugpferden ließen sich Schiffe nur kurze Strecken bergauf treideln. Erneut fand kein Ingenieur eine Lösung. Anders Caminada: Seine Technologie erinnert an das Rohr einer Wasserleitung im Gebirge, das sich vom Hauptreservoir über Berghänge und Hügel bis zu einer Ortschaft im Tal hinabschlängelt. Solche Röhren – von viel größerem Durchmesser – will er einsetzen, um mit 50 Meter langen Schiffen,


Seine Idee – hier als beschauliche Zeichnung – konstruierte Caminada auch als Modell im Maßstab 1 : 10.

die Lasten von bis zu 500 Tonnen tragen, die Höhendifferenz von fast einem Kilometer zu meistern. Die Kanalröhre ist in Hunderte länglicher Doppelkammerschleusen gegliedert. Soll ein Schiff den Berg hochgehievt werden, fährt es in die unterste Schleuse ein, und ihr Tor schließt sich hinter ihm. Lässt man dann Wasser in die Schleuse ein, sammelt es sich zunächst an der tiefsten Stelle, hinter dem Schiff. Durch das Ansteigen des Wasserdrucks wird der Kahn vorwärts- und dadurch aufwärtsgeschoben, bis er das Niveau der nächsten Schleuse erreicht, die als direkte Fortsetzung der Röhre anschließt. Um das Wasser optimal zu nutzen, sollen jeweils zwei Schiffe gleichzeitig geschleust werden: eines bergauf, das andere bergab. Das Prinzip ist simpel: Während etwa in der linken Schleusenkammer die Wassersäule sinkt und Schiff A talwärts gleitet, wird das abgelassene Wasser in die rechte Kammer gepumpt, sodass Schiff B den Berg hochgedrückt

wird, von Schleuse zu Schleuse, bis auf rund 1.200 Meter Höhe, wo der Alpenkamm am Splügen nur noch wenige Kilometer breit ist. Dort will Caminada schließlich einen Tunnel durch den Fels treiben, durch den die Frachter zwischen Nordund Südseite der Alpen verkehren sollen.


über ihn, »ein Feuerkopf mit Haar bis auf die Schultern«. Doch im August 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Und für die Machthaber in Rom, die dem Projekt das größte Interesse entgegengebracht haben, stehen nun militärische Eroberungen im Vordergrund.

»Mit dem Schwarzen Meer und dem Suezkanal will er den AlpenWassertunnel vernetzen.«

Mit Hilfe von zahlreichen Schleusen wollte Caminada die Schwerkraft überlisten.

Im frühen 20. Jahrhundert spielt die Binnenschifffahrt beim Gütertransport noch eine zentrale Rolle. Gerade im Alpenraum ist das Straßennetz erst schwach ausgebaut, und Lastkähne sind ökonomischer als die Eisenbahn. Die Leipziger Weltrundschau schwärmt denn auch von Caminadas Kanal, der »an den Abhängen der Berge emporklettert«. Auch die New York Times widmet dem »Waterway across the Alps« einen langen Artikel. Und am 3. Januar 1908 empfängt seine Majestät König Vittorio Emanuele III . von Italien Caminada im Quirinalspalast in Rom zu einer Privataudienz, um sich das Projekt erörtern zu lassen. »Wenn ich schon längst vergessen sein werde«, sagt der Monarch nach der Präsentation, »wird man immer noch von Ihnen reden.« Ausgerechnet in Caminadas Heimatkanton Graubünden, wo er weite Teile des Kanals realisieren will, überwiegt hingegen die Skepsis. Der Ingenieur kämpft für seine Idee. Jahrelang feilt er weiter an den Plänen und leistet Überzeugungsarbeit bei Politikern. »Ein brennender Vesuv«, schreibt das Bündner Tagblatt

Nach Kriegsende arbeitet Caminada sein Konzept in Italien weiter aus. 1923 will er nach Graubünden fahren, um die Bedingungen für einen baldigen Baubeginn zu prüfen. Er kann die Reise jedoch nicht mehr antreten: Am 20. Januar 1923 stirbt Caminada im Alter von 60 Jahren in Rom. Das Konzept für seinen Kanal ist an technischen Hochschulen damals fester Bestandteil des Lehrplans. Doch mit der Zeit wird die Autolobby immer mächtiger, und sein Projekt gerät weitgehend in Vergessenheit. Dennoch könnte ein Alpenwasserweg nun – fast 100 Jahre nach Caminadas Tod –Realität werden. Zumindest wenn Albert Mairhofer aus Gsies in Südtirol recht behält. Der Wasserkraft-Aktivist und pensionierte Staatsbeamte hat sich von Caminada inspirieren lassen. »Sehr beeindruckend!«, schwärmt er von dessen Entwürfen, »aber etwas zu kompliziert.« Mairhofers eigener Vorschlag kommt denn auch ohne Schleusen aus: Statt über die Alpenketten will er untendurch. Er plant einen 88 Kilometer langen Tunnel für den Schiffsverkehr, der östlich von Innsbruck, auf 550 Metern Höhe, durch den Alpenkamm führt: bis nach Gargazon im Etschtal. Er hat errechnet, dass sich eine Million Liter Treibstoff und 2.700 Tonnen CO 2 pro Tag einsparen lassen, wenn am Brenner künftig vermehrt Schiffe statt Autos verkehren. Im Frühling 2013 hat Mairhofer das Projekt bei der Europäischen Kommission in Brüssel zur Förderung eingereicht. Und er denkt bereits weiter: Auch mit dem Schwarzen Meer und dem Suezkanal will er den Alpen-Wassertunnel vernetzen. Eine verrückte Idee – aber kühne Pläne haben bei der Alpenquerung Tradition.

Till Hein, geboren 1969, ist freier Wissenschaftsjournalist in Berlin. Er schreibt u. a. für NZZ am Sonntag, ZEIT, mare, Süddeutsche Zeitung, Spiegel WISSEN und GEO. Im be.bra Verlag hat er den Unterhaltungsroman Der Kreuzberg ruft! – Gratwanderungen durch Berlin veröffentlicht.


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Auf den Spuren der Geschichte Daniel Breimaier ist Disponent bei Gebrüder Weiss und Schatzsucher aus Leidenschaft

TEXT: Judith Pichler

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ein ältester Schatz stammt aus der Zeit von Marc Aurel. »Ein As aus dem 2. Jahrhundert nach Christus«, sagt Daniel Breimaier und nimmt die Münze aus der Sammelbox. Jahrhundertealte Warenplomben, Schmuck, aber auch Münzen jüngeren Datums zählen zu seinen Funden. Der GW -Disponent geht seit etwa zwei Jahren auf Schatzsuche. Wie man auf so etwas kommt? »Indiana Jones natürlich«, meint er. Wöchentlich verbringt der Familienvater aus Wangen im Allgäu fünf bis sechs Stunden auf Äckern und Weinbergen in Bayern und sucht mit Metalldetektor und Spaten nach vergessenen Schätzen. Öffentlich registrieren müssen sich Schatzsucher nicht, daher kann man ihre Zahl nur schätzen. Allein in Deutschland sind es zwischen 10.000 und 80.000. Vielen Schatzsuchern ginge es nur darum, mit den Metalldetektoren etwas Kleingeld zu verdienen. Und tatsächlich finden sich unter den obersten Erdschichten immer wieder Euromünzen. Doch für Daniel Breimaier steht nicht der Verdienst im Vordergrund. Es ist die Geschichte, die ihn bewegt. Allerdings: »Auf historisch bekannten Wegen und Feldern würde ich niemals ohne Erlaubnis suchen. Denn wird der Fund laienhaft aus dem Kontext gerissen, ist der Schaden für den Archäologen groß. Er kann nicht mehr einordnen, welchem historischen Zusammenhang das Fundstück entstammt. »Geschichte gehört uns allen und muss von Profis überliefert werden. Nur so können wir aus den Fehlern lernen, die uns Menschen immer wieder passieren.« Für Daniel Breimaier ist es selbstverständlich, dass er seine eine Funde der Behörde meldet. Regelmäßig schreibt er eine E-Mail Mail an das zuständige Amt, gibt Datum, Beschreibung, Bilder und Koordinaten durch. »Das, was archäologisch bisher

nicht erfasst ist, nehmen sie in ihre Aufzeichnungen und Archive auf. Den Rest behalte ich«, freut er sich. Einige seiner Funde sind eng mit dem Transportwesen verbunden. Als Mitarbeiter in einem Speditionsbetrieb interessieren ihn die Spuren der Handelsgeschichte ganz besonders. »Es sind vor allem die vielen alten Zoll- und Warenplomben aus dem 16. oder 17. Jahrhundert, an denen man die Bedeutung der süddeutschen Region für den Handel erkennt«, sagt er. Auf der Vorder- und Rückseite der Plombe wurden jeweils Stempel eingedrückt, welche die Herkunft bezeugten sowie den Versand der Ware und ihren Eingang beim Empfänger bestätigten. Und auch wenn er gerne einmal bei einer professionellen archäologischen Grabung dabei wäre – ein Grab möchte Daniel Breimaier nicht öffnen. »Ich bin gläubig und abergläubisch und möchte nicht den Zorn eines keltischen Kriegers auf mich ziehen«, erklärt er. Aber eine Goldmünze zu finden – das wäre das Höchste.

Judith Pichler, geboren 1981, ist promovierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin und Project Manager Corporate Communications bei Gebrüder Weiss.


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»Nirgendwo schläft man besser« Unterwegs auf der weltweit längsten Eisenbahnstrecke

TEXT: Wlada Kolosowa

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FOTOS: Olga Matweewa

ie Russische Eisenbahn ist ein Land im Land. Eine   vakuumverpackte Welt, abgeschnitten von Alltags-  sorgen.   Die Uhren ticken anders hier, der Maßstab dafür, was im Leben wichtig ist, verschiebt sich. Das Visum für dieses Land auf Rädern ist ein Bahnticket. Wer besonders weite Strecken vor sich hat, zieht auch mal für eine Woche hier ein: wohnt hier, schläft hier, liest Bücher, starrt aus dem Fenster, trinkt Tee, trinkt Schnaps, spielt Schach, selten Gitarre. Wie ein Spinnennetz durchziehen die Schienen Russland. Durch Zeit- und Klimazonen hindurch rollen Wagen voll aneinandergereihter Zimmer. Ein »Coupé« ist ein etwa vier Quadratmeter großer Raum mit einem kleinen Tischchen und vier Kojen – zwei oben, zwei unten. Passagiere der ersten Klas-


ATLAS 57

Der Bahnhof von Novosibirsk liegt ungefähr auf der Hälfte der 13.000 km langen Strecke zwischen Irkutsk und Adler.

se haben meist nur einen Nachbarn im Zugzimmer. In der dritten Klasse, dem »Platzkart«, gibt es fünf Reisegefährten – und keine Schiebetür, die den Schlafraum vom Durchgang trennt. Das kann laut werden. Und trotzdem: Nirgendwo auf der Welt schläft man besser und länger als in russischen Schlafwagen. Im Sommer mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren – ein Traum für viele Reisende. Für Polina Konowalowa: ein Job. Im Winter studiert die Zwanzigjährige Zollwesen an der Staatlichen Universität für Verkehrswesen in Irkutsk. Von Anfang Mai bis Ende September fährt sie Zug, von Berufs wegen. Polina ist Schaffnerin. Zum zweiten Mal ist sie dabei. In diesem Sommer ist »Irkutsk–Adler« ihre Strecke, ungefähr vom Baikalsee bis zum Schwarzen Meer und wieder zurück, insgesamt zehn Tage. Pro Fahrt ziehen 13.000 Kilometer an Polina vorbei: die Taiga, die Wiesen, ein grüner Ozean. Nur auf dem Meer kann man sonst so weit fahren und scheinbar immer noch am gleichen Ort sein. Ab und an wird das Endlosgrün von Häuschen mit Holzrüschen unterbrochen, und von Städten, deren Namen Ausländer höchstens einmal im Lonely Planet gelesen haben: Omsk,

Nowosibirsk, Taiga, Krasnojarsk. »Ich kenne nur die Bahnhöfe«, sagt Konowalowa. »Aber die kenne ich gut.« Die Halte sind zu kurz, um in die Stadt zu gehen. Das Schwarze Meer an der Endstation sieht sie meist nur aus dem Zugfenster. Es gibt so viel zu tun, dass die Zeit höchstens reicht, um Lebensmittel für den Rückweg zu kaufen. Den Zug aufräumen, Tickets kontrollieren, Snacks verkaufen und nach dem Rechten schauen – das sind ihre Aufgaben. Während ihrer Schicht regiert Konowalowa über einen »Coupé«-Wagen mit 34 Liegeplätzen oder über einen offenen »Platzkart«-Wagen mit 54 Passagieren. Eine Herrscherin, die selbst die Toiletten putzen muss. »Das beste Mittel gegen Müdigkeit«, sagt sie und lächelt ihr ernstes Lächeln. Zwölf Stunden dauert eine Schicht, danach gibt es zwölf Stunden Pause – die Polina meistens im Schaffnerzimmer verbringt, das sie sich mit einem Kommilitonen teilt. Dort quatschen sie, kochen Hirsebrei in der Mikrowelle und braten Sonnenblumenkerne. Auch wenn das Ganze keine Spazierfahrt sei, Spaß habe sie oft. Nachdem Konowalowa geschlafen, die Uniform in Ordnung gebracht und gegessen hat, bleibt manchmal Zeit, die Schaffner in anderen Abteilen zu


besuchen. Man sitzt zusammen, spricht über den Tag, trinkt. Tee natürlich. »Alkohol und Rauchen sind tabu. Und wir halten uns dran«, sagt Polina. »Man kann keinen Mist bauen: Man repräsentiert seine Universität.« Da es auf vielen Teilen der Strecke keinen Telefonempfang gibt, verabredet man sich

per »Kette«: eine Art stille Post, die von Wagen zu Wagen, von Schaffner zu Schaffner geht und nur drei Minuten braucht, um den Zug zu durchqueren. Auch mit Passagieren kommt sie öfter ins Reden: »Das gehört zu unserem Job.« Mit einer älteren Frau, die sie im Zug

TRANSSIBIRISCHE EISENBAHN Die Hauptstrecke der Transsibirischen Eisenbahn durchquert sieben Zeitzonen. Reisende sollten daher unbedingt zwei Uhren dabeihaben: Abfahrtszeiten werden immer in Moskauer Zeit angegeben, an den Bahnhöfen wird aber die Ortszeit angezeigt. Kirow RUSSLAND

Perm

Tjumen

Nischni Nowgorod

Moskau

Wladimir

Ekaterinburg

Omsk

Nowosibirsk

Krasnsojarsk

KASACHSTAN MONGOLEI

SCHWARZES MEER

Adler GEORGIEN

KASPISCHES MEER USBEKISTAN

KIRGISISTAN

CHINA

1892 LÄNGSTE BAHNSTRECKE DER WELT:

9.298 km Irkutsk

UKRAINE

GRÜNDUNGSJAHR DES KOMITEES DER SIBIRISCHEN EISENBAHN:

DURCHSCHNITTLICHE GESCHWINDIGKEIT:

58 km/h VERHÄLTNIS DER STRECKE ZWISCHEN EUROPÄISCHEM UND ASIATISCHEM KONTINENT:

1 : 4


Tage und Landschaften ziehen vorüber, wenn der Zug Russland von West nach Ost durchquert.

kennengelernt hat, hält sie immer noch Kontakt. Wenn sie nach Hause kommt, warten oft Freundschaftsanfragen in VKontakte, dem russischen Facebook. »Viele lesen das Namensschild und schauen dann nach.« Einmal hat sie einen Wagen voller Soldaten betreut, die unbedingt ihre Handynummer haben wollten. »Schreibt mir lieber Briefe«, winkte sie ab. Und tatsächlich: Einige Wochen später landeten sechs Briefe in ihrem Briefkasten. Das Schaffnerprogramm hat in Russland Tradition: »Sogar unser Rektor ist mitgefahren«, erzählt Polina. Allein von Polinas Universität nehmen 600 Studenten teil. Wer mitmachen will, muss einen dreimonatigen Kurs absolvieren, sechs Stunden täglich, sechs Tage die Woche, mit Fächern wie Psychologie und technischem Service. Ausländer mit bunten Riesenrucksäcken erzählen ihr manchmal, wie malerisch sie die Transsib finden. Die geschwungenen Teegläser. Die weiten Strecken. All die Schattierungen des Grüns: vom staubigen Stadtrasen-Grün bis zum Apfelkaugummi-Grün der Waldwiesen, so satt und unnatürlich, dass es fast die Zähne schmerzen lässt. Weltenbummler bekommen leuchtende Augen, wenn sie hören, dass die gesamte Transsibirische Eisenbahn 9.298 Kilometer abdeckt – ungefähr doppelt so viel wie die Strecke zwischen den Küsten der USA . Sie beneiden Polina dafür, dass sie in einem Som-

mer genug Kilometer zurücklegt, um zweimal die Erde zu umrunden. Polina selbst findet die Transsib nicht ganz so romantisch: »Beim ersten Mal habe ich noch aus dem Fenster geguckt«, sagt sie. »Aber für Russen ist der Zug eher ein Mittel zum Zweck, als dass der Weg das Ziel wäre.« Nach zehn Tagen Fahrt bleibt Polina für zehn Tage in Irkutsk, bevor sie wieder in den Zug steigt. Pro Sommer bekommt sie etwa 1.500 Euro. »Wer besonders viel fährt, kann auch mal 2.500 Euro verdienen«, sagt sie. Aber sie will auch ein bisschen was vom Sommer haben. In der Sonne liegen und sie nicht nur an sich vorbeiziehen lassen. Baden. Irgendwohin fahren und anhalten, wenn sie es will. Ob sie sich vorstellen kann, irgendwann die Transsib zum Spaß zu fahren? »Eines Tages schon«, sagt sie. »Aber zuerst will ich ans Meer. Und am allerliebsten: einen Europa-Trip machen.«

Wlada Kolosowa kam 1987 in St. Petersburg zur Welt und wuchs in Deutschland auf. Erst nach ihrem Studium von Publizistik und Psychologie in Berlin erwachte das Interesse an Russland, über das sie mittlerweile viel geschrieben hat, siehe S. 22.


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Wie die Feste fallen Wenn das Leben ein langer, ruhiger Fluss ist, so sind es Traditionen und Rituale, die ihm Glanzlichter aufsetzen. Neben markanten Stationen im Leben eines Menschen wie Geburt, Hochzeit und Tod bietet der Jahreskreis dafür eine Fülle von Anlässen. Mit anderen Worten: Gefeiert wird immer – und überall auf eigene Weise. Wir haben Mitarbeiter des Unternehmens gefragt, welche Traditionen sie mit ihren Familien pflegen. Und wer auf der Suche nach neuem Brauchtum ist, wird vielleicht eine Seite weiter schon fündig.

TUBA ÜȘÜMÜȘ, GW ISTANBUL

HA PHAN, WR VIETNAM

In der vietnamesischen Kultur ist das wichtigste Fest das Neujahr (genannt Tet). In meinen Kindheitserinnerungen ist es verknüpft mit schulfreien Tagen, neuer Kleidung, gutem Essen und Geldgeschenken in roten Briefumschlägen. Im Erwachsenenalter bedeutet es, mit der Familie zusammen zu sein und unseren Vorfahren Liebe und Respekt zu erweisen. Es geht jetzt mehr um das Spirituelle.

Mir macht es große Freude, all meine freie Zeit mit meinem Sohn zu verbringen. Jeden Monat gehen wir zum »KARAGÖZ Traditional Theatre«. Der Inhaber dieses Theaters gibt sich große Mühe, alte Traditionen zu erhalten. Es handelt sich um ein Schattenspiel, das auf den Bewegungen von Menschen, Tieren, oder Objekten basiert – damals ist es über Migranten nach Anatolien gekommen. Der Name leitet sich von dem der Hauptfigur, Karagöz, ab. Für uns ist es eine ganz besondere Tradition, das Schattenspiel zu besuchen.

ERWIN FIDLER, GW MARIA LANZENDORF

Traditionen sind wichtig, solange sie nicht in Geschäftemacherei ausarten. Familie, Freunde und auch Kolleginnen und Kollegen sind mir wichtig, und ich versuche hier die Traditionen auch zu leben. Ich halte mich zwar an so Tage wie Muttertag, Vatertag, Valentinstag etc., glaube aber, dass man lieber mal zwischendurch seinen Lieben mehr Aufmerksamkeit schenken sollte oder vielleicht einfach nur mal »Danke« sagen sollte.

ORAZ MALIKGULYYEV, FAR FREIGHT

In Turkmenistan sind die Familien ziemlich groß, und es gibt starke traditionelle Bindungen zur Verwandtschaft und zu Familientraditionen. In meinem Land respektiert und folgt man einigen Werten und Gebräuchen über Jahrhunderte. Zu den wichtigsten Werten für die Turkmenen zählen Liebe und Freundschaft, und sie versuchen immer, freundschaftliche Beziehungen zu ihren Nachbarn zu halten. Man sagt: »Ist dein Nachbar glücklich, wirst du es auch sein.«


WIE DIE FESTE FALLEN 61

VIARA NAIDENOVA, GW SOFIA

ELVIRA KARAMEHMEDOVIC, GW MARIA LANZENDORF

Traditionen erzählen uns Geschichten über die Personen, die sie pflegen: wer sie sind, woher sie kommen und welche Werte für sie wichtig sind. Zu meinen gelebten und geliebten Traditionen gehören Weihnachten und die großen Familientreffen, die mehrmals jährlich in Bosnien stattfinden. In Österreich, seit Jahren meine Wahlheimat, sind auch das Martini-Fest (ja, auch wegen der Gans!) und das gemeinsame Kochen mit Freunden zu Traditionen geworden.

Meiner Familie ist das Abendessen am 24. Dezember heilig. Es besteht traditionellerweise aus sieben, neun oder elf vegetarischen Gerichten. Dabei ist das Brot am wichtigsten – ein rundes Ritualbrot, das mit seinen Verzierungen den Stall darstellt, in dem Christus geboren wurde. Traditionellerweise stecken in dem Brot Münzen und andere Glücksbringer. Die Glücksbringer sind aus natürlichen Materialien und haben allesamt eine symbolische Bedeutung. Wenn wir nach einem ganzen Tag Kochen dann endlich um den Tisch sitzen, spricht meine Mutter ein Gebet. Dann schenkt mein Vater heißen Rakia aus (ein traditioneller Schnaps). Jeder muss jedes Gericht probieren, und am Ende des Abends sind wir alle pappsatt.

NORBERT BLENK, GW ALTENRHEIN

SONJA DIMOSKA, GW SKOPJE

Jährlich am Palmsonntag ist es in meiner Familie ein Brauchtum, in den Kirchen Palmzweige und immergrüne Gewächse, wie beispielsweise Ligusterzweige, zu weihen. Kommt ein schlimmes Unwetter auf, ist es bei den Bauern ein alter Brauch, einen solchen Zweig im Kachelofen oder Zusatzherd zu verheizen. Dies soll als Schutz vor Blitzschlag und anderen Katastrophen dienen, sozusagen um Haus, Hof und Stall vor Unheil zu schützen.

Das Färben von Ostereiern ist eine unserer ältesten Familientraditionen. Am Gründonnerstag bemalen und verzieren wir die Eier, wobei die ersten vor Sonnenaufgang bemalt werden müssen. Dies ist die ehrenvolle Aufgabe der ältesten »Herrin« des Hauses, die von Mutter zu Tochter weitergegeben wird. Mit dem ersten Ei malt man den Kindern ein symbolisches Kreuz aufs Gesicht. Babys werden sogar zu ihrem ersten Osterfest mit diesem Ei gebadet. Ihm wird eine schützenden Wirkung zugesprochen, und man verwahrt es bis zum nächsten Ostern an einem speziellen Ort im Haus. Glauben Sie mir, es wird nicht schlecht. Schließlich wurde es vor Sonnenaufgang bemalt.


ALASKA In Fairbanks findet von 12 Uhr mittags bis Mitternacht das »Midnight Sun Festival« statt. Höhepunkt des Programms ist die »Eskimo-Olympiade« mit Disziplinen wie »Ohrenzupfen« und »Knöchelhüpfen«.

ENGLAND Die antike Stätte Stonehenge wurde schon ca. 2500 Jahre vor Christus zur Bestimmung der Sonnenwenden benutzt. Der Eingang der Stätte zeigt genau in die Richtung, in der zur Sommersonnenwende die Sonne aufgeht. Heute versammeln sich jährlich mehr als zehntausend Menschen dort, um diesen Moment mit Musik, Tanz und Feuer die ganze Nacht zu feiern.

FINNLAND

LITAUEN In Litauen glaubt man, dass in der kürzesten Nacht des Jahres die Tiere sprechen können. Man feiert in bunten Trachten und mit eigens für diesen Anlass gebrautem Bier.

Die meisten Finnen fahren aufs Land und feiern mit Freunden und Familie in mit Blumen und Birkenzweigen geschmückten Sommerhäusern. Selbstverständlich gehören auch Saunagänge zum Fest, außerdem fällt nach altem Glauben die Ernte umso reicher aus, je mehr man an »Juhannus« trinkt.

RUSSLAND In St. Petersburg werden die »Weißen Nächte« gefeiert, die gesamte Stadt verwandelt sich in ein riesiges Volksfest. Die Abiturienten werden am 21. Juni entlassen und feiern in gecharterten Booten traditionell mit purpurnen Segeln die ganze Nacht auf der Newa.

»Here comes the sun!«* D

ie Sommersonnenwende am 21. Juni wird seit jeher als mystische Zeit verstanden, die an vielen Orten der Welt von weltlichem und religiösem Brauchtum begleitet wird. Seit dem Mittelalter steht häufig der Geburtstag von Johannes dem Täufer am 24. Juni im Zentrum der Feierlichkeiten, zu denen fast überall offene Feuer gehören, die dem Sonnenlicht Beistand leisten und das Unglück vertreiben sollen. Vor allem in Skandinavien und im Baltikum spielen * Das berühmte Lied schrieb übrigens George Harrison zu Frühlingsbeginn im Garten von Eric Clapton.

die Feste zu Ehren des heiligen Johannes eine wichtige Rolle, aber auch in den Alpenländern sind weit leuchtende Feuer in den Bergen und Tälern verbreitet – 2010 hat die UNESCO diese Bergfeuer sogar zum immateriellen kulturellen Erbe Österreichs erklärt. Und wenngleich sich das regionale Brauchtum zur Sommersonnwende zumindest in Europa ähnelt, unterscheiden sich die Traditionen doch im Detail. Wir haben etwas genauer hingesehen.


CHINA In der südwestchinesischen Stadt Yulin wird »Xiazhi« gefeiert, zu dem traditionell Hundefleisch in allen Variationen angeboten wird: gegrillt, gekocht oder in der Suppe. In Beijing isst man zur Sommersonnwende dagegen in kaltes Wasser eingelegte Nudeln, da die langen und glatten Teigstücke als Symbol für Reibungslosigkeit gelten und Glück bringen sollen.

BRASILIEN In Brasilien fällt der Johannistag zeitlich mit der Maisernte zusammen. Zu Ehren des São João werden daher zahlreiche Maisgerichte gereicht (Kuchen, Puddings, Suppen und Maiskolben), die über dem Johannisfeuer gegrillt wurden. Frauen tragen gerne bunte, weite Kleider, die Männer karierte Hemden und Strohhüte.

BOLIVIEN Für die indigenen Amaya beginnt mit der Sonnenwende ein neues Jahr. Es werden Feuer entfacht, auf denen Opfergaben, zum Beispiel ungeborene Lamas, dargebracht werden. Nach der hellen Nacht wird die aufgehende Sonne mit erhobenen Händen begrüßt.

TIROL NORWEGEN In der Nacht zum Johannistag werden in Gedenken an »Jonsok« Fackeln und größere Feuer entzündet, Kinder spielen eine traditionelle norwegische Hochzeit nach. Junge Mädchen pflücken sieben Blumensorten und legen sie unters Kopfkissen, um von ihrem zukünftigen Ehemann zu träumen.

In Erinnerung an das HerzJesu-Gelöbnis von 1796, mit dem die Tiroler Landesstände göttlichen Beistand gegen die Truppen Napoleons erbaten, wurden die Sonnwendfeuer in Herz-Jesu-Feuer umgedeutet. Oft werden diese in Form von Herzen, Kreuzen oder den Zeichen Christi angeordnet und am Samstag oder Sonntag nach dem Herz-Jesu-Fest entfacht.

SCHWEDEN Zu »Midsommar« tanzen die Schweden im Kreis um einen geschmückten Baumstamm, viele tragen dabei ihre Trachten und Kränze aus Blumen oder Birkenzweigen. Zum Festessen werden die ersten Jungkartoffeln zusammen mit Hering, Sauerrahm, Schnittlauch, Knäckebrot und Käse serviert.

FÄRÖER Auf den Färöern wurde 1925 die Jóansøka etabliert, ein Sportfest, in dessen Rahmen jährlich die Regatta um die Meisterschaft im färöischen Rudersport ausgetragen wird. Neben dem Ruderwettbewerb gibt es Fußball, Radrennen und Wettlaufen.

SPANIEN In der Nacht von »San Juan« wird nicht geschlafen, stattdessen versammeln sich viele Spanier am Feuer, um den Sieg des Lichts über die Dunkelheit zu feiern. Häufig trifft man sich am Strand, um dort um Mitternacht ins Wasser zu springen und Feuerwerkskörper zu zünden.


Universum in der Nussschale Wo Modellbau vom wahren Leben erz채hlt



66 MINIATUR WUNDERLAND

TEXT UND FOTOS: Miriam Holzapfel

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s war das kleine Modell einer Lok, das seinerzeit Wirkung entfaltete und Johann Wolfgang von Goethe dazu bewegte, sich zum Ende seines Lebens hin doch noch mit Eisenbahnen zu befassen. Diesem ganz neuen Verkehrsmittel stand er eigentlich höchst skeptisch gegenüber: »Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen«, so schreibt Johann Wolfgang von Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahre über das »überhandnehmende Maschinenwesen« in Gestalt der ersten Züge, kurz vor Beginn des Eisenbahnzeitalters. Die Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie auf dem europäischen Festland 1835 von Nürnberg nach Fürth erlebte der Dichterfürst jedoch nicht mehr. Aber dank Freunden aus England, dem Mutterland der Eisenbahn, konnte er eine Miniaturausgabe der damals schnellsten Dampflok »The Rocket« sein Eigen nennen.

Was für Goethe und das Maschinenwesen galt, trifft bis heute zu: Nicht selten erschließt sich die Wirklichkeit besonders gut über ein Modell – etwas im Kleinformat zu betrachten, das im Original unüberschaubar und unbeherrschbar sein mag, ist faszinierend und gelegentlich bestechend. Dennoch gilt der Modellbau so manchem nicht nur als traditionelle, sondern auch als leicht verstaubte und langweilige Freizeitbeschäftigung von Eigenbrötlern. Wenn sich überhaupt jemand dafür interessiert, so meint man, dann einige wenige Männer. Kein Wunder also, dass zunächst niemand an den Erfolg von Frederik und Gerrit Braun glauben wollte, als diese planten, in Hamburg die größte Modelleisenbahn der Welt zu bauen. Dass sich die breite Masse für Miniaturdarstellungen dieser Art begeistern würde, konnte man sich im Jahr 2000, als die Idee geboren wurde, einfach nicht vorstellen. Für die Zwillinge Braun war diese Skepsis ein Ansporn. In 600.000 Arbeitsstunden entstand in einem denkmalgeschützten Bau in der

Wie im echten Leben – es läuft nicht immer alles nach Plan.



68 MINIATUR WUNDERLAND

Ständig ein Auge auf alles: Wer die verstärkten Trittstellen kennt, kann die fehlerhaften Abläufe in der Anlage korrigieren.

Hamburger Speicherstadt eine Welt im Kleinformat, in der zwar auch Züge fahren, wo aber noch viel mehr passiert: »Unser Wunsch war es, eine Welt zu bauen, die gleichermaßen Männer, Frauen und Kinder zum Träumen und Staunen animiert«, schildert Gerrit Braun. Und das ist gelungen: Die tatsächlich größte Modelleisenbahn der Welt erstreckt sich mittlerweile schon über 1.300 Quadratmeter, im Dezember 2012 wurde der 10.000.000ste Besucher empfangen. Große Liebe zum kleinen Detail Indes: Size doesn’t matter. Es ist nicht nur die schiere Größe, mit der sich das Miniatur Wunderland von herkömmlichen Modellbauanlagen unterscheidet. Vielmehr liegt die wahre Besonderheit in der irrwitzigen Liebe zum Detail. Jeder der acht Abschnitte (die freilich miteinander verbunden sind) wird belebt durch zahllose Miniaturen des menschlichen Miteinanders. In den Alltagsszenen wird Romantik genauso inszeniert wie Sozialkritik, existiert Freizügigkeit neben Tradition, vermischt sich Wirklichkeit mit Fantasie. Einiges ist frei erfunden (etwa ein Tunnel mit Gleisen zwischen Hamburg und den USA ), vieles aber hält einem Abgleich mit der Wirklichkeit stand: So folgen die rund 300 fahrenden Autos tatsächlich der Straßenverkehrsordnung – und wo sie zu schnell sind, werden sie geblitzt.

»Obschon Zahlen nicht entscheidend sind, sind sie doch beeindruckend.« Eine Tankstelle zeigt die realen tagesaktuellen Benzinpreise an und das Magnetsystem, mit dem die Schiffe im Skandinavien-Bereich anlegen, ist bei den echten Alsterdampfern in der Hansestadt abgeschaut. In der Schweiz spuckt eine Schokoladenfabrik essbare LindtSchokoladentäfelchen aus, und natürlich wird es auch Tag und Nacht über der Modellbauanlage – nur etwas schneller als draußen vor der Tür: Jeweils 15 Minuten dauert es von einer simulierten Morgendämmerung zur nächsten, parallel dazu gehen 335.000 Lichter dynamisch ein und aus. Und obschon Zahlen nicht entscheidend sind, sind sie doch beeindruckend: Über 900 Züge sind auf 6 km sichtbarer Strecke unterwegs – sowie auf 13 km Gleisen hinter und unter den Kulissen, wo sich neben der komplexen Technik zahlreiche Schattenstrecken und -bahnhöfe befinden. Digital gesteuert wird die Anlage von 46 Computern. 200 Kameras geben einen lückenlosen Überblick, mehrere Mitarbeiter überwachen den reibungslosen Ablauf und eilen notfalls an die Strecke, um fehlerhafte Weichenschaltungen zu korrigieren oder Staub zu entfernen. Insgesamt beschäftigt das Miniatur Wunderland mittlerweile 300 Mitarbeiter – mit einem Team von 40 Leuten wurde es einst eröffnet.

Gesammelte Weltsichten Für Anfang 2016 ist die Eröffnung des Italien-Abschnitts geplant, Frankreich und voraussichtlich England werden folgen. Wie bei den vorangegangenen Bauabschnitten bekommen die Modellbauer hierfür ein Skript und denken sich auf dieser Grundlage kleine Szenen aus, die Bauten und Landschaften beleben. Bisweilen schicken auch Besucher Ideen für Geschichten ein, die im Kleinformat erzählt werden können – so ist das Miniatur Wunderland auch ein Kaleidoskop der Weltsichten. Bauwerke wie das Kolosseum entstehen anhand von Bildvorlagen, fertige Bausätze werden nicht verwendet. An Italien wird bereits seit Mai 2013 gearbeitet, 30.000 kleine Figuren werden dort ein Zuhause finden. Insgesamt wird dieser Abschnitt wohl 120.000 Arbeitsstunden verschlingen – oder, mit Goethe: »Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam.« Aber Rom wurde ja auch nicht an einem Tag erbaut.

Miriam Holzapfel, geboren 1975, ist Kulturwissenschaftlerin und Redakteurin für den ATLAS.


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70 DIE WELT ORANGE

BREIT

HOCH

Ende Dezember fiel der Spatenstich für den Bau des Nicaragua-Kanals. Die umstrittene Wasserstraße zwischen Atlantik und Pazifik soll bei Fertigstellung 278 km lang sein und zwischen 230 und 530 Meter breit, eine Fahrt durch den Kanal soll etwa 30 Stunden dauern.

Das Viadukt von Millau in Südfrankreich, 2004 eröffnet, ist mit 270 Metern die höchste Autobahnbrücke der Welt. Die architektonische Höhe beträgt sogar 343 Meter, die Brücke ist 2.460 Meter lang.

USA Der amerikanische Markt gewinnt für GW zunehmend an Bedeutung – nach Deutschland sind die USA der zweitwichtigste Exportpartner Österreichs. Um noch stärker von den aufstrebenden Märkten zu profitieren, weitet das Team des Route Development Management sein Leistungsspektrum nun gezielt auf die USA und Brasilien aus und unterstützt die GW-Organisation bei der Akquise von Neukunden.

GEORGIEN Dem Land im Kaukasus kommt aufgrund seiner geopolitischen Lage strategisch eine immer wichtigere Bedeutung zu. Nachdem das Sendungsaufkommen sehr stark angestiegen war, entschloss sich Gebrüder Weiss, den direkten Sammelgutverkehr, der über das 2013 eröffnete Terminal in Tiflis abgewickelt wird, dreimal wöchentlich anzubieten. In Passau werden die Waren aus ganz Europa gebündelt und von dort direkt nach Tiflis geliefert und bis zum Endkunden zugestellt, ein in Europa einzigartiger Service.

SPANIEN GW transportierte 1.200 Meter Kette mit einem Gesamtgewicht von 885 Tonnen in mehreren Etappen von Bilbao nach Rotterdam, das entspricht etwa 5 JumboJets. Dazu war der Einsatz von zwei Mobilkränen mit einer Hebekraft von je 100 Tonnen notwendig. Die Ketten dienen heute der Sicherung einer Ölbohrplattform.

K ATAR Im Auftrag des Kunden Emerson brachte Gebrüder Weiss mit dem Frachtflugzeug »Antonov AN 124–100« ein komplettes Labor von der Produktionsstätte im rumänischen Cluj über Bukarest nach Katar, wo es in einer Düngemittelfabrik eingesetzt wird. Mittels Kran fand am Flughafen Bukarest der Umschlag vom Lkw auf die Ladefläche der Antonov statt, die Ladeoperation inklusive Sicherung des Transportguts nahm mehr als 10 Stunden in Anspruch.


DIE WELT ORANGE 71

LANG

LEICHT

Eine neue Bahnstrecke soll Zentralasien mit dem Persischen Golf verbinden. Die 900 km lange Strecke soll eine Verbindung für Güterzüge zwischen dem Westen Kasachstans und dem Nordiran ermöglichen. Baustart war Anfang Dezember 2014.

Die Worldwide Aeros Corporation, Kalifonien/USA , hat ein Transport-Luftschiff entwickelt, das bis zu 66 Tonnen laden kann. Ist die Finanzierung gesichert, soll »Dragon Dream« in Serie produziert werden.

RUSSLAND Nach der Übernahme von Far Freight im letzten Jahr hat Gebrüder Weiss mit der Eröffnung einer Niederlassung in Moskau Anfang des Jahres einen weiteren Schritt in die strategisch wichtige Region getan. Mit Filialen in der Moskauer Innenstadt und an zwei zentralen Flughäfen der Metropole ist das Team von GW mit dem gewohnten Leistungsumfang vertreten. Bisher sind neun Mitarbeiter für GW in Moskau tätig, bis Ende des Jahres sollen es zwanzig sein.

ÖSTERREICH Gebrüder Weiss ist seit zehn Jahren im Home Delivery Segment erfolgreich. Unter dem Namen »GW pro.line home« bietet GW in Österreich nun auch flächendeckend Endkundenbelieferung an. Dazu gehören neben der Anlieferung auch technische Information und die Entsorgung von Altgeräten. Außerdem bietet GW im Bereich eCommerce die Konzeption von Webshop-Lösungen, Zahlungs- und Retourenmanagement, Warehousing und Call Center-Services an.

VAE Weiss-Röhlig Dubai startet im April 2015 mit dem Bau einer etwa 5.000 Quadratmeter großen Logistikfläche. Das Terminal soll Ende 2015 seinen Betrieb aufnehmen. Durch die Anlage erwartet sich der Logistikexperte neue Möglichkeiten des Marktauftritts für Kunden – denn WR Dubai wird zukünftig als Logistiker umfänglich in der Freihandelszone lizenziert sein, wodurch Kunden mitunter keine eigene Präsenz in Dubai aufbauen müssen.

CHINA Erfolgreich verlief im Januar ein Testlauf für das intermodale Stückgutprodukt auf der Schiene: GW Air & Sea Hörsching und WR Shanghai organisierten für die Goweil Maschinenbau GmbH eine eilige Stückgutsendung mit der Transsib aus Ningbo/China nach Wels/Österreich. Die 950 kg schwere Ladung konnte dem Kunden in der relativ kurzen Laufzeit von 21 Tagen zugestellt werden, hohe Luftfrachtkosten konnten vermieden werden.


Der nächste ATLAS : Freiheit

Der nächste ATLAS erscheint im Herbst 2015 – wir freuen uns, dass Sie bis hierher gelesen oder zumindest geblättert haben. Noch mehr freuen wir uns, wenn Sie uns sagen, wie Ihnen dieser ATLAS gefallen hat, damit wir das, was wir tun, noch besser tun können. Schreiben Sie uns doch per E-Mail: redaktion@gw-atlas.com

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wie hast du’s mit der tradition? dem einen ist sie piepegal der andre ihr verpflichtet sie inspiriert, ist eine qual beflügelt und vernichtet wir machen das schon immer so! hinfort mit alten zöpfen! das wusste doch schon cicero! ein ringkampf in den köpfen ist tradition der zukunft quell? begrabenswertes wissen? liegt sie dem mensch im naturell? ist sie ein olles kissen? ist sie fürs morgen wie gemacht um weisheit beizumischen? die antwort liegt – wer hätt’s gedacht? – exactement dazwischen: was gut einst war, kann schlecht heut sein zwei schneiden hat das messer es klappt mal ohne sie recht fein und manchmal mit ihr besser

INGO NEUMAYER schreibt Gedichte und unterhält den Blog Zwölf Zeilen zur Zeit (www.zwoelfzeilen.com). Er lebt in Köln.


Der vierte ATLAS mit Nachrichten, Kolumnen, Interviews, vielen Bildern und der Lust, die Welt zu bewegen.


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