ATLAS 05 deutsch

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ATLAS

DIE WELT BEWEGT: DAS MAGAZIN VON GEBRÜDER WEISS

Freiheit RAINER GROOTHUIS

Manches geschaff t, vieles zu tun EVA HAMMÄCHER

Einmal ohne alles, bitte! RÜDIGER SAFRANSKI

»Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.« ENRICO RICCABONA

»Die freiesten Menschen sind oft die, die auf sehr viel verzichten können.« HARALD MARTENSTEIN

Nix Gutes ohne Risiko Außerdem: Panama, Columbia und der Land Rover der Lüfte

AUSGABE 05


2 ATLAS


»Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.« Johann Wolfgang von Goethe

Die Halbinsel Jamal ist eine stürmische Gegend ­zwischen Nordpolarmeer und sibirischer Tundra. »Jamal«, das bedeutet »Ende der Welt« in der Sprache der nomadischen Nenzen, die diese Gegend seit ­vielen Jahrhunderten besiedeln. Als eines der letzten Wandervölker Russlands treiben sie im Rhythmus des Polarjahres mit langen Wintern und kurzen Sommern ihre Tiere vor der beißenden Kälte her und ernähren sich überwiegend von Fleisch und Fisch. Wie lange sie diese Lebensform noch erhalten können, ist ungewiss: Die Folgen des Klimawandels machen die Tundra unberechenbar, zudem ­wurden auf Jamal riesige Öl- und Gasvorkommen ­entdeckt und erschlossen. Straßen, Eisenbahntrassen und Pipelines haben das Ende der Welt erreicht.


»Die kleinste Bewegung ist für die ganze Natur von Bedeutung; das ganze Meer verändert sich, wenn ein Stein hineingeworfen wird.« Blaise Pascal

Die Heimat der Bajau liegt im sogenannten Korallen­ dreieck im Malaiischen Archipel, wo das Meer flach und artenreich ist. Zwar haben viele von ihnen das Leben in Booten auf offener See inzwischen auf­ gegeben, dennoch sind die Bajau noch immer eng mit dem Wasser verbunden, das sie beheimatet und ernährt. Traditionell geht es mit Harpune, Muschelmesser und meist auch ohne Atemgerät auf der Jagd nach Nahrung in die Tiefe – als geübte Freitaucher können sie den Atem mehrere Minuten lang anhalten. Mittlerweile wohnen die Bajau überwiegend auf Stelzenhäusern oder Hausbooten, ohne Geburts­ urkunden, ohne Pässe und ohne Staatsangehörigkeit. Viele ihrer Kinder haben noch nie einen Fuß auf Festland gesetzt.


Einstieg: Fahrende VÜlker, z.B. die Bajau, Seenomaden im malaiischen Archipel, europäische Sinti, die Hadza aus dem Norden Tansanias.


4 ATLAS


»Wir   leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.« Konrad Adenauer

Die nach Schätzungen etwa 700 Hadza leben verstreut an den Ufern des Eyasi-Sees in Tansania, einem unzugänglichen und wenig fruchtbaren Gebiet von rund 1.500 Quadratkilometern. Gut ein Viertel von ihnen lebt noch heute als Jäger und Sammler. Die Hadza bauen nichts an, sie besitzen kaum etwas, sie haben kein Vieh und keine dauerhaften Unterkünfte. Sie führen keine Kriege, und sie haben kein Oberhaupt. Als einzige Volksgruppe in Tansania zahlen sie keine Steuern. Blätter und Beeren, Knollen und Früchte, dazu gelegentlich Wildfleisch und Honig – die Hadza leben von der Hand in den Mund. Dennoch ist ihre Ernährung selbst in Dürrezeiten ausgewogen und zugleich in höchstem Maße abhängig vom Erhalt ihrer Jagd- und Sammelgründe.


Rudolf Irsiegler ist seit 16 Jahren für GW Wels tätig und liebt den Blick in die Weite. In seiner Freizeit findet man ihn oft in den Bergen beim Wandern oder auf Skiern. Aber auch bei eingeschränkter Fernsicht macht Irsiegler zuverlässig einen guten Job: Ehe er in die Wechsel­aufbautenVerwaltung wechselte, fuhr er acht Jahre lang Lkw – nachts.


Wikipedia: Freiheit (lateinisch libertas) wird in der Regel verstanden als die Möglichkeit, ohne Zwang zwischen allen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. Karl Kraus: Gedanken sind zollfrei, aber man hat doch Scherereien. Abraham Lincoln: Die Welt hat nie eine gute Definition für das Wort Freiheit gefunden. En Vogue: Free your mind and the rest will follow.

F

reiheit – was sie Ihnen auch bedeuten mag, die Freiheit der Meinung, die Freiheit der ­Handlung oder des Handels, die Überwindung der Schwerkraft: Freiheit ist eine große Idee, die aus der Welt nicht wegzudenken ist. Doch gibt es ein Leben wirklich frei von Zwängen?, fragt GW-Coach Enrico Riccabona. Wo lohnt sich der Verzicht? Müssen wir immer auf dem neuesten Stand dessen sein, was in der Welt passiert? ­Goethe hatte darauf eine eindeutige Antwort, wie Rüdiger Safranski erzählt. Indes: Sich selbst oder andere zu befreien ist auch ein Wagnis. Freiheit und absolute Sicherheit sind nicht gleichzeitig zu haben, mahnt Harald Martenstein – es muss ja nicht gleich so lebensgefährlich zugehen wie beim Klettern ohne Seil. Diesen und anderen Facetten von Freiheit widmet sich die fünfte Ausgabe des ATLAS . Wir wünschen eine unterhaltsame und anregende Lektüre.

Herzlich, Gebrüder Weiss


EINGESPART

UMGESETZT

ANGERÜHRT

Benzin, das der Paketdienst UPS zwischen 2004 und 2012 gespart hat, weil bei der ­Routenberechnung das Linksabbiegen ver­ mieden wurde, in Millionen Litern:

Das Umsatzvolumen im europäischen B2C E-Commerce Markt ist im vergangenen Jahr um mehr als 14 Prozent gestiegen. Die Umsätze beliefen sich auf

Zementproduktion in den USA zwischen 1910 und 2012, in Milliarden Tonnen:

Quelle: brand eins

Quelle: GW MarketMonitor

38

423,8 Mrd. Euro

5,2

MEHR SCHIENE

Aufgrund der Bautätigkeiten in ­Österreich ist der Stromverbrauch mit 18.688.343 kWh im Vergleich zum ­Vorjahr leicht gestiegen.

Im Jahr 2014 wuchs der Marktanteil der auf Schienen beförderten Güter in der Schweiz erneut um 3,5 Prozent auf 67,3 Prozent. Auf der Straße nahm der Transportanteil um 2 Prozent ab.

37,1 %

11,8 %

51,1 %

FOSSILE ENERGIEN

2013

59,8 %

2014

ERNEUERBARE ENERGIEN

Quelle: Verkehrsrundschau

FREI FALLEN

FREI NEHMEN

41.000 m 39.000 m

1. 32

Jährlicher Urlaubsanspruch in Tagen

33

5 7,

25

/ m

h

12 USA

Schweden

18

Japan

6k

/h km

1. 3

2 ,9

Der spektakuläre Höhenrekord des Österreichers Felix Baumgartner von Oktober 2012 hielt nur zwei Jahre: Der 57-jährige Alan Eustace aus den USA sprang 2014 aus rund 41.000 Metern ab – 2000 Meter höher. Baumgartners Geschwindigkeitsrekord von 1357,6 km/h im freien Fall blieb allerdings un­ erreicht: Eustace erreichte eine Spitze von lediglich 1322,9 km/h. Sicher wieder auf der Erde gelandet sind glücklicherweise beide.

Österreich

KERNKRAFT

27,7 %

63,8 %

67,3 %

2014 12,7 %

6,2

Quelle: brand eins

GW-STROM-MIX 2014

2013

Zementproduktion in China zwischen 2010 und 2012, in Milliarden Tonnen:

AUF DEM LUFTWEG

Die Rankingliste »Freight 50« der handlungstärksten internationalen Luftfrachtlinien in 2014 nach Luftfracht­volumen in Millionen Tonnen    Federal Express

7,13

United Parcel Service

4,24

Emirates

2,29

Korean Air

1,52

5 Cathay Pacific Airways

1,50

FREI SCHWIMMEN

Die Australierin Penny Palfrey stellte im Juni 2011 einen Welt­ rekord im Langdistanzschwimmen auf. Sie schwamm im Meer ohne fremde Hilfe zwischen Little Cayman und Grand Cayman eine Strecke von

108 km

Das ist etwa die dreifache Ärmel­ kanal-Distanz.

Quelle: PricewaterhouseCoopers

UMSATZBRINGER IM BEREICH TRANSPORT UND LOGISTIK 2013 IN ÖSTERREICH (IN MRD. EURO):

2,6 Güterbeförderung im Straßenverkehr

4,1

3,6

17,5 BAUARBEITEN GESTARTET

Dienstleistungen für den Verkehr Post- und Kurierdienste Personenbeförderung im Straßenverkehr Luftfahrt

9,1

In Österreich wurde mit dem Bau des Brennerbasistunnels begonnen, der voraussichtlich weltweit längsten unterirdischen Eisenbahn­ strecke. Er soll Innsbruck mit ­Franzensfeste in Südtirol/Italien verbinden, eine Strecke von

64 km


Die Welt bewegt:

RAINER GROOTHUIS

Manches geschafft, vieles zu tun

38 »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.«

ADRIANA ALTARAS

Ein Stück Heimat

44

Nachgelesen

10

25

MARTIN K ALUZA

Brücken für den Handel

22

RÜDIGER SAFRANSKI

FRANK HA AS

Der Land Rover der Lüfte

46

MIRIAM HOLZAPFEL

Chaos auf den Routen

HARALD MARTENSTEIN

51

Nix Gutes ohne Risiko

52

26

ENRICO RICCABONA

»Die freiesten Menschen sind oft die, die auf sehr viel verzichten können.«

28

IMKE BORCHERS

Der neue Mittelpunkt

31

Berge versetzen und Grenzen verschieben

»Freiheit, die ich meine …«

EVA HAMMÄCHER 54 Einmal ohne alles, bitte! FAMILIENGEWINNSPIEL 62 Freie Wahl!

34

CARSTEN KNOP

Das Internet der Dinge kommt

36

Die Welt orange

64

ULRICH WALTER

Völlig losgelöst

66

72

Impressum


Manches geschafft, vieles zu tun Von ballernden B채ssen, Glauben und Gemeinsamkeit, Handel, Hoffnung, Freiheit und stolzen Menschen: Belgrad, die Stadt an Donau und Save, entwickelt sich zu einer kraftvollen Metropole S체deuropas




MANCHES GESCHAFFT, VIELES ZU TUN 13

Auf dem Kalenica-Markt

reportage:  Rainer Groothuis

E

s ist Sommer, die Sonne legt einen heiteren, heißen Mantel über die Stadt. Diese Jahreszeit ist das Gesamtbelgrader Happening, man trifft sich im Draußen. An den Ufern von Donau und Save, in der großen Fußgängerzone, der Knez Mihailova ulica, auf dem Kalemegdan, im Park Mali Tasmajdan. Die Alten sind ebenso dabei wie die ganz Kleinen, die Uhrzeit spielt an solchen Tagen keine Rolle. Das serbische Bier ist so vollmundig wie das Eis lecker und die Kellner aufmerksam. »Ein freundliches Wort öffnet eiserne Pforten«, sagt man in Serbien. Ab 15, 16 Uhr füllen sich die Straßencafés, alsbald sind alle Plätze besetzt. Freunde treffen sich und Paare, Familien flanieren. Alle hundert Meter findet sich ein Eis- oder Popcornwagen, Frauen verkaufen traditionelle Stickereien, Gitarren werden gespielt und Geigen, jemand offeriert die Nutzung seiner digitalen Waage für umgerechnet fünf Eurocent. Im Trubel steht einsam eine Alte. Ein Tuch liegt um ihren kleinen Vogelkopf, fällt auf den schwarzen Mantel. Ihr Gesicht erzählt von der Mühsal lebenslanger Vielarbeit, wohl auf dem Land. Ihr scheint es fremd, das Remmidemmi der neuen Zeit, der Freiheit in diesem Land, das seinen Weg noch sucht. ­Sicher fallen ihr auch einige Asiaten auf, die durch Belgrad laufen mit einer Herablassung, als gehöre ihnen Europa schon heute und als würden ihre Börsen nicht gerade mit dem Teufel tanzen. Vor den Cafés rekeln sich die Männer und schauen den Schönen hinterher, die sie mit Blicken, Gesten, Worten kommentieren, gelegentlich mit einem kleinen überheblichen Lachen unter Kumpeln. Man ist gebräunt und sportlich trai-

niert, der Viertagebart ist obligatorisch. Doch die Frauen, gerade auch die jüngeren, kennen das Spiel der Geschlechter und spielen es mit, selbstbewusst und wissend, dass letztlich sie es sind, die in Beziehung und Familie die berühmte Hose anhaben. Dass in Belgrad auf einen Mann vier Frauen kommen, erklärt, warum die Frauen, gleich welchen Alters, gepflegt, geschminkt, geschmückt sind, während die Jungen und Männer eher »lässig« daherkommen. Auch wenn über der Donau die Mücken tanzen, die Nacht klamm aus dem schwarzen Fluss kriecht: Die Jungen nutzen die Freiheit, die ihnen ihr Alter bietet, Abend für Abend, den Sommer hindurch und in den anderen Jahreszeiten kaum weniger. Die aus den Boxen der Disco-Schiffe ballernden Bässe schallen über den Fluss und mischen sich zu einem Klang­ teppich eigener, Belgrader Art. Serbien hat viel eigenes. Auch in dieser Popmusik, deren Geschichte weit zurückreicht, ­mischen sich Instrumentierungen, Melodien und Rhythmen mit denen aus älteren osmanischen Zeiten. Songs, deren ­Texte alle kennen und laut und freudig mitsingen, schon ab 23 Uhr zittert die Luft. Acapulco, Rio, Amsterdam, Zabar, Shake ’n’ Shake – die in der Donau liegenden Restaurants, Cafés, Clubs und Diskotheken tragen nicht nur vielversprechende Namen, das »Nightlife«, das sie gemeinsam zum bewegten Schwingen bringen, kann sich messen mit dem in Berlin oder Barcelona, und es scheut sich nicht, noch den nächsten Morgen mitzunehmen. Doch ist die Welt ein Stück aus den Fugen in diesem Sommer 2015. Mit sechzig Millionen Flüchtlingen weltweit ist ihre Zahl so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Tausende von ihnen landen in diesem Park an einem europäischen Hauptbahnhof. Belgrad wird zur Transitstation auf dem hoffnungsvollen Weg in die EU, die von hier nur noch 200 Kilo­ meter entfernt ist. Hier warten die Menschen auf irgendeine, ihre Chance des Weiterkommens. Den Rasen gibt es nicht mehr, die Männer, Frauen und Kinder schlafen auf der kahlen Erde, waschen sich in zwei Brunnen, müssen die viel zu wenigen Dixi-Klos nutzen. 34 Grad Tagestemperatur. Manche Gäste des Mr. President, eines »Designhotels« gleich gegenüber, schauen aus ihren Fenstern zu, als hätten sie Logenplätze gezogen für diesen Horrorfilm einer verfehlten Politik. Als kürzlich Ministerpräsident Vučić den Platz besuchte, wurde der Ort von all dem Unrat gesäubert, der sich sammelt, wenn Hunderte, zeitweise Tausende von Menschen ohne Versorgung sind. »Wir sprechen hier von verzweifelten Menschen, nicht von Kriminellen oder Terroristen«, sagte Vučić und fügte hinzu: »Serbien wird sich gegenüber den Flüchtlingen verantwortungsvoll verhalten. Serbien möchte und kann diesen guten Menschen noch mehr helfen als bisher.« Am Bahnhof stehen inzwischen Tanklastzüge mit frischem Wasser.


14  MANCHES GESCHAFFT, VIELES ZU TUN

2.000 Rettungsuchende kommen täglich. Einmal sind es fast 7.000 – »Auf der Transitstrecke sind es die Serben, die noch am anständigsten mit den Flüchtlingen umgehen«, meldet CNN. In Mazedonien werden sie verprügelt, in Bulgarien von Grenzern beraubt, in Ungarn gequält. »Belgrad, diese ohnehin immer vitaler werdende Metropole mit einer brodelnden Kultur- und Clubszene, erweist sich in diesen Tagen als eine europäische Hauptstadt des bürgerschaftlichen Engagements und der guten Verwaltung«, bestätigt Die Welt Mitte September den positiven Blick der internationalen Medien auf Stadt und Land.

SERBIEN Seit dem endgültigen Zerfall Jugoslawiens 2006 ist das Land »alleiniger Rechtsnachfolger« der im Jahr 1992 gegründeten Bundesrepublik Jugoslawien (ab 2003 Staatenunion Serbien und Montenegro). Diese wiederum war der größte Nachfolgestaat der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, die in den Kriegen der 1990er Jahre zerfiel. ungarn

kroatien

Novi Sad

rumänien

Belgrad Save

bosnien und herzegowina

Donau

serbien

Niš

montenegro

Priština kosovo

bulgarien

adria albanien

mazedonien

LANDESHAUPTSTADT

DICHTE

Belgrad

91,9 Einw. / km2

EINWOHNERZAHL

FLÄCHE

ca. 7.121.000

88.361  km2

STAATSFORM

77.474  km2

Parlamentarische ­Republik

(inkl. Kosovo)

(ohne Kosovo)

Bleiben oder gehen? Milos ist 31, seine Frau Helena 25 und Krankenschwester, Töchterchen Adriana sieben Monate alt. Milos, der einen Abschluss als Betriebsingenieur hat, gehört zu jener Generation Serbiens, die, bestens ausgebildet und gebildet, auf der Suche ist nach den angemessenen Jobs im eigenen Land – und allzu oft keinen findet. Es gibt zu wenig Arbeit für die Jungen. Viele von ihnen verlassen das Land, viele unfreiwillig. Man spricht von jährlich rund 30.000 Auswanderern unter 35 – Aderlass gerade an Hochqualifizierten. Aber was nützt sie, die »neue Freiheit, wenn du keine Arbeit hast, in einer Gesellschaft, in der so viel über Geld läuft?«, fragt Milos. Und die Selbstständigkeit? Der Weg dorthin sei für Serben immer noch ein kompliziert-bürokratischer, intransparenter. Während ausländische Unternehmen mit vielen Anreizen zum Invest gelockt würden, lege man den eigenen Landsleuten Steine in den Weg. Viele tragen ihre Ideen und Leidenschaften deswegen lieber gleich ins Ausland. Aber das hat Tradition im größten Teilstaat des ehemaligen Jugoslawien. Die zweitgrößte Stadt Serbiens ist – Chicago, wo rund eine Million Serben leben, die drittgrößte ist wohl Wien mit rund 150.000 Auslandsserben. Doch Serben lieben ihre Heimat, sie gehen nur ungern, tief sind sie gebunden an Familie und Geschichte, Kultur und Religion. Milos schwärmt vom Božić, dem orthodoxen Weihnachtsfest, das nach unserem Kalender am 7. Januar gefeiert wird. Tausende Belgrader strömen dann zur St. Sava Kathedrale, der größten orthodoxen Kirche in Europa. Sie folgen der Predigt des serbisch-ortho­ doxen Patriarchen, der kein Mikrofon braucht, so leis’ und andächtig sind die vielen auf dem Platz. Alle halten Kerzen in ihren Händen, singen gemeinsam ihre Weihnachtslieder. »Das sind tolle Stunden der Gemeinsamkeit«, sagt Milos, und man spürt, wie er in seiner Religion und seinem Glauben verwurzelt ist. 85 % der Serben bekennen sich zur Serbisch-Orthodoxen Kirche, und es wundert wenig, dass der Einfluss der konservativen Kirche in diesen als unsicher erlebten Zeiten mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit und den sich nicht verändernden Strukturen wieder wächst. In der Fremde sind die Jüngeren wehmütige Helfer der Zurückbleibenden: Die im Ausland Lebenden unterstützen ihre Familien mit rund fünf Milliarden Euro im Jahr, Geld, das diese angesichts eines Durchschnittseinkommens von rund 400 Euro gut gebrauchen können.


Basketball ist serbischer Nationalsport


16  GESTERN IN MARIENBAD


The Invisible People Doch damit sind die Serben reich gegenüber jenen, die auch in diesem Balkanstaat die ungezählt Verlorenen sind. Die An­ gaben schwanken zwischen 100.000 und 500.000 – so viele Roma sollen in Serbien leben. 80 % von ihnen haben keinen Grundschulabschluss, der Anteil der Analphabeten ist hoch, die Arbeitslosigkeit dürfte bei 70 % liegen. Die Roma sind der Bodensatz auch der serbischen Gesellschaft. Sie sind es, die mit dem Sammeln von Altpappe noch die letzten Cents aus Resten machen und mit Kabelstücken auf dem Buvlja Pijaca handeln, diesem Großbasar der untersten Zehntausend. Das Fotografieren verbietet sich in diesem Elend. »The invisible people«, nennt sie Duško, der Taxifahrer. Und tatsächlich: Obgleich wohl mindestens 30.000 von ihnen in Belgrad leben, sieht man sie kaum. Unter Brücken, in großen Sträuchersammlungen, im Irgendwo hausen sie in Verschlägen aus Holz- und Pappresten, ohne Wasser, Heizung, Strom. Hundert solcher Slums soll es in Belgrad geben. Betteln lassen die Serben nicht zu – die wenigen Roma-­ Kinder, die versuchen, Blumen zu verkaufen oder ein paar Dinar für ihr Akkordeonspiel zu bekommen, werden von den Kellnern der Cafés verscheucht wie schmutzige Katzen. Natürlich sind Roma zugelassen, wenn es darum geht, Klischees und touristische Erwartungen zu erfüllen: Mehrheitlich besetzen sie die Kapellen, die in der Skadeleska aufspielen, wo das »Original Serbian Food in Bohemian Atmosphere« geboten wird. Dabei geht es manchem Serben nicht viel besser: Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei rund 30 %. Und arbeitslos sein bedeutet arm sein, sehr arm, denn die Sozialhilfe reicht nicht annähernd zum Leben. Da gibt es keine Chance zum Kauf,

Konsum, auf Reisen und Bildung, Kultur und Teilhabe am öffentlichen Leben. Auf den Märkten und Basaren kaufen die vielen ein, die wenig haben. Man findet sie in jedem Stadtteil, die kleinen und großen Basare, die aus der osmanischen Kultur kommen. Plätze, auf denen feste, oft überdachte Stände installiert sind, an denen du fast alles kaufen kannst. Von Lebensmitteln – Obst und Gemüse im Überfluss, Fleisch und Fisch, Honig, Gewürze, Tee und vieles mehr ­– bis hin zu Schuhen und Klamotten, Putzmitteln und Hygieneartikeln, Bürsten, aus Holz selbst geschnitzte Haushaltswaren, Tand. Auch auf dem Kalenica-Markt kaufen viele, die mit wenig zurechtkommen müssen. Die Rentnerin, die sich ein paar schüttere Blumen leistet, der Abgerissene, der nach Schuhen sucht. Vor allem Ältere nutzen diese Basare, natürlich auch für ein Schwätzchen und die Begegnung mit den Nachbarn. Ost und West, West und Ost »Die Serben hätten gern das Beste von beiden«, sagt Milos verschmitzt. Und meint das Beste von Russland und der EU, denn die Russen haben dies, Europa das. Serbien ist schon seit 2011 EU -Beitrittskandiat, aber man erlebe keinen Fortgang der Beitrittsverhandlungen, der Einfluss Russlands werde wieder größer. Die Russen sind nach wie vor der wichtigste militärtechnische Partner des Landes, Serbien beteiligt sich nicht an den Sanktionen der EU gegen Russland. Russland ist auch der größte Importpartner, auf allen Märkten Belgrads lächelt Wladimir Putin von T-Shirts an den Verkaufsständen. Deutschland und Italien sind allerdings die wichtigsten Abnehmer serbischer Produkte.


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1  Liebespaar im Kalemegdan  2  Abend an der Donau  3  In den Parks wird viel Schach gespielt 4  Die »Moderne« grüßt  5  Die St. Sava Kathe­drale  6  Lebendiger Glaube  7  Proteste gegen die ­Politik von USA und EU  8  Alt und Neu ­begegnen sich  9  Blick über die Stadtautobahn

MANCHES GESCHAFFT, VIELES ZU TUN 19

»Unsere Zukunft liegt im Westen. Fragte man meine Landsleute, ob sie Russen oder West­europäer lieber mögen, würden 90 Prozent sagen: die Russen. Aber wenn es um die Gesellschaft geht, in der sie leben wollen, würden sich bis zu vier Fünftel für das westliche Modell entscheiden.«  ALEKSANDAR VUČI Ć , M I NI S T E RPRÄS I DE NT SER B I EN S

25 bewegte, 25 schlimme Jahre hat das Land hinter sich. Als die Mauern fielen zwischen West und Ost, Jugoslawien sich auflöste, die Privatisierungen begannen – schon 1992 waren zwei Drittel der Betriebe geschlossen, bis 1995 kam die Wirtschaft fast gänzlich zum Erliegen. Die Kaufkraft eines durchschnittlichen Monatseinkommens sank in jener Zeit auf einen Gegenwert von 56 DM , 80 % der Bevölkerung lebten unterhalb der Armutsgrenze. Die meisten überstanden diese Zeit mit Schmuggel, Tauschhandel, Selbstversorgung durch Kleinlandwirtschaft, das Aufbrauchen ihrer letzten Devisen­ ersparnisse und mit Unterstützung der im Ausland lebenden Familienmitglieder und Freunde. Dann wurde das Leben langsam besser: Von 2001 bis 2009 wurden rund 12 Milliarden Euro in Serbien investiert, 2010 waren bereits rund 800 Unternehmen mit ausländischer Beteiligung im Land registriert. Heute exportiert Serbien unter anderem Eisen, Stahl, Texti­ lien, Gummiprodukte, Weizen, Obst, Gemüse, Honig, Weine. Von den ganz harten Zeiten sieht man nicht mehr viel in diesen Sommertagen. Die Menschen sind angezogen wie überall auf der Welt, eingekleidet von H&M , Zara und anderen, die Märkte sind voll, die Stimmung scheint gut. Auch die Infrastruktur verbesserte sich, ohne die die Wirtschaft eines zentralen Transitlandes nicht gedeihen kann – Serbien liegt im Mittelpunkt wichtiger Routen von Ungarn beziehungsweise Ostmitteleuropa nach Griechenland, Bulgarien, Mazedonien, Albanien, in die Türkei und darüber hinaus. In den nächsten zwei Jahrzehnten werden rund 22 Milliarden Euro in die Erneuerung und Erweiterung der Verkehrswege investiert, der größte Anteil geht in den Bau von Straßen und

Autobahnen, aber auch Schienenwege, die Häfen und Flug­ häfen werden ausgebaut. Die Strecke von Požega Richtung Montenegro wird fort­ gesetzt, wodurch es einen Aufschwung für ganz Südosteuropa und auch für den Adriahafen Bar geben soll; die geplante neue Autobahn von Belgrad an die Südadria soll Teil des paneuropäischen Verkehrskorridors 10* werden. Dieser Korridor ­verläuft von Nordwest nach Südost, er verbindet Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien und Ungarn mit Griechenland und Bulgarien; die Hauptachse verläuft Salz­ burg­–Ljubljana–Zagreb–Belgrad–Niš–Skopje–Veles–Thessa­ loniki. Belgrad ist schon heute mit dem internationalen Flughafen Nikola Tesla, seinen vier Bahnhöfen (mit Verbindungen nach Bar in Montenegro, nach Istanbul und in mehrere EU-Länder, unter anderem nach Sofia und Budapest mit Kurswagen nach München, Zürich und Wien), dem ausgebauten Autobahnring und den zwei beschiffbaren Flüssen (mit der Donau gibt es eine Flussverbindung zum Schwarzen Meer) der »Hauptkommunikations- und Logistikknotenpunkt der Region« und die »Stadt der Zukunft Südeuropas«, so die Internetseite der Bel­ grader Investitionsagentur. Über den Wolken Bosko, ehemaliger Kampfpilot, fliegt mich über sein Land. Viele neue Häuser sehen wir, neue Straßen und Plätze. Er ist stolz auf sein Serbien, auf das, was in den letzten Jahren erreicht worden ist – auch wenn noch viel zu tun bleibt und der Frieden mit den Nachbarn immer wieder brüchig scheint. * Die Paneuropäischen Verkehrskorridore, diese »Helsinki-Korridore«, sind Teil des größeren ­Transeuropäischen Verkehrsnetzes (TEN) und umfassen insgesamt 48.000 Kilometer Güterverkehrsstrecken, davon 25.000 Kilometer auf der Schiene und 23.000 Kilometer auf der Straße. Flughäfen, See- und Binnenhäfen sowie große Bahnhöfe sind die Verknüpfungspunkte für die weiträumigen Verbindungen zwischen den mittel- und osteuropäischen Ländern.


»Automat Club« und einer der vielen Eisverkäufer, die bis spät in die Nacht an ihren Truhen sitzen

Ja, stolz und stur seien sie, die Serben, sagt Bosko, geprägt wohl auch durch ihren jahrhundertelangen Freiheitskampf, der sich tief in ihre kulturelle Identität eingegraben hat. Als die Osmanen im 14. Jahrhundert nach Europa zogen, widersetzten sich ihnen auch die Serben. Die legendäre Schlacht auf dem Amselfeld 1389 gab nicht nur einem der bekanntesten Rotweine seinen Namen – die Schlacht wurde ein identitätsstiftender Mythos der serbischen Geschichte, der bis in unsere Gegenwart wirkt: Serbische Nationale be­ ziehen sich noch heute auf sie. Doch 1459 war auch Serbien endgültig osmanisch besetzt und blieb es bis 1804, als der erste serbische Aufstand ausbrach, 1867 verließen die letzten osmanischen Regimenter das Land, und 1882 wurde das Königreich Serbien gegründet, nach 1918 das gemeinsame Königreich von Serben, Kroaten und Slowenen, das sich 1929 in Jugoslawien umbenannte, aber innerlich zerrissen war. Dieses Jugoslawien wollte im Zweiten Weltkrieg neutral bleiben, wurde aber 1941 von Deutschen und Italienern besetzt: Allein 20.000 Tote gab es beim Bom-

bardement Belgrads durch die Deutschen im April 1941, die sich damit einen furchtbaren Partisanenkrieg einhandelten – Tausende Serben kämpften als Partisanen mit dem späteren Staatsgründer Josep Broz Tito und der Kommunistischen ­Partei Jugoslawiens gegen die gnadenlose deutsche und ita­ lienische Okkupation. Die Partisanen konnten ihr Land im ­Ok­tober 1944 mit Hilfe der Roten Armee selbst befreien, es wurde zum sozialistischen, aber blockfreien Jugoslawien, bis 1980 von Tito geführt auf einem sozialistischen Weg ­eigener Prägung. Ja, es bleibt noch viel zu tun in diesem Land, dessen schöne Landschaften sich während des Fluges unter uns zeigen, das so friedlich da liegt und ruhig. Platz genug gibt es in Ser­ bien, wo mit rund 7,4 Millionen Menschen nicht halb so viel Menschen leben wie in Nordrhein-Westfalen, das aber mit rund 88.000 Quadratkilometern mehr als doppelt so groß ist. »City of open heart« Beograd ist eine eigentümlich interessante Schöne. In der Innenstadt stehen zwischen den verbliebenen Bauten aus


Barock und Klassizismus die Geschäftshäuser der Tito-Ära als befremdliche Zeugen jener Vergangenheit, die von dem Anything-goes seit dem Ende des Eisernen Vorhangs abgelöst wurde. Die Bauten von Gazprom, der Banken und Versicherungen, die mit viel (verspiegeltem) Glas und Stahl signali­ sieren, wer auch hier das Sagen haben will, diese austauschbare Architektur des Geldes und der Macht wird in zwanzig Jahren hinfällig sein und siech. In Novi Beograd klotzen die Wohnhäuser der Tito-Zeiten, hoch gebaut und so lang wie Straßenzüge, aus längst schmutzigem Beton, bröckelnd die Fassaden. Diese Liege- und Lebensbatterien, konzipiert nach Ideen von Le Corbusier, erinnern gnadenlos an den Versuch, einen »neuen Menschen« zu schaffen, einen Menschen, der vor allem dem Staat und der Gesellschaft verpflichtet sein sollte. Diese gemischte Architektur gibt der Stadt eine ganz ei­ gene Atmosphäre, als wäre sie ständig im Umbruch, im Aufbruch, auch das erinnert an Berlin. Dazwischen viel Grün, die Parks, in denen alte Männer Schach spielen und Kinder lachen.

Was nicht heißt, dass Belgrad leise wäre. So nehmen sich die Taxifahrer die Freiheit, die Busspuren bieten: Auf geraden Strecken steigt die Tachometernadel auf 100, 120 km/h – sind alle Fenster geöffnet, fliegen dir die Gedanken um die Ohren. Mit etwas Glück erlebst du das in einem uralten Mercedes Benz 200 mit Holzlenkrad und einer Hinterbank, die mit Resten von Stroh gefüllt scheint; es versteht sich, dass der Fahrer dabei mit dem Handy telefoniert – herzlich willkommen in der »city of open heart«.

Rainer Groothuis, geboren 1959 in Emden /Ost­ friesland, ist Gesellschafter der Kommunikations­ agentur Groothuis. www.groothuis.de Mit herzlichem Dank an Dragan Simovic, Bosko ­Todorovic und Duško Čupković.


22  ET CETERA

Ein Stück Heimat

Der »generalni direktor« Er hat in Halle an der Saale studiert – Deutsch, denn Deutschlehrer wollte er werden. Aber als er merkte, wie sehr es sich lohnte, den russischen Truppen in der damaligen DDR CD-Rekorder und anderes zu verkaufen, sattelte er um in Richtung Handel und Logistik: Heute ist Dragan Simovic Landesleiter von GW in Serbien und einer der erfolgreichsten Manager im Unternehmen. In den nun fünf Jahren seiner Geschäftsführung wuchs GW Serbien auf nahezu 26 Millionen Euro Umsatz und 160 Mitarbeiter an den Standorten Dobanovci und Strojkovce bei Leskovac, er erweiterte Kundenkreis und Radius erheblich. Nicht zu beneiden ist Ana, seine ­Assistentin, die seine Termine, Reisen, Verabredungen koordinieren soll: Der Mann tanzt wie ein Derwisch von Termin zu Termin, von Anruf zu Anruf, ­immer nach der Devise »Nur wer sich

regt, bewegt«. Dass er noch Zeit für seine studierenden Kinder und seine Frau hat, glaubt man kaum. Die Energie des Chefs scheint sich zu übertragen und die Mitarbeiter an­ zutreiben, denn in der Serbien-Zentrale von GW in Dobanovci, dreißig Kilo­ meter ­außerhalb Belgrads, herrscht die Atmosphäre eines Bienenstocks – es scheint, dass Serben Chefs mögen, wenn diese etwas reißen und die Dinge vorantreiben. »generalni direktor« steht nicht umsonst auf seinem Türschild. Er erhielt mit dem »Kapetan Miša Anastasijević«-Preis, der zur »Förderung des wirtschaftlichen Schaffens, der unternehmerischen Kultur und der so­ zialen Werte« ins Leben gerufen wurde, eine der höchsten Auszeichnungen des Landes; GW Serbien wurde bereits zweimal mit dem »Brand Leader Award« in der Kategorie Nachhaltigkeit ausgezeichnet, jüngst auch mit dem Award als »Business Partner of the Year«. Und das alles kurz nach dem 10-jährigen Jubiläum der Landesniederlassung. 2004 eröffnete der Standort in Belgrad mit nur drei Mitarbeitern, 2009 übernahm GW Serbien die Spedition Eurocargo und wuchs um einen Fernverkehrsfuhrpark, eine moderne Logistikanlage und rund 100 Mitarbeiter. Vor wenigen Wochen hat GW in Dobanovci weitere 9.000 qm Lager- und 1.300 qm Bürofläche in Betrieb genommen – die Zukunft steht auf Optimismus und Wachstum. Gebrüder Weiss D.O.O. Dobanovci Beogradska bb | 11272 Dobanovci Serbien T +381.11.3715.200 | F +381.11.3715.201 gw.serbia@gw-world.com www.gw-world.com

Das Echo des Balkankriegs auf der Opernbühne

text:  Adriana Altaras

A

ls meine Familie Kroatien ver  las sen musste, hieß es noch   Jugoslawien, und Marschall Tito war ein mächtiger Mann. Sein Bild hing groß und imposant in ­unserem ­Kindergarten, sogar in Farbe. Wir mussten ihn allmorgendlich grüßen, er grüßte nie zurück – unhöflich, dachte ich. Als er 1980 starb, wir lebten schon lange in Deutschland, war sein Staats­ begräbnis beeindruckend, imposant und von allgemeiner Trauer geprägt. Doch schon bald begannen Unruhen, und ­wenig später hatten wir in Europa einen Bruderkrieg. Meine Eltern verfolgten Tag und Nacht die Nachrichten aus dem Balkan. Meine Mutter ergriff Partei für die Serben, mein Vater für die Kroaten, meine Tante sagte, sie hasse die Kommunisten noch mehr als die Faschisten. Alle stritten sich, hüben wie drüben. Als ich ein paar Jahre später in die alte Heimat fuhr, hatte sich einiges verändert. In Sarajewo gab es mehr Friedhöfe als Kirchen und Moscheen, in


ET CETERA 23

Dorthin, dorthin würdest du mir folgen. Du folgtest mir, wenn du mich liebtest. Dort würdest du von niemandem abhängig sein, kein Offizier, dem du gehorchen musst, kein Zapfenstreich, der ertönt, um dem Liebhaber zu sagen, dass es Zeit ist zu gehen. Der Himmel offen, das Leben ungebunden, als Heimatland das Universum und als Gesetz dein Wille, und vor allem die berauschendste Sache: Die Freiheit! Die Freiheit! AUS DEM LIBRE T T O Z U »CARM E N«

­ agreb sprangen Nationalisten aus dem Z Wagen, wenn vor ihnen ein Pkw mit serbischem Nummernschild fuhr, und bei Fußballspielen kam es zu brutalen Schlägereien. Ich hatte den Eindruck, der Krieg hatte die Lage verschlimmert – aber das ist keine ganz neue Weisheit. Im Theater erzähle ich selten, dass ich aus dem Balkan komme, zu kompliziert liegen die Dinge, um sie bei einem Latte Macchiato zu erörtern. Außerdem treffen im deutschen Musiktheater – ich inszeniere Opern – derart viele Nationalitäten aufeinander, dass es müßig wäre, mit seiner speziellen Herkunft prahlen zu wollen. Was sollen die bedauernswerten Tenöre sagen? Sie kommen aus dem fernen Korea angereist, um als Almaviva bei Rossini oder als Belmonte bei Mozart zu tun, als seien sie waschechte Europäer? In den letzten zwei Jahren allerdings sind mir drei starke Frauen begegnet, als Darstellerinnen von Tosca, Carmen und Traviata, alle drei von erstaunlicher Begabung, aber vor allem von extremem

Ausdruckswillen und Freiheitsdrang. Erst nach und nach im Rückblick ging mir auf, dass alle drei Frauen aus dem Balkan kamen. Tosca ist eine eifersüchtige Frau, eine extrem eifersüchtige Frau. Mir ist das nicht fremd, im Gegenteil sogar sehr einleuchtend. Obwohl ich natürlich – wie vermutlich auch Tosca – weiß, wie dumm, unnötig, ja geradezu zerstörerisch Eifersucht ist. Also: Tosca ist eine berühmte Opernsängerin in Rom, und sie hat einen Geliebten, den Maler Cavaradossi. Ab und zu treffen sie sich heimlich, zum Tête-àtête und mehr, in seinem Landhäuschen, meist scheint der Mond dazu, so jedenfalls singen sie. Dann wird Cavaradossi von der Polizei festgenommen. Man vermutet zu Recht: Er helfe den Revolutionären. Auch unter Folter sagt er nicht aus. Der Polizeipräsident Scarpia, ein schlauer und bösartiger Jagdhund, wird sich Toscas Eifersucht zunutze machen, um das Versteck des revolutionären Anführers Angelotti zu finden.

Miri ist aus Albanien und sieht ein bisschen wie die Callas aus, ein bisschen wie die Loren. Gröbere Züge, Albanien eben. Sie ist mir sofort sympathisch, auch für sie sind Berührungsängste ein Fremdwort. In meiner Küche erklärt sie mir, was ich zu tun oder zu lassen habe, wir kennen uns gerade fünf Stunden. Als Miri acht Jahre alt ist, sterben ihre Eltern in einem Feuer. Ein Brand­ anschlag der Miliz. Sie wird von der ­Familie des Onkels aufgenommen, der in die USA emigriert, als das Mädchen keine 14 ist. Sie muss mit, aber mit 16 geht sie alleine zurück nach Europa, denn sie will Sängerin werden. Sie schlägt sich durch. Meistens als Serviermädchen oder Zimmermädchen, in Österreich hat man sich an Personal aus dem Balkan gewöhnt. Miri ist meine Tosca für die Spiel­ zeiteröffnung 2014. Sie braucht keine ausgefeilten Regieanweisungen. Ich sage das Wort »Polizeipräsident«, und sie spielt den Akt so durch. Zwischen den musikalischen


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Phrasen erkenne ich die Wut über den Schmerz, den man ihr als Kind zugefügt hat, die Demütigung, sich nicht wehren zu können. Jetzt hat sie auf der Bühne die Chance auf Freiheit, sie nimmt das Obstmesser und sticht Scarpia, den verhassten Polizeipräsidenten von Rom, nieder. »Muori dannato, muori, muori!« Stirb … sie kann es nicht oft genug ­singen. Dann springt sie, bevor man sie festnehmen kann, in den Freitod. Alma spielt die Carmen. Das ist seit langem ihr Wunsch, man hat es ihr als junge Sängerin bisher nicht zugetraut. Alma ist aus Bosnien – der Vater Kroate, die Mutter Serbin. Im Krieg kommt der Vater in Haft, wird gefoltert, die Familie beantragt Asyl und landet in Gelsenkirchen. Alma darf Nordrhein-Westfalen nicht verlassen. Wenn sie Ferien macht, nur mit der Kirchenfreizeit unter strengster Bewachung. Alma ist groß, hat lange dunkle Haare und grüne ­Augen. Sie redet nicht viel, und wenn, klingt ihre Stimme ernst und der Tonfall nach Ruhrpott. Carmen lacht den Soldaten Don José aus, der möchte nämlich, dass Carmen nur ihm gehört, nur für ihn da ist. Selbiges möchte der stolze Torero Escamillo auch. »Wer mich liebt, der kommt zu mir!«, schmettert er. Almas Augen werden zu schmalen Schlitzen, wenn man sie einengen möchte. Selbstbestimmung, sage ich, das ist das, was Carmen will. Und Alma singt Arie um Arie von dem Leben im Krieg und der Freiheit jetzt.

Zur Premiere schenkt sie mir BalkanBeat und kiloweise gegrilltes Lamm in Alufolie verpackt. Wir schlemmen, und auf den Stufen vor dem Theater ist ein Stück Heimat.

»Für jede der drei Sängerinnen ist ihr Beruf die Rettung.« Lilly ist Serbin und möchte gerne in Berlin russisch-orthodox heiraten. In ihrem Dorf war das plötzlich nicht mehr möglich, es war nach dem Krieg zu Feindesland geworden. Die Schikanen nahmen kein Ende, die Serben sollten den Ort verlassen. Wenige Kilometer weiter wurden Kroaten von Serben in ähnlicher Weise malträtiert. Es fiel Lilly schwer, das Meer zu verlassen. Sie kam ins Auffanglager Gießen. Lilly verleiht der Kurtisane Violetta große Würde. Sie macht aus ihr eine ­radikale Frau, die für ihre Liebe sehr weit zu gehen bereit ist – auch über die Grenzen der engen Konvention hinweg. Aus der Ausgestoßenen wird die mo­ ralische Siegerin. Jedes Mal, wenn Lilly »Addio del passato« singt, legt sie ihre ganze Geschichte in diese Verdi-Arie. Moral und Würde sind Lillys Themen. Das Haus von Lillys Familie steht noch immer an der kroatischen Küste. Jetzt ist es mit schweren Brettern ver­ riegelt, wie alle Häuser rechts und links davon, die Serben gehörten. Schauspieler und Sänger arbeiten immer mit ihren Erfahrungen, Emotionen, die sie in ihre Monologe und Arien einfließen lassen. Es klingt vielleicht zynisch:

Der Balkankrieg hat meinen drei Hauptdarstellerinnen eine sehr spezielle »Ausbildung« verpasst. Sie verfügen über eine schmerzhafte Vergangenheit, die sie sich nicht ausgesucht haben, über ­Erfahrungen, die in ihrem Theaterberuf nun Reichtum bedeuten. Und für jede der drei Sängerinnen ist ihr Beruf die Rettung. Nicht nur die Fremde, auch die Bühne hat ihnen Asyl geboten. Sie sind nicht mehr wehrlos gegenüber einer kriegerischen, männlichen Macht, familiären oder politischen Besitzansprüchen ausgeliefert oder Opfer religiöser Grabenkämpfe. Die Kunst gibt ihnen Freiheit – und ihr südländisches Temperament sorgt für den Rest. Und die Opernlandschaft profitiert von Sängerinnen, die viel mehr besingen als nur die Liebe.

Adriana Altaras wurde 1960 in Zagreb, Kroatien, geboren und lebt heute in Berlin. 1963 müssen ihre Eltern aus politischen Gründen das Land verlassen, Adriana wird auf dem Rücksitz eines kleinen Fiat nach Italien geschmuggelt. Seit 1982 arbeitet ­Adriana Altaras als Schauspielerin in ­Theater, Film und Fernsehen, seit 1991 auch als Regisseurin mit dem Schwerpunkt Musik­theater. 2011 erscheint ihr erster ­Roman Titos Brille, der zum Bestseller avanciert. 2014 folgt Doitscha.


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ATLAS 25

Nachgelesen Heidi Senger-Weiss zieht in die Logistics Hall of Fame ein Als erste Frau wird Heidi Senger-Weiss in die Ruhmeshalle der Logistik aufgenommen – als »erfolgreiche Logistikunternehmerin und Impulsgeberin, die zur Professionalisierung der Branche maßgeblich beigetragen« habe, so die Begründung der Jury, die die Aufsichtsrätin und Gesellschafterin unter 31 Kandidaten ausgewählt hat. Wir gratulieren ganz herzlich und freuen uns, dass Frau Senger-Weiss nun zu dieser Riege der 19 ausgewählten Logistiker weltweit gehört.

Ein neuer Weltrekord – ein noch größeres ­Containerschiff

Neue Niederlassung in Bulgarien eröffnet

Zur ATLAS-Ausgabe vom Frühjahr 2015 war noch die »MSC Oscar« das Containerschiff mit der weltweit größten Transportkapazität. Das ist inzwischen ein überholter Rekord: Im Juli wurde in Hamburg die »MSC Zoe« getauft, die Platz für 19.244 Standardcontainer bietet, 20 mehr als die vorherige Rekordhalterin. Und wahrscheinlich lesen Sie im nächsten ATLAS einen neuen Rekord, denn der Wettkampf unter den Reedern um immer größere Schiffe scheint noch längst nicht zu Ende zu sein.

Im letzten ATLAS stand sie noch bevor, die feierliche Eröffnung des neuen Distributionscenters in Musachevo/Elin Pelin, Bulgarien. Das neue Terminal dient seit Mai als Verteilzentrum für die Balkanregion sowie in Richtung Zen­ tralasien und ersetzt den bisherigen Standort in Sofia. Die moderne Logistikhalle, das Bürogebäude und die Umschlagsflächen sind auf Zuwachs angelegt, da Gebrüder Weiss die Präsenz in Osteuropa und Zentralasien immer weiter ausbaut.

»Die Freiheit ist eine B ­ ibliothek.« Diesen schönen Satz hat der katalanische Dichter und Architekt Joan Margarit geprägt. Und deshalb haben wir für diese ATLAS-Ausgabe besonders viele Buchtipps zusammengestellt:

ADRIANA ALTARAS DOITSCHA EINE JÜDISCHE MUTTER PACKT AUS Kiepenheuer & Witsch

JUAN GABRIEL VÁSQUEZ DIE GEHEIME GESCHICHTE COSTAGUANAS Schöffling & Co.

STEPHEN E. SCHMID PETER REICHENBACH (HRSG.) DIE PHILOSOPHIE DES KLETTERNS Mairisch

BORA ĆOSIĆ DIE ROLLE MEINER FAMILIE IN DER WELTREVOLUTION Suhrkamp Taschenbuch


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Chaos auf den Routen Was die Zuwanderungswelle für Menschen bedeutet, die an den Fluchtstrecken arbeiten

text:  Miriam Holzapfel

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ür einen heimatverbundenen Europäer mag es undenkbar sein: das altbekannte Zuhause zu verlassen und sich auf eine ungewisse Reise zu begeben, dorthin, wo Klima, Kultur und Alltag anders sind und die Sprache gänzlich fremd. Für Abertausende ist dies jedoch Realität: Im vergangenen Jahr sahen sich weltweit 42.500 Menschen zur Flucht gezwungen. Täglich. Und obwohl nur ein Bruchteil davon nach Europa gelangt, steht der Traum von offenen Grenzen innerhalb der EU dadurch vor seiner bislang größten Herausforderung. Die Lage auf den verschiedenen Routen ist dramatisch und löst unterschiedliche Reflexe aus. Die Gesellschaften in den europäischen Staaten sind hin und her gerissen zwischen Mitgefühl, Engagement, Angst und Hilflosigkeit. Das zeigt sich an viele Stellen: So berichtet ein GW-Trucker, der regelmäßig nach England fährt, dass er vor Calais nicht mehr anhalten möchte aus Angst, jemand könnte seinen Lkw entern oder am Fahrzeug zu Schaden kommen. Mehrere Tausend Flüchtlinge,

vor allem aus Eritrea, Äthiopien, Afghanistan und dem Sudan, warten in Calais auf eine Gelegenheit, nach Großbritannien zu gelangen. Die Parkplätze rund um die französische Hafenstadt sind daher eingezäunt und bewacht, an Kreisverkehren zeigt die Polizei Präsenz. Dennoch kommt es immer wieder zu Fluchtversuchen unter lebensgefährlichen Bedingungen. Entdecken die britischen Behörden aber bei der Einreise nach Großbritannien in den Fahrzeugen einen blinden Passagier, können gegen die Fahrer bis zu 2.700 Euro Geldstrafe und sogar Haftstrafen verhängt werden. Seit Juli 2015 soll ein Sicherheitskorridor mit hohem Stacheldrahtzaun verhindern, dass Menschen vor dem Fährhafen unerlaubt auf die Lkw aufspringen. Einige Verzweifelte weichen deshalb auf das Gelände vor dem Eurotunnel aus, das mit 650 Hektar Größe schwer zu überwachen ist. Sie versuchen dort auf Güterzüge und sogar auf die Eurostar-Schnellzüge zu klettern, um irgendwie durch den Tunnel auf die andere Seite des Ärmelkanals zu kommen. Bei derartigen Fluchtversuchen haben bereits etliche Migranten ihr Leben gelassen.


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Im Mittelmeer ist die Lage ein wenig anders, aber nicht weniger problematisch auch für all jene, die dort arbeiten: ­Täglich retten die Besatzungen von Handelsschiffen geflüchtete Männer, Frauen und Kinder aus den Fluten, nicht nur aus Menschlichkeit, sondern auch, weil das internationale Seerecht sie dazu verpflichtet. Das wissen die Schleuser, die ihre seeuntüchtigen Nussschalen oft gezielt in Richtung der großen Schiffe steuern. Im Jahr 2014 retteten Handelsschiffe in mehr als 800 Einsätzen 40.000 Flüchtlinge; für das Jahr 2015 werden die Zahlen deutlich höher ausfallen. Viele Reedereien treffen Vorsorge durch zusätzlichen Proviant, Decken und Notfallmedikamente an Bord. Für die Besatzungen sind diese Rettungseinsätze dennoch eine große psychische Belastung. Es fehlt den Schiffen an Platz für die aufgenommen Passa­ giere, an Sanitäreinrichtungen und an der notwendigen ärzt­ lichen Betreuung. Und schlimmer noch: Die Seeleute müssen hilflos zusehen, wie Menschen entgegen allen Bemühungen vor ihren Augen ertrinken oder nach der Rettung an Bord ­sterben.

Trotz der Zumutungen, unter denen auch diejenigen ­ enschen zu leiden haben, die auf der Straße, auf dem Meer M und auf den Schienen ihren Berufen nachgehen, trotz Skepsis und Unsicherheit ist die Hilfsbereitschaft in einigen Ländern enorm. Die Flüchtlingspolitik wird vielerorts getragen von zivilem Engagement: Helfer, die beherzt dort anpacken, wo es gerade sinnvoll ist, die sich nicht beirren lassen und ihrem solidarischen Impuls folgen. Und dieser private Einsatz ist unverzichtbar, ist doch die Versorgung der vielen ankommenden Menschen logistisch kaum zu bewältigen. Oft fehlt es den Geflüchteten am Nötigsten – nicht nur an Nahrung und Kleidung, auch an Mitgefühl und pragmatischen Beistand. Und: an einer Perspektive.

Miriam Holzapfel, geboren 1975, ist Kulturwissenschaftlerin und Redakteurin für den ATLAS.



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»Die freiesten Menschen sind oft die, die auf sehr viel verzichten können.« Gespräch mit Enrico Riccabona über Festlegungen und Verzicht, Wege und Umwege

interview:  Frank Haas

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nrico Riccabona kennt Gebrüder Weiss schon lange: Als erfahrener Coach begleitet er seit Jahren die Führungskräfte des Unternehmens in der Weiterbildung und in der Organisationsentwicklung. Herr Riccabona, Ihr Beruf besteht zu weiten Teilen darin, Menschen zu freien Entscheidungen zu begleiten. Wird das Thema Freiheit im Hinblick auf das Glück des Menschen nicht überbewertet? Nein, die Sehnsucht nach Freiheit ist

zutiefst in uns wie ein genetisches Programm, wie die Selbstentfaltung einer Pflanze, die durch den Asphalt dringt, um zu leben. Ich glaube, dass auch wir Menschen viel tun, um uns mit unseren Möglichkeiten maximal entfalten zu können. Es gibt eine Sehnsucht danach, selber bestimmen zu können, selber entscheiden zu können, selber gestalten zu können, und dafür nehmen wir unglaublich viel auf uns. In gewisser Weise ist Freiheit – und dazu gehört auch Gesundheit, die Freiheitsspielräume ermöglicht – das höchste Gut des Menschen: Wir unterscheiden uns von der Tierwelt unter anderem dadurch, dass wir entscheiden können. Dennoch

machen wir uns in Bezug auf unser Empfinden von Freiheit in der westlichen Welt sehr viel vor: Wir bilden uns ein, frei zu sein, müssen aber der Mode oder einer gängigen Mainstream-Einstellung folgen. Das hat mit Freiheit nichts zu tun. Freiheit ist für mich stets eine Entscheidung für eine bestimmte Art von Abhängigkeit. Die Ehe steht als ein gutes Beispiel dafür: Sie ist eine freiwillige Einschränkung, ein einge­willigter Verzicht auf einen anderen Partner oder eine andere Partnerin, eine Festlegung. Darin liegt die Paradoxie der Freiheit. Ist eine freie Entscheidung also eine authentische Entscheidung, aus dem Inneren heraus? Ja. Frei zu entscheiden bedeutet, autonom und selbstständig zu handeln und das Leben so zu gestalten, dass man ein innerliches Ja dazu sagen kann. Welche Hindernisse stehen uns auf dem Weg zu einer freien Entscheidung entgegen? Vor allem die Vorstellung, Erwartungen anderer entsprechen zu müssen, irgendeinen Status haben zu müssen, etwas Bestimmtes bieten oder darstellen zu müssen. Vorgaben, die einen in ein Kor­ sett hineinzwängen, die man eigentlich aber gar nicht will und braucht.


Enrico Riccabona, wurde 1947 geboren und ist ­Magister der Sozial- und Wirtschaftswissen­ schaften und Doktor der Philosophie. Er ­arbeitet als Organisationsberater, Gruppen­trainer, ­Supervisor, Coach, Psychotherapeut und Bio­ energetischer Analytiker und besitzt die große ­Fähigkeit, auch die schwierigsten Themen zur Erleichterung aller anzusprechen. Er ist ver­hei­ra­ tet und Vater von vier erwachsenen Kindern.

Tun wir uns heute damit schwerer als die Generationen vor uns?

Einerseits nicht, weil wir unsere Kinder von Generation zu Generation mit mehr Recht auf den eigenen Willen erziehen und viel weniger autoritär als früher handeln. Kinder können dadurch ihre Freiheit viel leichter leben. Andererseits gibt es heute enorm viele Pseudo-Freiheiten: das Internet, Facebook, Smartphones, selbst gestaltete Jobs, die Unabhängigkeiten von Zeit und Ort anbieten. Darüber vergisst man leicht, was man eigentlich will, weil man sich ohne spürbaren Zwang in ein System einordnet, ohne die Fremdbestimmtheit darin zu erkennen. Dieser sanfte Freiheits­ räuber nimmt uns die Entscheidung für das, was wir tun. Daher müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, ob hinter dem, wofür wir unsere Energie und Zeit einsetzen, wirklich unsere eigene Entscheidung steht oder eine unhinterfragte Anpassung an fremd­ gesteuerte Absichten. Und erschwert nicht auch die Fülle an Möglichkeiten unsere Entscheidungs­ prozesse? Sicher, wie ich angefangen habe zu stu­ dieren, gab es eine beschränkte Anzahl von Studienmöglichkeiten. Innerhalb derer konnte ich entscheiden, und das war wirklich nicht schwer. Die jetzige Generation junger Menschen hat dagegen so viele Möglichkeiten, dass sie sich in der Entscheidung für einen Studiengang viel schwerer tut. Das heißt, die Vielzahl der Möglichkeiten macht das Leben nicht unbedingt leichter. Wir wollen die freie Wahl und werden mit der steigenden Zahl von Möglichkeiten

gefühlsmäßig aber oft unfreier und überfordert. Dadurch wird dem Menschen eine permanente große Selbst­ verantwortung abverlangt. Aber wie kann der Mensch in dieser ­Situation dann überhaupt noch Seelen­ frieden erreichen? Vor allem durch das Bewusstsein, dass letztlich alles ein Ja und ein Nein in sich trägt: eine Entscheidung für das eine

»Freiheit ist ein paradoxer Begriff.« bedeutet eine Absage an das andere. Das zu akzeptieren ist für mich Reife. Wenn ich mich also für das Leben mit einer Partnerin entscheide, heißt es, dass auch andere Frauen mir gefallen könnten, dass ich aber zu Gunsten dieser einen Frau ganz bewusst auf andere Sehnsüchte verzichte. Freiheit heißt, mich bewusst einschränken zu können; und nicht umsonst sind die freiesten Menschen oft die, die auf sehr viel verzichten können. Wie kann man Verzicht üben? In vielen kleinen Dingen, immer wieder. So gelangt man zu einer gewissen Spiritualität: dankbar zu sein, mit wenig zufrieden zu sein, bestimmte Ziele nicht befriedigt haben zu müssen, der Begrenzung einen Wert beizumessen. Dabei geben Rhythmen und Rituale dem Menschen Halt: ein Tagesrhythmus, ein Essensrhythmus, ein Bewegungsrhythmus, ein Körperrhythmus. Fast alle Religionen kennen diese Rhythmen: regelmäßige Gebete, regelmäßiges Fasten – all das sind Lebens­ bewältigungsstrategien, Rituale, die

Lebensqualität bewirken, indem sie ei­ ne Befreiung von punktuellen, momentanen Befindlichkeiten einüben. Ist das nicht paradox? Ein Ritual ist doch eigentlich das Gegenteil von ­Freiheit, zugleich macht es Freiheit möglich? Ganz genau. Freiheit entsteht durch eine Paradoxie: Freiheit erfordert Verzicht, Verzicht ermöglicht Freiheit. Wird der Mensch im Laufe seines ­Lebens, also mit dem Alter, eher un­ freier oder eher freier? Beides. Für mich ist es eigentlich erstaunlich, dass der Mensch mit einem solchen Optimismus in Richtung Alter und Tod geht, obwohl sein Freiheitsspielraum gerade körperlich immer enger wird. Körper und Geist funktionieren nicht mehr so verlässlich wie in jüngeren Jahren. Vieles wird mühsamer und eingeschränkter, der Verlust von Möglichkeiten wird spürbar und erfordert oft sogar Abhängigkeiten von Hilfe und Pflege. Und trotzdem ist es auch ein Gewinn, älter zu werden, weil bestimmte qualitativ andere Abhängigkeiten, wie zum Beispiel etwas leisten oder erreichen zu müssen, wegfallen. Dies ermöglicht das Gefühl, über den Dingen zu stehen. Die Lebenserfahrung macht sehr viel freier und gelassen. Und Gelassenheit ist eine Schwester der Freiheit.


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Der neue Mittelpunkt Eine Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik

B Allein die Tore der drei Schleusen wogen jeweils 730 Tonnen

is zum Ende des 19. Jahrhunderts war Panama, damals noch der äußerste Zipfel Kolumbiens, ein abgelegener, unwirtlicher Flecken Erde – zumindest aus Sicht Europas und Nordamerikas. Das sollte sich ändern, als sich zunächst die Franzosen – erfolglos, um das vorwegzunehmen – an den Bau eines Kanals machten, der den Atlantik an Panamas Nordküste und den Pazifik an der Südküste für die Schifffahrt verbinden sollte. Und damit wurde diese tropische Inselregion plötzlich zum Mittelpunkt westlicher Macht- und Reichtumskämpfe. Über die widrigen Umstände des Kanalbaus hat der Kolumbianer Juan Gabriel Vásquez einen Abenteuerroman geschrieben. Die geheime Geschichte Costaguanas ist eine faszinierende, humorvolle Darstellung einer Region sowie der politischen und historischen Gründe des Kanalbaus.


AUSZUG AUS JUAN GABRIEL VÁSQUEZ:

Die geheime Geschichte Costaguanas

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ielleicht begann man damals in Colón vom franzö­ sischen Fluch zu sprechen. Zwischen Mai und Sep­ tember fielen außer dem einzigen Sohn der Ma­di­ niers zweiundzwanzig Arbeiter, neun Ingenieure und drei Ingenieursfrauen dem mörderischen Fieber auf dem Isthmus zum Opfer. Es regnete immerfort – der Himmel wurde um zwei Uhr nachmittags schwarz, und unverzüg­ lich setzte ein Regenguss ein, der nicht in Tropfen herun­ terkam, sondern dicht und kompakt war wie ein Poncho, den man in die Luft geworfen hatte –, aber die Bauarbei­ ten gingen weiter, obwohl der schwere Regen die am Vor­ tag ausgehobene Erde am nächsten Morgen wieder in den Graben befördert hatte. An einem Wochenende schwoll der Chagres so stark an, dass die Eisenbahn nicht mehr verkehren konnte, denn die Gleise versanken dreißig Zenti­ meter im Algenwasser, und wenn die Eisenbahn stillstand, dann auch der Kanal. Die Ingenieure trafen sich in dem mittelmäßigen Restaurant des Jefferson House oder im 4th of July, einem Saloon mit ausreichend großen Tischen, um topografische Karten und Architekturpläne darauf auszu­ breiten – und über Plänen und Karten vielleicht eine schnelle Runde Poker zu spielen –, und dort diskutierten sie Stunde um Stunde darüber, wo sie die Arbeiten fort­ setzen würden, wenn es endlich aufklarte. Die Ingenieure gingen am Abend auseinander, nachdem sie sich für den nächsten Morgen bei den Grabungen verabredet hatten, doch häufig brachte ihnen dieser Morgen die Nachricht, dass einer von ihnen mit Schüttelfrost ins Hospital ge­ bracht worden war oder im Hospital am Bett seiner fie­ bernden Frau saß oder gemeinsam mit seiner Frau am Bett des Kindes und es bitter bereute, nach Panama ge­ kommen zu sein. Wenige überlebten. Jetzt betrete ich heikles Terrain. Trotz alldem, trotz seiner Beziehung zu den Madiniers schrieb mein Vater (oder vielmehr seine merkwürdige Refraktorfeder), »die seltenen Fälle von Gelbfieber, die unter den heroischen Schöpfern des Kanals aufgetreten sind«, seien »aus ande­ ren Gegenden eingeschleppt worden«. Und da niemand ihm Einhalt gebot, schrieb er weiter: »Mag sein, es sind tropische Seuchen unter den Zugereisten aufgetreten, aber ein, zwei Tote, vor allem Arbeiter, die zuvor in Martinique oder Haiti waren, dürfen kein Grund zu unberechtigter Sorge sein.« Seine Chroniken/Berichte/Reportagen wurden nur in Frankreich gelesen. Und dort, in Frankreich, lasen sie die Familienangehörigen der Kanalmission und waren beruhigt, und die Aktionäre kauften weiter Aktien, weil alles so gut lief in Panama … Oft ist mir der Gedanke ge­ kommen, dass mein Vater ein Vermögen hätte machen können, wenn er die Erfindung dieses refraktiven Journa­ lismus hätte patentieren lassen, mit dem heute so viel Missbrauch getrieben wird. Aber nein, ich bin ungerecht. Denn letztlich war genau das der springende Punkt seiner seltsamen Gabe: Er bemerkte nicht das Schlagloch, ach

was, den riesigen Krater, der sich zwischen der Wahrheit und seiner Version auftat. Das Gelbfieber tötete unermüdlich weiter und wü­ tete vor allem unter den jüngst eingetroffenen Franzosen. Für Panamas Bischof war das Beweis genug: Die Seuche wählte aus, die Seuche besaß Intelligenz. Der Bischof be­ schwor das Bild einer langen Hand herauf, die nachts in die Häuser der Wüstlinge, Ehebrecher, Trunkenbolde und Gottlosen fuhr und sich ihre Kinder schnappte, als wäre Colón das Ägypten des Alten Testaments. »Menschen mit aufrechter Moral haben nichts zu befürchten«, sagte er, und seine Worte schmeckten für meinen Vater nach den alten Schlachten gegen Priester Echavarría, als wiederhol­ te sich die Geschichte. Doch dann hörte man eines Tages, Don Jaime Sosa, Vetter des Bischofs und Verwalter von Porto Bellos alter Kathedrale, einem Relikt aus der Kolo­ nialzeit, fühle sich nicht wohl, kurz darauf, er habe Durst, und drei Tage später lag er unter der Erde, obgleich der Bischof ihn eigenhändig in Whisky, Senf und Weihwasser gebadet hatte. Während jener Monate gehörten die Beerdigungen wie die Mahlzeiten zum Tagesablauf, denn die Toten wur­ den binnen Stunden begraben, damit die Verwesungs­ dünste das Fieber nicht durch die Luft weitertrugen. Die Franzosen hielten sich inzwischen auf der Straße die Hand vor den Mund oder banden sich eine improvisierte Maske aus dünnem Stoff vor Mund und Nase, wie die Banditen aus den Legenden, und eines Abends ließ Gus­ tave Madi­nier – zermürbt vom Klima, der Trauer und der Furcht vor dem unbegreiflichen, verräterischen Fieber und bis zu den Wangenknochen maskiert wie auch seine Frau wenige Meter hinter ihm – meinem Vater einen ­Abschiedsgruß zukommen. »Es ist Zeit, nach Hause zurückzukeh­ren«, schrieb er. »Meine Frau und ich brau­ chen einen Luftwechsel. Sie sollen wissen, lieber Herr, dass Ihnen auf ewig ein Platz in unserem Herzen sicher ist.« Nun, ich hätte Verständnis dafür gehabt. Sie, schein­ heilige Leser, meinesgleichen, meine Brüder, hätten Ver­ ständnis dafür gehabt, und sei es aus simplem Mitleid. Nicht so mein Vater, dessen Kopf allmählich auf andere Gleise geriet, da zwei Lokomotiven an ihm zogen … Ich dringe in seinen Kopf ein und stoße auf Folgendes: zahl­ lose tote Ingenieure, ebenso viele Abtrünnige und ein ­halbfertig aufgegebener Kanal. Sollte es unterschiedliche Höllen geben, eine persönliche für jeden Lebensweg (be­ stehend aus unseren schlimmsten Ängsten, austauschbar in ihrer Entsetzlichkeit), sah die Hölle meines Vaters so aus: das Bild der verlassenen Baustelle, der unter Moos und Rost vermodernden Kräne und Dampfbagger, der aus­ gehobenen Erde, die aus den Loren zu ihrem feuchten Ursprung, dem Urwaldboden, zurückkehrte.


Die Schwerstarbeit am Culebra Cut erledigten Arbeiter aus Jamaika, Trinidad und Barbados

Eine Durchfahrt auf der gesamten Strecke dauert im Schnitt 15,2 Stunden

schaft über die 15 Kilometer breite und 81 Kilometer lange Kanalzone, ein wirtschaftlich sehr bedeutender Schachzug. Mit dem eigentlichen Bau konnten sie 1906 beginnen. Aber das Projekt stellte die Ingenieure vor ungeahnte technische und logistische Herausforderungen. Besonders der Durchstoß durch die Berge Panamas war äußerst schwierig zu bewältigen: Der Culebra-Bergrücken musste auf einer Strecke von 13 Kilometern von 80 Höhenmeter auf nur 13 abgetragen werden. Als der Kanal schließlich im August 1915 eröffnet wurde, hatten beim Bau 28.000 Menschen ihr Leben gelassen, insgesamt haben 75.000 Arbeiter mitgewirkt. Wirtschaftlich jedoch haben sich die Mühen für Panama rentiert: Die Kanalschifffahrt etablierte sich zu einem wichtigen Wirtschaftszweig, heute machen die Erlöse etwa acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts des kleinen Staates aus. Seit 2007 wird an einer Erweiterung des Kanals gearbeitet, um die Durchfahrt auch für die Schiffe der sogenannten PostPanamax-Klasse* mit bis zu 14.000 Containern zu ermög­ lichen. Es werden neue Zufahrten zu der Wasserstraße ausgehoben, zwei neue Schleusen gebaut, und an der engsten Stelle wird der Kanal verbreitert und vertieft. Eigentlich sollten die Bauarbeiten schon Ende 2014 abgeschlossen sein, die Kosten sind aber weitaus höher als erwartet und es wird mit einer Fertigstellung nicht vor 2016 gerechnet. Trotz des enormen technischen Fortschritts der vergangenen einhundert Jahre lässt sich der Dschungel durch Menschenhand offenbar noch immer nicht so leicht bezwingen.

Die Fahrt durch den Kanal verkürzt die Schiffspassage von der ­­­ Ost- an die Westküste der USA um etwa drei Wochen

* Panamax-Maße, die Abmessungen der Schleusen, geben die maximale Größe der Schiffe vor: maximal 294,3 m (965 ft) lang und 32,3 m (106 ft) breit bei einem Tiefgang von 12,04 m (39,5 ft) in ­tropischem Süßwasser.

Frankreich hatte ab 1881 einen ersten Versuch unternommen, unter Leitung von Graf Ferdinand de Lesseps, der bereits ­erfolgreich den Bau des Suezkanal in Nordafrika organisiert hatte, die heute 82 Kilometer lange Schifffahrtsstraße quer durch den östlichsten Landesteil Kolumbiens zu treiben. Aber niemand hatte mit den klimatischen Tücken der Region gerechnet: Die feuchte Hitze, Malaria und Gelbfieber kosteten im Schnitt sieben Männern pro Tag das Leben, die Arbeiten schritten deutlich langsamer voran als geplant. Außerdem sahen Lesseps Entwürfe zunächst keine Schleusen vor – als er merkte, dass es ohne nicht gehen würde und sie bei Gustave Eiffel in Paris beauftragte, waren die Kosten für den Kanal schon explodiert. Die französische Baugesellschaft ging 1888 pleite, Lesseps musste aufgeben. 1902 kauften die US-Amerikaner die französische Konkursmasse und stürzten sich auf das gigantische Projekt. Da die Verhandlungen mit Kolumbien schleppend vorankamen, zettelte die amerikanische Regierung eine Revolution in der unabhängigen Provinz Panama an. Nach Anerkennung des souveränen Kleinstaats Panamas sicherte sie sich die Herr-

GIGANTISCHE AUSMASSE, GROSSE WIRKUNG

14.300 Schiffe jährlich passieren den Kanal und transportieren 320 Millionen Tonnen Fracht

68 % aller Waren, die an US-Häfen be- und entladen werden, ­passieren den Panamakanal; nach den USA ist China der wichtigste Nutzer der Passage 5 % des weltweiten Seehandels gehen durch den Kanal 2010 passierte der chinesische Stückgut-Frachter »Fortune Plum« als einmillionstes Schiff den Panamakanal

Imke Borchers, geboren 1982, ist Literaturwissenschaftlerin und ­Redakteurin des ATLAS.


34  LIEBER NACH BAUCHGEFÜHL

Berge versetzen und Grenzen verschieben

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chon seit Urzeiten brechen Menschen immer wieder auf, um hinter dem gewohnten Tellerrand neue Welten zu entdecken und zu erschließen. Getrieben werden sie dabei von Freiheitsdrang, Pioniergeist oder einfach von der schieren Lust am Abenteuer. Denn die Komfortzone mag behaglich sein, so richtig aufregend aber ist sie nicht. Wie gut also, dass es so viele Freigeister gibt, die vorgemacht haben, dass man Berge versetzen und Grenzen verschieben kann.

TOM SAW YER UND HUCKLEBERRY FINN Die beiden lebensklugen und gewieften Romanfiguren von Mark Twain aus dem späten 19. Jahrhundert stehen wie keine anderen für ungebrochene Abenteuerlust, grenzenlose Freundschaft und großes ­Unabhängigkeitsstreben. Twain schrieb mit den Romanen, die nach ihren Helden benannt sind, Literaturgeschichte: Die beiden Jungen, die ohne ihre Eltern aufwachsen, bestreiten zusammen den Alltag in einer amerikanischen Kleinstadt, widersetzen sich den Konventionen, freunden sich mit Armen und Sklaven an – für die damalige Zeit in den Südstaaten ein geradezu emanzipatorischer Schritt in Richtung offene Gesellschaft.

THOR HEYERDAHL Der norwegische Geologe (1917–2002) ist einer der bekanntesten Vertreter der modernen Theorie der Kulturausbreitung: Er zeigte 1947 mit der waghalsigen Kon-Tiki-Expedition, dass es schon präkolumbianischen Indianern möglich gewesen war, mit Flößen von Amerika aus Polynesien zu besiedeln. Er baute die Flöße mit ursprünglichen Materialien nach und legte die Strecke fast ohne moderne Hilfsmittel zurück. Damit war der Beweis erbracht, dass es die Menschheit auch schon vor 5.000 Jahren mit einfachsten technischen Mitteln zu unbekannten Ufern getrieben hat.


AMELIA EARHART Mit ihren wagemutigen Flugexperimenten wollte die nordamerikanische Pilotin (1897–1937) darauf aufmerksam machen, dass auch Frauen zu technischen Höchstleistungen fähig sind. Dies ist ihr beim Versuch, als erster Mensch die Erde am Äquator mit dem Flugzeug zu umrunden, leider nicht vergönnt gewesen: Sie kam dabei ums Leben. Earheart, die vorher als erste Frau den Atlantik im Soloflug überquert hatte, nahm sich die Freiheit, mit ihrem Mentor George P. Putnam in offener Ehe zu ­leben, und nutzte ihre Berühmtheit, um sich für die Chancengleichheit einzusetzen und die Frauen »aus dem Käfig ihres Geschlechts« zu befreien.

HERODOT Der antike Grieche lebte vermutlich von 490/480 bis um 424 v. Chr. und verbrachte einen Großteil seines Lebens auf Reisen. Er erkundete Kleinasien, das d ­ amalige Griechenland und Süditalien. Gen Osten reiste er bis nach Babylon, in nördlicher Richtung bis in die Schwarzmeer-Region, auch in Ägypten ist er gewesen und hat überall Eindrücke über Land und Leute, Politik und Geschichte, Gesellschaft und Kunst eingeatmet und aufgezeichnet. Herodots neunbändige Hitsorien Reiseberichte machen ihn zum Be­ gründer der philosophischen Geschichtsschreibung – und zum Wegbereiter für heutige Globetrotter.

JEWGENI GWOSDJOW Der Schiffsmechaniker aus Weissrussland musste lange warten, bis er seinem Fernweh nachgeben konnte: Als Sowjetbürger hatte er vor 1992 keine Chance, auf den Weltmeeren zu segeln. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erfüllte sich Gwosdjow mit 58 Jahren endlich diesen Traum und machte sich mit einem winzigen alten Boot, lediglich drei Seekarten und einhundert Dollar Bargeld auf die Reise. Und tatsächlich gelang es ihm, in vier Jahren und drei Monaten um die Welt zu segeln. Danach zog es ihn noch zwei Mal auf das offene Meer hinaus – von seiner dritten Reise aber kehrte er nicht zurück.


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DAS INTERNET DER DINGE KOMMT Es geht auch ohne den Menschen: Dinge, die bislang auf die Steuerung durch ihre Besitzer angewiesen waren, werden in Zukunft über internetähnliche Strukturen direkt miteinander kommunizieren. Und diese vernetzten Systeme werden die Abläufe in der Industrie verändern.

text:  Carsten Knop

M

anchmal liegt das Ferne so nah. Der Film- und Kamerahersteller Kodak hat das erlebt, der Handy­ hersteller Nokia ebenfalls. Man hat eine Weltmarke, eine große Tradition, verfügt über eine erhebliche Innovationskraft. Und dann ist plötzlich alles aus, beinahe von einem Tag auf den anderen. Niemand braucht die Produkte des Unternehmens mehr. Der Markt hat in einer bestimmten Technologie abrupt einen neuen Weg eingeschlagen, Menschen fotografieren digital oder nutzen Smartphones. So etwas nennen Fachleute »disruptive Innovation«. Und jetzt hält in der Wirtschaft etwas Einzug, das potentiell jedes Unternehmen einer solchen radikalen Veränderung aussetzen wird: das »Internet der Dinge«, im deutschen Sprachraum auch »In­ dustrie 4.0« genannt. Dabei geht es um nicht weniger als die vierte industrielle Revolution, eine neue Stufe der Organi­ sation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den Lebenszyklus von Produkten hinweg. Ihre Basis ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit – übermittelt von jederzeit mit dem Internet verbundenen Maschinen und Produkten. Der Bruch zwischen der realen und der virtuellen Welt verschwindet. Auch die Logistik könnte dann nach dem »Real World Awareness«-Prinzip funktionieren. Intelligente und vernetze

Produkte kommunizieren ihre Erkenntnisse während der gesamten Lieferkette eigenständig, um sie gegebenenfalls an veränderte Bedingungen anzupassen. Der logistische Prozess entsteht während der Laufzeit und folgt keiner im Voraus geplanten Prozesskette. So könnte eine verspätete Lieferung auf ein anderes Flugzeug umgebucht oder ein Lkw am Stau vorbeigeleitet werden. Das ausverkaufte Produkt im Supermarkt könnte selbstständig für Nachschub sorgen. Das Bemerkenswerte ist: Jeder zweite Entscheidungsträger aus Unternehmen in Österreich, Deutschland und der Schweiz hat noch nichts von »Industrie 4.0« gehört. Rund ein Viertel kennt zwar den Begriff, weiß aber nicht genau, was darunter zu verstehen ist. Und nur ein Viertel ist über die damit verbundenen Veränderungen im Bilde. Diese Zahlen gehen aus einer Umfrage des Informationstechnologie-Dienstleisters CSC unter 900 Entscheidungsträgern hervor, die Anfang 2015 veröffentlicht worden ist. Hier werden Gefahren nicht erkannt – und Chancen nicht ergriffen.

»Die Herausforderung ist, die Veränderungen frühzeitig zu erkennen und die nötige Ruhe zu bewahren, um nicht überstürzt auf die f­ alschen Pferde zu setzen.« Im Hause Gebrüder Weiss setzt man sich mit diesen anstehenden Veränderungen intensiv auseinander. Dort ist unter an­ derem Andreas Pichler, der Leiter F&E in den IT-Services, dafür zuständig, Antworten zu haben, wenn neue Technologien alte Geschäftsmodelle in Frage stellen. Die Herausforderung ist, einerseits alert genug zu sein, die Veränderungen frühzeitig und in ihrer ganzen möglichen Dramatik zu erkennen, und andererseits die nötige Ruhe zu bewahren, um nicht überstürzt auf die falschen Pferde zu setzen. Und Pichler vermittelt im Gespräch den Eindruck, dafür genau der Richtige zu sein.


Eine der Zukunftsfragen, mit denen sich Pichlers Team in einem eigenen Forschungsprojekt befasst, geht sogar noch über das »Internet der Dinge« hinaus. Sie hat mit dem Phänomen des 3D-Drucks zu tun, der eine lokale Fertigung ebenso möglich macht wie die individuelle Produktion kleinster Losgrößen. Für Logistikunternehmen kann auch das erhebliche Auswirkungen haben. Vorstellbar ist, dass Kunden ihre Waren künftig selbst »drucken« und kaum oder kein Transport mehr notwendig ist. So etwas kann, erst recht in Verbindung mit der »Industrie 4.0«, für Logistikunternehmen der Nokia- oder Kodak-Moment werden. Doch Pichlers Team hat einen Plan, wie man das Geschäftsmodell in einer solchen Welt weiterentwickeln könnte. Er geht davon aus, dass der 3D-Druck auch die Wertschöpfungskette produzierender Unternehmen radikal verändert: Gefertigt würde dann schließlich nicht mehr in einigen wenigen zentralen Fabriken, sondern theoretisch beinahe überall auf der Welt: »Und wir würden in dieser Welt die Koordination von Fertigung und Vertrieb übernehmen«, sagt Pichler. Das heißt, dass Gebrüder Weiss auf der Basis der Kon­ struktionspläne die Fertigung in der Nähe des Endkunden in Auftrag geben und das fertige Produkt dann ausliefern würde. Das Unternehmen sorgt dafür, dass beide Seiten, Lieferanten und Kunden, die Komplexität der neuen Produktionswelt beherrschen können. Das klingt nach einer guten Idee – aber noch ist ungewiss, ob sich die Welt in den nächsten fünf bis zehn Jahren tatsächlich in diese Richtung entwickelt. Schon die Radio-FrequenzIdentifikation (RFID ) habe ja längst nicht alle Erwartungen erfüllt, die bei ihrer Einführung in sie gesetzt worden seien. »Das beruht auf vielen Hypothesen«, räumt Pichler mit Blick auf seine Planungen nüchtern ein. Es gilt also, wachsam zu bleiben und vor allem die aktuellen Prozesse im Unternehmen auf dem Stand der Dinge zu halten.

»Schon heute gibt es Kunden, für die wir die gesamte Distributionslogistik übernehmen, bei denen wir deshalb vollständig über entsprechende Schnittstellen in die Produktionsplanung integriert sind und über jeden neuen Auftrag, vom Beginn der Fertigung an, informiert sind«, sagt Pichler. Die Prozesse sind automatisiert, die Anbindung an den Kunden ist vollständig elektronisch: »Und das gilt bereits für 85 Prozent der von uns bearbeiteten Sendungen.« Und in der Zukunft? Dann lasse sich steuern, durch welche geografischen Korridore die Lieferung gebracht werden müsse, und eindeutig belegen, dass zu keinem Zeitpunkt etwas vom Lkw gefallen oder eine Kühlkette unterbrochen worden sei. Entsprechende Parameter ließen sich kundenindividuell festlegen. Pichler bewertet nicht jeden Hype gleich über: »95 Prozent unserer Kunden wollen immer noch Standardanwendungen.« Aber wenn sich das einmal ändert, will man bei Gebrüder Weiss sogleich handeln können. Geht es hier, Hype hin oder her, eben doch um die heraufziehende vierte industrielle ­Revolution, an deren Ende der sich selbst steuernde Warenfluss steht. Noch bevor ein Mensch weiß, dass er das ent­ sprechende Produkt bald brauchen könnte, machen sich die Waren auf den Weg zu ihm – in der Zukunft ein ganz normaler Vorgang.

Carsten Knop war für die Frankfurter Allgemeine ­Zeitung Korrespondent in Düsseldorf, New York und San Francisco. Seit Anfang 2007 ist er verantwort­ licher Redakteur für die Unternehmensberichter­ stattung, seit Ende 2014 zudem für die Wirtschafts­ bericht­erstattung. Seine Schwerpunktthemen sind die Digi­talisierung der Wirtschaft – und die Unter­ nehmen, die sie treiben.

Andreas Pichler

DAS INTERNET DER DINGE KOMMT 37


Skizze aus Goethes Farbenlehre, der umfangreichsten seiner Schriften. Als das 1400 Seiten dicke Werk 1810 erschien, stieß es nur auf ­höfliche Reserviertheit. Die Mehrheit der Gelehrten empfand das Werk als eine Verirrung des Dichters ins Dilettantentum. Dennoch ist die ­Farbenlehre bis heute bedeutsam: Sie dokumentiert Goethes ganzheit­lichen Ansatz der Naturbetrachtung und seine Beobachtungsgabe.


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»Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.« Ein Gespräch mit RÜDIGER SAFRANSKI über Goethes Welterfahrungen teil 2: lebenskunst und souveränität

interview:  Frank Haas

I

m ersten Teil unseres großen Goethe-Interviews in der vorangegangenen Ausgabe des ATLAS haben wir mit Rüdiger Safranski, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Philosoph, über Goethes Welterfahrungen zu Hause und auf Reisen gesprochen. Mit dem zweiten Teil knüpfen wir daran an und erfahren vom Autor des Buches »Goethe – Kunstwerk des Lebens«, auf welcher biografischen Basis und nach welchen Prinzipien Goethe sein Leben so kunstvoll gestaltet hat. Wir schätzen Goethe als großen Dich­ ter und Denker, weniger bekannt ist, dass er auch gar kein schlechter ­ sychologe war und offenbar ein hell­ P waches Gefühl für seelische Vorgänge hatte, 80 Jahre vor Freud. Wie darf man sich die Kindheit Goethes vor­ stellen? Er scheint zu seinen Eltern,

gerade auch zu seinem Vater, ein rela­ tiv aufgeräumtes Verhältnis gehabt zu ­haben.

Das kann man so sagen. Konflikte gibt es natürlich immer, aber Goethes Vater hat seinen Sohn früh schon sehr be­ wundert. Vielleicht war das Verhältnis zwischen Vater und Sohn auch deswegen relativ entspannt, weil der Vater nur eine eingeschränkte Autorität hatte für den Sohn: Der kleine Goethe war ein Mutterkind. Als er dann größer war, spürte der junge Goethe, welche Hochachtung der Vater ihm entgegenbrachte. Schon im Alter von 14, 15 Jahren bemerkte er, dass der Vater jeden beschriebenen Zettel von ihm aufbewahrte. Die Zeitgenossen beschreiben diesen kleinen Johann Wolfgang als einen ziemlich verwöhnten, auch ziemlich eitlen, selbstbewussten jungen Mann, der nicht vor dem Vater kuschen musste.

Der Vater war vermögender Privatier und hat sich intensiv um die Erziehung des Sohnes gekümmert. Goethe ist der typische Fall eines hochbegabten Kindes, das mit dem Gefühl aufwächst, von seiner ganzen Umgebung gemocht und geschätzt zu werden. Es ist ein erwar­ tetes, umhegtes Kind, das zu einem selbstverständlichen Selbstbewusstsein finden konnte, zu einem Sockel der Selbstbejahung. Fundamentale Selbstzweifel gab es kaum. Umso bedauerlicher war es für den jungen Goethe, dass sein Vater später immer mehr zum Pedanten wurde. Er führte das darauf zurück, dass der Vater nicht genügend öffentliche Aufgaben hatte und sich im Alter immer mehr zurückzog. Er empfand das als eine demütigende Art von Verkümmerung, und so ist er nur noch selten nach Frankfurt zurückgereist. Und als sein Vater


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»Es ist der Vater mit seinem Kind …« Der junge Johann Wolfgang mit seinem Vater

»Es ist ein frommer Wunsch aller Väter, daß was ihnen selbst abgegangen, an den Söhnen realisiert zu sehen, so ungefähr, als wenn man zum zweitenmal lebte und die Erfahrungen des ersten Lebenslaufes nun erst recht nutzen wollte.« AUS : »D I C H TU N G U N D WA H R H EI T« , 1 8 1 1

schließlich starb, schien Goethe gar nicht allzu sehr zu trauern. Es war, als sei dieser Vater in ihm schon vorher gestorben. Das Trauern gehörte ohnehin nicht zu Goethes Stärken. Goethes Vertrauter Johann Peter Eckermann beschreibt beispielsweise, wie er ohne Goethes Sohn August von einer gemeinsamen Italienreise zurückkommt und kaum in Goethes Haus gehen mag, weil der ja längst aus der Zeitung wusste, dass sein Sohn gestorben war. Aber Goethe empfängt ihn heiter und erwähnt den Tod des Sohnes mit keinem Wort. Das ist schon eine unglaubliche Ver­ drängungsleistung. Er ist auch zu keiner Beerdigung gegangen. Die »Paraden im Tode«, wie er sie nannte, liebte er ganz und gar nicht. Goethe war der Meinung, man solle zu Lebzeiten das Leben hochhalten und

sich nicht so sehr mit dem Tod beschäftigen, der komme früh genug. Er hatte ein geradezu trotziges Verhältnis zur

»Zu Lebzeiten das Leben hochhalten.«

Zugleich gibt es diesen Ausspruch Goethes, er sei deshalb so arbeitswütig und so intensiv geistig tätig, weil er das Gefühl habe, dass der Geist weiter auf Hochtouren läuft, wenn irgend­ wann die Hülle stirbt. Und dann müsse sich der Geist eine neue Hülle suchen.

Endlichkeit. Auch als seine Frau Chris­ tiane starb, leistete er keinen unmittelbaren Beistand, sondern zog sich in sei­ne Gemächer zurück und wurde selbst krank. Damit entzog er sich ge­ wissermaßen. Das ging allerdings ganz bewusst ab, insofern war es gar kein Verdrängen – Verdrängungsprozesse sind ja eher etwas Unbewusstes. Nein, er hielt den Tod rigoros draußen. Er sagte ganz einfach: »Den Tod statuiere ich nicht!« Und als der Sohn starb und ihm die Nachricht übermittelt wurde, sagte er nur: »Ich wusste, dass ich einen Sterblichen gezeugt habe.«

Das war wohl sein Rezept für die Un­ sterblichkeit.

Diese Überlegungen gibt es an mehreren Stellen in Goethes Werk, auch in den Gesprächen mit Eckermann. Wir dürfen uns das aber nicht so vorstellen, dass Goethe eine solide Theorie der Seelenwanderung entwickelt hat. Eher war das die Hoffnung, dass die Natur doch wohl so klug sein und solch eine Vitalenergie nicht einfach verschleudern, sondern weiterverwenden werde. Zu seinen Grundüberzeugungen gehörte allerdings in der Tat, dass es eine Einheit von Natur und Geist gibt und das


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Goethes S ­ kizzen von Prisma und Linse, 1796/1806

»Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. […] Daß ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute.« NACH EI N ER V O N J O H A N N P ETER EC KER MA N N Ü B ER L I EFERT EN ER KL Ä R U N G

Prinzip »Geist« nicht einfach nur eine Angelegenheit des Gehirns ist, wie man es heute meist sieht. So etwas war ihm ganz fremd. Für ihn war die Natur, von den Pflanzen bis zum Menschen, eine Manifestation des Geistes in unterschiedlichen Aggregatzuständen. Und im Menschen kommt dieser Geist zum Bewusstsein seiner selbst. Das war die Grundlage für seine Naturforschungen, er konnte in der Natur lesen wie in einem Buch und hatte dazu ein durch und durch positives Verhältnis. Er fühlte sich auch regelrecht mit seinem eigenen Körper befreundet. Wenn er krank wurde, war er immer ganz neugierig und wollte genau begreifen, was da in ihm geschieht. Er hat sich mit Ärzten beraten und Beobachtungen an seinem eigenen Körper gemacht, quasi ein Naturforscher in eigener Sache. Übrigens ganz anders als sein Freund Schiller, der im

fast sportlichen Sinne mit seinem Körper kämpfte, bisweilen auch gegen ihn. In sehr fortgeschrittenem Alter hat Goethe gesagt: »Leben habe ich ge­ lernt, nun fristet mir, Götter, die Zeit.« Was sind die Lektionen, die ihn das Leben gelehrt hat? Das lässt sich kaum in ein paar Sätzen sagen. Es gibt wunderschöne Aufzeichnungen gegen Ende seines Lebens, in denen er sagt, dass es im Leben darum geht, die Form, die in dir steckt, zu entfalten. »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt« – mit geprägter Form ist

»Spüren, was in dir treibt.« das gemeint, was wir heute »Anlagen« nennen, die weit hinausgehen über das Gen-Programm, das es natürlich auch gibt. Das alles muss und kann entfaltet werden unter den einschränkenden und

befruchtenden Bedingungen der Umstände. Jedenfalls kommt es darauf an, zu spüren, was in dir treibt, und alles dafür zu tun, dass sich die angelegten Grundimpulse entfalten können. Voraussetzung dafür ist, dass man auf sich selbst neugierig und mit sich selbst befreundet ist. Daraus kann sich dann Lebensklugheit ergeben. Goethe selbst ist das eigentlich recht gut gelungen, allerdings hatte er periodisch auch das, was wir heute eine Depression nennen würden. In seiner Autobiografie ver­ wendet er dafür den Ausdruck »taedium vitae«, »Lebensekel«. Es gab immer Momente der Anfechtung seiner Lebensbejahung, auch Gefühle der inneren Leere. Wenn ihn das in seinen späteren Jahren anflog, beschäftigte er sich mit seiner Steinsammlung, das Ordnen hat ihm Trost gegeben, bis er sich schließlich wieder anderen Dingen


42  »GEPRÄGTE FORM, DIE LEBEND SICH ENTWICKELT«

»Seit ich die Zeitungen nicht mehr lese, bin ich viel freieren Geistes.« GOE T HE I N EI N EM B R I EF V O M 2 3.  M Ä R Z 1 8 3 0

zuwenden konnte. Aus der Angst vor Selbstversteinerung sich den Steinen zuwenden – das hat doch Format! ­Goethe hatte da eben seine eigenen Therapien. Stichwort Lebenskunst und Selbst­ therapie: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Goethe, wenn er Tageszeitungen bekam, diese immer erst ein paar Tage liegen ließ, bevor er sie gelesen hat. Und Sie vermuten, dass Goethe, würde er heute leben, moderne Kommuni­ kationsmittel einsetzen würde, aber dosiert – damit meinen Sie wahr­ scheinlich ein iPad oder E-Mails oder Handys. Und tatsächlich kann es sehr strapazierend sein, allzu sehr am Tropf der täglichen Nachrichten zu hängen.

»Immer selbst bestimmen, zu welchem Punkt was wichtig ist.« Goethe war da ambivalent, er hat viel geschimpft gegen die Zeitungen, aber er hat sie trotzdem abonniert. Er war viel zu neugierig, um nicht voller Spannung zu beobachten, was sich in der Welt alles entwickelt. Er besorgte sich eine Spielzeug-Guillotine, er ließ sich ein Eisenbahnmodell schenken, das fand er alles ganz toll, aber eben auch ganz ambivalent. Er sprach auch über diese Beschleunigung, über die moderne Hast und so weiter. Die modernen Kommunikationsmittel wären also sicher faszinierend für ihn gewesen, aber eins ist klar: um sie für sich nutzen zu können und nicht von ihnen benutzt werden. Immer

erreichbar zu sein, das sollte nur für Dienstboten gelten. Und das ist das Entscheidende: sich nicht zum Sklaven einer Sache machen, sondern diese Dinge in den eigenen Dienst stellen. Es kam ihm darauf an, die Souveränität zu behalten und sie nicht etwa abzugeben an irgendwelche Instrumente. Er wollte immer selbst bestimmen, was zu welchem Zeitpunkt wichtig für ihn ist. Ein sympathischer Zug ist das, dieser unbedingte Wille zur Souveränität und zur Selbstbehauptung. Seinem Freund Eckermann sagt er, dass jede aufsteigende Kultur sich dem Objektiven widme und objektive Dinge produziert und dass jede ab­ steigende Kultur immer subjektiver werde. Das gelte in der Poesie, in der Musik und so weiter. Was würde Goe­ the wohl dazu sagen, dass vor allem junge Menschen andauernd Selfies von sich machen und auf Facebook stellen? Da haben wir ja nahezu einen Scheitelpunkt erreicht, was Subjek­ tivität angeht. Ja, das sehe ich auch so. Diese Äußerung, auf die Sie sich beziehen, hat er aber erst später gemacht, da hatte sich die Perspektive schon geändert. In sei­ nen jungen Jahren war er ja nun gerade mit seinem Sturm und Drang beschäftigt. Seine frühen Werken entstammen dem Bewusstsein: »Hoppla, jetzt komme ich! Jetzt kommt ein starkes Subjekt!« Und diese verknöcherte kulturelle Umwelt, die er da so vorfand, war für ihn Altherrenkunst, die dem Subjektiven, dem Erfrischenden, Lebendigen weichen sollte. In der Jugend, wenn man

selber ein Teil des Aufbruchs ist, denkt man, das Alte sei das Überkommene, das Untergehende. Und das Subjektive sei das Starke. Ich selbst neige mittlerweile auch eher zur Feststellung, dass es auf das Objektive ankommt. Aber als Angehöriger der 68er-Generation habe ich auch einmal gedacht, dass mit uns die Welt neu erfunden wird. Allerdings hat sich unser Subjektivismus nicht darin erschöpft, dämliche Selfies zu produzieren. Täuscht der Eindruck eigentlich, oder war Goethe auch im 19. Jahrhundert schon möglicherweise ein Idealtypus des gelungenen Lebens, wie er später von Nietzsche beschrieben wurde? Ist er deswegen heute noch so aktuell? Nietzsches Bild des Übermenschen beschreibt einen Menschen, der vollkommen die Herrschaft über sich hat, der auf der Klaviatur seines Wesens spielen kann und nicht von irgendwelchen Trieben mitgeschleift wird. Und der nicht von irgendwelchen Dingen abhängig ist. Und bei dieser Beschreibung hat er sicher Goethe vor Augen gehabt, quasi als Inbegriff des gelingenden Lebens. Wer unbescheiden ist, was die Entwicklung der eigenen Lebendigkeit betrifft, für den wird Goethe immer aktuell bleiben. Man muss ihn nur ein wenig an sich heranführen, dann kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Die Vermutung, dass bei Goethe noch Glut unter der Asche ist, ist berechtigt. Bei Goethe, im Werk wie in seinem Leben, wird man immer auf eine Goldader stoßen.


Am Tropf der täglichen Nachrichten? Geschrieben wird immer, g­ elesen wird auch. Nur anders.

Zahl der Adressaten, an die Goethe geschrieben hat: 17.000

In Österreich gibt es insgesamt

1.000.000 WhatsApp-Benutzer.

Briefe, die Goethe bekommen hat:

Der »Standard« und die Fußball-Plattform »90minuten.at« ver­schicken folglich ­täglich Nachrichten-WhatsApp – beim »Standard« haben sich inzwischen 10.000 Leser dafür angemeldet.

Weltweit gibt es knapp

Mediennutzung von Jugendlichen in unserer Zeit:

Briefe, die Goethe zeitlebens verfasst hat:

20.000

24.000

1,5 Milliarden

aktive Facebook-Nutzer, die mindestens ein Mal pro Monat im Netzwerk ­unterwegs sind.

Tageszeitung 32 % Radio

73 %

Fernsehen Internet

94%

der jugendlichen Smartphone-Besitzer in Deutschland haben WhatsApp installiert, im Durchschnitt schauen sie 26 Mal pro Tag auf die Anwendung.

Anzahl der Fotos, die weltweit pro Tag über Facebook geteilt werden:

350 Millionen

83 %

94 %

Anzahl der Fotos, die weltweit pro Tag über WhatsApp verschickt werden:

700 Millionen


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text:  Martin Kaluza

Martin Kaluza wurde 1971 in einer grenznahen Hafenstadt geboren und hat seit frühester Jugend oft den Zoll passiert. Heute schreibt er am liebsten über Reisen und Musik.

NAFTA

EFTA

D

er Mensch hat schon immer Handel getrieben. Über die Seidenstraße wurden mehr als ein Jahrtausend lang Gewürze, Seide, Glas, Gelehrte und mitunter Religi­ onen zwischen dem Mittelmeerraum und Ostasien transportiert. Auf dem Ochsenweg trieben Händler von der Bronze- bis weit in die Neuzeit Vieh von Dänemark an die Elbe. Gleich mehrere Salzstraßen durchziehen Mitteleuropa. Und so alt wie die Handelsstraßen sind auch die Wegzölle, die von den Herrschenden in den Ziel- und Durchgangsländern kassiert wurden, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen. Ihre Hochkonjunktur erlebten Zölle in der Zeit des Merkantilismus zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert. Doch mit der Industrialisierung standen sie dem beginnenden modernen Welthandel im Wege. Systematisch und weltweit wurden Zölle vor allem seit dem GATT-Abkommen von 1947 abgebaut, aus dem 1994 die Welthandelsorganisation WTO hervorging. Abseits solcher weltweiten Verträge haben Gruppen von Staaten weiter im kleineren Rahmen Abkommen, Handels­ zonen und Binnenmärkte beschlossen. Doch was bedeuten die Bezeichnungen im Detail? Hier ist ein kleiner Überblick, geordnet nach dem Grad der »Barrierefreiheit«, oder wie die Volkswirtschaftler es nennen: nach dem Grad der wirtschaftlichen Integration.

ISLAND

EUROPÄISCHE ZOLLUNION

OSTAFRIK ANISCHE GEMEINSCHAFT

Vom Handelsabkommen über Freihandelszone und Binnenmarkt zur Währungsunion – eine Übersicht über die Stufen der wirtschaftlichen Integration

SÜDAFRIK ANISCHE ZOLLUNION

Brücken für den Handel

EU

SÜDAFRIKA

KENIA

TÜRKEI

SWASILAND

UGANDA

ANDORRA

LIECHTENSTEIN

USA

LESOTHO

TANSANIA

MONACO

NORWEGEN

MEXIKO

BOTSWANA

RUANDA

VATIKAN

SCHWEIZ

KANADA

NAMIBIA

BURUNDI

SAN MARINO

STUFE 1

Schließen sich Länder zu einer Frei­ handelszone zusammen, dann bedeutet das den Abbau von Handelsschranken innerhalb der Zone. Für den Handel mit Ländern, die der FREIHANDELSZONE nicht angehören, bleiben die Beschränkungen bestehen. Meist haben die Mitgliedsstaaten dann ihre jeweils eigenen Einfuhrzölle. Die EFTA ist ein Beispiel ­dafür: Ihr gehören Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz an. Früher waren auch das Vereinigte Königreich, Portugal, Österreich, Dänemark und Schweden EFTA-Mitglieder – doch die sind inzwischen der EU beigetreten. Die nordamerikanische Freihandels­zone NAFTA besteht aus den USA, Kanada und Mexiko. Auch das derzeit viel diskutierte Abkommen TTIP bedeutet letztlich nichts anderes als eine Freihandelszone zwischen der EU und den USA.

STUFE 2

Einen Schritt weiter geht die ZOLL­ UNION . Ihre Mitglieder einigen sich zu-

sätzlich auf gemeinsame Zölle und Beschränkungen für Einfuhren. Beispiele sind die Südafrikanische Zollunion (Südafrika, Swasiland, Lesotho, Bots­wa­ na und N ­ amibia) oder die Ostafrika­ nische Gemeinschaft (Kenia, Uganda, Tansania, Ruanda und Burundi). Zur ­Europäischen Zollunion EUCU zählen neben den Staaten der EU auch die ­Türkei, Andorra, Monaco, der Vatikan und San Marino.


MERCOSUR

EUROPÄISCHER BINNENMARKT

BRÜCKEN FÜR DEN HANDEL 45

EU

BRASILIEN

CHILE

ISLAND

PARAGUAY

ECUADOR

NORWEGEN

URUGUAY

KOLUMBIEN

LIECHTENSTEIN

SCHWEIZ

DEUTSCHLAND

VENEZUELA

PERU

SCHWEIZ

LIECHTENSTEIN

VIETNAM

STUFE 3

STUFE 4

STUFE 5

Kommt zu den Merkmalen der Zoll­ union noch hinzu, dass sich Arbeitnehmer in allen Mitgliedsstaaten einen Job ­suchen können, spricht man von einem Binnenmarkt. Um genau zu sein: In ­einem BINNENMARKT haben die Be­ teiligten freien Verkehr für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital vereinbart. Das ist zum Beispiel im ­Mercosur der Fall, zu dem Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Ve­ nezuela gehören sowie als assoziierte ­Mitglieder Bolivien, Chile, Ecuador, ­Kolumbien und Peru. Der wirtschaftlich größte solche Zusammenschluss ist der Europäische Binnenmarkt. Er besteht aus den EU-Staaten sowie Island, Norwegen, Liechtenstein und der Schweiz.

In einer WÄHRUNGSUNION , also etwa dem Euro-Raum, kommen eine gemeinsame Geld- und Konjunkturpolitik hinzu. Allein in Afrika bestehen derzeit drei Währungsunionen, weitere sind geplant. Die kleinste Währungsunion bilden die Schweiz und Liechtenstein: Sie nutzen den Schweizer Franken als gemeinsame Währung.

Haben zwei Staaten bereits eine Zollund Währungsunion vereinbart und ­betreiben einen funktionierenden Binnenmarkt, gibt es eigentlich nur einen Weg, sich ökonomisch noch näher zu kommen: die POLITISCHE VEREINIGUNG zu einem gemeinsamen Staat oder Staatenbund. Was den Außenhandel angeht, macht das im Vergleich zur Zollunion keinen Unterschied. Doch es sind dann nur noch die Institutionen ­eines – des gemeinsamen – Staates für die wirtschaftlichen Fragen zuständig: ein Wirtschaftsminister, ein Regierungschef, ein Parlament. Beispiele sind in den letzten 100 Jahren dünn gesät. Wie Deutschland 1990 erlebte auch Vietnam 1976 seine Wiedervereinigung.

POLITISCHE VEREINIGUNG

BOLIVIEN

KLEINSTE WÄHRUNGSUNION

ARGENTINIEN



ATLAS 47

Der Land Rover der LĂźfte Mit einer Antonov von Bukarest nach Katar


48 ATLAS

text:  Frank Haas

D

er Flug in einer legendären AN-124 gehört zu den besonderen Ereignissen im Leben eines Spedi­tionsangestellten. Auch wenn man danach nie wieder so unbeschwert fliegt.

Fluggesellschaften unternehmen viel, um ihren Passagieren ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Dazu gehören gepflegte Maschinen, adrette FlugbegleiterInnen sowie perfekt choreografierte Sicherheitshinweise. Das Look & Feel an Bord lässt selten Zweifel an der Flugtauglichkeit des Geräts oder des Personals aufkommen. Doch nun stehe ich am Bukarester Flughafen vor einer Antonov AN-124 – und frage mich ungläubig: Das Ding kann fliegen? Mit offenem Bug und Heck sieht das legendäre Fluggerät aus wie ein riesiges, gequetschtes Rohr mit einer un­ fassbar dünnen Membran. Die Farbe blättert ab, das Interieur ist abgewetzt. Alles liegt unverkleidet offen: Kabel, Leitungen und Dämmmaterial. Irgendwo im Frachtraum, neben der ukrainischen Flagge, klemmt das Bordwerkzeug: Hammer, Schraubendreher und diverse Schraubenschlüssel. Heim­ werkerstandard. Ist das alles? Vertrauensstiftende Maßnahmen – Fehlanzeige.

Die Antonov AN-124, so lerne ich von einem erfahrenen Kollegen, wurde einst für das sowjetische Militär als Frachtflugzeug konzipiert und bis zur Jahrtausendwende gebaut. Nach dem Zerfall der UdSSR verkaufte die Sowjetarmee einige AN-124. Zivile Betreiber setzen die meisten Maschinen heute für weltweite Frachttransporte im Charterverkehr ein, wo die AN-124 aufgrund ihrer immensen Ladekapazität von bis zu 150 Tonnen Einzigartiges leistet. Weiterer Vorteil: Eine AN-124 bedarf keiner geteerten Landebahn. Eine ebene Fläche, beispielsweise in afrikanischen Steppen, genüge, so der Kollege. Nach vier Abstürzen in jüngster Vergangenheit – davon zwei beim Landeversuch in der Steppe – sind weltweit noch rund 40 Antonovs AN-124 im Einsatz. So genau wollte ich es gar nicht wissen. Aber weil die Reise ja nicht nach Afrika geht, besteige ich an einem frühen Sonntagmorgen nach einigen Diskussionen mit den rumänischen Behörden (»This is not a boarding pass!«) das puristische Fluggerät. Im Laderaum überzeugen sich die Piloten von der korrekten Sicherung unseres Transportguts. Wir liefern ein komplettes Labor zur Ammoniak­ analyse an eine katarische Düngemittelfabrik. Ich helfe der Crew beim Einladen des Proviants. In die Kabine führt eine


Im Notfall schnell zur Hand: ein Standardset Werkzeug und die ukrainische Flagge als Talisman

abenteuerliche Hängeleiter. Auch hier mutet es museal-militärisch an, und Erinnerungen an bizarre Filme wie Jagd auf Roter Oktober und Dr. Strangelove – How I Learned to Love the Bomb werden wach.

»Ist das die ultimative Freiheit? Ist ein Leben in der Normalität, sprich: am Boden, überhaupt noch vorstellbar?« Die »Flugbegleiter« ziehen ihre dunkelblauen Dienstanzüge aus, schlüpfen in bequeme Shorts und legen sich kommentarlos auf ihre spartanischen Pritschen. Bob, der Flight Manager und einzig Englischsprachige an Bord, verstaut schnell ein paar Souvenirs, darunter einen ferngesteuerten Kampfhubschrauber, und weist mir einen freien Sitz zu. Es folgt dann zumindest eine sehr knappe Einweisung in die Benutzung der Sauerstoffmaske. Bei herkömmlichen Verkehrsflugzeugen, so Bob, habe man Sauerstoff, solange die Kartusche in der Maske reiche. Abhängig von Körpergröße und Atemfrequenz sei nach sieben und manchmal auch nach drei Minuten Schluss. In diesem Mili­tärflugzeug sind wir aber praktischerweise direkt an das Sauerstoffsystem der Maschine angeschlossen, und ich könne beden­kenlos atmen, solange wir fliegen. »Endlich eine gute Nachricht«, denke ich. Der letzte Druckverlust an Bord liege nun sechs Wochen zurück. Falls es wieder passiere, so Bob, solle ich mich an der Crew orientieren. Wenn sie herumrennen und an den Vorrichtungen an der Decke zerren, dann solle ich das einfach nachmachen. »Das ist wiederum nicht so beruhigend«, geht es mir durch den Kopf. Das Flugzeug startet seine Motoren, rollt an, hebt ab. Der Lärm an Bord ist gewaltig, und man bietet mir Ohrstöpsel an. Die 14 Mann starke Besatzung dieser Antonov arbeitet jeweils über drei Monate am Stück. In dieser Zeit umrunden sie unzählige Male den Erdball und wickeln die unglaub­lichs­ ten Transportaufträge ab: riesige Turbinen, ganze Lkw, ­militärisches Gerät. Auch die deutsche Bundeswehr setzt Antonovs beim Rückzug aus Afghanistan ein. »We are stupidly in demand«, sagt Bob. Er wohnt in der Nähe von London-Stansted und arbeitet seit zwanzig Jahren für die ukrainische Fluggesellschaft. Es sei der ideale Job für ihn. »Because I have no boss up here«, sagt er sichtlich amüsiert. Sein Job sei es, alles zu regeln: Verhandlungen mit den örtlichen Behörden, Caterern und Hotels. Kontrollieren, buchen, zahlen – einfach alles. Auch das Festlegen der Flugroute scheint in Bobs Aufgabengebiet zu fallen. Er zeigt mir ein entsprechendes E-Mail. Auch wenn zwischen Bukarest und

Ohne Armlehne, ohne Gurt: Fensterplatz in der Antonov

Katar das Gebiet des IS liege, müsse mich das nicht beunruhigen. Wir würden einen Umweg über die »safe parts« des Irak fliegen – und übrigens auch der Ukraine. Die anderen Männer stammen entweder aus Russland oder aus der Ukraine. Sie sind sehr kräftig und alle kurzhaarig bis kahlköpfig. Ihre Arbeit findet vor allem am Boden beim Be- und Entladen statt. Sie sprechen praktisch nichts – auch nicht untereinander. Zu gerne würde ich wissen, wie der Krieg in der Heimat die Stimmung unter der Besatzung beeinflusst. Überhaupt möchte ich so viel fragen: Wie kann man sich für diesen Knochenjob begeistern? Von Zeitzone zu Zeitzone, von Land zu Land: Ist das die ultimative Freiheit? Ist ein Leben in der Normalität, sprich: am Boden, überhaupt noch vorstellbar? Wie ist es, wenn einen an jedem Flughafen der Welt Aero-­ Enthusiasten empfangen, um dieses seltene Flugzeug zu bestaunen? Und wie überhaupt trägt man die täglichen Konflikte aus, die es zwangsläufig geben muss, wenn man sich auf 15 Quadratmetern ein paar Liegen teilt? Bob ist der Einzige, den ich fragen kann. Aber der winkt jetzt ab. Ich solle mich um mein Catering kümmern. »Eat ­something«, befiehlt er. »Enjoy yourself!« Mein Lunchpaket, das er noch kurz vor Abflug organisierte, besteht aus einer


ECKDATEN ANTONOV AN-124 MAXIMALE ZULADUNG  150 SPANNWEITE  73,30 LÄNGE  69,10 HÖHE  20,78

Tonnen

Meter

Meter

Meter

MAXIMALE REICHWEITE  15.700

Kilometer

MAXIMALES STARTGEWICHT  405 BELADUNG

Tonnen

über Bug- und Heck-Ladeklappe

Fisch- und Meeresfrüchteplatte, einer ebenso reichhaltigen Käseplatte, Fruchtsalat inklusive frischem Beerenobst, ­unzähligen belegten und nicht belegten Semmeln und Baguettes, diversen Croissants mit und ohne Füllung, vielen süßen Gebäckteilchen, einer Dose Cola, einer Dose Fanta, einem Liter Apfelsaft – sowie: einem in Aluminium eingeschweißten Mittagessen zum Erwärmen im Bordofen. Als ­Dessert ein großer bayerischer Fruchtjoghurt und eine Tafel Schokolade. Mehr als genug für die gesamte Crew, aber die ist ebenfalls reichlich versorgt. Bob löscht das Licht in der Kabine. Er zieht Schuhe, Hose und Hemd aus und legt sich auf eine der alten Pritschen. Ich sitze für den Rest des sechsstündigen Fluges im Dunkeln. Ab und zu gehe ich nach hinten, wo neben der Toilette ein Klappstuhl an einem Guckloch steht. Tolle Aussicht auf ein verschneites Gebirge neben einem Meer. Wo sind wir? Bob kann ich jetzt leider nicht fragen. Die Landung in Katar ist trotz Wüstensturm so sanft, dass ich sie überhaupt nicht spüre. Der beim Passagierflug leicht schmerzhafte, etappenweise Druckausgleich beim Sinkflug

entfällt. Eine Antonov, denke ich, macht bei 30 Stunden­kilo­ metern auf dem Rollfeld das gleiche Getöse wie in der Luft. Die Besatzung macht sich sogleich an die Entladung. Bob, nach seinem Nickerchen deutlich erfrischt, stellt mir ein Dokument aus (»Declaration of Health«), das mir die Einreise erleichtern soll, falls das nicht funktioniere, könne ich ihn jederzeit anrufen. Bis morgen seien sie noch hier. Dann wird die Antonov zuverlässig wie ein robuster alter Land Rover weiter nach Dubai tuckern, wo der nächste Auftrag wartet. Und ich würde auch ohne choreografierte Sicherheits­ hinweise tatsächlich wieder mitfliegen.

Frank Haas wurde 1977 ­geboren und studierte ­Geschichte und Philosophie. Er ist verantwortlich für die Unternehmenskommuni­ka­tion bei Gebrüder Weiss und ­Chef­redakteur des ATLAS.


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Nix Gutes ohne Risiko HARALD MARTENSTEIN über Freiheit und Gefahr

I

n meinem Auto habe ich seit Jahren keinen Benzinkanister mehr. Meine Frau will das nicht. Sie hat nämlich als Teenie eine Ausbildung zur Mineral­ öl-Kauffrau absolviert. Sie sagt, dass so ein Kanister explodieren kann, wenn es dumm läuft. Zum Beispiel bei einem Auffahrunfall. Es gab solche Fälle. Also, wir haben keinen Benzinkanister, und der Tag wird kommen, an dem wir ohne Benzin irgendwo stehen bleiben. Vermutlich wird dies passieren, wenn sie oder ich gerade einen Schlaganfall bekommen hat und wenn wir im Auto zum Krankenhaus fahren wollen. Oder auf dem Weg zum Flughafen, wenn wir nach San Francisco fliegen möchten. Das wäre ärgerlich. Es gibt auch Menschen, die ihre Kinder nicht impfen lassen. Einige wenige Kinder werden durch die Impfung krank. Es gab solche Fälle. Manche Kinder, sehr wenige, sterben sogar. Aber das Risiko eines ungeimpften Kindes, krank zu werden oder zu sterben, liegt um ein Vielfaches höher. Das ist das Blöde an der Risiko­ vermeidung. Jede Risikovermeidung – jede! – enthält ein Risiko. Es gibt nichts Gutes ohne Risiko. Wer tolle Reisen macht, kann sich Krank­ heiten holen oder das Gepäck geht verloren. Wenn man sich verliebt, kann man am Ende sehr unglücklich sein,

weil man verlassen wird. Wenn man eine Firma gründet, wird man vielleicht wohlhabend, es kann aber auch in einer Pleite enden. Die meisten Deutschen haben wahnsinnig große Angst vor Risiken. Sie wollen Schutz, sie wollen Verbote. In einer Umfrage haben sich zum Beispiel 64 Prozent der Deutschen für ein Verbot von ungesunden Lebensmitteln ausgesprochen. Ich habe mich gefragt, was das überhaupt sein soll – ein ungesundes Lebensmittel. Tatsache ist, dass fast ­jedes Lebensmittel ungesund sein kann, wenn man zu viel davon isst. Das ist das Problem bei der Freiheit. Freiheit ist immer mit einem Risiko verbunden. In den Umfragen sagen die Deutschen folglich, dass ihnen »Sicherheit«, »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« die wichtigsten Werte seien. Freiheit ist ihnen weniger wichtig. Das heißt, der ideale Aufenthaltsort für die meisten meiner Landsleute wäre das Gefängnis. Wenn du dich im Gefängnis an die Regeln hältst, bist du sicher, mit der Strafe ist dir Gerechtigkeit wider­ fahren, und alle Häftlinge werden gleich behandelt. Auch die soziale Gleichheit ist verwirklicht. Es gibt im Gefängnis keine Gehaltsunterschiede. Die Löhne sind niedrig, das stimmt. Aber der Gewinn aus deiner Arbeit fließt dem Staat zu, der damit Kindertagesstätten baut

und andere ausnahmslos sinnvolle Dinge tut. Es ist wunderbar. Das Gefängnis ist unser Utopia. Schade, dass es so schwierig ist, hineinzukommen, aber so ist das nun mal bei einem Utopia. Selbstverständlich habe ich diesen Text im häuslichen Umfeld vorgelesen und gefragt, ob er vielleicht zu selbstgerecht sei. Das ist nämlich auch ein Risiko, welches wir Deutsche unbewusst eingehen – wir lieben die Gerechtigkeit so sehr, dass wir häufig selbstgerecht sind. Gerechtigkeit kann es nie genug geben. Meine Frau sagte: »Schon okay, aber du hast vergessen, dass wir wirklich mal ohne Benzin liegen geblieben sind.« Es war auf einer Berliner Ausfall­ straße, dummerweise an einer Ampel. Ich hatte damals noch das Cabrio, einen Saab. Die anderen Autofahrer geizten nicht mit Kommentaren, etwa in dieser Art: »Fährst ein dickes Cabrio, aber Geld für Benzin haste nicht!« Was soll man da antworten? »Ich wollte einfach kein Risiko eingehen« klingt in dieser Situa­ tion irgendwie blöd.

Harald Martenstein ist Autor der Kolumne »Martenstein« im ­ZEITmagazin und Redakteur beim Berliner ­Tagesspiegel. ­Zuletzt ist von ihm Die neuen Leiden des Alten M. erschienen.


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»Freiheit, die ich meine …« … beginnt ein Volkslied von Max von Schenkendorf aus dem 19. Jahrhundert. Die bekannte Eingangszeile wurde viel zitiert, Renault machte damit Werbung, Rechtspopulist Jörg ­Haider überschrieb mit der Zeile seine Memoiren, und ­Peter Maffay betitelte damit einen eigenen Song: »Freiheit, die ich meine / ist wie ein neuer Tag. / Freiheit, die ich meine / ist, was man wirklich mag.« Was GW-Mitarbeiter zum Freiheitsbegriff meinen und wann sie sich unge­ bunden fühlen, haben wir für den ATLAS herausgefunden.

LENA HAUBOLD GW LAUTERACH, ÖSTERREICH

SERGIU GRAJDEANU

MIKLÓS BALÁZSY

GW ARAD, RUMÄNIEN

GW DUNAHARASZTI, UNGARN

Bevor man etwas über Freiheit zu schreiben versucht, sollte man sich vergewissern, dass man die zentralen Begriffe richtig versteht. Freiheit hat nämlich, laut Isaiah Berlin, zwei unterschiedliche Facetten: eine negative – unabhängiges individuelles Verhalten – und eine posi­ tive – Herr seiner selbst zu sein. Freiheit ist normalerweise beschränkt, da sie Verantwortlichkeiten mit sich bringt. Als Mitarbeiter von GW ist meine Vorstellung von Freiheit eng mit der Willensfreiheit verknüpft. Ich fühle mich frei, wenn ich zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen kann, unser Geschäft voranzubringen.

Mir fällt zu Freiheit sofort das Jahr 1989 ein, als ich noch Student war. In jenem Sommer war ich als Tourist in der ehemaligen DDR und in West-Berlin. Unser Reiseziel war West-Berlin, da wir aber so neugierig waren, haben wir Ost-Berlin auch besucht. Die Gesichtsausdrücke und die Mentalität der Menschen auf den zwei Seiten der Mauer waren komplett verschieden. Ich hatte das Gefühl, dass die westliche Seite wesentlich bunter, schöner und freier war. Hinzu kamen noch die Einschüchterungen durch die hohe Mauer, die bedrohenden Stacheldrähte und die Kontrollpunkte. All das löste ein sehr beklemmendes Gefühl in mir aus. Nicht zu vergessen ist natürlich, dass in diesem Jahr die politischen Veränderungen in den ehemaligen Ostblockstaaten begonnen haben. Man konnte die Zeit der Veränderung fühlen, es lag was in der Luft.

Freiheit ist für mich ein Bild, ein Zustand, in dem klare Strukturen zu erkennen sind, die mir aber die Wahl lassen, meine eigenen Schlüsse zu ziehen, und mein Handeln anleiten. Ein Bild, das Orientierung schafft, durch seine Dynamik jedoch stets aktuell bleibt, nie starr wird.

MARCO GRANER GW ESSLINGEN, DEUTSCHLAND

Ich habe ein Gefühl von Freiheit, wenn ich im Urlaub bin. Dann kann ich die Tage ohne Uhrzeit und Terminplaner verbringen, und der Tag beginnt, wenn die Nacht endet.


»FREIHEIT, DIE ICH MEINE …« 53

DAVOR JURAGA

NADYA CHUDALEVA

MASATO UENAKA, WR OSAKA,

GW ZAGREB, KROATIEN

GW MOSKAU, RUSSLAND

JAPAN

Ich bin Mitglied im Kroatischen Komponistenverband. Wenn ich komponiere, denke ich an Filmmusik oder aber an Sänger, die später einmal meine Musik bei einem Festival vortragen und dabei von einem Orchester begleitet werden. Klar, das ist ein langer Weg: vom Klavier in meinem Zimmer bis zum Festival­ orchester. Aber das Warten lohnt sich. Die zwanzig Instrumente im Orchester geben meiner Musik Ausdruck, und damit meiner Seele Freiheit.

Freiheit ist das Recht, Entscheidungen zu treffen und zu ihnen auch stehen zu können. Überall in unserem Leben treffen wir auf Regeln, Maßstäbe, gesellschaft­ liche Konventionen und Bewertungen, Religion – all das schränkt unser Verhalten ein und kontrolliert es sogar. Freiheit heißt, außerhalb all dieser Strukturen und Konventionen zu leben. Doch das ist meiner Meinung nach unmöglich. Außerdem ist sie eine Frage der Zeit – deiner eigenen Zeit, die nur dir gehört. Andererseits sorgen Regeln und Strukturen dafür, dass wir uns satt und sicher fühlen können, und da ist es bestimmt von Vorteil, sich an die Spielregeln zu halten.

Reisen gibt mir immer ein Gefühl von Freiheit. Egal, wohin es geht. Das kann ein Trip nach Brasilien sein, Sightseeing in Tokio oder einfach ein Spaziergang im Park um die Ecke. Wenn ich diese Unternehmungen als Reisen betrachte, schenken sie mir außergewöhnliche Erlebnisse – und tragen mich weit weg in eine stressfreie Welt. Jede Reise ist unterschiedlich, und das stimuliert meine Neugier, meine Kreativität und mein Freiheitsempfinden!

JULIA HAGEN, WR ATLANTA, USA

Freiheit, Glück und Erfüllung sind für mich eins. Die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, mein Leben in die Hand zu nehmen, den Weg zu wählen, der für mich der richtige ist. Meinen Traum in den USA leben zu können gibt mir das größte Gefühl von Freiheit. Mein Herz schlägt immer noch höher, wenn ich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause aus meinem Autofenster die Skyline von Atlanta sehe. Reisen bedeutet für mich grundsätzlich Freiheit. Andere Kulturen entdecken und hautnah erleben zu dürfen ist ein un­ beschreibliches Gefühl.

STEFAN PARTINGER, GW SALZBURG , ­Ö STERREICH

SIMON HOLDERIED GW WELS, ­Ö STERREICH

Freiheit bedeutet für mich, die Weichen für meinen Lebensweg selbst zu stellen, persönliche Entscheidungen zu treffen und für mein Handeln verantwortlich zu sein. Das gilt natürlich nur, sofern ich nicht krankheitsbedingt beeinträchtigt bin und keinem anderen durch mein Verhalten schade. Eines meiner Lieblingssprichwörter ist »Jeder ist seines Glückes Schmied«.

Freiheit bedeutet für mich, mein Leben mit meiner Familie frei gestalten zu können, gemeinsam Zeit zu verbringen und diese zu genießen. Ein Gefühl von Freiheit erfahre ich bei einer Skiabfahrt im Tiefschnee auf unberührten Hängen oder bei einer Ausfahrt mit meiner alten Vespa auf nur wenig befahrenen Landstraßen, ohne Stress und Hektik. So kann man zumindest zeitweise dem Alltag mit allen seinen Regeln entwischen, bevor man wieder im Büro sitzt, um seine Brötchen zu verdienen, die all das erst möglich machen.


54 ATLAS


ATLAS 55

Einmal ohne alles, bitte!


»Ich lasse mir ein wenig Zeit, um noch einmal zur Ruhe zu ­kommen. Die letzte Hürde, die Crux des Ganzen. Mit gebün­delter Energie klettere ich in sie hinein. Mit einer Energie, die nur frei­ gesetzt wird, wenn du mit dem Tod konfrontiert bist, tanze ich durch sie hindurch, hänge im ­ersten Handklemmer der ­abschließenden Headwall. Jetzt ­ enig, bin ich frei, relaxe ein w ­genieße den Moment. Das ist, was wir im Valley ›hero climbing‹ ­nennen: 80 Meter über Grund ­einen bombensicheren Handriss inmitten einer supersenkrechten und ansonsten völlig struktur­ losen Granitwand hinauf­ zucruisen. Ich bin elektrisiert!«* JOHN BACHAR


EINMAL OHNE ALLES, BITTE!  57

Über das Klettern in seiner freiesten Form

text:  Eva Hammächer

D

er Kletterer, der seinen Spaziergang durch den Granit   »free solo« – also ungesichert, ohne Seil und ohne G   urt – in vollen Zügen genießt, ist John Bachar bei seiner Begehung der Nabisco Wall im kalifornischen Yosemite Valley im Jahr 1979. Bachar wurde nicht nur für harte Erstbegehungen und seine Kompromisslosigkeit in Stilfragen bekannt, er verschaffte sich auch durch wilde Free Solos den Ruf als waghalsigster Kletterer Amerikas. Er bot 10.000 Dollar, wenn es jemand schaffte, ihm einen Tag lang auf seiner FreeSolo-Tour zu folgen. Niemand folgte ihm. Der Einsatz war wohl zu hoch. Warum sein Leben riskieren? Doch wie kann man frei und leichtfüßig durch die Wand tanzen, wenn der Tod nur einen Fehltritt entfernt ist? Wie kann ein Setting elektrisieren, das normalen Menschen das Blut in den Adern gefrieren lässt? Wieso begibt man sich aus freien Stücken in eine Situation, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft? In eine Felswand, völlig ungesichert, ohne Seil und ohne Gurt. Nur mit einem Beutel voll Magnesia um die Hüfte und Kletterschuhen an den Füßen. Free solo eben. Die Antworten reichen von Verurteilung bis hin zu Bewunderung, von Unverständnis bis hin zu Faszination. Free Solo ist die reinste und zugleich kompromissloseste und damit umstrittenste Form des Kletterns, deren Reiz sich selbst vielen Top-Kletterern nicht erschließt. Und so beschränkt sich der Kreis derjenigen, die es tun, auf einen kleinen elitären Zirkel. Bachar verglich das Klettern ohne Seil mit einem Spaziergang auf dem Mond. Im Jahr 2009 bezahlte er seine Ausflüge ins All mit dem Leben.

Als ob nichts wäre: John Bachar entspannt lächelnd beim seil­ freien Tanz durch die Wand 1982 im Yosemite Valley

Weil man es kann? Warum sich also freiwillig an den seidenen Faden des Lebens hängen, anstatt an ein Seil aus Synthetikfasern? Weil man es kann? Ja und nein. Denn alle Eventualitäten können auch


58 ATLAS

»Ich bin vollgepumpt mit Motivation, Tatendrang und ­Glauben an mich selbst. Diese Mischung wird mir die nötige Kraft geben. Ab nun tauche ich in eine andere Welt ein. ­ Ich falle in eine leichte Trance. Irgendwie nehme ich meine Umgebung nicht mehr so richtig wahr. Ich habe nur ein Ziel. Niemand kann mich aufhalten.«*  HANSJÖRG AUER

Ob hier wohl der freie Kletterer oder der Fotograf im Seil aufgeregter war? Hansjörg Auer lässt sich zumindest nichts anmerken im Weg durch den »Fisch« an der Südwand der Marmolata, dem höchsten Berg der Dolomiten


Free-­Solo-Kletterer nicht kontrollieren. In dem Glauben, dass man es kann, liegt aber vielleicht der Schlüssel zum Verständnis: »Denn nirgendwo sonst geht es so wenig um körperliche Kraft, nirgendwo sonst zählt die mentale Stärke in einem so überragenden Maß«, so bringt es Extremkletterer Alexander Huber in seinem Buch Free Solo auf den Punkt. »Du bist allein unterwegs am Berg, im steilen Fels, und das Einzige, was zählt, ist das Bestehen vor dir selbst.« Für ihn ist Free-SoloKlettern die intensivste Art, sich mit dem Medium Fels auseinanderzusetzen: »Es ist ein überwältigendes Gefühl, sich frei, einfach so, am Fels zu bewegen. Es ist ein Sich-Bewegen in einer anderen Wirklichkeit, im Raum zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein, dessen man sich so tief bewusst ist, dass man glaubt, vor lauter Spannung die Luft knistern zu hören. Des­ wegen hat das Free-Solo-Klettern weniger von einem Hinaufsteigen, es ist vielmehr ein In-sich-Hineingehen.«

Go with the flow Diese andere Wirklichkeit, in die Huber beim Free-Solo-Klettern übertritt, beschreibt die Psychologie als Flow-Erleben. Glücksforscher Mihaly Csikszentmihalyi definiert Flow als reflexionsfreies, gänzliches Aufgehen in einer glatt laufenden Tätigkeit, die man trotz hoher Anforderungen unter Kontrolle

hat. Es ist ein Balanceakt, der absolute Konzentration erfordert und zu einem rauschhaften Zustand der Selbstvergessenheit führt. Zeit und Raum lösen sich auf, Körper und Geist verschmelzen zu einem harmonischen Ganzen. Das Risiko ist dabei das Salz in der Suppe, das Intensität und Würze verleiht. Was jedoch als Risiko empfunden wird, ist extrem subjektiv. John Bachar überspitzte es so: »Everybody free-solos. When you walk to the store, you’re free-soloing. It’s just a matter of the difficulty of the route.«

Eintauchen in eine andere Wirklichkeit »Mit dem Moment, an dem ich am ›point of no return‹ die Tür hinter mir schließe, trete ich in eine Zwischenwelt ein. Eine intensive Selbstwahrnehmung, die von der Situation lebt: der Auseinandersetzung mit der unveränderten Urkraft der Natur. Ich bin frei und doch so verwundbar. Mehr als sonst spüre ich mich selbst, stehe in diesem Moment in der Mitte meines eigenen Lebens. Diese Selbsterfahrung ist es, die mich zu derart riskanten Unternehmungen motiviert. Und sie gibt mir auch gleichzeitig die Rechtfertigung, mich solchen scheinbar hirnlosen Aktionen zu unterwerfen.«* Die Intensität des Erlebens und die totale Zentrierung – sie treiben Alexander Huber an, sich wiederholt in die verbotene Zone zu begeben, zu der


60  EINMAL OHNE ALLES, BITTE

»The ability to keep it together where others might freak out.« ALEX HONNOLD Bei diesem Viedeo sind feuchte Hände garantiert: Alex Honnold bei seiner ­seilfreien Begehung von El Sendero Luminoso

nur wenige Kletterer Zutritt suchen. Auch der Tiroler Hansjörg Auer betrat diese Zone, als er am Morgen des 29. April 2007 aufbrach, um an der Marmolata-Südwand den Weg durch den Fisch seilfrei zu klettern. Eine 900 Meter hohe Wand, 37 Seillängen, Schwierigkeitsgrad IX–. Wer die Route kennt, schaudert alleine schon bei dem Gedanken, hier ohne Seil einzusteigen: Schlechte Griffe und Tritte sowie unsichere Bewegungen machen den Fisch schon mit Seil zu einer ernsten Unternehmung. Kreisten Auers Gedanken auf dem Weg zur Wand zunächst noch um Fragen nach Erfolg oder Scheitern, verengt sich sein Fokus schon bald auf das bevorstehende Ereignis. Die Fähigkeit, sich von störenden Gedanken, Sorgen und Ängsten frei zu machen, sich voll und ganz auf das aktuelle Tun zu fokussieren und dabei die eigenen Grenzen genau zu kennen, darin liegt wohl das Erfolgsgeheimnis, wenn es um Höchstleistungen geht. Angst macht unfrei. Auch nur der Hauch eines Zweifels lässt die Bewegung stocken. Ist der FreeSolo-Kletterer zwar äußerlich unfrei – unzählige Meter vom Boden entfernt, meist ohne Möglichkeit, den Rückzug anzutreten –, so braucht er die innere Freiheit, um die Ausweglosigkeit seiner Situation auszublenden. Die gesamte Aufmerksamkeit gilt nur dem nächsten Zug. Und auch wenn es paradox erscheint: Die Angst ist die Lebensversicherung, sie ist »treuer Begleiter, der uns mahnt, lenkt und leitet«, so Alexander ­Huber in seinem Buch Die Angst, dein bester Freund. Freiheit beginnt im Kopf »Eine unglaublich intensive Reise in das Innerste des Ichs«, so umschrieb Kletter-Ikone Wolfgang Güllich das Klettern ohne Seil in der Güllich-Biografie Klettern heißt frei sein. Der Mann, der wohl wie kein anderer die Kletterwelt geprägt und in den 80ern und frühen 90ern die Grenzen des Möglichen nach oben verschoben hat, rüttelte 1986 mit seiner Free-SoloBe­gehung des waagerechten Rissdachs Separate Reality im Yosemite die Szene auf und stieß damit im Wortsinn die Tür zu einer »anderen Wirklichkeit« auf. Einer Wirklichkeit, in der volle Konzentration es ermöglicht, sich in einer objektiv gefährlichen Situation subjektiv sicher zu fühlen. Freiheit beginnt also im Kopf. Und sie setzt akribische Vorbereitung voraus: Denn die spektakulären Free Solos sind in der Regel das *aus: Alexander Huber, Free Solo, 2009

Ergebnis einer langen physischen und psychischen Auseinandersetzung mit einer Route: Risiken werden abgewogen, Ängste kanalisiert, Griffe und Tritte verinnerlicht, potentielle Fehlerquellen analysiert, Bewegungsabläufe einstudiert, bis das Programm sitzt. Um es dann am Tag X wie automatisiert abzuspulen. Diese Kunst beherrscht der amerikanische Profikletterer Alex Honnold derzeit wie kaum ein anderer: Mit spektakulären Free Solos in schweren und hohen Wänden sorgt er regelmäßig für Schlagzeilen. Im Januar 2014 schaffte er mit der Begehung von El Sendero Luminoso, einer über 700 Meter hohen Wand in Mexiko, wohl den schwersten Free Solo einer Big Wall nach Hansjörg Auers Weg durch den Fisch. Honnold – auch »Mr. No Big Deal« genannt – macht nicht viel Auf­ hebens um seine Aktionen. Er schätzt seine Kletterfähigkeiten auch nicht höher ein als die von anderen. Wenn es aber einen Unterschied gibt, dann ist es ein mentaler: »The ability to keep it together where others might freak out«, so beschreibt er es in einem Gastbeitrag für die New York Times im November 2014, den er verfasste, nachdem ein Sponsor ihm den Vertrag gekündigt hatte. Das Unternehmen begründete seine Entscheidung mit dem zu hohen Risiko des Sports, man wolle damit für sich eine Grenze setzen. Honnolds Antwort darauf: »I draw the lines for myself; sponsors don’t have any bearing on my choices or my analysis of risk.« Und darin liegt wohl die eigentliche Freiheit beim Klettern – ob mit oder ohne Seil: Die Freiheit, eigene Ziele zu definieren, Träume zu leben, Entscheidungen zu treffen und jederzeit aufzubrechen, wann und wohin man will. Wie viel bin ich dafür bereit zu wagen und zu riskieren? Diese Frage beantwortet jeder für sich selbst.

Eva Hammächer lebt und arbeitet als freie Texterin und Autorin in München. Ihre Lieblingsbeschäftigungen: Buchstaben bewegen und natürlich sich selbst. Am liebsten in den Bergen, mit Lauf- oder Kletterschuhen. Allerdings nie ohne Seil.


Ungesicherter Blick in den 足Abgrund: Alex Honnold am 足Glacier Point im Yosemite Valley


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FAMILIENSEITE 63

Die Gewinner werden postalisch oder per E-Mail ­benachrichtigt und erhalten die Gewinne bis Ende März 2016. Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Teilnahme von Gebrüder-Weiss-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern aus rechtlichen Gründen nicht gestattet. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Gewinne sind nicht in bar ablösbar.

FRE IE ! L H A W

M

anchmal gehen ­Geschichten ­anders aus, als wir uns das wün­ schen, und nicht immer passiert alles so, wie wir es gerne hätten.

Bei unserem Comic aber kannst Du frei entschei­ den, welcher Schluss für Dich am besten passt und was das letzte Bild sein soll. Schicke uns den Buchstaben mit Deinem ­Lieblingsende bis zum 31. 01. 2016 per Mail an: redaktion@gw-atlas.com oder in einem Umschlag: Gebrüder Weiss GmbH | Redaktion Atlas Bundesstraße 110 | A-6923 Lauterach Österreich

Unter allen Einsendungen verlosen wir drei Playmobil Raketensets!

GEWIN NSPIEL

3 ×


64  DIE WELT ORANGE

SCHLAUER

SCHNELLER

Der Autobauer Daimler plant, den Lkw in Zukunft als rollendes »Datencenter« zu nutzen. Die Vernetzung des Boardcomputers mit einer Cloud könnte wertvolle Informationen für den Fahrzeughalter oder das Verkehrsministerium liefern, das über die Bewegungen der Stoßdämpfer den Zustand der Straßen erkennen kann.

Seit Juni fährt auf Italiens Hochgeschwindigkeitsnetz der neue Schnellzug »Frecciarossa 1000« (Roter Pfeil), der auf bis zu 400km/h beschleunigen kann. Der Schnellzug wird die Strecke zwischen Rom und Mailand zukünftig in 2 Stunden und 15 Minuten zurücklegen – 45 Minuten schneller als bisher.

K ANADA In Vancouver hat die westlichste Niederlassung des orangen Netz­ werks eröffnet: Neben den Stand­ orten in Montreal und Toronto ist Weiss-Röhlig nun auch an der Pazifikküste vertreten und kann von dort aus die bestehenden ­Luft- und Seefrachtservices aus­bauen und in das Far-East-Netzwerk einbinden sowie Transporte zwischen Atlantik und Pazifik koordinieren.

SCHWEIZ Die Mitarbeiter der Gebrüder Weiss Zollstelle Basel/Weil hatten es jüngst mit einem sehr speziellen Auftrag zu tun: Sie wurden mit der Verzollung des Puma-Weibchens Mirca betraut. Dafür mussten Sondergenehmigungen eingeholt und Artenschutzübereinkommen eingehalten werden. Der Umzug vom Zoo Basel in den Saarbrü­ ckener Zoo ging für das stolze Tier zum Glück stressfrei und reibungslos vonstatten.

UNGARN Für den dänischen Pumpenher­ steller Grundfos hat Gebrüder Weiss im ungarischen Biatorbágy einen zentralen Warenumschlag errichtet. Ein Cross Docking Lager und ein Logistikterminal bündeln die Fabriktransporte, von hier starten die Exporte in 16 Länder. Das Unternehmen aus Dänemark profitiert dabei besonders vom Osteuropa-Netzwerk von GW mit über 90 eigenen Standorten.

LIECHTENSTEIN Gebrüder Weiss bietet dem Werkzeug­ spezialisten Hilti aus Liechtenstein Full-Service-Logistik: Ein individuell konzipierter Control Tower optimiert die Lager- und Transport­prozesse. Und das ist ein bedeutsames Geschäft: Pro Jahr realisiert Gebrüder Weiss für den Bautechnologiekonzern rund 650.000 Sendungen in mehr als 50 Länder, da sind kurze Laufzeiten wichtig.


DIE WELT ORANGE  65

WEITER

TIEFER

Die Erweiterung des Suezkanals, der das Mittel­ meer mit dem Roten Meer verbindet, ist nach einjähriger Bauzeit eröffnet. Der Kanal ist jetzt auf 115 von 193 Kilometern in beide Richtungen befahrbar. Ägypten erhofft sich von dem Milliardenprojekt eine Verdoppelung des Schiffsverkehrs bis 2023.

Vor den Toren St. Petersburgs hat der neue Mehr­ zweckhafen Bronka eröffnet, der mit einer Wasser­ tiefe von 14,4 Metern auch Schiffe der Post-Panamax-Klasse abfertigen kann. Der Hafen verfügt über einen Gleisanschluss, über den rund 475.000 TEU ins Hinterland abgefertigt werden sollen – ­zumeist in den Großraum Moskau.

ÖSTERREICH Die GW-Mitarbeiter in Österreich fühlen sich wohl an ihrem Arbeitsplatz im Unternehmen. Zum wiederholten Mal wurde Gebrüder Weiss Österreich mit dem Güte­ siegel »Great Place to Work« ausgezeichnet und erhielt zudem den Sonderpreis als »Bester Arbeitgeber für Lehrlinge«. Die Auszeichnungen werden auf der Grundlage von Mitarbeiterbefra­ gungen vergeben.

DEUTSCHLAND Der GW-Standort Esslingen bekommt eine neue Lagerhalle. Dank des Neubaus, der in puncto Technik, Sicherheit und Öko­lo­gie auf dem neuesten Stand ist, ver­ringern sich die Durchlaufzeiten im Umschlag, und dem Kunden werden damit noch kürzere Trans­ portzeiten geboten. 70 Mitarbeiter sorgen dann im Umschlag­terminal für die rasche Abwicklung, am Stand­ort insgesamt sind 300 beschäftigt.

SINGAPUR In dem südostasiatischen Stadtstaat hat Gebrüder Weiss im Herbst eine eigene Logistik-Landesorganisation gegründet. Unter dem Namen GW Logistics Pte Ltd bietet die Firma Warehousing, lokale Distributionsleistungen und zusätzliche Services im Bereich Logistik an. Weiss-Röhlig bleibt in Singapur weiterhin exklusiver Partner im Bereich Luftund Seefracht.

PHILIPPINEN Für die Erdölförderung wurden zwei Bündel Spezialrohre mit 32 Meter Länge und jeweils 29 Ton­nen Gewicht von Ungarn auf die Phi­ lippinen transportiert. Vom Süden Ungarns wurde die Speziallast per Lkw nach Hamburg gebracht, per Containerliniendienst weiter nach Singapur verschifft und von dort zum Zielhafen Batangas auf den Philippinen geliefert.



ATLAS 67

U -2 « - T A G E B D » M E D AUS

­ ES CH D

C H W A LT E R I R L U N E T U ASTRONA


68  VÖLLIG LOSGELÖST

text:  Ulrich Walter

KENNEDY SPACE CENTER FLORIDA/USA SHUTTLE LAUNCH PAD 39A 26. APRIL 1993, 9:50 UHR Da liege ich nun, auf dem Rücken, die Beine angewinkelt nach oben, etwa 60 Meter über der Erde im Middeck unserer Columbia, einer der amerikanischen Raumfähren, die uns sieben Astronauten in den Weltraum bringen soll. Dies ist der Moment, auf den ich jahrelang hingearbeitet habe. Ich schließe das Visier und höre nichts mehr, nur noch den aufs Notwendigste reduzierten, Stakkato-artigen Funkverkehr des Air-toGround. Dann der Start! Sechs Sekunden vor dem Abheben werden die drei Flüs­sigkeitstriebwerke gezündet, die die Spitze des Shuttles nach vorn drücken. In diesen sechs Sekunden schwingen die Astronauten wie in einer Schiffschaukel zunächst etwa eineinhalb Meter nach vorn und dann wieder zurück. Dabei vibriert das Shuttle, dass es durch Mark und Bein geht, wie ein Erdbeben. Drinnen bekomme ich nichts mit von dem überwältigenden Gedonner, das draußen den Zuschauern das Zwerchfell beben lässt, nichts vom hellen, peitschenden Krachen der Feststoffbooster. Über Funk ist nur zu hören: »SRB * Ignition. Lift-Off!« Das Shuttle hat abgehoben. Von 3 g, der berüchtigten starken Beschleunigung von der dreifachen Stärke der Erdanziehung, ist noch keine Rede. Die Beschleunigung ist nicht stärker als bei einem Flugzeugstart. Die Feststoffraketen sind jetzt die Arbeitspferde, die das Shuttle durch die Wolkendecke drücken. Ihr leicht ungleichmäßiges Abbrennen, bedingt durch eine inhomogene Verteilung des Treibstoffes, versetzt dem Shuttle schnelle, starke Beschleunigungsschläge, die es durch und durch erschüttern und zu unregelmäßigem Schwingen anregen. Alles an Bord wird gnadenlos durchgeschüttelt. Es ist ein Ritt mit 100 Sachen über Kopfsteinpflaster – und es herrscht Schweigen. Nur * Solid Rocket Booster, bis heute die leistungsstärksten Triebwerke, die je eingesetzt wurden

»D-2«-MISSION Die zweite deutsche Spacelab-Mission war der 14. Flug der Raumfähre Columbia. Ihr Start war ursprünglich für den Februar 1993 geplant, wurde jedoch mehrfach verschoben, bis er am 26. April 1993 gelang. Zuvor, am 22. März, musste der Start drei Sekunden vor dem Abheben abgebrochen werden, als die Haupttriebwerke bereits gezündet hatten. Die Computer zeigten an, dass eines der drei Triebwerke nicht den vollen Schub entwickelte. Daraufhin wurden alle Triebwerke ausgetauscht. Die siebenköpfige deutsch /US-amerikanische Besatzung ar­ beitete in zwei Schichten rund um die Uhr und führte in den fast zehn T ­ agen im Weltraum 88 wissenschaftliche Versuche durch.


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Das Shuttle durchschlägt die Wolkendecke

ganz wenige Worte werden zwischen der Missionskontrolle und dem Commander gewechselt. Jeder der Beteiligten weiß, dass dies mit Abstand der kritischste Moment der ganzen Mission ist. Wenn jetzt etwas Unvorhergesehenes passiert, gibt es keine Rettung. Auch die vielen Verbesserungen nach der Challenger-Katastrophe haben daran nichts geändert. Feststoffraketen sind wie Silvesterraketen, einmal gezündet, lassen sie sich nicht abschalten. Ihre Schubkraft ist so enorm, dass der hohe Luftwiderstand bei plötzlich ausbleibendem Schub das Shuttle auseinanderbrechen würde. Sollte sich also, wie damals bei der Challenger-Katastrophe, der Feuerstrahl eines porös gewordenen Boosters wie ein Schneidbrenner in den externen Tank brennen – es ließe sich auch heute nichts dagegen tun. In diesen zwei Minuten ist die Besatzung dem Shuttle auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Daher die wortlose Stille. Die Kraft, mit der man in den Sitz gepresst wird, hat zwischenzeitlich in dem Maße zugenommen, in dem das Shuttlesystem um den abgebrannten Treibstoff leichter geworden ist. Kurz vor dem Abschlussbrand der Feststoffbooster, genau zwei Minuten nach dem Abheben, sind 1,8 g erreicht. Der Schub der ausgebrannten Booster geht schnell auf null zurück, und gleich darauf werden sie abgesprengt. Ist das vorüber, geht ein Auf­atmen durch das Shuttle. Die Gefahr ist vorbei! Die Prob­ leme, die jetzt noch auftreten könnten, lassen sich alle irgendwie meistern, sie wären nicht mehr lebensbedrohlich. Nach diesem befreienden Schubloch, in dem die Booster abgesprengt wurden, erzeugen nur noch die Flüssigkeits­ antriebe den Schub. Ihr Abbrand ist wesentlich gleichmäßiger. Außerdem haben wir die dichten, turbulenteren Bereiche der


*MECO Main Engines Cut-Off


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Ulrich Walter, schwebend im Spacelab; unten: Die Shuttle-Ladebucht vor der Erde

Atmosphäre verlassen. Es sind kaum mehr Vibrationen zu spüren. Die ganze harmonische Kraft der Antriebe äußert sich jetzt ausschließlich in dem stetig zunehmenden Andruck in den Sitz. Nach vier Minuten und 20 Sekunden kommt der »Negative Return Call« von der Missionskontrolle Houston: Im Ernstfall wäre eine Rückkehr nach Kennedy Space Center nicht mehr möglich.

»Schließt man in Ruhe die Augen und lässt sich langsam durch den Raum driften, die Arme und Beine locker angewinkelt, dann gibt es keine äußeren Einflüsse mehr.« Nach insgesamt siebeneinhalb Minuten, wenn der riesige rostrote externe Tank zu 90 % entleert und das Shuttlesystem weniger als 200 Tonnen leicht geworden ist, hat der Andruck durch den Schub der drei Flüssigkeitsantriebe auf 3 g zugenommen, so dass man sich geradezu zwingen muss zu atmen: Den Brustkorb bei der Atmung mitsamt dem schweren Anzug nach oben zu stemmen ist unangenehm. Die Antriebe werden nun gedrosselt, und es geht noch 60 Sekunden bei diesen 3 g weiter. Dann, kurz bevor der Tank vollkommen leer ist, lässt der Commander wissen: »In 10 seconds we have MECO*«, und innerhalb nur weniger Sekunden fährt er den vollen Schub auf null herunter. Genauso plötzlich entlädt sich der Andruck von 3 g in die Schwerelosigkeit: Ich bin im Weltraum! Die Schwerelosigkeit ist ein Gefühl, das es auf der Erde in dieser Form nie gibt. Zunächst macht sich diese neue Erfahrung bei etwa 70 % aller Raumfahrer gar nicht wohltuend bemerkbar, sie leiden vielmehr an einem mulmigen Gefühl, der Weltraumkrankheit. Als erste Gegenmaßnahme ziehen viele unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern, was die Kopfbewegungen stark einschränkt. Das mildert, verhindert jedoch nicht grundsätzlich den Gang des letzten Essens nach oben. Bei vielen gesellen sich Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und anhaltendes Unwohlsein dazu. Die, bei denen ab­ solut nichts mehr geht, lassen sich von ihrem Kollegen eine Spritze mit Phenagran setzen, vom Commander vorläufig arbeitsunfähig schreiben und suchen sich zum Auskurieren der Raumkrankheits-Symptome für die nächsten Stunden ein ruhiges Eckchen – am besten ihre Schlafkoje. Aber nach spätestens 36 Stunden ist alles vorbei, und dann lässt sich die Schwerelosigkeit so richtig genießen. Schließt man in Ruhe die Augen und lässt sich langsam durch den Raum driften, die Arme und Beine locker angewinkelt, dann gibt es keine äußeren Einflüsse mehr. In meiner Jugend träumte ich oft, ich liefe vor unserem Haus eine abschüssige Straße hinunter. Ich wurde leichter und leichter, und irgendwann hob ich ab und flog nicht etwa, son* Main Engine Cut-Off

dern schwebte. Und dieses Gefühl, das ich während des Traumes hatte, ist nahezu identisch mit dem in der Schwerelosigkeit. Es ist unter Psychologen bekannt, dass der Traum vom Laufen, Abheben und Schweben unter den Menschen sehr verbreitet ist. Ist dieser Traum eine unbewusste Erfahrung der Schwerelosigkeit? Wie kann der Körper im Traum etwas als real empfinden, was er nie wirklich erfahren hat? Ein Oben und Unten gibt es nicht mehr. Diese fehlende Beziehung ändert mein Empfinden radikal. Ich fühle mich nicht mehr in eine Welt eingebettet, die mich gerade noch umgab, sondern alles Sein reduziert sich nur noch auf mich. Ich bin völlig frei. Und ich habe das elementare Gefühl, allein zu sein. Ich bin die Welt – sonst nichts! Ich horche in mich hinein: Was hat sich an mir geändert? Mir fällt auf, dass nichts mehr belastet. Die Kleidung, die immer noch wärmt, schwebt wie eine Hülle um den Körper. Auch sie ist schwerelos. Aber nicht nur die Last der Kleidung fehlt, auch die Last des eigenen Körpers ist verschwunden. Kein Körperdruck mehr auf den Fußsohlen beim Stehen oder auf den Allerwertesten beim Sitzen. Die Arme liegen nirgendwo auf wie sonst immer. Es ist eigenartig: Erst in dieser Situation, in der man absolut nichts mehr vom Körper spürt, erkennt man umfassend, welche Belastungen der Körper auf der Erde wirklich hat! Erst nach dieser Erfahrung wird mir heute das kaum spürbare Herunterhängen der Wangen bewusst. Und dieses leichte Schmetterlingsgefühl in meiner Magengegend ist, wie ich heute weiß, das Ziehen der Eingeweide unter dem Einfluss der Erdschwere. In der Schwerelosigkeit ist einfach absolut nichts mehr davon da, alles ist vollkommen unbeschwert. Woran merke ich dann eigentlich noch, ob ich einen Körper habe, wenn nicht an diesen äußeren Eindrücken? Die Antwort ist verblüffend: Es scheint so, als gäbe es ihn tatsächlich nicht mehr! Nichts deutet mehr auf ihn hin. Eigenartig, ein Sein ohne Körper! Aber was ist denn dann noch das, was ich als mein Sein empfinde? Ich tippe mit beiden Daumen auf die Zeige­ finger: Bin ich noch da? Natürlich bin ich noch da, ich spüre es, sonst könnte ich mir diese Frage nicht stellen. Aber genau das ist es! Das Einzige, was mir bleibt, was mich ausmacht, ist mein Denken. Ich denke, also bin ich! Und das ist das Besondere an der Schwerelosigkeit: Sie reduziert, auf einen selbst, auf den Geist.

Ulrich Walter ist Physiker, ehemaliger Wissenschaftsastronaut und derzeit Inhaber des Lehrstuhls für Raumfahrttechnik an der TU München. Er ist unter anderem Träger des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse und der Wernher-von-Braun-Medaille.


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fast alle freiheiten der mensch baut statuen für sie und singt ihr manche lieder das höchste gut! veräußert? nie! so hört man immer wieder als wort ist freiheit stets parat in reden wohlgelitten im praxistest, als recht und tat wird sie dann oft beschnitten der mensch, sein hab und gut sind frei gedanken, presse, drogen doch gilt das auch der narretei sowie dem ellenbogen

INGO NEUMAYER schreibt Gedichte und unterhält den Blog Zwölf Zeilen zur Zeit (www.zwoelfzeilen.com). Er lebt in Köln.


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