ATLAS 10 Deutsch - Mode

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DIE WELT BEWEGT: DAS MAGAZIN VON GEBRÜDER WEISS

AUSGABE 10

RAINER GROOTHUIS

Go west!

BARBARA VINKEN

Die Regeln beherrschen, die Regeln brechen ANDREAS CUKROWICZ

Eine Kiste, die was kann HARALD MARTENSTEIN

Mode, Mut und Kompromiss Und dann außerdem: Farben und Fehltritte, Stoffe und Styles

Mode








James P. Halloran, Key Account für alle Optionen, ob See, Straße oder Luft, ist begeisterter Bassist der Band HWB & downhole, die vor ­allem Rock-’n’-Roll-Songs ­covert. Er arbeitet gern bei Gebrüder Weiss Chicago, weil das Unternehmen zu ihm passt: Er kann seinen Einfallsreichtum ausspielen, sagt er, und mit der Firma zusammen wachsen.


Wie lange standen Sie heute Morgen vor Ihrem Kleiderschrank? Welche Sportarten verfolgen Sie? Lesen Sie Zeitung klassisch auf Papier oder auf einem Tablet? Etwas nicht irgendwie tun – sondern es auf eine bestimmte Weise tun, etwas heute lieben, was schon morgen vielleicht niemand mehr sehen mag: Die Mode macht es möglich. Zu sehen ist sie vor allem an uns selbst, wie wir uns im ­Alltag präsentieren und unseren Geschmack zur Schau stellen. Deshalb haben wir uns mit der Modetheoretikerin Barbara Vinken über Kleidung unterhalten. Aber auch die Art, wie gebaut wird, ist von Moden geprägt, das erklärt der Architekt Andreas Cukrowicz. Rainer Groothuis’ Reise in die USA offenbart Alltägliches und Kunstvolles*, während Gebrüder Weiss-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Modesünden berichten, die sie überwunden haben. Und natürlich gibt es auch in der Logistik Trends, die schon bald von neuen Trends überholt sein werden. Denn nichts ist so beständig wie der Wandel – in der Mode und im Leben überhaupt. * Kunst finden Sie auch auf dem Cover dieser zehnten Ausgabe: Es zeigt die Crown Fountain, eine Installa­tion des katalanischen Konzeptkünstlers Jaume Plensa im Millennium Park in Chicago.

Herzlich, Gebrüder Weiss


IN MODE 1

IN MODE 2

Preis für einen Bitcoin, in US -Dollar:

Was österreichische Online-Nutzer über Kryptowährungen denken:

12 % geben an,

25 %

Etwa können mit Digitalwährungen nichts anfangen.

über Krytowäh­ rungen gut Bescheid zu wissen.

am 28. April 2013

am 17. Dezember 2017

19.780,35

134

am 11. März 2018

40 %

Für sind Bitcoin, Ethereum und so weiter ein Begriff.

9.719,82

Quelle: Bitcoin Deutschland AG

Quelle: www.derstandard.at

IN MODE 3

Chiara Ferragni ist die einflussreichste Fashion-Bloggerin/Influencerin der Welt. Die Anzahl ihrer Instagram-Follower, in Millionen:

12,4 Im Vergleich – dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump folgen in Millionen:

8,6

IN MODE 4

Die fünf größten Modehändler der Welt (nach Umsatz in Milliarden US -Dollar 2015) Sears (USA ) z. B. Land’s End, Kardashian Kollection

39,85

Macy’s (USA )

27,69

TJX Companies (USA ) z. B. TK Maxx

25,88

LVMH Moët Hennessy Louis Vuitton (Frankreich)

22,70

Inditex (Spanien) z. B. Zara, Massimo Dutti

20,56

Quelle: www.instagram.com, Stand: 27.03.2018

Quelle: Handelsblatt

SHOPPING 1

VOLUMEN 1

Im Jahr 2017 kauften rund 4,1 Millionen ­Öster­reicherInnen ab 15 Jahren online ein. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von:

56 %

21.413

3.500

Schuhkartons passen in einen Standardcontainer (TEU ).

Quelle: DPDgroup Online-Shopper-Barometer

Quelle: www.containerbasis.de

SHOPPING 2

VOLUMEN 2

Bevorzugte Produktarten der öster­ reichischen Online-Kunden:

74,65 Mio.

Schuhkartons auf dem Schiff oder etwa für jeden Einwohner Tokios zwei Paar.

Gebrüder Weiss hat 2017 verschickt: Luftfracht

58.000 Tonnen

Bücher

Kleidung

Standardcontainer (TEU ) kann das derzeit größte Containerschiff der Welt, die OOCL Hong Kong laden. Das sind:

45 %

52 %

46,5 Mio. Pakete

Schuhe

hat DPD Austria 2017 trans­ portiert. Das sind im Durchschnitt etwas mehr als 5 Pakete pro ­Einwohner Österreichs.

12,7 Mio. Sendungen

Seefracht

117.000 Standardcontainer (TEU )

34 % Quelle: DPDgroup Online-Shopper-Barometer

Landverkehr

Quelle: Gebrüder Weiss


Die Welt bewegt:

RAINER GROOTHUIS

CAROLA HOFFMEISTER

10

Go west!

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ADRIANO SACK

FAMILIENSEITE

ie ich lernte, meine W Calvin-Klein-Unterhosen zu lieben

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Nachgelesen

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Es war einmal …

Doppelt getragen: erst ­Unterhemd, dann Tasche!

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FLORIAN SIEBECK

Das neue Schwarz

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LAURIN PASCHEK

Allheilmittel ­Digitalisierung?

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BARBARA VINKEN

Die Regeln beherrschen, die Regeln brechen

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IMKE BORCHERS

Orange zu Weiss

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CHRIS K ABEL

Der Mensch als Midas

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MARTIN K ALUZA

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Weltweit bewegt. Die Olympischen Spiele vom Amateurturnier zum Großereignis

ANDREAS CUKROWICZ

A XEL ZIELKE

GW-STIMMEN

Oh, wie peinlich!

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Die Welt orange

»Eine Kiste, die was kann«

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Es geht nicht um Mode, es geht um Style

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IMKE BORCHERS

Nigeria: Spitze!

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HARALD MARTENSTEIN

Mode, Mut und Kompromiss

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MIRIAM HOLZAPFEL

Auf Tuchfühlung mit den Launen des Geschmacks

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Impressum


Blick vom Navy Pier auf die Skyline der unteren Michigan Avenue; gegenüber: Das alte Kino in Des Plaines erinnert an die Zeit der großen Hollywood-Filme.


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GO WEST! Neustart und Zeitreise, die VerheiĂ&#x;ungen des Gestern und ein American Dream


12  GO WEST!

Grüße aus Des Plaines

reportage:  Rainer Groothuis »A little suburban town about 30 miles northwest of Chica­go« – so das Santa Fe magazine 1952 über Des Plaines. Hier – an diesem Ort, inzwischen eine Stadt mit 58.000 Einwohnern – ist es also angesiedelt, das neue Headquarter von Gebrüder Weiss in den USA . Im Juli 2017 verkündete der Logistiker die Gründung seiner eigenen Landesorganisation in Nordamerika, Standorte in Atlanta, Boston, Dallas, Los Angeles und New York wurden seitdem eröffnet, weitere sind in Planung. Im Herbst 2017 feierte Gebrüder Weiss die große Eröffnungsparty des Headquarters, zu der alle US -Mitarbeiter des Unternehmens eingeflogen w ­ urden. Noch heute wird gern darüber gesprochen, wie intensiv Heinz Senger-Weiss diesen Prozess begleitet hat, sind die Mitarbeiter dankbar, dass er auch extra zur Eröffnung herüberkam – ungewöhnlich für Unter­nehmenskulturen in den Staaten. Das Unternehmen bietet seine in 500 Jahren gesammelten Erfahrungen in Transport und Logistik nun auch im drittgrößten Land der Welt und seinen Märkten an. Luft- und Seefracht, spezifische Logistiklösungen wie Warenlagerung, Distribution,

E-Commerce-Solutions, Webshop-Systeme und vieles mehr: »Wir sind ein globales Netzwerk mit großen Expertisen in regionalen Märkten, unabhängig, kraftvoll präsent, wir sind ein exzellenter Service-Logistiker«, sagt Landesleiter Mark McCullough. Schottischer Abstammung, aufgewachsen in einem 2.300-Seelen-Kaff im amerikanischen Somewhere, brach er früh von zu Hause auf, ging mit 20 nach Kapstadt, von dort mit 23 nach Chicago in die Logistik. Mark ist ein Typ im besten Sinne, seine Stimme und sein Lachen dröhnen wie John Wayne, Humor und Verschmitztheit erinnern an Jack Lemmon – er ist die menschgewordene Motivation, ein Mitnehmer, der für jeden ein gutes Wort, eine nachfassende Frage bereit hat. Sein Umgang ist gewitzt, raubeinig, temperamentvoll, menschenfreundlich. Aber die Leistung muss stimmen in dieser Misch­ ung aus zugewandter Mitarbeiterführung und der Entschlossenheit, die Landesorganisation zum Erfolg zu steuern.

Erfolg, Freundschaft, Partnerschaft Denn Erfolg soll sein, und er beruht auf dem Engagement ­eines jeden Einzelnen. Obwohl die Frauen und Männer aus fast zwanzig Nationen erst in der letzten Juliwoche 2017 in


CRAIG DANIE

L

Der Chef des Ware­house ist Neckereien mit seinem Namen gewohnt – so fit wie James Bond ist der Mann allemal: Er macht Ninja-Training und nimmt an Ninja-Wettbewerben teil, er fährt Rad und schwimmt, geht fünfmal in der Woche zum Sport. ­Dazwischen turnt er ab und an am Hoch­ regal. »I’m a fitness ­fanatic« – man sieht es. Er findet so die ­Balance für seine Arbeit, sagt er. »Wo du arbeitest, bist du ein Stück ­zu Hause. Die Kollegen sind für mich wie eine Familie, und gemeinsam schaffen wir hier eine positive Umgebung für jeden.«

diesem Team zusammenkamen, fügen sich ihre individuellen Ecken und Kanten zusammen: Der gemeinsame Spirit motiviert. Es wird viel gelacht, dies Team hat Freude an seiner Arbeit. Ungewöhnlich für die USA , dass ein Unternehmen so langfristig denkt und handelt wie Gebrüder Weiss, nicht in Jahren plant, sondern in Dekaden, dass nicht die nächste Bilanz ausschlaggebend ist, sondern das Schaffen von Substanz. Das fördert Vertrauen. Die Kolleginnen und Kollegen schätzen das und freuen sich über diese vom Unternehmen gebotene Sicherheit. Denn langfristige Loyalität ist in amerikanischen Arbeitsverhältnissen eher selten, man trennt sich schnell, die normale Kündigungsfrist beträgt zwei Wochen. Viele Menschen arbeiten in der Sorge, austauschbar zu sein. Das ist hier tradi­tionell sehr anders. Auch wenn die Kunden in den USA prompter und herausfordernder sind als die europäischen – Mark sieht große Chancen: »Wir wollen langfristge Beziehungen zu unseren Kunden und Partnern aufbauen«, lautet sein Plan. Die individuelle Qualität der Leistungen ist neu in diesem Staat, dessen Brutto­ inlandsprodukt mit rund 19.400 Milliarden US-Dollar immer noch das größte auf dem Globus ist. Zucken seine Mundwinkel, lacht sie schon, sie verstehen sich mit Blicken: Zu Mark gehört Daniela Wurm-Hendricks,

die beiden sind das »dreamcouple of Gebrüder Weiss US «. Sie kennen sich seit 1996, als sie die erste Mitarbeiterin des Unternehmens in den USA überhaupt wurde. Nach kurzer Unterbrechung arbeiten sie schon lange wieder zusammen, bauen jetzt gemeinsam an der neuen Aufgabe. Sie ist Marks »workwife«, wie er lachend sagt, sie kommt aus dem Burgenland, ist ein »reines Gebrüder Weiss-Gewächs«. Nur wenige kennen den US -amerikanischen Markt so gut wie die »mother of the company«. »Natürlich verstehen wir uns als Neustart«, sagt sie. »Jetzt arbeiten wir ausschließlich mit den firmen­ eigenen Strukturen und -abläufen, für mich ist das fast wie eine zweite Geburt.« Gebrüder Weiss in den USA ? Ein Startup mit zwanzigjähriger Markterfahrung. Die zierliche Mun aus Korea strahlt das Selbstbewusstsein eines Menschen aus, der in seinen Job geradezu verliebt ist, sich in ihm und seinen Bedingungen gefunden hat. Optimismus könnte kaum mehr leuchten: »Gebrüder Weiss gibt uns die Gelegenheit, selbst Neues zu versuchen, voranzubringen, zu entscheiden – hier ist Platz zu wachsen.« Überzeugt vom Management und den Kolleginnen und Kollegen, ist sie stolz auf die Selbstverantwortung, ihre Spielräume und Entscheidungsfreiheiten. »Wir sind Partnerschaft nach innen und außen, den Kunden und den Mitarbeitern gegenüber.«


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TEAM CHICA

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GO

01. Derek Luedeman 02. Carlos Velazquez 03. James Halloran 04. Timothy Hinz 05. Sean Oestmann 06. Daniel Kaiser

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07. Julia Hagen 08. Young Lee 09. Tony Ko 10. Dalibor Kajmakoski 11. Theodore Gensch 12. Craig Daniel 13. Jim McGregor 14. Ieva Jensen

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15. Veronica Pineda 16. Ann LaFaver 17. Alicia Garcia 18. Rowena Chaplin 19. Donka Grozdeva 20. Nick Hitchen 21. Ronnie Caguiat 22. Jean Hodge

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23. Daniela Wurm-Hendricks 24. Mun Goodwin 25. Tatyana Fuklev 26. Alexandra Ocampo 27. Amanda Peters 28. Jeremy Häusle 29. Mark McCullough 30. Damien Griggs

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Aus Guatemala, Polen, Deutschland, Mazedonien, Australien, aus Bulgarien, Litauen, Irland, China, von den Philippinen und von anderswo stammend: In seiner Internationalität spiegelt dieses Gebrüder Weiss-Team auch Geschichte und Kultur des Landes, das aus der Stärke der Vielfalt entstanden ist. Menschen, die irgendwann einwanderten, mögen sie nun die ­ersten einer Familie oder Abkömmlinge zahlreicher Genera­tionen sein. Sind sie erst einmal angekommen, ver­ stehen sie sich als zugehörig, als Einwohner des »Land of

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the Free, Home of the Brave«, wie es in der amerikanischen Nationalhymne heißt. Und machen sich daran, ihren American Dream zu verwirk­lichen.

Now you’re entering … Ab 1835 besiedelten erste Einwanderer die Gegend um Des Plaines, unter ihnen viele Deutsche, die sich als Farmer niederließen und das Land mit Gemüse- und Obstanbau frucht-


16  GO WEST!

rmDaniela Wu

Hendricks

bar machten. Nachdem 1860 eine Eisenbahnstation gebaut worden war, entwickelte sich die Ansiedlung zu einem Knotenpunkt und wurde 1873 als Des Plaines gegründet. Wie so oft in den Staaten gibt es kein historisches Zentrum, das durch eine Kirche und einen Marktplatz gekennzeichnet ist. Der Ort ist eine Kleinstadt, wie wir sie aus Western kennen oder aus Filmen mit Doris Day: Man ahnt, wie sie sich entlang der Eisenbahngleise entwickelte, die mit dem Des Plaines River die Koordinaten der Stadt bilden, wie Zug um Zug die Straßen und Viertel hinter dem zentralen Gleis entstanden. Der Bahnhof ist so frisch wie das Civic Center und die Mittelschule, die Straßen und Bürgersteige sind breit und sauber: Des Plaines prosperiert, profitiert von seiner Nähe zur Boomtown. In den Wohnvierteln findest du No Soliciting!-Aufkleber an vielen Türen und Fenstern, skeptische Blicke treffen den Fremden aus vorbeifahrenden SUV s und Pick-ups: Man achtet darauf, wer hier herumläuft, Schilder warnen vor einer schlagkräftigen Nachbarschaftswehr; viele der Häuser werden ­zudem von privaten Security-Diensten kontrolliert. Im all­täg­ lichen Leben zeigt sich, wie wichtig Amerikanern Sicherheit ist. So ist ein Smalltalk freundlich bis herzlich, aber über ­Religion, Politik, Privates, Probleme spricht man eher nicht. Schließlich ist der Fremde eine unbekannte Größe. Diese Sehnsucht nach Sicherheit bedienen die vielen Werbespots in den TV -Sendern, welche Security-Dienste, Ver­ sicherungen, medizinische Gesundheits- und Heilangebote

Mark Mc Cu

llough

preisen. Alle paar Minuten wird Sicherheit für dich und die Deinen versprochen, mit klassischen Werbebildern von einer glück­lichen Kleinfamilie, Teil einer strebsamen gesellschaft­ lichen Mitte. Alle Clips sind multi-ethnisch, die imaginierte Mitte ist inzwischen nicht mehr nur eine weiße. Des Plaines ist eine kleine Zeitreise. Schwer ist es nicht, sich andere Häuser und Autos, die Menschen in anderer Kleidung vorzustellen. Schnell bist du sechzig, siebzig Jahre zurück. James Dean und Muddy Waters waren gestern hier – im Choo-Choo ist die Zeit stehengeblieben, und die Betreiber sind stolz darauf: »You are now entering the Choo-Choo-Diner, where 1953 is the year and common etiquette and manners are expected«, steht an seiner Tür. Hier werden anständige Umgangsformen angemahnt. Das Choo-Choo ist der Treff für die Nachbarschaft und ein stadtbekannter Ort für Kindergeburtstage: Über den langen Tresen fährt ratternd ein Zug, dessen Waggons in der Küche mit den bestellten homemade Burgers und French Fries beladen werden. Rose arbeitet seit sechs Jahren im Choo-Choo. Sie ist zwar gern hier und liebt die kleinen Gäste des Diner – lebt aber doch lieber in Chicago, das sie in nur 30 Minuten mit der Bahn erreicht.

Windy City Die Nähe zu Chicago erklärt die Ansiedlung des Gebrüder Weiss-Headquarters in Des Plaines: Der Großflughafen O’Hare ist nur wenige Minuten entfernt, Chicago der größte Eisenbahnknoten, seine Union Station der größte Bahnhof

Mun GO ODW

IN

» Jedem internationalen Unternehmen, das sich gerade im US-Markt aufstellt, versuchen wir den Weg möglichst leicht zu machen. Auch wenn man oft von Amerika als Land der Freiheit spricht, gibt es hier mehr Vorschriften, Regelungen und Gesetze als in jedem anderen Land weltweit. Wir versuchen, diesen Kunden die Angst bzw. das unvermeidbare anfängliche Zögern zu nehmen, das mit den ersten Schritten in diesem Markt einhergeht. Wir vereinfachen das System für sie und benutzen eine Sprache, die sie verstehen. Wir sind die Logistik-Experten, sie verlassen sich auf uns, quasi als verlängerten Arm ihres eigenen Geschäfts.«


Des Plaines: Das zentrale Gleis Unten: Chicago, Van Buren Station


18  GO WEST!

Das Choo-Choo-Diner

DAMIEN GRIG

GS

» Wir versuchen, die amerikanische Unternehmenskultur aufzulockern und neue Umgangsformen einzuführen. Wir zeigen unseren Kunden neue Möglichkeiten auf und schauen über den Tellerrand. Deshalb bieten wir ihnen andere Chancen und Lösungen.«

der USA . Die Highways sind ausgebaut, die legendäre Route 66 beginnt hier. Über Kanäle, Flüsse und Seen ist die Stadt mit dem ­Atlantik verbunden – gute Voraussetzungen, um ­jedwede logistische Aufgabe mit dem gesamten Besteck von Luft-, ­Straßen- und Seetransport zu lösen. In den 1770er Jahren errichtete Jean Baptiste Point du ­Sable – sein Vater war Kaufmann aus Quebec, seine Mutter schwarze Sklavin – einen Handelsposten am Tauschplatz der ortsansässigen indigenen Stämme, die ihre Region »Checagou« nannten. Durch die günstige Lage an den Wasserwegen von Michigansee und Chicago River bekam der Handelsposten schnell Bedeutung. Als Illinois dann 1818 den Vereinigten Staaten beitrat und besser erschlossen werden sollte, wurde eine Ost-West-Eisenbahnstrecke gebaut und Chicago damit das »Tor zum Westen« – wichtigster Marktplatz für Rohstoffe und Produkte weit und breit. Holz kam mit Schiffen aus dem Norden, Bauern brachten Lebensmittel auf die Märkte, Werkzeuge und sonstige Materialien kamen aus dem Osten, alles wurde vor Ort verkauft oder mit der Bahn weitertransportiert. So entstand ein Dorf, im August 1833 offiziell gegründet, nur vier Jahre später wurde aus dem Dorf eine Stadt – und die explodierte von 4.200 (1833) auf 500.000 Einwohner (1880), schon 1890 war die Millionenschwelle überschritten.


Der Navy Pier ist ein ausgedienter Fracht- und Militärkai – mit inzwischen neun Millionen Besuchern jährlich Chicagos größter Anziehungspunkt.

In der Metropolregion leben heute rund zehn Millionen Menschen, Chicago ist die größte Stadt des Bundesstaates Illinois (des Land of Lincoln; Claim: Illinois – Are you up for amazing?). Illinois geht es gut, es produziert eine Wirtschaftsleistung, die der der Niederlande entspricht, das Pro-KopfEinkommen liegt bei rund 66.000 US -Dollar. Chicago ist die starke Schulter, an die der Bundesstaat sich lehnt. Windy City ist Standort weiterer Superlative: Die größte öffentliche Bibliothek der Welt findet sich hier, 1885 wurde der erste Wolkenkratzer hier gebaut (und nicht in New York), die Stadt ist die drittgrößte der USA und Standort vieler nationaler und internationaler Unternehmen. Nicht umsonst werden mit 24 Städten weltweit Partnerschaften gepflegt. Aber auch auf dunkler Seite ist man vorn: Chicago hat die höchste Rate von Gewaltkriminalität in den Staaten, landesweit werden hier die meisten Morde begangen. Al Capone und John Dillinger wüteten in dieser Stadt – Kriminalität hat Tradition, mit der Findige ein Geschäft betreiben: Touristen können auf den Fährten des Verbrechens thematische Stadtrundfahrten unternehmen. Auch die größten Schlachthäuser der Welt waren in Chi­ cago angesiedelt, über deren unmenschliche Arbeitsbedin­­­g­u­ngen Upton Sinclair seinen Roman Der Dschungel schrieb,

in denen Bertolt Brecht seine Heilige Johanna der Schlachthöfe ansiedelte. Von ihnen wurden die gesamten USA mit Frischfleisch versorgt. Doch diese Schlachthöfe sind heute ebenso verschwunden wie viele andere produzierende Betriebe. Chica­go gehört zum Rust Belt, dem »Rostigen Gürtel«, der ältesten und größten Industrieregion der USA , die sich entlang der Großen Seen im Nordosten von Chicago über De­troit, Cleveland, Cincinnati und Pittsburgh bis zu den Ausläufern von Boston, Washington D. C. und New York erstreckt. Dieser Gürtel, in dem die Schwerindustrie ansässig war, Eisen, Kohle, Stahl verarbeitet wurden, hat unzählige seiner Arbeitsplätze verloren. Und sosehr Chicagos Downtown boomt, in der auch die Finanzwirtschaft sitzt, so arm ist der Süden der Stadt. Bezirke, die ehemals voller kleinerer Industrie- und Handwerksbetriebe waren, wirken wie Geisterstädte – der böige Wind vom Lake Michigan fegt durch zerborstene Scheiben und Fensterhöhlen.

Gestern für morgen Ende Januar. Wie in den USA seit 1790 üblich, schaut auch 2018 der Präsident auf sein Land und hinaus in die Welt: In der State of the Union geht es um die eigenen Leistungen im


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vergangenen Jahr, um Ausblicke auf das kommende, um Herausforderungen und Chancen, Potenziale und Projekte, Anspruch und bedingt: Wirklichkeit. Diese Regierungserklärung dauert rund eine Stunde und wird von allen großen Fernsehsendern live übertragen – unterbrochen von der Zustimmung der re­publikanischen Mitglieder des Kongresses, die alle paar Sätze zum Klatschen aufstehen. Der Präsident spricht von den Kämpfen der »Frontier«Zeit, vom Großen Zug nach Westen, von der Kraft dieser Na­ tion: »If there’s a mountain, we climb it – everyone. Together we are stronger than anyone.« Er beschwört Gemeinschaft: »One people and one American familiy«, ruft er, und seine Anhänger sind begeistert. Und das Ideal von Selbstverantwortung, die belohnt wird: »If you work hard and believe in yourself, you can be anything«, sagt er. Und am Ende, natürlich: »God bless America.« Er bringt die Geschichte zum Klingen. Denn wer einst nach Westen zog, suchte für sich und seine Familie eine neue Heimat, eine Heimat, die Frieden und Freiheit, Arbeit und Einkommen versprach. Den Schutz vor den Gewalten der Natur und den Ureinwohnern gab es nur in einer größeren Gruppe, dem Treck. Und das Grundprinzip lebt fort, beispielsweise in den beliebtesten Sportarten: Jeder Spieler kämpft hart für sich, die Kampfkraft der Einzelnen summiert sich im eigenen Team gegen ein anderes, den Feind.

Das Cadillac Palace Theatre – eine von 200 Spielstätten in der Stadt

In jenen Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der weltweit lockende American Dream geboren. Auch wenn die Erfahrung vieler Amerikaner, gerade unter den Zuwanderern der letzten Jahre, eine andere ist: Die Idee von einem sozialen Aufstieg in Sicherheit, der harte Arbeit belohnt, ist ein wuchtiger Antrieb. Auf diese und andere tief im Gedächtnis der Nation verankerten Ideen, Versprechungen, Erfahrungen bezieht sich der Präsident 2018. Und trifft die Gefühle jener, die verloren sind in den Weiten einer Globalisierung, die ihnen ihre Jobs genommen hat – vor allem aber das Gefühl gibt, in der Kultur des eigenen Landes fremd zu sein, nicht mehr dazuzugehören. In den letzten vierzig, fünfzig Jahren haben zahlreiche Minderheiten politische Mehrheiten für ihre Anliegen gefunden, hat sich die Kultur des Landes deshalb massiv verändert. Die über Generationen weitergegebenen Vorstellungen von Ehe, Familie und Religion sind tief erschüttert. Man kann sich verloren fühlen, wenn entgegen der eigenen verwurzelten Wertvorstellungen und Moral sich die Geschlechterrollen verändern und Männer und Männer, Frauen und Frauen händchenhaltend durch Straßen gehen, »Stärke« eine neue Bedeutung bekommt, die Kleinfamilie als Lebens­ ideal in Frage steht. Wer von dem alten Erziehungsziel Be kind, be useful, be respectful überzeugt ist, kann zumeist mit dem Laisser-faire der anderen nichts anfangen. Aus Gefühlen ist eine politische Haltung geworden, die einer liberaleren Weltsicht unversöhnlich gegenübersteht. Dieser Präsident verheißt eine Zukunft, die von den Werten der Vergangenheit getrieben werden soll. Und seine Anhänger, die sich als die »wahren Amerikaner« sehen, wollen genau das. Wir Europäer haben allerdings wenig Grund, mit schulmeisterlichem Zeigefinger auf diese USA zu zeigen: Die Parallelen zu den Entwicklungen in verschiedenen Ländern der »Alten Welt« sind offensichtlich. Seit 1966 antwortet ein Vertreter der aktuellen Opposition auf die State of the Union des Präsidenten. Er hat nur sechzig Minuten Zeit, seine Rückhand vorzubereiten, dann gehen die Sender live an den Austragungsort der Replik. Dieses Jahr antwortet Joseph P. Kennedy III , Großneffe von JFK und Enkel von Robert Kennedy, für die Demokraten auf die (Selbst-) Darstellungen des Präsidenten. Der Mann ist jung, 1980 erst geboren, seit 2012 schon im Repräsentantenhaus, er verzichtet auf Jackett und staatstragende Gesten, schlicht spricht er von einer Nation in Freiheit, von ihrer Selbstverpflichtung zur Offenheit, verspricht Sicherheit für Einwanderer und »Dreamer«. Dieser Kennedy ist das Gegenteil des Präsidenten – man ist gespannt, wie sich diese Polaritäten auswirken, sollten sie bei der nächsten Wahl aufeinandertreffen. Nach der Antwort der Opposition kannst du vor dem Fernseher sitzen bleiben und auf die Umfragen warten, die schon dreißig Minuten später über die Bildschirme laufen: Wer hat sich besser verkauft? Der Junge, der international nahezu unbekannt ist, bekommt ordentliche Noten und Anerkennung, aber der Präsident macht in den Augen seiner Anhänger ­seinen Job gut – er erhält überwiegend Zustimmung zu seinen Themen und Schwerpunkten.


GO WEST! 21

Dieses Land ist gespalten – die Risse öffnen sich zwischen der Sehnsucht nach Stabilität in Tradition und Geschichte hier und einem kosmopolitischen Weltbild dort.

Let’s go, let’s do

m dalib or kaj

a ko s k i

» Die Verfügbarkeit von Waren wird immer ­lokaler und immer schneller. Das fordert den Handel, eigene Logistikhäuser aufzubauen, weshalb Warehousing und Supply-Chain-­ Management gute Chancen bieten, zumal wir hier über sehr großes Know-How verfügen.«

In Downtown Chicago, »The Loop«

Auf dem Weg zurück ins Headquarter komme ich in der Elmhurst Road an Mobile Homes vorbei, einfach gebaute Häuser mit vorgesetzten Veranden und Balkonen, Zwitter aus Lauben und Wohnmobilen. Vor jedem stehen zwei bis drei Autos, an vielen weht die US -Flagge. Auch hier: Eine private Security fährt Streife, Hunde bellen, wenn du dich ungebührlich ­näherst. Irgendwann vor vielen Jahren wurden diese Mobiles von Tiefladern an ihrem heutigen Platz abgesetzt. Mobilität ist Teil des American Dream – nicht nur in Betty Blue lebt der Wunsch, weiterziehen zu können, wenn man es will. Im Headquarter treffe ich Dalibor Kajmakoski, der tatsächlich in der Greencard-Lotterie gewonnen hat und vor einem Jahr mit Frau und Kindern, Sack und Pack eingewandert ist. Vorher bei Gebrüder Weiss in Österreich, verstärkt er jetzt als Business Development Manager das Headquarter, macht aus ersten Aufträgen weitere und wirbt neue Kunden. Was die Firma für ihn besonders macht? »Die großen Ressourcen, das einmalige Know-How, das Familiäre des Unternehmens,


Des Plaines: Ecke Pearson Street / Mannheim Road

t h eo d o r e g

ens ch

dessen Unabhängigkeit und die Loyalität zu den Mit­arbeitern natürlich«, sagt er spontan und ergänzt: »In den Staaten spielt das Familiäre eine große Rolle. Das ist ein Big Point für ­Gebrüder Weiss, der uns vielleicht nicht gerade zu einem ­Unikat, aber doch sehr besonders macht.« Auf die Frage, ob die Politik in Washington Auswirkungen auf die Entwicklung des Geschäfts hat, sagt er: »Wenn Unternehmen in die USA zurückkommen und ihre Waren hier produzieren, wirkt sich das aus im Export, aber natürlich auch auf unsere Potenziale bei Warehousing und anderen Angeboten.« So hat auch das, wie so manches, mehr als zwei Seiten.

Schließlich begegnet mir Theodore Gensch, für alle nur »Ted« – sein Urgroßvater kam aus dem Süden Deutschlands, die Großeltern mütterlicherseits aus Mexico, er hat morgen 6-jährigen Firmen-Geburtstag. ­»Really a long time«, meint er schmunzelnd. Er ist National Compliance and Risk Manager für alle Bereiche. Dass sich Ted privat sehr für Geschichte interessiert, passt gut in dieses Unternehmen, das seine ­Wurzeln im Europa des 16. Jahrhundert hat: Immer wieder löst diese lange Historie bei amerikanischen Kunden Erstaunen und weiterführende Neugier aus, berichtet er. Wenn die erste Aufbauphase gelungen ist, wird Ted wieder an die Uni gehen und seinen Master in Law machen. Natürlich berufsbegleitend.

Rainer Groothuis, geboren 1959 in Emden  / Ost­ friesland, ist Gesellschafter der Kommunikations­ agentur Groothuis. www.groothuis.de Mit besonderem Dank an Julia Hagen, ­Daniela Wurm-Hendricks, Mark McCullough und das ­gesamte GW-Team in Des Plaines, das dann doch ins Hochregal kletterte.


It’s my home! Frank Shuftan über Windy City, Wirtschaft und Wetter Seine Eltern überlebten deutsche Konzentrationslager, sein Sohn studiert in Berlin – und das gern. Frank Shuftan ist Director of Communications des Cook County, des Großraums Chicago, in dem rund 10 Millionen Menschen leben. Wie würden Sie die Aussichten für Chicago aus wirtschaft-

Frank Shuftan

licher Sicht beschreiben? Frank Shuftan: Die Herausforderung besteht darin, den

Erfolg aus dem Stadtkern in die Außenbezirke zu exportieren. Die Situation in europäischen Großstädten ist gewissermaßen ähnlich: Die Stadtzentren sind sehr wohlhabend, die Umgebung weniger. Zum Beispiel findet man in Süd-Chicago Vororte, die richtig arm sind. Ein Jahrhundert lang gab es hier viel Schwerindustrie. Stahlwerke, Automobilwerke, Reifenhersteller usw. Unsere County ist von sehr viel Ungleichheit geprägt, und die gilt es zu überwinden. Zweck einiger unserer Programme ist es, dass diese Gebiete wieder Fuß fassen. Aber so etwas schafft man nicht über Nacht. Die Probleme sind nicht erst vorgestern aufgetreten, und Lösungen gibt es auch nicht innerhalb von zwei Tagen. Man muss die Sache langfristig angehen – die Projekte und Prozesse initiieren und dann hoffen, dass einige irgendwann Früchte tragen. Inwiefern wird die Logistik relevant? Logistik – darunter verstehen wir Lagerlogistik und Auslieferung sowie Gütertransporte – spielt eine sehr große Rolle in der Wirtschaft von Cook County. Der Großraum Chicago ist ein überaus wichtiger Knotenpunkt im US -Eisenbahnnetz.

Sämtliche Bahntrassen führen durch das Gebiet. Die Logistikunternehmen befördern die Container mit der Bahn übers Land. Die Umschlaganlagen im Süden und Südwesten des County haben einen großen Anteil am dortigen Wirtschaftswachstum. Schwer vorzustellen, dass sich daran in nächster Zeit irgendetwas ändert. Was bedeutet Ihnen Chicago? In Chicago bin ich zu Hause, hier bin ich auch aufgewachsen. Mein Vater stammte aus Deutschland und meine Mutter aus Ungarn. Sie waren Holocaust-Überlebende und kamen 1947 hierher. Hier haben sie sich ein neues Zuhause geschaffen, ein neues Leben aufgebaut, weil für sie Europa nichts mehr zu bieten hatte. Als Wohnort ist Chicago auch toll, weil hier Menschen aus aller Welt sind. Die Stadt ist lebendig und dynamisch. Zugegeben, die Gewalttätigkeit macht Probleme. Doch das ist eine recht komplexe Sache, es gibt sehr viele Gründe dafür. Es besteht aber kein Zweifel, dass diese Stadt als »Heimat« wunderbar ist – dem Wetter zum Trotz.

USA Die USA sind das drittgrößte Land der Welt. Sie sind die größte Volkswirtschaft der Welt. Die meistbesuchten Websites weltweit stammen aus Amerika (Google, Facebook, YouTube und Yahoo). Und hier gibt es die meisten Tornados pro Jahr – mehr als 1.400 waren es 2017.

EINWOHNERZAHL

319 Millionen BEVÖLKERUNGSDICHTE

KANADA

33 Einwohner / km2 Boston

New York City

Chicago

USA

FLÄCHE

9.857.306 km2 Los Angeles Atlanta Dallas PAZIFISCHER OZEAN

MEXIKO

ATLANTISCHER OZEAN

ZEITZONEN

9 (vier auf dem zusammenhängenden Festland, fünf auf den Gebieten außerhalb des Festlands)


24  ET CETERA: USA

Wie ich lernte, meine Calvin-KleinUnterhosen zu lieben

Oder: Warum Amerikaner einfach immer gut gekleidet sind


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text:  Adriano Sack Eigentlich hat der Mann keine nennenswerten Feinde. Er hat in seiner wechselhaften Karriere viel Geld verloren und noch viel mehr Geld verdient und wird derzeit auf circa 6,6 Milliarden Dollar geschätzt. Dafür braucht es Tatkraft und Rücksichtslosigkeit, aber Ralph Lifshitz, ein Sohn weißrussi­ scher Juden, ist kein Provokateur, kein Exzessmensch und hatte auch nur eine einzige verbürgte außereheliche Affäre. Und er handelt auch nur mit Kleidung. Das allerdings tut Ralph Lauren, wie er sich seit den allerersten Jahren seiner Laufbahn nennt, erfolgreicher als fast jeder andere. Deswegen führt der Weg zu seinem New Yorker Privatbüro in der Madi­ son Avenue vorbei an: • dem Doorman im Erdgeschoss, der mich anmeldet, • dem Doorman, der mich am Eingang eines mit dunklem Holz getäfelten Saals begrüßt und zum • Mädchen an der Anmeldung weiterschickt, • der Assistentin der Pressechefin, die mich durch einige ­weitaus weniger pompöse Flure leitet, • der Pressechefin, die mit mir noch einmal genau ­bespricht, was ich mit Mr Lauren besprechen will ­(vorher gab es über diesen Punkt bereits ausführlichen Mail­verkehr), • der bildhübschen Vorzimmerdame, die mich alle drei Minuten entschuldigend anlächelt und ansonsten tele­ fonische Anweisungen gibt: »Er möchte die Fotos heute noch sehen«, »Er möchte Sie morgen früh hier im Büro treffen«, »Er möchte die T-Shirts selbst aussuchen«. Wenn »er« mir vor dem Treffen seinen Rang vorführen wollte, so hat diese Inszenierung ihren Zweck erfüllt. Ich schüttele dann endlich einem kleinen älteren Mann die Hand, sehr braun gebrannt, das berüchtigte silberne Haar noch immer dicht. Er trägt ein enges, amerikanischen Armeeunterhemden nachempfundenes T-Shirt, eine 7/8-lange Baumwollhose und am Arm ein paar bunte Bänder. Ein Land, in dem die Milliar­

däre in diesem Look zur Audienz bitten, kann nicht ganz falsch sein, denke ich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Weltmacht USA das europäische Stilempfinden zertrümmert, unser in Jahrhunder­ ten geformtes Verständnis, was die Kategorie »gut gekleidet« bedeutet. Die Amerikaner haben mit Jeans, T-Shirt und Sportswear die Kleiderschränke der Welt erobert, und ihre Propagandaabteilung Hollywood hat dafür gesorgt, dass die sexuell begehrenswertesten Männer der Welt sich kleiden, als hätten sie ihre Klamotten im College, bei der Army oder auf der Ranch zugeteilt bekommen. Bei Frauen ist das ein bisschen komplizierter. Wenn es wirklich sexy oder schick sein soll, kommen selbst Amerikanerinnen nur schwer an den guten alten europäischen Designern vorbei. Aber für den Alltag sind sie auch gründlich durchamerikanisiert. Grob ge­ sagt heißt das, die Trennung von Arbeitskleidung und formal korrekter Kleidung ist aufgehoben, man kann heutzutage weltweit im gleichen T-Shirt zur Arbeit, in den Club und ins Bett gehen. »Die Welt ist viel freier geworden. Nur noch wenige Orte verlangen Krawatten. Ich kann mir meinen Look aussuchen. Wie ein Schauspieler, der verschiedene Rollen spielt«, sagt Lauren, der für seinen weißen Smoking bei öffentlichen Auf­ tritten genauso bekannt ist wie für seinen 100 Prozent authen­ tischen, weil komplett ausgedachten Cowboy-Look. Die Rolle seines Lebens war es, den Look der WASP s, der Ostküsten­ elite, zu perfektionieren und dabei selbst ein ProtoWASP zu werden. Eine Reihe von Gründen für die Befreiung der Welt findet sich in den USA . Sicherlich spielt die Erfindung der Jeans, der Arbeitshose für Goldgräber aus extrem strapazier­ fähigem Denim, eine wichtige Rolle. Aber vor allem verehrten die Amerikaner jene, die mit derartiger Kleidung leben und arbeiten mussten. Ein echter Mann ist ein Abenteurer, Entde­ cker und Pionier, und in einem Anzug kann man weder nach Öl bohren noch einen Mustang zähmen. Natürlich waren Männer wie Cary Grant, Gary Cooper, Dean Martin oder Frank Sinatra stets makellos gekleidet und wirklich elegant. Und noch heute sind die Amerikaner in Aus­ nahmefällen mindestens so formell wie die Europäer. Feinere


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Idol trotz – oder wegen – weißem Unterhemd: James Dean hier in … denn sie wissen nicht, was sie tun (1955)

Restaurants weisen vorsorglich schon bei der Reservierung auf ihren Dresscode hin, der sich wie folgt steigert: 1. keine Turnschuhe, 2. keine Jeans, 3. Jackettpflicht, 4. Krawatten­ pflicht. Wer mit Zivilcourage diese Anweisungen zu ignorieren versucht, wird hungrig nach Hause geschickt. Oder er sitzt in einem eleganten Laden mit einer hässlichen Krawatte und einer zwei Nummern zu großen Jacke, wie sie manche dieser Lokale leihweise für ihre Kunden bereithalten. Auch bei sogenannten Black­Tie­Events sollte nur derje­ nige auf einen Smoking verzichten, der gerade eine neue Kol­ lektion vorgestellt hat oder die Hauptrolle in einer gefeierten Fernsehserie wie Gossip Girl spielt. Darüber hinaus gibt es viele Anlässe, die man in Deutschland gar nicht kennt oder die hier anderen Regeln folgen: Passt ein Businesskostüm zum Babyshower, einer Geschenkparty für Neugeborene, zu der traditionell die Männer nicht eingeladen werden? Ist ein leichter Sommeranzug zum Barbecue okay? Darf ich nach dem Labor Day wirklich keine weiße Hose mehr tragen? Nein. Nein. Doch. Aber es empfiehlt sich immer, den Dresscode zu erfragen. Denn Amerikaner sind beides: in Ausnahmefällen formeller. Und im Regelfall lockerer.

Es waren die Schauspieler Marlon Brando und James Dean, die das Herrenunterhemd, das T­Shirt, die schwarze Lederjacke zur Garderobe von Sexsymbo­ len veredelten. Die modischen Exzesse der Hippies blieben im Großen und Ganzen folgenlos, aber die Körperbetontheit und Schnörkellosigkeit der ame­ rikanischen Funktionskleidung setzte sich durch. Der Begriff, der die Modephilosophie Amerikas vielleicht am knappsten beschreibt, lautet »casual«. Das heißt lässig, beiläufig, ohne erkennbare Mühe, demokratisch. Das aggressive Geschäft mit Lizenzen hat der Franzose Pierre Cardin erfunden, aber während dieser sich schon früh damit verzettelte und ramschig wurde, schafften es Amerikaner wie Ralph Lauren oder Calvin Klein (und zugegebenermaßen auch Giorgio Armani), den Massen­ markt zu bedienen und trotzdem keinen Imageschaden zu erleiden. Im Gegenteil: Je berühmter das Polo­Pony von Ralph Lauren wurde, je allgegenwärtiger der Schriftzug »Calvin Klein« auf den Bündchen von Unterhosen und auf Parfumflakons, desto strahlkräftiger wurden die Marken. Während das Ideal von europäischer Mode die Elitenbildung ist (sei es durch Preise oder verfeinerte Ästhetik), ist in Ame­ rika eben genau das gut, was alle tragen. »Es gab in den 50ern und 60ern eine sehr amerikanische Auffassung von Kleidung: die Selbstverständlichkeit«, erklärte mir der Designer Thom Browne: »Die Kleidung verschwand, wenn man sie trug. Diese easyness möchte ich wiederfinden.« Wenn sie nicht genetisch verankert ist, ist easyness bekanntlich harte Arbeit. Am ehes­ ten lernt man sie in Amerika.

Adriano Sack ist Schriftsteller und Journalist. Seit 2015 ist er Ressortleiter Stil – Reise – Motor bei der WELT. 2005 bis 2010 lebte er in New York, 2008 erschien im Piper Verlag Gebrauchsanweisung für die USA, dieser Text ist ein Auszug daraus.


Nachgelesen Am smartesten

Die Welt zu Gast

Dass neben Handys und Häusern auch urbane Siedlungsräume »smart« sein können, haben wir bereits im ATLAS 8 berichtet. Das Modell der vernetzten, nachhaltigen Stadt ist bei zunehmender Urbanisierung zum stadtplanerischen Ideal geworden. Welche Metropole diesem Ideal möglichst nahekommt, hat kürzlich der »Smart­Cities­Index 2017« des Technologie­Unternehmens EasyPark ermittelt. Die ersten vier der einhundert Plätze des Intelligenz­Rankings belegen Kopenhagen, Singapur, Stockholm und Zürich. In Berlin und Wien hingegen besteht Nachholbedarf, sie lan­ deten lediglich auf Platz 13 beziehungsweise 32.

Im siebten ATLAS schrieben wir in der Titelgeschichte von den Vorbereitungen zur EXPO in Astana, Kasachstan. Von Juni bis September 2017 war es dann so weit, die Weltausstellung empfing Besuch aus aller Welt – zum ersten Mal überhaupt in Zentralasien und 150 Jahre nach der zweiten EXPO in Paris, anlässlich derer die ersten Grundregeln für die Durchführung von Weltausstellungen entwickelt wurden. Die nächste EXPO findet 2020 in Dubai statt.

Zum Nachlesen Wen das Interview mit Barbara Vinken inspiriert hat, der findet hier Empfehlungen zur vertieften Lektüre. Und ebenfalls, wer wissen möchte, wie Karl Lagerfeld die Welt erklärt. Viel Freude damit!

Innovativ und kostengünstig Die Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« verfügt über eine anspruchsvolle Logistikab­ teilung im Hintergrund (wie berichtet im ATLAS 8). Aber einige Probleme lassen sich auch durch eine geschickt ausgeklügelte Liefer­ kette nicht lösen. Im organisationseigenen Krankenhaus in Amman, Jordanien, werden viele Kriegsverletzte behandelt, denen oft nur durch Amputation von Körperteilen geholfen werden kann. Damit sie schnell und möglichst flexibel mit Prothesen versorgt werden können, arbeiten Bio­Ingenieure an kostengünstigen und strapazierfähigen Prothesen im 3D­Druck­ verfahren. Das Material dafür stellt die Logis­ tikabteilung pünktlich bereit.

KARL LAGERFELD KARL ÜBER DIE WELT UND DAS LEBEN edel

BARBARA VINKEN ANGEZOGEN DAS GEHEIMNIS DER MODE Klett-Cotta

BARBARA VINKEN DIE BLUMEN DER MODE KLASSISCHE & NEUE TEXTE ZUR PHILO SOPHIE DER MODE Klett-Cotta

Ab aufs Rad!

Hinter dem QR-Code verbirgt sich ein Video aus dem Projekt in Amman.

Im Juli 2018 startet die Österreich­Rundfahrt zum 70. Mal. Das Rennen, das über acht Etappen ausgetragen wird, gilt wegen der vielen Berg­ fahrten als besonders anspruchsvoll. Gebrüder Weiss ist dem Radsport quasi aus Tradition verpflichtet: Der frühere Sponsor des Teams GW Oberndorfer ist in diesem Jahr offizieller Transport­ und Logistikpartner der Rundfahrt und spendet unter anderem das Führungstrikot »Bester Österreicher«. Wir wünschen den Teilnehmern allzeit gute Fahrt und viel Rückenwind!


ALLHEILMITTEL DIGITALISIERUNG? In der Logistik herrscht Hochsaison für Trendforscher. Sie träumen von intelligenten Transportbehältern, die ihren Weg von Sender zu Empfänger selbstständig finden. Die Fahrzeuge, die sie sich dazu flexibel und bedarfsweise aussuchen, sind fahrerlos und autonom unterwegs. Doch wie führt der Weg dorthin?


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TEXT: Laurin Paschek Ich bin am frühen Abend auf der Autobahn unterwegs, auf dem Rückweg von einem Interviewtermin an einer Hamburger Logistikhochschule. Gerade haben mir zwei Professoren das Konzept des Physical Internet erklärt. Die Zukunftsvision reicht ins Jahr 2050 und geht auf ein Manifest zurück, das der US -Professor Benoit Montreuil im November 2012 verfasste. Sie überträgt das Prinzip Internet auf die Transportwelt. Genau so, wie sich heute E-Mails und Datenpakete ihren Weg durch Leitungen und Internetknoten von Sender zu Empfänger suchen, sollen zukünftig die globalen Warenströme laufen. Dazu, so die Vision, kommunizieren intelligente Transportbehälter mit den gerade verfügbaren Fahrzeugen und suchen sich das jeweils passende in Echtzeit aus. Wie genau die Ware von einem Ort zum anderen gelangt, ist egal. Sie soll nur für einen möglichst günstigen Preis zu einem definierten Zeitpunkt am Zielort sein, Fahrzeuge und Umschlagzentren sollen dabei viel effizienter ausgelastet werden. Während ich das Gespräch Revue passieren lasse, werde ich müde und will einen Rastplatz ansteuern. Doch ohne Erfolg: Der Parkplatz ist überlastet und von mehreren Lkw blockiert. Ich fahre weiter, aber bei der nächsten Gelegenheit zeigt sich das gleiche Bild. Das wirft Fragen auf. Lösen wir die Probleme von heute mit Konzepten von übermorgen? Soll die EU -Kommission die Forschung am Physical Internet fördern oder doch besser erst einmal den Bau neuer Rastplätze? Der Spagat zwischen dem Jetzt und dem Möglichen prägt die Mobilitätswelt von heute. Wir sind aufgebrochen und wissen schon, wo wir ankommen wollen – aber nicht so recht, auf welchem Weg wir dorthin kommen. Entwickler präsentieren auf Messen und Kongressen die neuesten Telematiksysteme und stehen auf dem Weg zum Veranstaltungsort im Stau. Wissenschaftler forschen an der weiteren digitalen Vernetzung der Logistikkette, während Disponenten am Telefon darum ringen, ihre Fahrzeuge in die Abläufe an der Laderampe einzufügen. Die Digitalisierung ist kein Allheilmittel. Und doch kann sie dazu beitragen, einen Zielkonflikt zu lösen. Während das Transportvolumen in einer globalisierten Wirtschaft weiter anwächst, sind die Ressourcen begrenzt – sei es an Zeit, Geld, Fahrern, Fuhrpark, Straßen oder Rastplätzen. Mit digitalen Mitteln lässt sich eine bestehende Infrastruktur besser ausnutzen. Aber auch ethische Fragen und gesetzliche Vorgaben sind ein Treiber digitaler Innovationen. Angesichts des Klimawandels gilt es, den Ausstoß von Treibhausgasen zu senken. Das kann durch effizientere Motoren und elektrifizierte Antriebsstränge erreicht werden. Eine alternative Antwort liegt darin, die Prozesse entlang der Lieferkette zu verbessern. Zwar arbeiten Transportunternehmen daran schon seit langem. Doch genau das ist das Problem, denn viele Ansätze für mehr Effizi-

enz sind längst ausgereizt. Erst die fortschreitende Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten. Ein gutes Beispiel dafür ist die weitere Vermeidung von Leerfahrten. Viele – meist größere – Logistikunternehmen haben dieses Thema mit der Einrichtung von Sammelgutverkehren gelöst, die das Stückgut für den Hauptlauf zu einer Sammelladung zusammenfassen. Inzwischen bieten außerdem offene Plattformen digitale Tools an, die jeder ohne große Hürden nutzen kann. Sie fügen Einzelladungen automatisiert zu maßgeschneiderten Touren zusammen. Ihre Algorithmen berücksichtigen wichtige Faktoren wie Verkehrsdaten in Echtzeit, Lenk- und Ruhezeiten der Fahrer oder das Ladevolumen. Zwar stecken diese Plattformen noch in den Kinderschuhen. Aber sie bringen für alle Beteiligten Vorteile: Die Anbieter der Plattformen – oftmals als Start-up aufgestellt – können neue Geschäftsmodelle entwickeln, Transportanbieter jeder Größe unabhängig von der eigenen Softwareausstattung die Fahrzeuge besser auslasten und deren Kunden am Ende durch niedrigere Preise profitieren. Auch das Klima gewinnt dabei, weil weniger CO 2 in die Atmosphäre gelangt. Ein anderer Ansatz ist die vorausschauende Wartung, die auch als Predictive Maintenance bezeichnet wird. Viele unterschiedliche Sensoren erfassen dabei am Fahrzeug, in welchem Zustand sich Komponenten, Elektronik und Verschleißteile wie Bremsen und Reifen befinden. Die Daten werden anschließend analysiert, um Voraussagen zum Wartungsbedarf zu treffen. So lassen sich anstehende Werkstattbesuche besser in die Tourenpläne integrieren und Pannen auf der Straße verhindern. Unnötige Arbeiten durch zu frühe Wartung werden vermieden, ohne einen Liegenbleiber zu riskieren. Auch das schont Ressourcen und erhöht die Effizienz. Die Reise in die Logistikwelt von morgen führt über viele kleine Schritte. Dazu gehören auch Assistenzsysteme, die den Fahrer unterstützen und zum Beispiel dabei helfen, Unfälle zu vermeiden. Indem sie direkten Nutzen stiften, können sie sich refinanzieren und durchsetzen. Sie entlasten den Fahrer, so dass er sich in geeigneten Situationen auch fahrfremden Tätigkeiten widmen kann. Einige Branchenexperten sehen den Aufstieg des Fahrers zum Transportmanager voraus. Doch auch wenn technisch gesehen sogar der völlig autonome Lkw nicht mehr weit ist: Alleine schon aus rechtlichen Gründen wird der Fahrer auf längere Sicht die letzte Instanz bleiben. Innovation ist eben nicht nur Technik, sondern hat auch immer einen gesellschaftlichen Rahmen.

Laurin Paschek ist Mitinhaber des Redaktionsbüros delta eta in Frankfurt / Main. Ein Themenschwerpunkt seiner Arbeit für verschiedene Fachmagazine ist Technik für den Verkehr und die Energieversorgung von morgen.


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Die Regeln beherrschen, die Regeln brechen Ein Gespräch über Männer, Mut und die monetären Begrenzungen modebewusster Menschen INTERVIEW: Frank Haas »Was zieh ich bloß an?« Diese Frage mag sich schon mancher Mensch gestellt haben, der zur Audienz bei Barbara Vinken war. Schließlich hat sich die renommierte Literaturwissenschaftlerin auch als Modekoryphäe längst einen Namen gemacht. Also: Weißes Hemd, schwarzes Sakko? Im Prinzip nicht völlig verkehrt – aber mit Mode hat das nichts zu tun. »Modisch«, so Barbara Vinken, »ist der, der die Regeln des Stils kennt, sie aber immer wieder bewusst ein bisschen biegt oder bricht.« Frank Haas: Frau Vinken, ist es nicht furchtbar anstrengend, Modeexpertin zu sein? Barbara Vinken: Warum? Weil man immer am Ball bleiben

Barbara Vinken, geboren 1960 in Hannover, ist eine deutsche Literaturwissenschaftlerin. Nach Lehrtätigkeiten in Konstanz, Yale, New York, Bochum, Hannover, Hamburg und Zürich ist sie seit 2004 Professorin für Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie widmet sich in zwei Büchern auch dem Thema Mode und Kleidung als Mittel des Selbstausdrucks und der Kommunikation: Angezogen (2014) und Die Blumen der Mode (2016).

muss? Und weil man vielleicht nicht in Jogginghosen zum Bäcker darf. Ja, das stimmt! Man muss schon Gefallen daran haben, zu gefallen – und auch gewissen Gepflogenheiten folgen. »Wer Jogginghosen trägt, hat jede Kontrolle über sein Leben verloren.« Da hat Lagerfeld nicht ganz unrecht. Mir macht Mode Spaß. Dem ehemaligen US -Präsidenten Obama hat sie keinen Spaß gemacht. Er hatte fast ausschließlich graue und blaue Anzüge im Kleiderschrank. Und das ganz bewusst: So müsse er sich nie Gedanken um seine Garderobe machen und könne sich auf wichtigere Entscheidungen konzentrieren, hieß es einmal. Können Sie nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die sich um ihre Kleidung keine Gedanken machen wollen? Das ist ein Verzicht auf eines der größten Vergnügen des Lebens! Michelle Obama hat es offensichtlich nicht so ge­ macht. Aber Mode ist ein Privileg – oder eine Bürde, je nach­ dem – der Frauen in einer bürgerlichen Gesellschaft. Männer müssen dagegen immer wieder beweisen, dass sie etwas Wichtigeres im Kopf haben als die Frisur, die sie darauf tra­ gen, oder die Kleidung, die sie am Körper haben. Ich selbst empfinde das Aussuchen von Kleidern als großes Glück. Das entspannt mich wie das Kochen. Es gibt dem Leben Duft, Farbe, einfach Sinnlichkeit. Warum tun sich Männer denn so schwer mit dem Thema Mode? Das war nicht immer so. In der vorbürgerlichen Gesellschaft hat sich der adlige Mann mit kaum etwas anderem als der


In der frühen Neuzeit wurde der Burgundische Hof zum Vorreiter in Sachen französischer Mode. Strumpfhosen betonten die Erotik der männlichen Figur, die Farbe Rot war dem Adel vorbehalten.


In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Herrenkollektionen in Europa elegant, aber schlicht. Die Farben blieben gedeckt, und Kunstfaser wurde populär – man liebte es unkompliziert.


DIE REGELN BEHERRSCHEN, DIE REGELN BRECHEN 33

»Jogginghosen sind das Zeichen einer Niederlage. Man hat die Kontrolle über sein Leben ver­ loren, und dann geht man eben in Jogginghose auf die Straße.« Karl Lagerfeld

Schmückung seines Körpers beschäftigt – mit Seide, Schleifen und Parfums. Männer haben in schönen Stoffen ihre Beine gezeigt, und überhaupt wurde der männliche Körper in der adligen Gesellschaft als der erotischere angesehen. Im bürger­ lichen Zeitalter erzieht sich der Mann dann bewusst gegen diesen Körper. Körperbewusstsein wird nun als weibisch diffamiert. Seither stehen die Männer de facto unter einem Modeverbot, während die Bourgeoisie an ihren Frauen die Kastration des Adels zur Schau stellt. Der Soziologe Norbert Elias vertritt die These, dass unsere moderne Etikette am absolutistischen Königshof entstanden ist. Der Untertan wollte sich durch das Nachahmen ­seines Königs als berechenbar zeigen und so seine Karriere befördern. Geht es nicht auch beim Thema Mode darum, sich der Gesellschaft als berechenbar zu zeigen? Sicher. Mode ist wie eine Sprache. Du kannst eine Sprache richtig sprechen und die grammatischen Regeln beherrschen. Und so ist es auch mit Kleidung. Der modebewusste Mensch kann sich artikulieren, kann sich auch disziplinieren. Man zeigt, dass man die Regeln kann, dass man sie gut beherrscht und – dann fängt die Mode an! – dass man ihnen nicht nur blind folgt, sondern mit ihnen spielen kann, sie manipulieren kann, sie verändern kann. Und das ist die Lust an der Mode: zu zeigen, dass man selbstverständlich das Regelsystem beherrscht, die Beherrschung aber so vollkommen ist, dass man gleichzeitig auch einmal die Regeln unterlaufen, um­ spielen oder ironisieren kann. Insofern ist Mode etwas Intel­ lektuelles. Und Mode ist Veränderung. Veränderung ist aber gemeinhin das, was den Menschen am meisten Angst macht. Ist Mode daher nur den Mutigen zugänglich? Da würde ich Ihnen zustimmen. Mode macht Angst und fasziniert zugleich. Wie viel Geld braucht man denn, um modisch zu sein? Es ist einer der großen Irrtümer unserer Zeit, dass wir glau­ ben, Mode hänge am Geld. Das war zu Balzacs Zeiten noch so, wo die Leute im Übrigen noch einen sehr viel größeren Prozentsatz ihres Einkommens für Kleider ausgaben als wir heute. Mode hat immer weniger mit Geld zu tun, und das liegt jetzt nicht an H & M , Zara, Mango oder einer der anderen bekannten Kaufhausketten. Es liegt vor allem am VintageThrill. Man kann sehr modisch sein, wenn man von den ­Abfällen der Reichen lebt. Es gibt tolle Secondhand-Sachen, die relativ günstig zu haben sind. Können die angesprochenen Textil-Discounter auch Mode? Ja, durchaus. Aber ich selbst lehne es ab, dort einzukaufen, weil das Prinzip dieser Läden auf einer doppelten Ausbeutung beruht: Erstens, weil die Kollektionen von Designern fünf Minuten nach Veröffentlichung bereits als Nachbauten in diesen Discountern hängen. Da wird geistiges Eigentum nicht respektiert. Und zweitens, weil die Bedingungen, unter denen diese Kleidung produziert wird, bekanntermaßen vollkommen inakzeptabel sind. Es gibt aber eigentlich noch einen dritten Aspekt, den man hier berücksichtigen sollte. Nämlich?


34  DIE REGELN BEHERRSCHEN, DIE REGELN BRECHEN

Der Augensinn wird in der Mode generell überwertet. Natür­ lich sieht man Mode. Aber das Kleid ist auch unsere zweite Haut. Wie ist der Stoff? Schmiegt er sich an, umschmeichelt er uns, gleitet er kühl? Können wir uns frei bewegen, fasst er uns ein und hält er uns? Wir fühlen die Weichheit, die Schwere, die Leichtigkeit eines Stoffes, seinen Schwung, der mit dem Körper mitgeht. Knistert er, rauscht er, duftet er? Liegt nicht das Imageproblem, das die Mode in manchen Kreisen bis heute hat, genau in dieser Augenscheinlichkeit begründet? Kommt in der Diskussion um Mode nicht viel zu kurz, wie ein Kleidungsstück auf uns selbst wirkt, was es in uns auslöst? Auf jeden Fall. Wir reden über ein Kleidungsstück, als wäre es ein Bild. Der Tastsinn, der Geruchssinn, das Gehör – diese Sinne werden marginalisiert zugunsten der Überbetonung des Auges. Schade eigentlich. Das bedeutet, der Mensch, der sich auf den Pfad der Mode begibt, wird sich dadurch auch selbst besser kennenlernen? Natürlich. Ein Kleid macht etwas mit einem. Wie ich gehe, wie ich sitze – das Kleid bestimmt meine Haltung. Insofern setzt es mich in ein Verhältnis zu mir selbst. Wäre eine modische Gesellschaft eine bessere Gesellschaft? Ja, es wäre eine höflichere Gesellschaft, die den anderen mit mehr Achtsamkeit ehrt. Es wäre aber auch eine Gesellschaft, die sich der Einzigartigkeit des Körpers viel klarer bewusst wäre. Damit meine ich nicht die Schönheit des Körpers im herkömmlichen Sinn, sondern eine Schönheit, die der Körper vor dem Hintergrund seiner Vergänglichkeit bekommt. Ich rede von einer Gesellschaft, die die Flüchtigkeit des Momen­ tes nicht mehr verleugnen würde. Eine Gesellschaft, die im Leben glücklicher wäre, weil sie mit der Hinfälligkeit des eigenen Körpers anders umgeht. Aber wenn alle Menschen modisch wären, ist dann die ­Wirkung von Mode nicht aufgehoben? Braucht Mode nicht einen Kontrast? Ja, klar. Es ist gar nicht einfach, Mode zu definieren. Ein Ver­ such: Die Kleidung ist ein Code, der durch die Mode kommen­ tiert wird. Die Mode macht diesen Kleidercode erst einmal sichtbar, weil sie ihn als Kommentar eben erläutert, über­ betont, verschiebt, verrückt oder entstellt. Insofern haben die Modesoziologen recht, wenn sie sagen, dass Mode etwas Ironisches, ja: Lust an der Zerstörung des Status quo hat. Nur bricht diese Aggression sich nicht in nackter Gewalt Bahn, sondern drückt sich geistreich und formvollendet aus. Inso­ fern ist Mode ein sehr ziviler Akt des Konfliktes. Sie ist das höchste Raffinement gegenüber verbaler und körperlicher Gewalt. Gibt es ein Modephänomen, das Sie nervt? Ich finde, dass im Augenblick die großen Luxuslabels der ­Branche ein merkwürdiges Spiel spielen. Seit Jahren halten sie uns den Spiegel vor, um uns zu zeigen, dass wir alle Fetischis­ ten sind. Am meisten sticht da Chanel hervor, indem sie sagen: »Du denkst, dass nur die anderen Markenfetischisten sind, aber du selbst kaufst doch ebenfalls alles, solange da nur unser Label draufsteht. And I give it to you! Hier hast du’s!« Da wird

»Was ist ein Stil? Zunächst ­ein­mal der Bruch mit Konventionen, ein Riss in der anerkannten ­Wirklichkeit.« Karl Lagerfeld


Im neuen Jahrtausend kehrt die Farbe in die Herrenmode zurück, zumindest auf den Laufstegen der großen Designer wie bei der Präsentation der Herbst/ Winter-Kollektion von Angus Chiang anlässlich der Paris Fashion Week im Januar 2018.


36  DIE REGELN BEHERRSCHEN, DIE REGELN BRECHEN

dem »doofen Kunden« auf eine wenig geistreiche Weise unter die Nase gehalten, dass er in seinem grotesk schlechten Ge­ schmack jetzt schon wieder auf dieses Branding reingefallen ist. Dieser Zynismus hatte eine gewisse Zeit seine absolute Berechtigung, aber so langsam läuft sich das tot. Also Weih­ nachtsbäume mit Louis-Vuitton-Schmuck, der hauptsächlich die Initialen zum Funkeln bringt, waren immer schon irre, aber sollten jetzt doch endlich verschwinden. Diese Labels führen uns unsere Barbarei nun zu lange schon vor Augen. Zur Mode gehört auch Farbe. Die tragen Sie selbst offenbar nicht so gern. Doch! Aber heute trage ich Trauer um Alaïa*. Ein unglaub­ licher Designer, den ich sehr mochte. Deshalb trage ich im Moment meine schwarzen Alaïas. Sonst trage ich gerne Farbe. Farben zu tragen ist in bürgerlichen Gesellschaften ein Privileg der Frauen. Männer tragen klassischerweise eher gedeckte Farben – Nachtblau, Anthrazit. Und das finden Sie gut? Nee! Natürlich sollte die Opposition von männlich versus weiblich, die noch heute die Mode bestimmt, zersetzt werden. Männer sollten diese Fake Corporate Identity endlich aufge­ ben, Farben tragen und nicht so tun, als verschwendeten sie keinen Gedanken an die Kleidung, die sie tragen. Wenn wir diese modische Zweiförmigkeit nicht mehr hätten, dann wäre das doch eine viel ausgeglichenere Gesellschaft. Das soll aber nicht heißen, dass sich die Frauen den Männern angleichen sollen. Eher sollten die Männer in Richtung Frauen gehen. Aber soll gute Kleidung an Männern nicht gerade das ­Männliche und an Frauen das Weibliche betonen? Ich rede nicht von Unisex. Das ist in der Tat öde und außerdem eher graue Utopie als Realität. Seit Beginn des 20. Jahrhun­ derts hat sich bis in die 80er Jahre die weibliche Mode an der männlichen orientiert. Das war eine Einbahnstraße. Und im Moment ist es nun eher so, dass Techniken der weiblichen Haute Couture in die männliche übertragen werden. Etwa der Kontrast zwischen Haut und Stoff, die Durchsichtigkeit, die Ausschnitte, die Rüschen, das ganze Spiel, das den Körper zum Ornament macht. Mittlerweile sitzen die Herrenanzüge nicht nur hauteng, es zieren sie auch auf tiefrotem Grund barocke Rosen. Die Richtung hat sich also in den vergangenen Jahren umgedreht. Männermode zeigt die Reizentfaltung, die im bürgerlichen Zeitalter der weiblichen Mode vorbehalten war. Die minimalistische Ästhetik im Bauhaus-Stil – form follows function – verschwindet langsam. Was sagen Sie denn zu Orange? Orange ist das neue Schwarz, spätestens seit Hermès (lacht). Aber eigentlich sind ja alle Farben das neue Schwarz.

Frank Haas wurde 1977 ­geboren und studierte ­Geschichte und Philosophie. Er ist verantwortlich für die Unternehmenskommuni­ka­tion bei Gebrüder Weiss und C ­ hef­redakteur des ATLAS.

»Wenn Sie mich fragen, was ich in der Mode am liebsten er­funden hätte, dann würde ich s­ agen: das weiße Hemd. Für mich ist ein Hemd die Grund­lage von allem. Alles andere kommt erst danach.« Karl Lagerfeld

* Der in Tunesien geborene, in Paris lebende Modedesigner Azzedine Alaïa ist kürzlich im Alter von 77 Jahren gestorben. Der Designer galt als der »letzte Couturier« und als »Bildhauer der Mode«. Er wurde bekannt in den 1980er Jahren für seine hautengen Stretch- und Leder-Kleider und die Verwendung des Reißverschlusses als Zierelement.


O OH, H, WIE PEINLICH!

Trends kommen, und Trends gehen. Zum Glück – denn wir alle haben sicher schon einmal eine Mode mitgemacht, die wir rückblickend lieber ausgelassen hätten. Oder wir halten hartnäckig an einem Trend fest, den andere vielleicht schon längst vergessen haben, denn vorübergehende Moden prägen unseren individuellen Stil. GW ­Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben uns berichtet.

OLIVER HAJEK GW SALZBURG, ÖSTERREICH

Ich fand in den 80er Jahren Cowboystiefel großartig, und ich habe mein Paar geliebt. Das ist heute kaum mehr vorstellbar. Außerdem war es damals der Hit, mit einem einteiligen Overall auf die Piste zum Skifahren zu gehen – wenn ich heute diese Fotos sehe, graut mir wirklich.


38 GW-STIMMEN

CLAIRE LIN GW HONGKONG, CHINA

Als ich jung war, mochte ich sehr coole, manchmal übertriebene Styles, die beson­ ders viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Damals war Hip­Hop mein Ding, mit Baggy Pants, viel Gel in den Haaren, Schlabber­T­Shirt und selbstzufriedenem Gesichtsausdruck. Als Jugendlicher findet man das alles toll. Aber ich kann es mir über­ haupt nicht vorstellen, heute diesen Stil zu tragen.

MERLIN DOW GW CHICAGO, USA

Als ich jung war und wasserstoff­ blondes Haar hatte, war es wohl schick, einen Topfschnitt zu tragen. Heute als Vater würde ich das meinem Sohn nie erlauben ;­)

ŠTEFAN ESZTERGÁLYOS GW SENEC, SLOWAKEI

Als ich jünger war, haben mich Trends und Mode nicht so wirk­ lich interessiert. Aber vor ein paar Jahren fing ich an, Strümpfe zu sammeln, die wilde Farben oder Figuren drauf hatten. Ab und zu merke ich, wie Kunden schmunzeln oder ver­ suchen zu sehen, welche Strümpfe ich trage. Manch­ mal dient das auch als »Eisbrecher« bei Meetings. Selbstverständlich kann man sie nicht auf jeder Konferenz anziehen. Es gibt aber Situationen, in denen sie einfach prima sind.

MAIDA SEHMEHMEDOVIC GW SARAJEVO, BOSNIEN-HERZEGOWINA

Plateauschuhe haben mich in den 90er Jahren begleitet. Und wenn möglich, ein bis zwei Nummern größer als meine eigentliche Schuhgröße, sie sollten noch größer aussehen, als sie ohnehin schon sind – warum, weiß ich heute gar nicht mehr. Und Zwirbelhaare waren ein Muss! Rückblickend finde ich das wirklich peinlich, das würde ich heute nicht mehr tragen.


GW-STIMMEN 39

MICHAEL ZHANG GW PEKING, CHINA

Vor zwanzig Jahren in China war Karaoke der absolute Renner. Es war immer spannend, wenn wir mit Mikro vor unseren Freunden wie Super­ stars auftraten. Heute ist Karaoke in China nicht mehr so verbreitet. Die Jugendlichen finden anderes spannend. Schaue ich auf unsere Vorführungen von damals zurück, kommt es einem vor, als würde man in einem kleinen dunklen Zimmer vor dem Bildschirm herumschreien. Hat das wirklich so viel Spaß gemacht?

MIRELA BROJBAN GW BUKAREST, RUMÄNIEN

Trends sind Teil unseres Lebens, selbst wenn sie manchmal so wechselhaft sind wie das Wetter. Irgendwann erfasst ein Trend oder eine Marotte jeden von uns. Das gilt auch für mich. In den frühen 90er Jahren färbte ich mir die Haare schwarz, wegen meines Vorbilds Michael Jackson. Das habe ich allerdings nie bedauert und trage 20 Jahre später immer noch einen schwarzen Schopf.

SILVIA SMAILOVIC GW ALTENRHEIN, SCHWEIZ

Peinlich, peinlich: Meine größte Modesünde waren Buffalos. Ohne diese Schuhe ging ich nirgends hin – heute würde ich einen weiten Bogen um diesen Trend machen.

SONJA THALER GW WOLFURT, ÖSTERREICH

Meine Modesünde war in den 90er Jahren die Diddl­Maus – eigentlich fand ich die immer schon kitschig, aber wie es bei der Mode so ist, bin ich dem Trend gefolgt. Die Diddl­Maus war damals einfach überall: auf Briefpapier, als Kuscheltier, auf T­Shirts, Federschachteln, zu jedem Anlass gab es eine passende Diddl­Maus. Heute würde ich wahr­ scheinlich in eine andere Modefalle tappen, die mir in zehn Jahren dann wieder peinlich wäre.


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CHINA  / DEUTSCHLAND | Gebrüder Weiss China hat kürz­ lich in Zusammenarbeit mit dem »Automotive Desk« des Office in Frankfurt das Unmögliche möglich gemacht: Als ein dringender Sonder­ transport von rund 300 Tonnen für einen Automobil-Kunden wegen Kapazitätsengpässen zu scheitern drohte, charterte die Niederlassung Frankfurt kurzerhand vier kom­plette BOEING 747-400F . Nach einer pünktlichen Anlieferung in Luxem­ burg ging die Reise nach Zhengzhou und von dort mit Lkw weiter nach Changchun. Alles verlief reibungslos.

CHINA | Neue Sprachrohre für Fernost: Gebrüder Weiss verstärkt die digitale Kommunikation in China und ist jetzt mit eigenen Kanälen auf der wichtigsten chinesischen Social Media Plattform »We Chat«, dem chinesischen Google-Äquivalent »Baidu« und dem YouTube-Pendant »Youku« vertreten. Wöchentliche Updates in Mandarin und Englisch sprechen die Mitarbeiter an den ins­gesamt 18 Standorten und deren potenzielle Kunden an.

USA | Gebrüder Weiss hat ein halbes Jahr nach der Gründung der Landesorganisation in den USA ein Büro in Dallas, Texas eröffnet. Das neue Büro ist nach Chicago, Atlanta, Boston, Los Angeles und New York der sechste Standort in den USA . Mit der orangen Präsenz im Lone Star State Texas wird das bisherige Serviceangebot sinnvoll ergänzt und das globale Netzwerk mit lokalem Know-how unterstützt.

DIE WELT ORANGE


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DEUTSCHLAND  / TURKMENISTAN | Das Allgäu, Tor zur Welt: Mit über 6.000 Kilo­ metern Strecke ist der Lkw-Transport von Wangen im Allgäu nach Ashga­ bat in Turkmenistan beziehungs­ weise Astana in Kasachstan einer der längsten Gebrüder Weiss-Landtrans­ porte. Für den Kunden »Waldner Laboreinrichtung« transportiert Gebrüder Weiss seit 2016 Güter auf dieser Route und bindet so das All­ gäu an die Neue Seidenstraße an.

ÖSTERREICH  /   M ITTEL- & OSTEUROPA | Gebrüder Weiss war auch 2017 wieder Marktführer im österreichischen Home DeliveryGeschäft. Vergangenes Jahr lieferte GW pro.line home 300.000 Sen­ dungen bis zur Verwendungsstelle beim Endkunden. Der stetig wach­ sende Onlinekonsum, insbesondere in der Vorweihnachtszeit, sorgte für eine sehr gute Auftragslage. Go east: Der Last-Mile-Lieferservice ist ab sofort auch in Tschechien, Kroatien, Serbien, Ungarn und der Slowakei verfügbar. Eine Aus­ weitung auf weitere osteuro­päische Länder ist geplant.

KROATIEN | Mit einem neuen Büro in der Hafenstadt Rijeka verstärkt Gebrüder Weiss seine Präsenz in Kroatien. Der Standort ist an die Niederlassung in Zagreb angeschlossen und wird die Kunden an der oberen Adria betreuen. Rijeka, drittgrößte Stadt Kroatiens und der größte Handelshafen des Landes, gilt als Tor vom und zum osteuropäischen Binnenland.

GEORGIEN | Am Ufer des Schwarzen Meeres in Georgien, im beschaulichen Luftkurort Anaklia, ist ein riesiges Bauvorha­ ben geplant: »Anaklia City«, ein Tiefwasserhafen mit angrenzendem Industriegebiet. Der Logistik-Hub mit einer jährlichen Umschlagka­ pazität von mehr als 900.000 TEU soll 2021 eröffnet werden und den Güterverkehr auf dem Seeweg ent­ lang der Seidenstraße unterstützen. Gebrüder Weiss, seit vier Jahren mit einer Niederlassung in Tiflis vertreten, ist Logistikpartner des Konsortiums von »Anaklia City« .

ARMENIEN | Mit einem neuen Büro in der Millionenmetropole Jerewan baut Gebrüder Weiss seine Präsenz entlang der Seidenstraße weiter aus. Durch den Anschluss an die Niederlassung in Tiflis können regelmäßig verkehrende Sammel­gut-Transporte von Öster­ reich, Deutschland und Italien über Georgien nach Armenien angeboten werden. Der neue Standort ermög­ licht exportorientierten Unterneh­ men den Eintritt in den armenischen Markt und stärkt gleichzeitig den Export aus der Kaukasusregion nach Europa.



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»EINE KISTE, DIE WAS KANN« Andreas Uebele und Andreas Cukrowicz im Gespräch über das Hauptquartier von Gebrüder Weiss, über Zweckmäßigkeiten und Spuren der Zeit INTERVIEW: Andreas Uebele

PROTOKOLL: Miriam Holzapfel

Einfach und selbstverständlich, nicht spektakulär, sondern aufregend bescheiden – nach diesen Maßgaben bauen die Vorarlberger Architekten Cukrowicz Nachbaur, und so haben sie auch die Firmenzentrale in Lauterach entworfen. Zuletzt hat das Büro den Wettbewerb für das neue Konzerthaus in München gewonnen. Andreas Uebele hat mit seinem büro uebele im Jahr 2011 das Orientierungssystem für den Neubau der Messe Innsbruck entwickelt, ebenfalls ein Projekt von Cukrowicz Nachbaur. Seitdem verbindet den Architekten und den Kommunikationsdesigner nicht nur eine fruchtbare Zusammenarbeit, sondern auch eine gute Freundschaft.


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Je nach Lichteinfall geöffnet oder geschlossen, immer aber schwebend über dem Verkehr: das Hauptquartier an der Bundesstraße


»EINE KISTE, DIE WAS KANN« 45

Andreas Cukrowicz wurde 1969 in Bregenz geboren und arbeitet seit 1992 mit Anton Nachbaur-Sturm zusammen. Seit 1996 betreiben die beiden das Büro Cukrowicz Nachbaur Architekten, dessen Arbeiten mit etlichen bedeutenden internationalen Preisen ausgezeichnet wurden, darunter der best architects award 2014 in Gold für das Vorarlberg Museum, der International Architecture Award 2012 für das Musikhaus Röthis, der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit für das Gemeindezentrum St. Gerold und der Staatspreis Architektur sowie der best ­architects award 2008 für das Stadtbad Dornbirn.

Andreas Uebele: Das Headquarter von Gebrüder Weiss scheint zu schweben. Man steht quasi wie ein Kapitän auf der Brücke und hat den Überblick. Andreas Cukrowicz: Genau. Und so muss das sein. Die

­ osition oberhalb des Geschehens entspricht der Idee eines P Hauptquartiers. Du hast auf diese Weise zwar viel mehr Oberfläche, die gedämmt werden muss. Und das kostet. Aber die Frage ist doch immer: Lohnt sich das Geld, das ich ausgebe? Was bekomme ich zurück? Was diesen Bau angeht, würde ich sagen: eine Menge. Aus demselben Grund haben wir uns für die quadratische Grundform entschieden. Das ist eine starke Form, gleichwertig in alle vier Himmelsrichtungen. Daraus hat sich alles andere entwickelt. Gebrüder Weiss ist ein wichtiges Unternehmen, nicht nur im Ort als Arbeitgeber, sondern auch von überregionaler ­Bedeutung. Wie kann man diese Bedeutung in Architektur umsetzen? Muss das über einen Hochpunkt passieren? Kann man machen. In Lauterach hätte das aber nicht gepasst, städtebaulich nicht und nicht im Kontext mit der Umgebung.

Deshalb haben wir für die Wichtigkeit des Unternehmens einen anderen Ausdruck gefunden, nämlich Ausdehnung, die sowohl Größe als auch eine gewisse Gelassenheit ausstrahlt. Dass die Fläche über nur zwei Geschosse organisiert ist, korrespondiert mit den eher flachen Hierarchien im Unternehmen. Wir haben verstanden, dass hier Kontakte der Mitarbeiter untereinander erwünscht sind und dass es wichtig ist, dass der Chef nicht irgendwo oben in der 27. Etage sitzt, sondern dort, wo auch die anderen Mitarbeiter sind. Das war uns sehr sympathisch, denn so ticken wir auch. Offenheit und Weite sind also ein wichtiges Thema. Zugleich wollen wir die Grundbedürfnisse der Menschen, die in dem Gebäude arbeiten, nach außen hin schützen. Viele möchten nicht so exponiert sein, daher haben wir diesen Lamellenschirm entworfen, der eine gewisse Intimität bietet. Außerdem erzeugt er architektonisch interessante, unerwartete Effekte: Die Ausblicke ändern sich und geben wechselnde Landschaftsausschnitte preis. Die optische Durchlässigkeit, die durch die raumhohen ­Verglasungen entsteht, ist ein interessanter Punkt – gerade


46  »EINE KISTE, DIE WAS KANN«

für ein Unternehmen, das nahezu in der ganzen Welt ver­

mit den ­Lamellen. Wie verortet sich das Gebäude in

treten ist und sich deshalb geöffnet und einladend zeigen

­dieser ­Tradition?

sollte. Aber wie seid ihr in diesem Zusammenhang auf

Du kannst den Stadel nicht in die Hinterhöfe und auf die Plätze in der Stadt holen. Wir sehen dieses Firmengebäude nicht in der ruralen Bautradition und nicht in der gewachsenen ­Tra­­­­di­tion von Handwerk und Baukunst. Wir sehen es in einer qua­li­tativen Haltung und Ortsverbundenheit und somit einer Tradition auf einer anderen Ebene, wir sehen es im Kontext Rheintal, wo es eine starke Tendenz zur Verstädterung gibt. In wenigen Jahrzehnten wird das hier eine große Stadt sein, eine Metropolregion. In diesem Zusammenhang habe ich für Gebrüder Weiss kein Holz gesehen, das wäre auch für die Branche nicht stimmig. Wir haben jetzt stattdessen eine technische, ausgeklügelte, ehrliche Kiste mit interessanten Details. Eine Kiste, die was kann. Sie funktioniert reibungslos, genau so, wie es auch in der Logistik laufen muss. In der Logistik geht es nicht zuletzt um die möglichst effi­ ziente Nutzung von Fläche. Das steht wiederum in einem gewissen Kontrast zur Ausdehnung des G ­ ebäudes, oder nicht? Wenn man ein sehr wirtschaftliches Gebäude möchte, dann baut man lieber zwei Bürozonen mit einem Mittelgang, der zwei Meter breit ist – oder lieber nur einen Meter achtzig. Darauf macht man eine Wellblechfassade, und das lässt sich dann jederzeit linear erweitern. Die Ausdehnung der Fläche eröffnet dagegen eine Vielzahl möglicher Wege und Aufenthaltszonen. Und wenn das gut gemacht ist, entsteht automatisch der Mehrwert von Kommunikationsmöglichkeiten. Auf einem langen Gang willst du dagegen einfach nur schnell von A nach B und dann wieder zurück in dein Zimmer. In einer Landschaft mit mehreren Wegsystemen kommt es zu zufälligen und ungezwungenen Begegnungen, und diese Begegnungen führen zu einem besseren Kennenlernen der Menschen untereinander und zu mehr Kommunikation. Wenn Menschen besser kommunizieren, werden weniger Fehler gemacht und neue Dinge entstehen. Und es sind schlussendlich die Menschen, die das Unternehmen ausmachen. Nun ist in der Architektur und überhaupt in gesellschaft­ lichen Debatten seit vielen Jahren schon das Stichwort Nachhaltigkeit groß in Mode, obwohl der Begriff schon 300 Jahre alt ist. Hat das Konzept für euch auch eine Rolle gespielt? Bei uns gibt es immer Nachhaltigkeits-Themen, bei jedem Gebäude und bei jeder Aufgabe, die wir zu lösen versuchen. Aber das sieht jedes Mal anders aus, das basiert nicht nur auf irgendwelchen Zahlen, die man abgleicht. Vielmehr bemühen wir uns, dass die Investition immer möglichst vielen Menschen einen möglichst großen Nutzen bringt. Wir möchten etwas schaffen, das lange hält und lange gut aussieht und nicht ständig aufwendig repariert werden muss. Deshalb haben wir hochwertige Materialien verwendet, die robust und dauerhaft sind. Darüber hinaus funktioniert das Gebäude sehr gut im Unterhalt, es braucht trotz der großen Hülle sehr wenig Energie. Und was die Organisation der einzelnen Büros angeht, haben wir ein System gefunden, mit dem man sehr schnell auf

das matte Schwarz gekommen? Über den richtigen Farbauftritt haben wir sehr lange nach­

gedacht und konnten uns schließlich darauf einigen, dass die Zentrale durchaus nobel wirken darf. Das Schwarz nimmt sich zurück, ist zugleich aber sehr stark, was der Grundform des Quadrats entspricht. Vielleicht sind das nur gewohnte Bilder, vielleicht ist es aber auch wirklich so, dass das Quadrat diese Farbe einfach fordert. Unserem Gefühl nach war es jedenfalls Schwarz und nicht Silbergrau. Und selbst wenn wir uns für Weiß entschieden hätten, wäre es dadurch nicht billiger geworden, es hätte nur billiger ausgesehen. Die Firmenzentrale befindet sich in einer Region, wo das Schöpfen aus dem Heimischen hoch geschätzt wird. Das Handwerk ist im Bregenzerwald sehr stark, auch eine ­gewisse Ehrlichkeit und Bodenständigkeit. In den ­Dörfern sieht man überall diese typischen Holzhäuser

Der Innenraum erlaubt Durchblick und schafft Orte für Begegnungen.


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»ICH FINDE NICHT, DASS ZEITLOSIGKEIT EIN QUALITÄTSMERKMAL IST. ICH BIN DER MEINUNG, DASS JEDES DING EIN AUSDRUCK SEINER ZEIT SEIN DARF.« Andreas Cukrowicz

neue Bedingungen reagieren kann, auch das ist nachhaltig gedacht. Ein Büro lässt sich innerhalb eines Tages umbauen, die Voraussetzungen dafür sind alle da. Die Zukunft kann – egal wie – kommen. Wenn ich meine Kunden besuche, dann schauen die oft, mit welchem Auto ich bei ihnen vorgefahren komme. Denn natürlich ist das ein Statement. Lässt sich das für dich auf die Architektur übertragen? Ach, die Deutschen immer mit ihren Autos (lacht). Ich bin ein Volvo-Fan. Der Volvo ist nicht ganz billig, aber in seinem Segment stehen Preis und Leistung in einem guten Verhältnis zueinander. Außerdem ist der Design-Faktor bei Volvo schon immer sehr wichtig gewesen, aber nicht so sehr im Vordergrund, dass er schreit. Die Gestaltung ist so selbstverständlich wie möglich, so dass man sie auch in 20 Jahren noch gerne anschauen mag. Und genau so möchte ich bauen. Also un­modisch im eigentlichen Sinn? Richtig. Wobei das Element Mode natürlich auch in der Architektur vorkommen darf. In 20 Jahren werden wir wahrscheinlich nicht mehr so bauen, wie wir heute bauen. Die Gebäude, die jetzt entstehen, sind Statements ihrer Zeit – aber hoffentlich so, dass sie dann immer noch gut und nicht schon bald wieder langweilig sind. Du meinst, man wird in hundert Jahren sagen können, wann ein Gebäude wie das in Lauterach ungefähr entstan­ den ist, so wie man heute beispielsweise einen Bau aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts auch sofort erkennt? Das wird man können, ja. Und ich finde nicht, dass Zeitlosigkeit unbedingt ein Qualitätsmerkmal ist. Für mich ist das nicht positiv behaftet. Ich bin der Meinung, dass jedes Ding ein Ausdruck seiner Zeit sein darf. Es geht um zeitgemäße gestalterische Elemente und Darstellungsweisen, natürlich auch um entsprechende technische Möglichkeiten. Jede Zeit hat gute Zeugen, und das soll auch so sein. Dabei ist der Begriff der Zeitlosigkeit ja immer so positiv besetzt, man will damit vielleicht sagen, dass etwas schön ist jenseits von modischen Prinzipien. Ich glaube, da spielt noch etwas anderes mit, nämlich der Wunsch, dass etwas nicht aufdringlich sein soll. Es kann aber dabei durchaus von seiner Zeit geprägt sein. Denn wenn man etwas machen möchte, das immer und für alle Zeiten gültig ist, läuft man sehr schnell Gefahr, langweilig zu sein. Man vermeidet dann vielleicht einfach nur eine Haltung. Ich bin deshalb nicht grundsätzlich gegen Moden. Zum Beispiel ist in der Architektur gerade Regionalität ein großes Thema, das Besinnen auf Tradition. Das finde ich gut, da habe ich gar nichts dagegen. Und es gibt noch einen anderen Aspekt:

nämlich, dass etwas nicht altern darf – das ist schon eine seltsame Entwicklung. Ich glaube wir sollten uns unserer Vergänglichkeit bewusster werden und unsere gebaute Umgebung in einem ähnlichen Kontext betrachten. Bei uns im Grafikdesign entstehen auch immer wieder einmal Arbeiten, die als schlicht oder reduziert bezeichnet werden, was ja durchaus etwas Gutes sein kann. Wenn die darüber hinaus aber einfach nichts anbieten, keine Geschichte, keine bestimmte Position – dann ist es total langweilig. Da wird dann eine Schrift benutzt, mit der man auf Nummer sicher gehen möchte, zum Beispiel die Helvetica. Und die setzt man dann linksbündig in Schwarz auf das Papier und verkauft das als zeitlos. Genau. Dabei ist es einfach nur banal. Ich vermute allerdings stark, dass es auch Moden gibt, die dir nicht gefallen. Beispielsweise ist ja seit einiger Zeit Desk­Sharing ein Trend, dass also Büros so gebaut werden, dass man nur noch mit dem Rollcontainer morgens rein­ und abends wieder rausfährt, dass es keine festen Plätze mehr gibt. Wie denkst du darüber? Brauchen wir nicht das Persönliche, den Kaktus auf dem Tisch und das Foto der Tochter an der Wand? Schau, für uns sind die Mitarbeiter sehr wichtig, das sind alles Persönlichkeiten. Bei Einstellungen achten wir vor allem auf den Menschen, was für ein Typ jemand ist. Die Entwicklung zur maximalen Flexibilität halte ich unternehmerisch gedacht für spannend, aber menschlich gedacht für gefährlich und kurzsichtig. Ich bin der Meinung, dass man sich mit seinem Arbeitsplatz identifizieren muss, es muss passen, ich muss mich wohlfühlen, um mich der Arbeit und meiner Aufgabe öffnen zu können. Wenn ich aber keinen fixen Arbeitsplatz habe, sondern ständig alles ausgetauscht werden kann, dann entsteht sehr schnell der Eindruck und unweigerlich das Gefühl, dass auch ich als Mensch austauschbar bin. Und davon halte ich nichts. Als weiteres Gefühlsprodukt entwickelt sich auch die Beziehung zum Unternehmen, das dann natürlich genauso austauschbar wird. Ich selbst sehe immer wieder gerne die Zeichnungen meines Sohnes neben mir: »Für Papa«.

Andreas Uebele ist Kommunikationsdesigner und Professor für visuelle Kommunikation an der Hochschule Düsseldorf. Die Arbeiten des büro uebele wurden bereits mit über 300 internationalen und nationalen Auszeichnungen gewürdigt und sind in zahlreichen Museen vertreten. Eine der wichtigsten Arbeiten ist das Corporate Design für den Deutschen Bundestag.


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Nigeria: Spitze! Das traditionsreiche Geschäft mit Stickereien aus Vorarlberg

text:  Imke Borchers Vorarlberg ist eine innovative Wirt­ schaftsregion, zusammen mit Ober­ österreich ist es das Bundesland mit der höchsten Industriedichte in ganz Öster­ reich. Neben Fruchtsäften, Käse, Be­ leuchtung, Beschlägen, Holzwirtschaft, Maschinenbau und Elektroindustrie steht die Region vor allem für Spitzen­ produkte: Stickereien und andere ver­ edelte Stoffe. Zu verdanken ist das ge­ wissermaßen der Schweiz. Als 1751 Kaufleute aus St. Gallen in Lyon beob­ achteten, wie türkische Frauen auf einer Trommel Seidenstoff mit Motiven aus Gold- und Silberfäden bestickten, ent­ sendeten sie umgehend eine Schweize­ rin, die dieses filigrane Handwerk erler­ nen sollte. Diese wiederum leitete in St. Gallen andere Stickerinnen an, und die Geschäfte mit den veredelten Stof­ fen liefen bald so gut, dass man auf der ­Suche nach Nachwuchs über die Grenze in den Bregenzerwald kam. Hier breitete sich die Handstickerei unter den Mäd­ chen und Frauen schnell aus, denn in der bäuerlichen Region war ein Neben­ erwerb sehr willkommen. Und mit den Jahren wuchs das Exportgeschäft in die Schweiz zu einem eigenen Wirtschafts­ zweig. In den 1860er Jahren kamen dann die ersten Stickmaschinen, und ­bereits 1880 waren es 1.400. Seitdem hat sich vieles geändert, ­einiges aber blieb die letzten 250 Jahre hindurch gleich: Die Vorarlberger Sti­ ckereien sind Familienbetriebe, die sich persönlich um die Einhaltung der Quali­ tätsstandards und die Betreuung ihrer Kunden kümmern. 2016 haben diese Be­ triebe 345 Tonnen Stickereien im Wert

von 36 Millionen Euro exportiert. Knapp die Hälfte davon ging nach Europa, vor allem nach Frankreich, in die Schweiz und nach Deutschland. Weitere 40 Pro­ zent aber gingen – und das ist auf den ersten Blick vielleicht erstaunlich – nach Nigeria. Als Anfang der 1960er Jahre die Vorarl­berger Sticker ihre Stoffe auch in Westafrika präsentierten, stießen sie dort auf besonders begeisterte Kunden, und die Spitze wurde zum Exportschla­ ger. Immer häufiger kamen nigeriani­ sche Geschäftsleute nach Vorarlberg, um ihre Bestellungen vor Ort abzugeben und direkt in bar zu bezahlen. Gebrüder Weiss übernahm die Transportabwick­ lung für die Lieferungen, teilweise bis zu 100 Tonnen wöchentlich, 70 Tonnen Stickerei sowie weitere andere Stoffe aus Europa. Walter Schneider, damals Nie­ derlassungsleiter für Gebrüder Weiss Lustenau und Netzwerkkoordinator für das Afrikageschäft, erinnert sich: »Ab 1978 ging jede Woche eine Boeing 747 ab Paris nach Cotonou, das ökonomi­ sche Zentrum in Benin, einem Nachbar­ land von Nigeria. Wir haben damals so­ gar mit anderen Lustenauer Spediteuren zusammengearbeitet, weil wir die Men­ ge allein nicht bewältigen konnten. Wir haben die Stoffe in Lustenau auf Palet­ ten geladen und beschriftet. Anlieferung war Freitag, Ankunft war Sonntag.« Bis in die späten 1980er boomte der Export nach Westafrika. Dann sind die Geschäfte aufgrund von Währungsab­ wertungen in Afrika deutlich zurückge­ gangen. Der Handel mit exklusiver Ware aber besteht bis heute, und nach wie ­vor unternehmen die feinen Stoffe aus ­Lustenau weite Reisen – denn so ganz aus der Mode kommen sie wohl nie. | IB


NIGERIA: SPITZE! 49

Zeitlose Eleganz: Auf einer Hochzeit in Benin City tragen diese Frauen das traditionelle nigerianische Festgewand aso ebi aus importierter Spitze.


Auf TuchfĂźhlung mit den Launen des Geschmacks Ăœber die Fashionet Austria, einen Textillogistiker zwischen High Fashion und Mode von der Stange


AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEN LAUNEN DES GESCHMACKS 51

text:  Miriam Holzapfel Die Zeiten sind wechselhaft, die Mode ist es auch. Welche Ideen sich durchsetzen, was am Markt funktioniert und was die Kunden nicht akzeptieren – es ist schwer vorhersehbar. Für Fashion-Victims mag darin ein besonderer Reiz liegen, ist es doch immer wieder überraschend, woraus die Designer der großen und kleineren Marken schöpfen und welche Art von Bekleidung den Weg in die Geschäfte findet. Für die Textil­logistiker, die für diesen Weg zuständig sind, entschei­ det der Erfolg einzelner Designer dagegen mit über Wohl und Wehe des Geschäfts. Wenn die Designer eines Produzenten erfolgreiche Kollektionen präsentieren, dann ist das auch gut für den Umsatz der Spedition. Liegen die Modefirmen mit dem, was sie in die Geschäfte bringen, daneben, leidet das Transportunternehmen mit. Zu dieser Unwägbarkeit kommt, dass das Transportgut empfindlich ist und dass überall dort, wo Kleidungsstücke hängend und damit besonders schonend transportiert werden, zugleich viel Luft mitbefördert wird. Und für die bezahlt bekanntlich niemand. Für den Erfolg am Markt braucht also auch die Textillogistik innovative Ideen. Geteiltes Leid, doppelte Freud Die Fashionet Austria ist ein europaweites Logistik- und Dis­ tributions-Netzwerk, das auf die Anforderungen des Geschäfts vor allem mit Erfahrung reagiert – und mit der guten Infra­ struktur der Konzernmütter Gebrüder Weiss und Lagermax. Das 1997 gegründete Unternehmen wird geleitet von Michael Jahn und Michael Eberl (beide Geschäftsführung) sowie Karl Tordy (Produktmanagement) und ist hauptsächlich in Öster­ reich und im umliegenden Ausland aktiv. Kerngeschäft ist der Hängetransport. Damit kann ein Fahrzeug aber gerade in strukturarmen Regionen nicht optimal ausgelastet werden, denn die Mengen, die von A nach B gebracht werden müssen, sind dafür nicht groß genug. Diesem Umstand begegnet die Fashionet in Österreich mit einer Partnerschaft mit DPD . Denn auch im Paketgeschäft gibt es starke saisonale Schwan­ kungen, mit hohen Mengenspitzen in den drei Monaten vor Weihnachten. Solche Spitzen im Aufkommen gibt es bei der Fashionet auch, allerdings zu anderen Zeitpunkten, jeweils zu den Kollektionswechseln von Jänner bis Ostern und dann wieder im August und September. Die Idee, in den DPD -Fahr­ zeugen, die auch in entlegenere Gebiete fahren, eine Kleider­ stange anzubringen und die Textilien gemeinsam mit den Paketen auf die Reise zu schicken, ist schlicht – aber beste­ chend. In urbaneren Gegenden ist dagegen der eigene Fashio­ net-Fuhrpark unterwegs. Daunen bevorzugt Jahn und Tordy bezeichnen sich selbst als nicht modeaffin. Eine Ahnung von Trends haben die beiden trotzdem. Denn einerseits beobachten sie, wie es den Kunden geht und wie sie sich entwickeln, andererseits müssen die beiden nur einen Blick in das Lager werfen, um die Kollektionen zu sehen, noch

ehe sie in den Geschäften hängen. Und da fallen vor allem bestimmte Farbtrends auf. Bei den Stoffen würden die beiden Textillogistiker stets feiner Seide den Vorzug geben, denn die erfordert eine beson­ ders behutsame Behandlung, und man sollte sie nicht in einen kleinen Karton hineinquetschen. Kunstfaser hingegen ist ­unkompliziert und daher vielleicht für die Trägerin oder den Träger günstig, für den Textillogistiker eher nicht. Dasselbe gilt für Steppjacken. Daunenjacken sind wiederum gern gese­ hen, passen doch aufgrund des Volumens nicht allzu viele auf engen Raum. So hat eben jeder seine Lieblingsstücke, auch ein Spediteur. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen Für die Glättung von Textilien steht im Lager der Fashionet ein Dampftunnel bereit, durch den bis zu tausend Kleidungs­ stücke pro Stunde geschickt werden können. Denn auch wenn der Transport und die korrekte Einlagerung von textilen Wa­ ren die wichtigste Säule im Geschäft von Fashionet darstellen, sind weitere Dienstleistungen erhältlich, etwa die Kommissio­ nierung oder eben die Aufbereitung. Und der Dampftunnel glättet nicht nur, er nimmt den Textilien auch Gerüche. Denn hin und wieder kommt es vor, dass etwa Ausdünstungen von Reinigungsmitteln, mit denen die Transportcontainer desinfi­

Im Lager hängt, was kommt – im Frühjahr 2018 ist es offenbar Pastell.


52 AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEN LAUNEN DES GESCHMACKS

oben: Die Textilien werden schonend gelagert. rechts: Karl Tordy (links) und Michael Jahn sehen der Zukunft gelassen entgegen.

ziert werden, in den Kleidungsstücken hängen bleiben. Spä­ testens dann ist eine Dampfbehandlung notwendig, so gerade erst geschehen mit 60.000 Still­BH s aus Fernost. Die kamen stark geruchsbelastet bei der Fashionet an und wurden Stück für Stück durch den Tunnel geschickt – gut fürs Geschäft. Denn ohne diesen Service hätten die Teile nicht in den Ver­ kauf gehen können. Schlecht fürs Geschäft ist dagegen der Zuwachs im Bereich E­Commerce, der auch dem Fachhandel zu schaffen macht. Als Karl Tordy vor zwei Jahrzehnten im Unternehmen anfing, war die Verkaufsstruktur noch ganz schlicht: Die Kleidungs­ stücke gingen vom Produzenten in den Facheinzelhandel. Als Konkurrenz kamen die großen Ketten hinzu, und mittlerweile wird sowohl über den Facheinzelhandel und die Ketten als auch immer mehr über das Internet verkauft. Die Zeiten wer­ den also nicht einfacher. Aber selbst wenn der Fachhandel weiter zurückgeht und die innerstädtischen Einkaufszonen einander immer ähnlicher werden, verzichten zumindest die großen Modeketten auch weiterhin nicht auf Filialen, die be­ stückt werden wollen. Allerdings sollen die Laufzeiten kürzer werden und die Logistikkette immer transparenter. Der Kunde möchte seine Ware schnell, pünktlich und gerne in der Früh noch vor Geschäftsöffnung. Und er will jederzeit wissen, wo

sich die Fracht befindet – verständlich, insbesondere bei den Kollektionen großer Marken, wo nicht selten ein kleines Ver­ mögen auf der Kleiderstange des Transportfahrzeugs hängt. Derzeit werden von den Kunden in den Geschäften Bestell­ zeiten von maximal zwei Tagen gerade noch toleriert. Diese Zeitspanne wird sich aber weiter verringern. Der Zukunft sieht das Duo Jahn und Tordy dennoch gelas­ sen entgegen, denn das stabile Netzwerk und die Synergien, die sich daraus ergeben, sind innerhalb des ohnehin sehr klei­ nen Marktes ein Alleinstellungsmerkmal. Im Verbund der Fashionet Austria sind die Anteile zu 60 Prozent auf Gebrüder Weiss und zu 40 Prozent auf Lagermax verteilt, ein weiteres österreichisches Speditionsunternehmen und damit auf dem freien Markt ein Konkurrent. Im Textilbereich aber sind die beiden Logistiker Mitstreiter – und die Zusammenarbeit funk­ tioniert, auch über flüchtige Moden und Trends hinweg.

Miriam Holzapfel ist Kulturwissenschaftlerin und Redakteurin für den ATLAS.


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Es war einmal  … Dass Mode vergänglich ist, hat schon Coco Chanel erkannt. Und dass sie recht hat, ­beweist auch die Geschichte. Denn im Laufe der Jahrhunderte gab es immer wieder ­modische Erscheinungen oder ­Erfindungen, die wir heute nur aus ­Erzählungen oder historischen Zeugnissen ­kennen – meist aus guten Gründen. texte:  Carola Hoffmeister  illustration:  Sören Kunz

ANTIKE //

Chiton

Die Menschen im antiken Griechenland trugen drapierte Stoffbahnen als Kleidung. Für den Laien sind die einzelnen Varianten kaum zu erkennen, doch es gibt große Unterschiede in der Art und Weise, wie die Träger die Bahnen wickelten. Der dori­ sche Chiton wurde auf der rechten Seite in Falten gelegt und geschlossen getragen, auf der linken war er weitgehend offen. Der ionische Chiton glich einer über den Kopf gestreiften Tunika, ihn trugen die Menschen zu Lebzeiten des Dichters Homer. Während des Peloponnesischen Kriegs (431 bis 404 vor Christus) galt der dorische Chiton etwa als Kennzeichen der freien Männer, Sklaven trugen ihn links geschlos­ sen, so dass der rechte Arm frei für die Arbeit war.


54  ES WAR EINMAL …

MITTELALTER //

Schnabelschuhe

Der Schuh erinnert mit der langen Spitze an einen Vogelschnabel und soll Ende des elften Jahrhunderts erstmals in Frankreich getragen worden sein – gefertigt für einen Grafen mit missgestalteten Füßen. Ob die Legende vom Grafen Fulko von Anjou tatsächlich stimmt, ist unklar, die Schnabelschuhe jedoch wurden vor allem in Frankreich und England für mehrere Jahrhunderte zum Trend. Die Schnäbel ­waren zwischen 15 und 46 Zentimeter lang, wurden mit Moos oder Baumwolle ­ausgestopft und verrieten etwas über den sozialen Stand des Trägers: Je länger die Spitze, desto höher gestellt der Träger des Schuhwerks. Damit der Schnabelcode funktionierte, schrieb eine Kleiderverordnung die Maße der Spitzen für Fürsten, Prinzen oder Ritter vor. Für die Bauern war die Mode nichts, sie trugen weiterhin den flachen germanischen Bundschuh – da ging Funktionalität vor. Übrigens soll sich aus den ledernen Schnabelschuhen das Sprichwort »auf großem Fuß ­leben« entwickelt haben.

BAROCK //

Perücke

Um seine Glatze zu verbergen, trug Ludwig XIV. Perücke – eine soge­ nannte ­Allonge mit bis über die Schultern reichenden Locken. Mit ihr löste der Sonnen­könig am Hof von Versailles eine Modewelle aus, die schließ­ lich die Schlösser in ganz Europa erfasste. 1673 bestimmte Ludwig XIV. die Allonge­perücke zur Staatsperücke und damit zu einem Symbol für Macht und Stärke. Rund 100 Jahre später begannen auch Frauen verstärkt Perücken zu tragen. ­Während die Haare der Männer weiß erstrahlten, leuchteten die der Frauen in ­zartem Rosa, Violett oder Hellblau, manchmal bis zu einem halben Meter auf­ getürmt auf den Köpfen der Trägerinnen. Frisur à la ­Fontange hieß das Gebilde aus Spitze, ­Bändern und Menschen-, Ziegen-, oder ­Pferdehaaren, in dem sich manch­ mal auch filigrane Gehäuse aus Elfenbein verbargen. Nicht zum Schmuck: Im Inne­ ren dieser Gehäuse befand sich mit Blut und ­Honig getränkte Watte, sie dienten als Flohfalle. Das Ungeziefer war damals allgegenwärtig – schließlich wurden im ­Barock weder die eigenen noch die fremden Haare besonders oft gewaschen, da man fürchtete, die Pest nähme ihren Ursprung in den Badehäusern.

GRÜNDERZEIT //

Tournüre

Um 1870 begannen die Frauen Röcke zu tragen, die am Gesäß durch ein Halb­ gestell aus Stahl oder Fischbein aufgebauscht waren – so als befände sich dort ein Sitz­kissen. Möglich war dieser optische Trick durch die Tournüre, französisch für ­»Drehung«. Sie löste modisch die Krinoline ab, den Reifrock, der die Taillen der Frauen wie eine Kuppel umgab und durch die österreichische Kaiserin Sissi berühmt geworden war. Durch die Tournüre glich die Silhouette der Frauen mit einer eng geschnürten Taille und einer betonten Brust dem Buchstaben S. Warum das er­ strebenswert war, ist nicht überliefert, und es war offenbar so unbequem, dass die ­Tournüre gegen 1890 wieder von der Bildfläche der Mode verschwand.


ES WAR EINMAL … 55

19. JAHRHUNDERT //

Monokel

Schon seit Jahrtausenden haben die Menschen nach Möglichkeiten gesucht, eine schlechte Sehkraft ­auszugleichen. So soll bereits Kaiser Nero die Gladiatorenkämpfe durch ein Monokel betrachtet haben, einen geschliffenen grünen Smaragd, den er sich vor das Auge hielt. Um schärfer zu sehen und um sich vor dem gleißenden Sonnenlicht zu ­schützen, vermutlich. Die Brille, wie wir sie heute kennen, wurde ungefähr Ende des 13. Jahrhunderts in der Toskana erfunden. Wer brauchte von da an noch ein ­Monokel, das die Sicht auf nur einer Seite zu verbessern vermag und von den ­Muskeln rund um das Auge mühsam festgehalten werden muss? Eigentlich niemand, trotzdem kam das Monokel Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland und England in Mode und galt den Damen und Herren der höheren Gesellschaft als Status­symbol. Besonders verbreitet war es im jeweiligen Offizierkorps der Armeen beider ­Länder und ist daher auch als Attribut des adligen preußischen Reserve­ offiziers in Karika­turen jener Zeit sehr oft zu sehen.


56 ES WAR EINMAL …

20. JAHRHUNDERT //

Zigarettenspitze

Audrey Hepburn zog in Frühstück bei Tiffany an einer Zigarettenspitze, Marlene Dietrich in dem Film Der Blaue Engel, und wenn die Flappers, junge Frauen in kur­ zen Röcken und mit Stirnband in den kurzen Haaren, irgendwo Charleston tanzten, dann führten sie in den Pausen eine Zigarettenspitze an den Mund. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Zigarettenspitze, ein Mundstück aus Metall oder Kunst­ stoff, mondänes Accessoire, an dem sich die Demokratisierung in der Mode nach­ vollziehen lässt. Denn in den Roaring Twenties rauchten nicht nur die Herren, sondern auch die Damen. Sie tranken Wein, entledigten sich des Korsetts, zeigten Bein bis zum Knie oder trugen Anzug mit Zylinder. Erstmals konnte man anhand der Silhouette nicht mehr eindeutig unterscheiden, ob ein Mann oder eine Frau in der Kleidung steckte und welcher sozialen Schicht der Träger angehörte.

Plateauschuhe Plateauschuhe gelten als eines der seltsamsten Phänomene der Modegeschichte. Bereits in der Antike sollen Schauspieler für eine bessere Sichtbarkeit mit zenti­ meterhohen Absätzen aus Kork im Amphitheater stolziert sein, und im Venedig der europäischen Renaissance schützten hohe Holzsohlen zum Unterschnallen vor dem Dreck in den Gassen. Irgendwann balancierten auch Kurtisanen auf einem Plateau – für die Kirche ein Anlass, die Schuhe als »lasterhaft« zu brandmarken. In den 1970er Jahren tauchten Plateauschuhe erneut an den Füßen auf, dieses Mal getragen von Rockstars wie Elton John, David Bowie oder KISS ­Sänger Gene Simmons. Als alltagstauglich haben sich diese Modelle nicht unbedingt erwiesen, doch halten sie sich als außergewöhnliche Schuhmode beharrlich am Markt.

Carola Hoffmeister hat Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft studiert. Als Radio- und Magazin-Journalistin zieht es sie immer wieder in die weite Welt. Ihre Reisereportagen über Iran und Albanien sind im PicusVerlag Wien erschienen.


FAMILIENSEITE 57

DOPPELT GETRAGEN: ERST UNTERHEMD, DANN TASCHE! Wenn ein Kleidungsstück aus der Mode kommt oder nicht mehr gefällt, wird es aussortiert. Dass alte Kleider deswegen aber nicht unbedingt auf dem Müll landen müssen, zeigen wir dir mit diesem Trick.

1 Nimm ein Unterhemd, das keiner mehr anzieht, und nähe eine praktische Tasche daraus. Je größer das Hemd, desto größer die Tasche.

Lege es so hin, dass die Armlöcher und die Seitennähte übereinanderliegen.

2 Drehe das Unterhemd auf links.

4 Nähe es am unteren Saum zusammen. Vernähe den Faden an den beiden Enden, damit die Naht später nicht wieder aufgeht.

m du auch aus eine he st n n ka h lic r tü Na r Hemd eine Tasc alten T-Shirt odedie Ärmel abschneiden basteln. Einfach f den Halsausschnitt und bei Bedar d dann den Saum vergrößern. Un en beschrieben. zunähen wie ob

5 Drehe die Unterhemd-Tasche wieder auf rechts. Jetzt kannst du die Tasche noch färben, anmalen oder verzieren – wie es dir gefällt. Fertig!


DAS NEUE SCHWARZ

Wie Fachleute vorhersagen, welche Farben Trend werden – und welche nicht


ULTRAVIOLETT 59

TEXT: Florian Siebeck 2018 ist ultraviolett. Und zwar nicht irgendeins, sondern das mit der Nummer 18-3838, sagt Pantone – ein Hersteller von Farbfächern für die Industrie, der immer zu Beginn des Jahres die Trendfarbe der kommenden Monate durchgibt (2017 war es »Greenery«, 2016 »Rose Quartz & Serenity«). Pantone-Direktorin Leatrice Eiseman sagte der Fachzeitung WWD , dass digitale Schnittstellen die Farbwahrnehmung der Menschen stark verändert hätten. »Die Menschen sehen heute Rosé- oder Metallic-Töne auf ihren Bildschirmen, die wir bisher nicht kannten«, sagt Eiseman. Firmen wie NBC Universal, Instagram und Twitch setzten Violett in ihrem Markenauftritt ein. Ultraviolett werde mit Vorwärtsdenken assoziiert, »und diese Farbe werden sie in ihren Schuhen, Accessoires und Kleidern wiederfinden wollen«. Bis zur Verkündung der »Farbe des Jahres« ist es ein langer Weg. Denn Farbe ist eine der am schwierigsten vorhersehbaren Variablen in Mode und Design. Auf die falsche Farbe zu setzen, kann deutliche Einbußen im Verkauf bedeuten – und Konkurrenten den Rücken stärken, selbst wenn sich die Töne nur in Nuancen unterscheiden. »Wer Hoheit über die Farben hat, kontrolliert die Welt«, schrieb der Wissenschaftler James Woudhuysen. Die Farbe ist in der Mode der wichtigste Faktor für die Kaufentscheidung, zeigen Untersuchungen: Sie kommt noch vor Design, Haptik und Preis. In der Autoindustrie etwa ist das anders: Dort entscheidet erst Marke, dann Modell, Motor und Farbe. Und auch in der Möbelbranche sind die meisten Kunden zurückhaltend. »Die Leute wollen Sicherheit«, sagt der renommierte Designer Sebastian Herkner. »Viele kaufen Sofas nur in Grau, Beige oder Schwarz. Die wenigsten trauen sich, aus sich herauszugehen.« Je entbehrlicher das Objekt, so der Grundsatz, umso experimentierfreudiger ist der Kunde bei der Farbe. Weil die Mode immer schnelllebiger wird, kann der Bedarf an neuen Farben heute kaum gesättigt werden – eigentlich

kein Problem: Das menschliche Auge kann zwischen 10 Millionen Farben unterscheiden. Ein ganzer Industriezweig hat sich in den letzten Jahrzehnten gebildet, um Farbtrends zu erkennen und Analysen zu verkaufen, um Designern und Einkäufern die Arbeit zu erleichtern. Farbprognostiker haben alles im Blick: Sie schauen auf Laufstege, Autopräsentationen und Haushaltswaren, sie besuchen Showrooms und Messen, durchsuchen Magazine; sie beobachten, was sich in der Gesellschaft tut und wie sich diese kulturellen Veränderungen in der Stimmung der Menschen niederschlagen. Wie sie genau arbeiten, ist selten ersichtlich. Doch die Vorgehensweise ist wohl am eingängigsten im Film Der Teufel trägt Prada beschrieben worden, in dem Meryl Streep eine ruchlose ModeChefredakteurin gibt, die beschreibt, wie eine Farbe an Leben gewinnt. 2002 etwa habe Oscar de la Renta in einer Kollektion himmelblaue Kleider gezeigt, »und ich meine, es ist Yves Saint Laurent gewesen, der himmelblaue Militärjacken hatte, und plötzlich tauchte die Farbe in den Kollektionen von acht verschiedenen Designern auf. Anschließend sickerte sie dann zu den gewöhnlichen Kaufhäusern durch und fand schließlich ihr tragisches Ende auf dem Wühltisch.« Ob es Zufall war? 1999 hatte Pantone Himmelblau zur »Farbe des Jahrtausends« erklärt. Tom Vanderbilt ist einer der wenigen Journalisten, denen es gelang, ein Pantone-Meeting zu begleiten – unter der Voraussetzung, dass er die Namen der Teilnehmer geheim hielt und auch seine Identität verschleierte. Es ist eine geheimniskrämerische Branche, in der die richtigen Informationen viel Geld kosten und wo der Grundsatz gilt: Je früher die Prognose, umso teurer. Zweimal im Jahr treffen sich Farbforscher von Pantone in verschiedenen europäischen Städten – jedes Mal in einem möglichst kargen, farblosen Raum. Die Forscher kooperieren mit Experten »von Airbus bis Zara«, schreibt Vanderbilt im Magazin Slate. Im Laufe zweier Tage stellt jeder Teilnehmer eine Farbpalette zu einem vorgegebenen Überthema vor, die seiner Meinung nach

einen festgelegten Zeitraum bestimmen wird. Vanderbilt zitiert aus einer hitzigen Diskussion: »Navy wird die Rolle von Schwarz übernehmen, weil Schwarz jetzt anders konnotiert ist.« Die Italiener hätten ein »großes Statement« aus Schwarz gemacht, und dann habe es ja noch die Yohji-Yamamoto-Retrospektive in London gegeben. Plötzlich erwidert jemand: »Aber was genau an Schwarz ist jetzt neu?« Pantone ist nicht das einzige Unternehmen, das Farbtrends untersucht. Firmen wie Design Intelligence oder Carlin International arbeiten ähnlich. Und auch Messen wie die französische »Première Vision« spielen eine wichtige Rolle: Eine Veranstaltung, auf der ein Konsortium aus Fachleuten die in Zukunft wichtigsten Farbtöne für die Mode kuratiert. Hierher kommen fast alle großen Designer, um Stoffe für kommende Kollektionen einzukaufen. Firmen wie Promostyl in Paris wiederum haben sich darauf spezialisiert, Unternehmen zu helfen, die von Pantone und Co. herausgegebenen Farbtrends in eine bestimmte Branche oder Produktgruppe zu übersetzen. Die Farbe eines Produktes im Laden ist letztlich das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus Forschung, Marketing und einer Spur Ungewissheit. Oft entscheiden Designer in Abstimmung mit Einkäufern darüber, welche Farben in eine Kollektion einfließen und welche nicht. Manche kritisieren, die Trends der Analysten seien keine Vorhersage, sondern Diktat, an das sich jeder halte. Die Designer hören auf die Firmen, weil der Druck, womöglich nichts zu verkaufen, zu groß geworden ist. Kritiker sagen: Wenn man eine Farbe oft genug sieht, wird sie irgendwann zur Farbe, die man sehen will. Und auch wenn sich der Erfolg der Prognosen kaum messen lässt: Am Ende stimmen sie meistens, die Mode verkauft sich, und alle sind zufrieden.

Florian Siebeck ist Journalist und schreibt über Architektur, Design und Mode, unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und AD Architectural Digest.


ORANGE ZU WEISS

Warum die Farbe körpereigene Abwehrkräfte aktiviert


ORANGE 61

TEXT: Imke Borchers Orange ist eine seltsame Farbe. Der Mischton aus Rot und Gelb vereint die symbolhaften Wirkungen beider Farben: Orange wirkt heiter und unbekümmert, wie Gelb. Es ist dynamisch und laut, wie Rot. Es signalisiert Vergnügen, Wärme und Geselligkeit. Aber es ist Vorsicht geboten: Je nach Mischverhältnis kann Orange beim Betrachter auch Unruhe hervorrufen (bei einem hohen Gelbanteil) oder Gefahr anzeigen (wenn der Rotanteil überwiegt). Dies könnte erklären, warum die Farbe zu den unbeliebtesten Tönen des Farbspektrums gehört, glaubt man verschiedenen Umfragen zur Farbpsychologie. Es könnte aber auch daran liegen, dass Orange in den wilden 1970er Jahren – neben Braun – die Trendfarbe schlechthin war. Die Attribute modern und billig, die dem Mischton häufig zugeschrieben werden, rühren vielleicht daher. Denn neben Tapeten und Schlaghosen wurden zu der Zeit auch etliche Haushaltshelfer und sonstige Accessoires aus Plastik bevorzugt in Orange hergestellt. Der Trend ging vorbei, das Image blieb haften. Denn wie bei anderen kognitiven Vorgängen auch, sind es bei Farben vor allem die Gewohnheiten und Erfahrungen, die wir mit einer Farbe verbinden, die eine bestimmte Reaktion im Gehirn hervorrufen. Und so ist die Wahrnehmung von Farben überall auf der Welt verschieden. In Asien ist Orange eine sehr positiv besetzte Farbe: Im Buddhismus gilt der Ton als höchste Stufe der Erleuchtung, buddhistische Mönche tragen orange Gewänder, die chinesischen Staatsbeamten waren klassischerweise ebenfalls in dieser Farbe gekleidet, im Yoga und in der traditionellen chinesischen Medizin steht Orange für eines der Energiezentren des menschlichen Körpers. In der westlichen Welt hingegen gab es vor der Orange kein Orange. Lange Zeit wurden in Europa nur reine Farben als ästhetisch ansprechend empfunden. Auf mittelalterlichen Gemälden findet sich der Mischton daher weder in der Kleidung noch als Symbolfarbe –

als Wappen- oder Signienfarbe war Orange sogar verboten. Erst als im 15. Jahrhundert über Umwege die süße Zitrusfrucht aus Indien Portugal erreichte, war ein Name für den Farbton zwischen Gelb und Rot gefunden: laranja auf Portugiesisch beziehungsweise naranja in Spanien, abgeleitet vom arabischen narang. Auf dem Weg nach Norden wurde der Frucht noch etwas Glanz hinzugefügt, und so war die orange geboren – or steht im Französischen für gold. Und bis heute heißt die Farbe in allen Sprachen nach dem Obst. Mit dem Siegeszug der Zitrusfrucht fand das Orange langsam auch in Europa eine Fangemeinde. Johann Wolfgang von Goethe spricht in seinem Farbenkreis zwar noch von Gelbrot beziehungsweise Rotgelb, schreibt dem Ton aber schon eine »edle Wirkung«, die die Vernunft anspreche, zu. Für Gebrüder Weiss, dessen Wurzeln im Transportbereich auf 1474, also kurz nachdem die Orange den europäischen Kontinent erreicht hatte, zurückgehen, war die Firmenfarbe nicht immer Orange. Bis in die 1930er Jahre waren die Fahrzeuge des Familienbetriebs – wie damals üblich – in gedeckten Farben lackiert. Dann erhielt das Unternehmen, zu der Zeit noch in Bregenz ansässig, einen eiligen Kundenauftrag, erinnert sich der frühere Garagenmeister Josef Schwerzler. Der dazu benötigte Lkw befand sich aber noch in der Werkstatt.

Der Rostschutz in Orange war bereits aufgetragen, der mausgraue Lack noch nicht. Um den Auftrag sofort zu erledigen, wurde der Lkw unfertig zum Beladen in den Hof gefahren. Zufällig sah Ferdinand Weiss, der damalige geschäftsführende Gesellschafter, dieses orange Fahrzeug und erkannte sofort die Werbe- und Signalwirkung der Farbe. Seitdem sind die Gebrüder WeissFahrzeuge orange lackiert. Das war ein halbes Jahrhundert bevor Orange als progressive Farbe auf Lkw modern wurde. Ob Ferdinand Weiss in den 1930ern ahnte, dass diese Farbe für sein Unternehmen in Fernost besonders positiv gewertet werden würde? Die Geschichte über Gebrüder Weiss beweist einmal mehr, dass die Wirkung der Farben tief in unserem Unterbewusstsein verankert und nicht nur durch rationale Überlegungen zu erklären ist. Darauf baut vermutlich auch die Farbtherapie auf: Die schreibt dem Mischton nämlich eine das Immunsystem stärkende Wirkung zu. Vielleicht liegt der positive Effekt des Orangenkonsums also gar nicht nur am Vitamin C des Fruchtfleisches, sondern auch an der aktivierenden Wirkung der Farbe der Schale.

Imke Borchers, geboren 1982, ist Literaturwissenschaftlerin und Redakteurin des ATLAS .


DER MENSCH ALS MIDAS

Oder wie wir lernten, mit Gold zu glänzen


GOLD 63

TEXT: Chris Kabel Eines Tages fand König Midas in seinem Garten einen Satyr namens Silenius, der sich bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hatte. Midas beherbergte ihn in seinem Palast, bis Silenius sich wieder erholt hatte. Für seine Hilfe wurde der goldgierige König mit der Erfüllung seines größten Wunsches belohnt: Der Satyr schenkte ihm die Fähigkeit, Dinge durch bloße Berührung in Gold zu verwandeln. In seiner Euphorie hatte Midas bald seinen gesamten Garten vergoldet. Zarte Rosen ließen ihre Köpfe hängen und beugten sich zur Erde, bis ihre Stängel unter der Last des feinen Materials brachen. Überhaupt stellte sich Midas’ Freude als äußerst kurzlebig heraus, da sich ausnahmslos alles, was er berührte, in das verhängnisvolle Metall verwandelte. Aus Broten wurden ungenießbare gelbe Ziegelsteine, Wein erstarrte zu Gold, und seine geliebte Tochter wurde zu einer wertvollen, aber kalten Statue. Ohne Nahrung und ohne Liebe starb Midas eines körperlichen und seelischen Hungertods. Man sollte meinen, dass die Menschheit diese Warnung verstanden und ihre Gier nach Glanz in den Griff bekommen hätte. Leider ist das Gegenteil der Fall. Noch nie gab es so viel goldenen Schimmer auf so vielen Oberflächen. Ganze Gebäude leuchten mit der Sonne um die Wette, mit goldenen Flügeln verzierte Sneakers werden tapfer durch den Matsch getragen. Denn mittlerweile glänzen wir darin, Dinge zu Gold zu machen – oder ihnen zumindest diesen schönen Schein zu verpassen. Wir haben eine Vielzahl an Methoden entwickelt, das hochbegehrte Material zu strecken und zu imitieren. Schon zu Midas’ Zeiten wurde Gold zu hauchdünnem Blattgold von bis zu einem Zehntelmikrometer Dicke breit geklopft. Die alten Ägypter umhüllten ihre Statuen mit einer Mischung aus Gummiarabicum und feinem Bleipulver und Gold. Die Oberfläche der Statue wurde poliert, um das Blei zum Verdampfen (!) zu bringen, was dann eine golden beschichtete Oberflä-

che zurückließ. Diese Technik sollte später als Inspiration für die legendäre Ormolu-Methode dienen, die man anwendete, um Arbeiten aus Gussbronze zu vergolden. Hierfür wurde eine Verbindung aus Gold und Quecksilber benutzt. Es überrascht kaum, dass weder in Ägypten noch in Frankreich die mit dieser Aufgabe betrauten Handwerker wesentlich älter als 40 wurden. Den Franzosen war die Gefährlichkeit des Quecksilbers durchaus bewusst, daher entwickelten sie eine Art primitiven Leder-Schnorchel, so dass der Handwerker, der die giftige Mischung auftrug, die Luft hinter seinem Kopf einatmete. Trotzdem verloren die meisten dieser Kunsthandwerker sowohl Verstand als auch Leben. Die OrmoluMethode wurde nach 1830 verboten und durch das Galvanisieren ersetzt, eine weniger tödliche, aber auch weniger reizvolle Alternative, die bis heute angewendet wird. Im 20. Jahrhundert ging die Suche nach einer »Midas-Methode« weiter, nunmehr allerdings in industriellem Ausmaß und unter der Verwendung kostengünstigerer Ersatzmaterialien. In den 1960er Jahren fand man eine preiswerte Lösung für das gleichmäßige goldene Lackieren großer Oberflächen. Pulverisierte Glimmerplättchen oder auch Bronzepulver wurden mit Autolack vermischt, um ganze Fahrzeuge mit Goldglanz zu überziehen. Bald folgten Schlagzeug-Sets, Fahrgeschäfte auf Jahrmärkten und Fingernägel. Zeitgleich wurde die Schönheitsindustrie auf Gold als Marketinginstrument aufmerksam: Parfum und Make-up ließen sich viel leichter verkaufen, wenn man ihnen mit Hilfe goldverzierter Flakons oder Tiegel einen Hauch von Luxus verpasste. Diesen künstlichen goldenen Touch verdanken wir einer Methode, die ursprünglich in den 1930er Jahren zur Beschichtung großflächiger Teleskopspiegel angewendet wurde. Das zu beschichtende Objekt wird – einem Grillhähnchen ähnlich – auf einen Drehspieß in einer Art Mikrowelle montiert. Während der Spieß langsam rotiert, erhitzt man eine Aluminiummünze, bis sie zu verdampfen beginnt. Der Dampf legt sich als eine

wenige Atome dicke Schicht auf das Objekt. Das sieht danach so aus wie chromglänzende Autoteile. Durch das Auftragen einer transparenten gelben Deckschicht wird aus diesem Silber Gold – bestechend einfach. Und damit nicht genug an Zauberei: Gold hat sich von seiner materiellen Erscheinungsform gelöst und ist zum Special Effect geworden, der Filmen wie Pulp Fiction zusätzlichen Glanz verleiht. Ein gelbes Licht scheint auf Vince Vegas’ Gesicht, nachdem er die richtige Kombination in das Zahlenschloss eingegeben und den berühmt-berüchtigten Aktenkoffer geöffnet hat. »We happy«, stellt er beim Anblick dessen Inhalts lapidar fest. Weiter geht es in die virtuelle Welt, wo eine standardisierte goldene Musterabbildung in Rendering-Software es Designern erlaubt, jedes virtuell hergestellte Objekt sofort in das einst so rare Material zu verwandeln – wenn auch nur auf dem Bildschirm. Und wir brauchen nicht einmal mehr visuelle Effekte: Bei der digitalen Kryptowährung reicht allein die Vorstellung ihres Potenzials, um an Berge von Gold zu denken, die jeder für sich schürfen kann, wenn er sich nur schnell genug dem Goldrausch anschließt. Wir haben einen langen Weg hinter uns, vom Nugget bis zum digitalen Code. Wir verbinden Gold mit toxischen Metallen, um Letztere wieder zu verbrennen. Wir klopfen es hauchdünn. Wir ahmen es künstlich nach. Und wir betreiben im Internet blitzschnellen Handel mit seinem Mem. Und doch stehen wir auch wieder am Anfang, als Opfer unserer uralten Gier nach dem betörenden Glanz. Das Schicksal des armen alten Königs Midas lässt uns so kalt wie immer.

Chris Kabel, geboren 1975, ist ein niederländischer Produktdesigner. Seit 2002 arbeitet er in seinem Studio in Rotterdam, seine Werke sind unter anderem im MoMA New York und im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam zu sehen. Er unterrichtet an der École Cantonale d’Art in Lausanne (ECAL) und an der Design Akademie Eindhoven.


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Weltweit bewegt. Die Olympischen Spiele vom Amateurturnier zum GroĂ&#x;ereignis


WELTWEIT BEWEGT 65

TEXT: Martin Kaluza Sackhüpfen, Tauziehen und Seilklettern sind definitiv keine Trendsportarten. Jedenfalls nicht heute. Aber sie waren einmal olympische Disziplinen. Dass es heute überhaupt wieder Olympische Spiele gibt, ist dem französischen Pädagogen und begeisterten Griechenland-Fan Baron Pierre de Coubertin zu verdanken. Ende des 19. Jahrhunderts galt die Antike als chic. Das Leben der alten Griechen, befeuert von einem Boom der Archäologie, wurde regelrecht verklärt. Als 1875 deutsche Archäologen die Überreste von Olympia ausgruben, wurde endgültig beschlossen, die Spiele wiederzubeleben. 1912 führte das Internationale Olympische Komitee (IOC ) neben den sportlichen die olympischen Kunstwettbewerbe ein und vergab Medaillen für Architektur, Literatur, Musik, Malerei und Bildhauerei. Der Schwimmer Alfréd Hajós war einer von zwei Olympioniken, die sowohl in sportlichen als auch in künstlerischen Disziplinen Medaillen gewann. 1896 erreichte er über 100 und über 1.200 Meter Freistil Gold, damals wurden die Schwimmwettbewerbe noch im offenen Meer ausgetragen. Hajós hatte im eisigen Wasser mit reichlich Wellengang zu kämpfen und erklärte später, ihn habe mehr der Überlebens- als der Siegeswille ins Ziel getrieben. Darauf entwarf er für seine Heimatstadt Budapest ein Schwimmstadion, in dem Wettbewerbe ohne Todesangst ausgetragen werden konnten, und wurde dafür 1924 mit der Silbermedaille in Architektur ausgezeichnet. Große künstlerische Impulse gingen von den Olympischen Spielen jedoch nicht aus. Zwar waren die Jurys prominent besetzt, 1924 etwa standen Béla Bartók, Maurice Ravel, Manuel de Falla und Igor Strawinski bereit, musikalische Einreichungen zu beurteilen. Doch von den gerade mal sieben teilnehmenden Werken erschien ihnen keines preiswürdig. Mit dem Niveau der sportlichen Wettbewerbe konnten die künstlerischen nie mithalten, 1948 fanden sie ein letztes Mal statt. In den Anfangsjahren war die Finanzierung der Wettbewerbe meist knapp kalkuliert, und die Austragungsorte hatten kaum Möglichkeiten, ihre Ausgaben für die Ausrichtung wieder einzuspielen. Noch 1948 versprach der argentinische Präsident Juan Perón, die Spiele in London zu unterstützen, indem jeder Großgrundbesitzer seines Landes ein Olympia-Rind zu spenden habe. Zwar hatte die Stadt Amsterdam 1928 erstmals die Film- und Fotorechte verkauft und ließ nur autorisierte Kameraleute zu. Doch lukrativ wurde das

Geschäft mit Olympia erst in den 1960er Jahren, als fast jede Familie einen Fernseher besaß – zumindest für das IOC , und das bis heute: 1,3 Milliarden Euro zahlte der US -Konzern Discovery jüngst, um sich die Übertragungsrechte für die Olympischen Sommer- und Winterspiele von 2018 bis 2024 allein in Europa zu sichern. Den Sportlern blieb lange verwehrt, was heute selbstverständlich scheint: nämlich, mit dem Sport Geld zu verdienen. Die durchaus beabsichtigte Folge war, dass sich vor allem Gutsituierte eine Teilnahme leisten konnten. Athleten aus armen Ländern hatten es besonders schwer, im Brotjob dafür genug zu verdienen. Als das IOC 1981 schließlich die Amateurregel abschaffte, war das ein Zeichen der sozialen Öffnung, das keinesfalls zu früh kam.

»Teilnehmen ist wichtiger als Siegen.« Baron Pierre de Coubertin

Die meisten Wettbewerbe unter dem olympischen Feuer sind Dauerbrenner: Fechten, Leichtathletik, Radsport, Schwimmen und Kunstturnen waren bisher jedes Mal vertreten. Einigen Sportarten war nur eine kurze olympische Karriere beschieden. Wettbewerbe in Kricket und Krocket etwa wurden nur einmal ausgetragen. Tauziehen war immerhin von 1900 bis 1920 olympische Disziplin. Das Reglement lässt einen moderaten Wandel zu, um die Sporttrends der Zeit aufzunehmen – beziehungsweise die Spiele setzen Trends: Dass Beachvolleyball bei den Spielen von Atlanta 1996 zur olympischen Sportart wurde, verdanken die Fans dem amerikanischen Fernsehsender NBC . Der drohte nämlich ansonsten mit einer Kürzung seiner Lizenzzahlungen. Der Sender besaß bereits die amerikanischen Übertragungsrechte für Beachvolleyball und wollte den Sport durch die olympischen Spiele noch populärer machen. 2020 in Tokyo kommen mit Baseball/Softball, Karate, Sportklettern, Skateboard und Surfen gleich fünf neue Sportarten hinzu. Ausgedient haben hingegen die Ringer: Ihre Disziplin, ein Klassiker der olympischen Wettbewerbe, ist in Tokio nicht mehr vertreten.

Martin Kaluza ist Journalist in Berlin. Wäre er millionenschwerer Sponsor, würde er sich dafür einsetzen, dass Einradhockey olympische Sportart wird.



ES GEHT NICHT UM MODE, ES GEHT UM STYLE Wie man aus einer Jugendkultur eine olympische Sportart macht


68  ES GEHT NICHT UM MODE, ES GEHT UM STYLE

text:  Axel Zielke  fotos:  Little Shao / Spin / Jhanhuan

BREAKING Das Breaking, ursprünglich B-Boying und B-Girling genannt, ist eine Tanzform der Hip-Hop-Kultur, die sich in den frühen 70er Jahren in der Bronx entwickelt hat. Der Begriff geht auf die sogenannten Breaks bzw. Breakbeats zurück, die Hip-Hop-DJs zu dieser Zeit bei Partys und Veranstaltungen aufgelegt haben. Der Tanz besteht im weitesten Sinne aus vier Bewegungsmodulen: Toprock (aufrechte Tanzschritte), Downrock (Bewegungen am Boden), Power Moves (athletisch anspruchsvolle Figuren, z. B. Headspin) und Freezes (für einen kurzen Moment eingefrorene Posen).

EINS-GEGEN-EINS ODER 1 ON 1 Der Begriff 1 on 1 bezeichnet in einem Tanzwettkampf die Anzahl der Tänzer, die direkt gegeneinander antreten. Das 1 on 1 ist vergleichbar mit dem Einzel etwa im Tennis. Neben dem 1 on 1 Battle sind im Hip-Hop auch Gruppenwettkämpfe wie das 2 on 2, 3 on 3 oder auch 5 on 5 üblich.

Die Olympischen Spiele der Neuzeit waren bei ihrer Einführung im Jahr 1894 in erster Linie als Treffen der Jugend der Welt konzipiert. So ist es passend, dass sich das IOC den sogenannten Trendsportarten öffnet, um am Puls der Zeit ­zu bleiben. Erstmals werden in Tokio 2020 Medaillen im Skaten und im BMX Freestyle vergeben. »Wir können nicht mehr darauf warten, dass die Jugendlichen zu uns kommen«, so IOC -Präsident Thomas Bach, »wir müssen dorthin gehen, wo die Jugendlichen sind, in die urbanen Zentren.« Eine ­weitere Sportart, die zunächst bei den Buenos Aires 2018 Youth ­Olympic Games auf ihre Publikumstauglichkeit im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris getestet wird, ist Breaking. Aber ist das überhaupt eine Sportart? Das fragt sich wohl nicht nur der ein oder andere Fernsehzuschauer, sondern auch die globale Hip-Hop-Szene. Immerhin bildet Breaking gemeinsam mit den Disziplinen Rap, DJing und Graffiti die HipHop-Kultur, die als Protestbewegung ihre Wiege in der New Yorker Bronx der 70er Jahre hat. Dort schufen afro-amerikanische Jugendliche aus dem Erbe von Blues, Jazz, Soul und Funk nicht nur eine neue Musikrichtung, sondern legten zugleich

Kenny G aus Taiwan, Finalist beim Qualifier für die Buenos Aires 2018 Youth ­Olympic Games


den Grundstein für ein Kulturphänomen globalen Ausmaßes. ­Heute ist Hip-Hop die am weitesten verbreitete Jugendkultur der Welt. Während die Tänzer in den 70er Jahren auf Asphalt oder ­herumliegenden Holzplatten zu den Breaks der DJs tanzten, die den Strom für ihr Equipment nicht selten einfach irgendwo abzapften, um ihre Musik auf der Straße aufzulegen, treten die Breaker heute im Rahmen großer Wettbewerbe wie Battle of the Year, Red Bull BC One, Freestyle Session oder Taipei Bboy City auf allen Erdteilen gegeneinander an. Und nun also auch bei den Buenos Aires 2018 Youth Olympic Games. Und das bringt einige Veränderungen mit sich. Innerhalb der ­Gesamtheit einer tänzerischen Darbietung, bei der es nicht zuletzt um die Inszenierung der eigenen Identität, des eigenen Styles geht, muss die sportliche Leistung bei der Bewertung isoliert werden. Als die World Dance Sport Federation (WDSF ), der vom IOC anerkannte Verband für die Umsetzung von olympischen Tanzwettbewerben, sich daranmachte, Breaking als olym­ pische Sportart aufzubereiten, war die Skepsis in der HipHop-Szene groß. Einem Verband ohne jegliche Kenntnis der langjährigen Tradition und der kulturellen Codes traute man diese Aufgabe nicht zu. Die WDSF begegnete diesem Zweifel im März 2017 mit der Berufung einiger Hip-Hop-Experten, darunter der Gründer des größten Breaking-Events der Welt, Battle of the Year, Thomas Hergenröther. Als Berater des WDSF ist Hergenröther seitdem für die Gesamtkoordination des Projektes verantwortlich. Neben Zeitdruck – die für Olympia obligatorische Quali­ fikationsserie muss unbedingt vor den Spielen in Buenos Aires abgeschlossen sein – sah sich Hergenröther vor allem mit zwei Herausforderungen konfrontiert: Zum einen damit, die speziellen Gepflogenheiten der Breaking-Szene mit den strengen Auflagen des IOC in Einklang zu bringen. »Olympia gibt es seit Ewigkeiten, es gibt extrem eingefahrene Richtlinien, alles wird vertechnisiert und saugt die Energie aus der Kultur«, so Hergenröther, »dabei will das IOC am Ende einen lebendigen Wettbewerb. Da müssen eben Kompromisse gemacht werden.« Die Zusammenarbeit mit dem IOC habe sich über die Zeit allerdings sehr positiv entwickelt. Inzwischen gibt es ein 80-seitiges Regelbuch, das für jede denkbare Situation während der Wettbewerbe eine sehr genaue Handlungsanweisung gibt und sämtliches zugelassene Equipment auflistet. Und so ist die Headspin-Cap nunmehr ein offizielles Sportwerkzeug. Zum anderen ging das IOC ursprünglich wohl davon aus, dass es im Breaking wie in anderen etablierten Sportarten weltweit einheitliche Organisationsstrukturen gibt, auf die die Jugendolympiade aufbauen kann. Das ist nicht der Fall. In vielen Ländern trainieren Breaker ohne einen festen Tanzraum und völlig ohne Trainer, bestenfalls noch mit YouTubeVideos als Anleitung. Noch dazu gab es bislang bei internationalen Wettbewerben kein homogenes Regelwerk, an dem sich die Punktrichter orientieren. Häufig deuten die Punktrichter nach einer Runde, bei der jeweils ein Tänzer gegen einen anderen antritt, lediglich per Handzeichen kurz auf den Besse-

oben: Freestyle Battle bei der Zulu 44th Beat Square 7th Anni­ver­sary in Taipei; unten: Kid Colombia aus den Niederlanden beim ­Taipei Bboy City World Final

HEADSPIN-CAP Das Headspin-Cap ist eine Mütze mit festem ­Nylon-Pad an der Frontseite, die Breaker bei einem Headspin tragen. Dabei hat nur der Kopf Kontakt mit dem Boden, der Körper des Tänzers dreht sich. Das Headspin-Cap erleichtert die Drehung und verhindert Verletzungen.


Tänzerinnen und Tänzer der HRC-Crew von BBoy Bojin

ren der beiden, der daraufhin als Sieger aus der Runde hervorgeht. Die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen ist für den Zuschauer dabei gleich null. Es galt also, ein für den Zuschauer und für die Tänzer transparentes Bewertungssystem zu entwerfen, das bei aller Genauigkeit aber auch mit den Werten der Hip-Hop-Kultur und der Tradition des Breaking einhergeht, damit es von den Tänzern auch akzeptiert wird. Dafür holte Hergenröther Niels »Storm« Robitzky in sein Team, eine lebende Legende innerhalb der Hip-Hop-Szene. Bereits in den frühen 90er Jahren gewann er mit seiner Crew Battle Squad mehrmals das Battle of the Year, heute ist er Punktrichter bei den weltweit wichtigsten Tanzwettbewerben der Szene und gilt als herausragender Experte im Bereich Urban Dance. Bei der Entwicklung des Bewertungssystems hat sich Storm an den drei sprachlichen Fächern der sieben freien Künste in der Antike, dem sogenannten Trivium, orientiert – Grammatik, Dialektik und Rhetorik. So bewerten die Judges nun nach drei Kriterien: Mind, Body & Soul, also die künstlerische, physische und interpretative Qualität einer Tanzdarbietung. Während jeder Runde eines Eins-gegen-eins-Battles geben die Punktrichter ihre Bewertung in ein Tablet. So kann das Publikum nachvollziehen, welcher Punktrichter welchen Tänzer pro Runde um wie viel Prozentpunkte vorne sieht und ob ein Duell knapp oder deutlich entschieden wird. Storm legt großen Wert darauf, dass die Tänzer nach wie vor im direkten Vergleich gegeneinander antreten und dass die Gesamtperfor-

mance und nicht die zusammenhanglose Aneinanderreihung verschiedener Tanzfiguren im Vordergrund steht – Style eben. Drei Vorentscheide haben auf der Grundlage dieses neuen Bewertungssystems bereits stattgefunden, nun treten die 90 besten Jungen und Mädchen dieser Veranstaltungen am 20. Mai 2018 beim letzten Qualifier in Kawasaki, Japan, gegeneinander an. Dort werden die jeweils besten zwölf WettkämpferInnen aus zwölf unterschiedlichen Ländern für die Teilnahme an den Buenos Aires 2018 Youth Olympic Games nominiert. Danach wird sich zeigen, ob Breaking frühestens 2024 in Paris tatsächlich olympische Disziplin wird. Thomas Hergenröther und Storm sind mit der bisherigen Entwicklung des Projektes zufrieden. Die Jugendolympiade trägt als wichtiger zusätzlicher Wettbewerb zur Etablierung des Breaking bei – und damit zur weiteren Verbreitung einer Jugendkultur, deren Hauptanliegen internationaler Austausch und Authentizität sind. Breaking ist über 40 Jahre nach seiner Entstehung immerwährend beliebt. Zu verlieren habe man daher nichts. »Olympia braucht uns«, so Storm, »nicht umgekehrt.«

Axel Zielke ist Musikwissenschaftler und Hip-HopExperte. Er betreibt in Hamburg das Büro A bis Z I Urbane Künste und organisiert dort den deutschen Vorentscheid für die Breaking-Weltmeisterschaft Taipei Bboy City im Dezember in Taipeh.


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Mode, Mut und Kompromiss HARALD MARTENSTEIN

Das wichtigste Kennzeichen jeder Mode ist ihre begrenzte Dauer. Insofern ist auch unser Leben leider eine Art Mode. Es dauert nicht sehr lange, wenngleich zum Glück deutlich länger als das Bedürfnis währte, einen Hula-Hoop-Reifen um die Hüften zu schleudern oder Tama­gotchis zu pflegen. Während die Dauer des Lebens aber in groben Zügen vorhersehbar ist, mit allerspätestens 110 ist Schluss, schaffen es manche Trends, den für sie vorgesehenen Zeitrahmen zu sprengen. Diese zusammenklappbaren Mini-Fahrräder aus Aluminium, die in den Städten bei den Businesspeople ein paar Jahre lang oft zu sehen waren, sind erwartungsgemäß selten geworden – aber es gibt sie noch. Snowboards habe ich anfangs auch für eine Mode gehalten. Inzwischen deutet einiges darauf hin, dass es sich um eine Sportart handelt, die auch noch in 50 Jahren ihre Fans finden wird. Ich versuche, Moden aller Art aus dem Weg zu gehen, einerseits aus ­Altersgründen. Ein Mensch jenseits der 40 wirkt ein wenig lächerlich, wenn er nach dem Scheitern einer Beziehung sagt: »Ich bin jetzt schatzlos«, diese Formu­lierung scheint zurzeit modern zu sein. Außerdem kann sich der Modeverächter seiner Individualität rühmen, er geht den häufig von irgendeiner Industrie lancierten Moden nicht auf den Leim und ist ganz er oder sie selbst. ­Leider muss ich nach einigem Nachdenken feststellen, dass ich, statt ganz ich selbst zu sein, lediglich den Moden der Vergangenheit folge. Ich sage »prima« oder »super«, wenn mir etwas gefällt,

ich spiele hin und wieder Boule, immerhin nicht ­Boccia wie Konrad Adenauer. Ich trage schwarze T-Shirts und esse ­immer noch gern Fondue. Auch ich bin ein Sklave der Moden, nur halt nicht der aktuellen. Man kann wahrscheinlich gar kein Individuum sein. Individualismus ist ein Mythos. Man ist immer Teil von etwas, gibt sich Moden und Trends hin, um dazuzugehören. Immerhin waren unsere Vorfahren Herdentiere. Tiger, die sich nur zur Paarung treffen und ansonsten alleine durch den Dschungel streifen, hätten das Zeug zum glaubwürdigen Modeverächter. Aber sie sind nicht intelligent genug, um das zu formulieren, und tun sowieso das Gleiche wie der ­Tiger im Nachbarrevier. Wenn der Tiger sich dafür entscheidet, zu zwitschern, statt zu brüllen, also zu echtem Individualismus, dann will die Tigerin nichts mehr von ihm wissen. Der größte Indi­ vidualist, den ich kannte, trug mitten in den 70er Jahren stets ein englisches ­Jackett mit Einstecktuch, benutzte Schnupftabak und trat der extrem un-

modernen Jungen Union bei, alle anderen waren Kommunisten und orientierten sich, was ihre Genussmittel betraf, an den angesagten Rockbands. Aber der tat halt das, was seine Eltern gern sahen, statt seiner A ­ lterskohorte zu folgen. Ob ein Modeverächter mutig ist oder ängstlich, kann man nur am Einzelfall entscheiden. Womöglich waren die Eltern dieses schnupfenden Jungen einfach nur furchterregender als jede Peergroup. Mein Vater trug am Strand stets eine Mütze mit Reißverschluss, in dieser Mütze bewahrte er sein Kleingeld auf. Das wirkte d ­ amals cool. Ich hätte heute für so eine Mütze Verwendung, ich suche ständig Kleingeld, aber mir fehlt der Mut, sie zu tragen. Ausgerechnet ein Modeschöpfer, Karl Lagerfeld, kommt mir relativ modeunabhängig vor. Er sagt, was er denkt, er hat immer das Leben geführt, das er führen wollte, er trägt Zopf, obwohl das als prollig gilt, und scheint auf das Urteil seiner Mitmenschen nicht übertrieben viel zu geben. Seine Klamotten aber sind modischer Mainstream und verkaufen sich gut, vielleicht mag er selber die gar nicht. Ohne Kompromisse kann man nicht leben.

Harald Martenstein ist Autor der Kolumne ­»Martenstein« im Z ­ EIT magazin und Redakteur beim Berliner Tages­ spiegel. ­Zuletzt ist von ihm ­erschienen Nettsein ist auch keine Lösung: Einfache ­Geschichten aus ­einem schwierigen Land.


Der nächste ATLAS : Hoffnungen

Der nächste ATLAS erscheint im Herbst 2018 – wir freuen uns, dass Sie bis hierher ­gelesen oder zumindest geblättert haben. Noch mehr freuen wir uns, wenn Sie uns ­sagen, wie Ihnen dieser ATLAS gefallen hat, damit wir das, was wir tun, noch besser tun können. Schreiben Sie uns doch per E-Mail: redaktion@gw-atlas.com ATLAS ist das Kundenmagazin der Gebrüder Weiss

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ausgeschlossen, sofern sie sich nicht auf eine Verletzung von

von: akg – images / Fototeca Gilardi, fotolia / BJFF , Wikimedia

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Redaktionsschluss: 9. März 2018

grob fahrlässiges Handeln beziehen.

Kaumberg – Heimatmuseum, Getty Images / Topical Press

Artikelnummer: 6060

Images / Bob Thomas/Popperfoto / Kontributor, fotolia /

mit Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH,

Der ATLAS erscheint in einer deutschsprachigen und einer

macau, fotolia / fotoslaz; fotolia / sumire8, fotolia / upixa);

­Hamburg; ­www.groothuis.de.

­englischsprachigen Ausgabe.

S. 66 – 70: Little Shao / Spin /Jhanhuan; S. 71: fotolia / Dzha;

Chefredaktion und V. i. S. d. P.: Frank Haas für die ­Gebrüder Weiss Gesellschaft m. b. H. in Zusammenarbeit

Agency / Freier Fotograf, Getty Images / FPG  / Staff, Getty

Ideen und Konzeption: Frank Haas für­Gebrüder Weiss

S. 72: Illustration von Lars Hammer; S. 22, 36, 52, 61, 71:

Gesellschaft m. b. H. und Rainer Groothuis  Redaktion und

Bild- und Copyrightnachweis: Cover und Rückseite, S. 6,

Autorenporträts von Max Schultz; S. 26, 29, 47, 56, 59, 63, 70:

Projektmanagement: Merlin Herrmann für­Gebrüder Weiss

S. 10 – 23: Rainer Groothuis; U2, S. 1 – 5: Tina Gothe; S. 24:

Autorenporträts von Gerd Schröder; S. 65: Autorenporträt von

Gesellschaft m. b. H., Miriam Holzapfel, Imke Borchers

fotolia / Dzha; S. 26: akg-images / Album / Warner Brothers;

Alexander Rubzow.

Gestaltung: Rainer Groothuis, Sandra Ost, Chiara Weis

S. 27: fotolia / ananaline (rechts oben); S. 28: Stocksy / Audrey

Korrektorat: Regina Louis  Herstellung: Ralf Schnarren­

Shtecinjo; S. 30: K. Rade; S. 31: akg – images; S. 32: Ullstein

berger, Kai Struwe, Raimund Fink für­Gebrüder Weiss

Bild / Otfried Schmidt; S. 35: Getty Images / Victor Virgile;

Gesellschaft m. b. H. ­Lithografie: Alexander Langenhagen,

S. 37 (oben): privat; S. 37 (links unten): privat; S. 37 (rechts

edelweiß publish, Hamburg  Druck und Bindung:

unten): fotolia / roman3d; S. 38 (Porträtfotos Mitarbeiter):

BULU – Buch­druckerei Lustenau GmbH, Millennium Park 10,

privat; S. 38 (rechts oben): fotolia / konstantant; S. 38 (Mitte

A-6890 Lustenau  Gedruckt auf: Circleoffset

links): iStock / jacktheflipper; S. 38 (Mitte rechts): privat; S. 38 (links unten): fotolia / rico287; S. 39 (Porträtfotos Mitarbeiter): privat; S. 39 (rechts oben): fotolia / fovito; S. 39 (Mitte

klimaneutral

natureOffice.com | AT-157-290515

gedruckt

links): iStock / piranka; S. 39 (Mitte rechts): iStock / motimeiri; S. 39 (links unten): privat; S. 42/43: Cukrowicz Nachbaur

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Mit Nachrichten, Kolumnen, Interviews, vielen Bildern und der Lust, die Welt zu bewegen: der zehnte ATLAS.


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