DAS MAGAZIN DER HALTER AG Nr. 16/2023
Die drohende Wohnungsnot ist in aller Munde. Der Ruf nach bezahlbarem Wohnraum wird immer lauter. Nicht nur in den Städten. Offensichtlich ist das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage aus dem Lot geraten, und es häufen sich die Prognosen, dass sich diese Tendenz weiter akzentuieren wird.
Es ist wohl davon auszugehen, dass die Schweiz in Anbetracht sich manifestierender politischer und wirtschaftlicher Verwerfungen global und insbesondere in Europa als klassisches Zuwanderungsland weiter an Attraktivität gewinnen wird. Doch die dringend nötige gesamtgesellschaftliche Debatte über eine gezielte Steuerung der Zuwanderung wird nicht so rasch vorankommen. Sie passt vielen nicht ins Konzept. Die politische Linke spricht von Marktversagen und versucht, die Gelegenheit zu nutzen, weiter zu regulieren und Eigentumsrechte zu beschneiden, anstatt das Übel an der Wurzel zu packen.
Die Bau- und Immobilienindustrie ist gefordert, Lösungsansätze zu erarbeiten, die der Verknappung und der Verteuerung von Wohnraum nachhaltig entgegenwirken. Im vorliegenden Komplex werden Sie viele Impulse dazu finden. Sei es in raumplanerischer Hinsicht oder betreffend effizientere Methoden und Prozesse in der Planung, der Bewilligung und der Realisierung von Bauprojekten. Die Spannbreite reicht von der Wiederbelebung bewährter Eigentumsformen bis zu disruptiven Innovationen. Die verschiedenen Ansätze zeigen auch auf, in welchen Spannungsfeldern von sich oftmals widersprechenden gesellschaftlichen und ökologischen Interessen dieser Wandel zu erfolgen hat.
Als Einstimmung auf die vorhandenen Herausforderungen sei die Lektüre des Beitrags von Martin Neff «Der Wohlstand frisst seine Kinder» (S. 116) empfohlen. Der versierte Ökonom führt die Gründe an, die zu einem Nachfrageüberhang geführt haben, und erläutert dessen Konsequenzen auf die Belastung der unterschiedlichen Einkommensklassen. Mit seinem brillanten Essay «Die Peripherie gibt es nicht» (S. 32) zeigt der emeritierte
ETH-Professor Vittorio Magnago Lampugnani auf, wie wir aus dem raumplanerischen Dilemma der nicht stattfindenden inneren Siedlungsentwicklung herausfinden können. Dabei geht es neben der quantitativen Verdichtung noch viel mehr um die qualitative Weiterentwicklung vorhandener Siedlungsstrukturen.
2 Editorial
Die Gestaltung und die Programmierung öffentlicher Räume haben dabei eine zentrale Funktion. Durch die Artikel zu den Wettbewerbsverfahren für das Attisholz-Areal bei Solothurn und La Cité du Vin in Rolle (S. 10 und S. 22) wird eindrücklich nachvollziehbar, welch tragende Rolle den Landschaftsarchitekten zukommt und welche Bedeutung Freiräume für die Entwicklung eines lebendigen Quartiers haben. Die Reportagen zu realisierten Projekten – Velâdzo (S. 42), Bäretower (S. 52), Hammerwerk (S. 78) – dokumentieren die praktische Umsetzung vieler der angesprochenen Ideen und Ansätze und illustrieren die Qualitäten, die sie zu erzeugen vermögen. Dass der Weg dahin oft kontrovers ist und anspruchsvoller Güterabwägungen bedarf, verdeutlichen die unterschiedlichen Standpunkte zur Frage «Abbruch oder Erneuerung?» (S. 141).
Der Beitrag «Construction 4.0» (S. 149) beschreibt eindringlich, für viele sogar beunruhigend, wie die Digitalisierung inzwischen auch unsere Branche beschäftigt und lieb gewordene Vorgehensweisen obsolet macht. Mit neuartigen Tools erschliessen sich riesige Effizienzsteigerungspotenziale, auch indem sie bestehende Berufsbilder und Geschäftsmodelle direkt angreifen. Dass enormes Steigerungspotenzial nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Verwaltung vorhanden ist, offenbart der Beitrag der Studienleiter eines Wiener Pilotprojekts zur Digitalisierung des Baubewilligungsverfahrens (S. 186).
Und warum nicht in die Vergangenheit schweifen, um von Bewährtem zu lernen und dieses den aktuellen und sich abzeichnenden Anforderungen angepasst in die Zukunft zu führen? Der Historiker Florian Müller hat zu diesem Zweck die Erfolgsgeschichte der Wohnbaugenossenschaften seit Ende des vorletzten Jahrhunderts aufgearbeitet. Einen Auszug finden Sie ab S. 98.
Schliesslich hoffen wir auch in diesem Jahr, dass wir mit unserem Magazin Komplex wertvolle Diskussionsbeiträge zu brennenden Themen und Herausforderungen unserer Zeit liefern können. Für fruchtbare Impulse zu dringend notwendigen Entwicklungen in unseren Industrien.
Balz Halter
Verwaltungsratspräsident Halter AG
3 Komplex Nr. 16/2023
→ S. 10
Eine Insel im Landschaftsraum
Entwicklung & Städtebau
→ S. 22
Gemischtes Programm für ein grünes Quartier
→ S. 32
Essay: Die Peripherie gibt es nicht. Vorschläge zum Umbau der Agglomeration zu einem Stück Stadt
Architektur & Design
→ S. 42
Ein Dorf beim Bahnhof Bulle
→ S. 52 Vorbote einer urbanen Zukunft
→ S. 68
Schlichte Hülle, glänzender Kern
→ S. 78 Wohnen, wo einst die Industrie blühte
Gesellschaft & Umwelt
→ S. 88
Interview: «Es geht darum, dem Team eine Vision aufzuzeigen»
→ S. 98
Essay: Klein, aber fein. Ein Blick auf die Geschichte des genossenschaftlichen Wohnungsbaus in der Schweiz
→ S. 116
Der Wohlstand frisst seine Kinder
-------avenue 4 → S. 2 Editorial
Inhalt → S. 5 Journal
EIN SCHRITT IN DIE ZUKUNFT
Am 29. Februar 2023 wurde eine Schenkung der Halter AG an die ETH Foundation in Zürich beurkundet. Mit 1,2 Millionen Franken wird das Zentrum Design++ in den nächsten sechs Jahren dabei unterstützt, neue Geschäftsmodelle in den Bereichen Ressourceneffizienz, Kreislaufwirtschaft und Reduzierung von Kohlenstoffemissionen in Architektur und Bauingenieurwesen zu erforschen. → www.designplusplus.ethz.ch
NEUE ENERGIE FÜR DEN WESTEN VON BERN
In den nächsten Jahren wird zwischen Europaplatz und Weyermannshaus im Herzen des Entwicklungsschwerpunkts Ausserholligen ein neuer urbaner Arbeits- und Lebensraum entstehen. Das Projekt resultiert aus einer zweistufigen Gesamtleistungsstudie, die 2020 von Energie Wasser Bern (EWB) ausgeschrieben wurde. Gut zwei Jahre später ging der Zuschlag für die Entwicklung und die Realisation des 31 000 Quadratmeter grossen Areals an Halter Gesamtleistungen. Das Baurecht für die Baufelder B und C wurde der Bietergemeinschaft, bestehend aus Halter Entwicklungen und der Entwicklergenossenschaft «Wir sind Stadtgarten», zugeschlagen. Geplant sind vier Baukörper, von denen der höchste 110 Meter in den Himmel ragen soll. Hier wird EWB seinen neuen Firmenhauptsitz einrichten. → www.ewb.ch
HOCH ÜBER DEM RHEINFALL
Vis-à-vis dem SIG-Areal in Neuhausen am Rheinfall entstand das Projekt Industrieplatz 5 nach einem Entwurf der Architekten Tony Fretton, London, und Blättler Dafflon, Zürich. Erstellt wurden Gewerbeflächen und 76 Wohnungen in einem 40 Meter hohen Turm, der über einen spektakulären Blick auf das nahe Naturschauspiel verfügt. Im August 2022 konnte die Liegenschaft von ZSL Invest an die Bauherrschaft Pensionskasse des Bundes Publica übergeben werden. → www.industrieplatz5.ch
UNTER DEM PILATUS
Ende November 2022 war es so weit: Nach erteilter Baubewilligung wurde der Spatenstich für die Pilatus Arena in Kriens gefeiert. Mit dabei waren unter anderem Toni Bucher, VR-Präsident der Pilatus Arena AG, die beiden Investorinnen Anne und Julia Schwöbel, Nick Christen vom HC Kriens-Luzern sowie Markus Mettler, CEO der Halter AG. Neben der Sport- und Eventstätte werden auch zwei Wohntürme entstehen. Die Wohnungen im Pilatus Tower sind bereits in der Vermarktung. → www.pilatustower.ch
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Fotos und Visualisierungen: Filippo Bolognese Images, Blättler Dafflon Architekten, Martin Maierberger
FÜR MEHR EFFIZIENZ IM HANDWERK
Die neue cloudbasierte Softwarelösung Siresca revolutioniert den bisher bekannten Elektroinstallationsprozess. Mit der Augmented-Reality-App kann nicht nur schneller und weniger fehleranfällig gearbeitet werden, sie erfasst auch wichtige Daten und Informationen. Das Anzeichnen von Bohrlöchern oder AZW-Dosen, die Kontrolle der Platzierung manuell eingemessener Objekte, die Bestimmung von Referenzpunkten im Plan und die genaue Ausrichtung von Plänen im Raum werden mit der App vereinfacht. Im Sinne der Effizienzsteigerung von Bauprozessen hat sich die Halter AG an Siresca beteiligt und strebt eine zukünftige Erweiterung der digitalen Funktionen auf andere Haustechnikbereiche an. → www.siresca.ch
WO DIE NATUR DEN TON ANGIBT
Auf dem Areal La Sauge in Palézieux-Gare soll ein lebendiges Quartier mit rund 550 Wohnungen, 5000 Quadratmetern Gewerbeflächen sowie öffentlichen Nutzungen entstehen. Hauptpfeiler der Entwicklung bilden die Förderung sozialer Interaktion, der respektvolle Umgang mit der Natur sowie ein durchdachtes Mobilitätskonzept. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Halter Entwicklungen deshalb den Freiräumen. Man entschied sich, die üblichen Prozesse umzukehren: Zuerst werden die Aussenbereiche gestaltet, dann erst wird die Volumetrie der Gebäude festgelegt. Um dem Quartier eine starke Identität zu verleihen, wurde zunächst ein Landschaftsarchitektur-Studienauftrag durchgeführt. Das Siegerteam, Vimade Architectes Paysagistes und AETC Architectes Urbanistes, erarbeitete eine Charta mit aussenraumgestalterischen und städtebaulichen Vorgaben. Nun sind die Architekten im Direktauftrag mandatiert worden, die geforderte architektonische Qualität und Diversität sicherzustellen. → www.lasauge-palezieux.ch
KRAFTORT AM URNERSEE
Ende 2022 konnte sich die Halter AG das Kaufrecht für das 1875 erbaute Hotel Sonnenberg in Seelisberg im Kanton Uri sichern. Nach dem Auszug der Maharishi-Weltfriedens-Stiftung soll der denkmalgeschützte Teil des Gebäudes renoviert und mit einer modernen Wohnanlage ergänzt werden. Kanton, Gemeinde und Halter arbeiten bereits gemeinsam an der Vision zur Revitalisierung dieses einmaligen Ortes direkt über der Rütliwiese. Bis Ende 2025 soll das Baugesuch eingereicht werden.
6 Journal
DEN NACHWUCHS FÖRDERN
BridgE heisst das neue Konzept, mit dem die Halter AG verschiedene Ausbildungsthemen bündeln und mit der Baubranche verbinden möchte. Starten sollen die Industrietage für Studierende im Herbst 2023 am Halter-Hauptsitz in Schlieren. Geplant sind Vorträge, Workshops, Baustellenbesichtigungen sowie Inputs aus dem gesamten Halter-Ecosystem.
ATTRAKTIVE ANGEBOTE IN FLUMS
GEMEINSAM TORE SCHIESSEN
Nach zweijähriger Corona-Pause wurde im Oktober 2022 das traditionelle Fussballturnier der Schweizer Architektenschaft, der S AM Cup by Halter, ausgetragen. 24 Teams spielten im Landhof-Stadion in Basel um den begehrten Pokal. Begrüsst wurden sie von Stiftungsratspräsident Meinrad Morger. → www.sam-basel.org
DIE HÄNGENDEN GÄRTEN VON ZÜRICH
Dort, wo 1866 die ersten Maschinen zur Herstellung hochwertigen Garns ihren Betrieb aufnahmen, wird der Innovationsgeist vergangener Tage bald wieder spürbar sein. Nachdem die Spinnerei Spoerry ihre Produktion 2009 eingestellt hatte, vermarktete man die Liegenschaft unter dem Slogan «Flumserei – Raum zum Wirken und Werken». Damit wurde das Areal in den vergangenen Jahren teilweise für Gewerbe, Dienstleistung, Kulturveranstaltungen und Events genutzt. 2020 ging die Flumserei an die Stiftung Abendrot über. Die neue Besitzerin möchte nun den Hauptbau des alten Industriegeländes in einen lebendigen Ort mit attraktiven Wohnungen und Arbeitsplätzen zwischen Flumserbergen und den Churfirsten verwandeln. Hier sollen in den kommenden Jahren 106 Wohnungen und rund 4000 Quadratmeter Gewerbe- und Büroflächen entstehen. Ein entsprechendes TU-Angebot unterbreitete Halter Renovationen im April 2023. → www.flumserei.ch
Seit mehr als fünf Jahren wird für die Löwenstrasse 54 und 56–58 geplant. So lange schon wünscht sich der Eigentümer der Geschäftsliegenschaft, die 180 Quadratmeter Fassadenfläche eines Baus aus den 1970er-Jahren zu begrünen. Als Halter Renovationen sich des Projekts annahm, kam Schwung in das Vorhaben. Um das nachhaltige Green House zu realisieren, wurde im November 2021 nach intensiver Planungsphase der pauschale Werkvertrag unterzeichnet. Im Januar 2023 konnte mit der energetischen Sanierung des Gebäudes samt neuer Heizerzeugung mit Luft-Wasser-Wärmepumpe und Fotovoltaikanlage begonnen werden. Die Fassade, die mit einem patentierten System aus Edelstahlcocoons und -paneelen ausgestattet ist, soll mit Pflanzen bestückt werden und die ökologischen Bemühungen an dieser hoch frequentierten Innenstadtlage unterstreichen. Die Arbeiten werden noch bis Ende 2023 andauern.
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Fotos und Visualisierungen: Siresca, Joris Jehle, Vimade, Frank Schwarzbach, Gabi und Rainer Winsauer, U2 Ulshöfer Architekten
ACTION IM ATTISHOLZ
«Find Your Flow» hiess das Festival, das im Sommer 2022 auf dem Attisholz-Areal Profis, Tanzbegeisterte und Schaulustige anlockte. Über 800 Tänzerinnen und Tänzer aus 21 Ländern begeisterten vor ausverkauften Rängen. Battles und ShowcaseCompetitions wurden drei Tage lang in verschiedenen Kategorien ausgetragen. Für eine fantastische Atmosphäre auf dem ehemaligen Industrieplatz sorgte zudem das schöne Wetter und ein vielseitiges Rahmenprogramm. Der Event generierte gut 6 Millionen Views auf Social Media, die zusammen mit dem Youtube-Storytelling-Kanal «Stance» bespielt wurden. 2023 findet das Festival vom 16. bis 18. Juni erneut im Attisholz statt, und 2024 ist Breakdance dann zum ersten Mal olympische Disziplin in Paris. → www.attisholz-areal.ch
AUF WACHSTUMSKURS
Nach rund zehn Jahren auf der Luzerner Allmend ist die Geschäftsstelle der Halter AG in der Zentralschweiz nach Kriens umgezogen. Seit April 2022 arbeiten die rund dreissig Mitarbeitenden von Halter und der Entwicklergenossenschaft «Wir sind Stadtgarten» in ihren neuen Büros am Bahnhof Mattenhof in unmittelbarer Nachbarschaft der Baustellen Pilatus Arena und Pilatus Tower.
NACHHALTIGES NEUENBURG
Am Seeufer und nur wenige Schritte vom Stadtzentrum und der Place Pury entfernt, entsteht das Projekt Reflet mit 18 exklusiven Eigentumswohnungen mit 2,5 bis 4,5 Zimmern. Das Gebäude mit begrünter Fassade und grünem Dach profitiert zudem von einem historischen Garten im Norden. Die von Halter Entwicklungen realisierte Liegenschaft soll 2024 fertiggestellt werden. → www.reflet-neuchatel.ch
ZUSAMMEN STÄRKE ZEIGEN
Am 17. Mai 2023 lud The Branch zur Tagung «Integrierte Abwicklungsmodelle aus der Perspektive der Bauherrschaft» ein Öffentliche und private Bauherren berichteten über ihre Erfahrungen mit offenen, kreislauffähigen Prozessen und Produkten. Das Fazit: Nur durch die enge Zusammenarbeit der Akteure können in Zukunft Themen wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz gemeistert werden. → www.thebranch.ch
8 Journal
Fotos und Visualisierungen: Jessica Christ, Roman Beer, All Pixels Studio
→ S. 120
Operations & Life Cycle
Interview: «Datenhoheit zu haben, ist eine schöne Vorstellung»
→ S. 128
Perfect Match
→ S. 134
Baurecht, Landwert und zwei ungleiche Partner
→ S. 138
Kolumne: Es klemmt im Getriebe der Innenverdichtung
→ S. 141
Abbruch oder Erneuerung? Im Anspruchskanon von Verdichtung, Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und Heimatschutz
Engineering & Production
→ S. 149
Construction 4.0 – Sind wir noch auf dem Berg der überzogenen Erwartungen oder schon auf dem Plateau der Produktivität?
→ S. 156
Kolumne: Kein Klimaschutz ohne Disruption
→ S. 160
Nur im Paar zu haben
→ S. 186
Verfahren mit Modellcharakter
→ S. 180
Aus Wilhelm wird Vilio
→ S. 190
Die Halter AG auf einen Blick
→ S. 192
Impressum
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EINE INSEL IM LANDSCHAFTSRAUM
Visualisierungen: DnD Landschaftsplanung
Fotos:
Alt und Neu verbinden, städtebauliche Porosität schaffen, klimaresiliente Freiraumgestaltung umsetzen – das sind die Kernziele für die Transformation des Attisholz-Areals bei Solothurn.
DnD Landschaftsplanung und FSA Architektur aus Wien haben den Studienauftrag für sich entscheiden können, der als Masterplan die Grundlage für die weitere Entwicklung der imposanten
früheren Cellulosefabrik bildet. Ziel ist es, die bestehenden Charakteristika des Areals zu bewahren und zu stärken. Zugleich bedarf es der Flexibilität, denn der Zeithorizont der Umnutzung beträgt mehr als zwanzig Jahre.
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Text: Hubertus Adam
Patrick Senn, Johannes Buchinger
Es gibt wohl kein Industrieareal in der Schweiz, das derartig eindrücklich wirkt wie das der ehemaligen Cellulosefabrik Attisholz. Obwohl nur vier Kilometer flussabwärts von Solothurn direkt an der Aare gelegen, zeigt sich das Bauensemble bis heute verwunschen: Vom Halt Riedholz an der Bahnstrecke Solothurn – Niederbipp folgt man der Fahrstrasse, die steil den Hang hinabführt, passiert das ehemalige Bad Attisholz, bis sukzessive die Fabrikbauten in den Blick geraten: ein Hochkamin, die Stahlbetonstruktur des Säureturms und schliesslich die Phalanx der Hallen und Fabrikbauten, die sich entlang des mehrfach terrassierten Hangs emporstaffeln.
Verschiedene Faktoren sind es, die den speziellen Reiz dieses Ortes ausmachen: die eindrucksvolle Topografie – der terrassierte Hang am nördlichen Flussufer, der weite Blicke in die Ebene jenseits der Aare ermöglicht; die grandiosen baulichen Zeugnisse der Industriekultur, die ein Areal einnehmen, das grösser ist als die Altstadt von Solothurn; und schliesslich und vor allem: die Lage in einem von Landschaft geprägten Raum.
Industrieareale, auch grossflächige, die der Konversion unterliegen, sind in der Schweiz keine Seltenheit. Doch im Allgemeinen sind sie im städtischen Kontext situiert, ob in Zürich, Baden oder Winterthur. Das Attisholz aber ist eine baulich verdichtete Insel in einem Landschaftsraum, vollkommen entkoppelt von einer urbanen Struktur. Das bietet Potenziale für diejenigen, die mit langem Atem gesegnet sind.
Schrittweise Entwicklung
Über Erhalt oder Abriss in den Industriearealen der Schweiz entschied in den vergangenen Dezennien der wirtschaftliche Druck. Im reichen Zürich ist daher das industrielle bauliche Erbe, das an mehreren Standorten bis weit ins 20. Jahrhundert erhalten blieb, weitestgehend eliminiert. In Winterthur verlief die Entwicklung aufgrund von ausbleibenden Investitionen allerdings anders: verhaltener und darum für die Bausubstanz schonender.
Die Strategie für das von der Halter AG entworfene Attisholz-Areal – sie hat die Immobilie 2016 erworben –, weist in die richtige Richtung, weil sie auf Langfristigkeit setzt. Hier geht es um eine schrittweise Entwicklung mit einem Zeithorizont, der sogar bis in die Vierzigerjahre dieses Jahrhunderts reichen mag.
Von der Industrie zur postindustriellen Transformation
1881 gründete der 1839 in Deutschland geborene Chemiker Benjamin Sieber, der zuvor bei der Firma Geigy in Basel gearbeitet hatte, die Cellulose Attisholz, welche sich auf die Karton- und die Papierfabrikation spezialisierte. Die einzige Cellulosefabrik der Schweiz wurde 1908 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die aber weiterhin in Familienbesitz blieb. 1983 übernahm man sogar das deutsche Toilettenpapier-Unternehmen Hakle –ein Lichtblick, der sich indes gut fünfzehn Jahre später mit dem Verkauf an einen US-amerikanischen Konzern verdüsterte. Am Ende des 20. Jahrhunderts geriet Cellulose Attisholz endgültig ins Trudeln: Christoph Blocher übernahm den Konzern im Jahr 2000 und verkaufte ihn zwei Jahre später an den norwegischen Konzern Borregaard. Dieser sah sich gezwungen, im Attisholz 2008 die Produktion einzustellen, da sich die Celluloseherstellung in der Schweiz nicht mehr rechnete. Der Mutterkonzern Orkla verkaufte die Immobilie 2016 an das schweizweit tätige Immobilienunternehmen Halter. Damit begann die Phase der postindustriellen Transformation, und das Areal wurde für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Was in den letzten Jahren entstanden ist, beeindruckt bei einem Rundgang durch das ehemalige Firmengelände – egal ob man sich ihm von Norden, vom Bahnhof Riedholz, oder von Süden, vom Bahnhof Luterbach-Attisholz aus, nähert. Das Südareal, auf dem Gebiet der Gemeinde Luterbach gelegen, war einst für die Logistik der Cellulose Attisholz von zentraler Bedeutung: Hier wurde das Fichten- und Buchenholz gelagert, entrindet, zu Holzschnitzeln verarbeitet und dann mit der Bahn über die Aare in die Cellulosefabrik verbracht. Die Lagerhallen sind verschwunden, der Konzern Biogen hat weite Teile des Geländes übernommen und beschäftigt hier 500 Mitarbeitende. Der Kanton Solothurn erwarb 2010 sechs Hektar des flussnahen Geländes und liess den 2019 eröffneten und von Mavo Landschaften aus Zürich konzipierten Uferpark realisieren, der nur noch die Erinnerung an die einstige Industrielandschaft wachhält.
Was am Südufer verschwunden ist, zeigt sich am Nordufer in voller Grösse. Fast wie eine Fata Morgana in der Flusslandschaft erscheint das vormalige Produktionsareal der Cellulose Attisholz, sobald man die Brücke über die Aare betritt. Alles überragend: Der Säureturm des Solothurner Ingenieurbüros
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Entwicklung & Städtebau
Moos & Jäggi aus den Jahren 1928/29, in dem die für die Abspaltung des Lignins aus dem Holzbrei nötige Säure mithilfe des Calciumbisulfit-Verfahrens hergestellt wurde: durch mit Kalkstein gefüllte Röhren, von oben mit Wasser berieselt, von unten mit Schwefeldioxid bedampft. Aus einem Ster Holz konnten so 170 Kilo Cellulose gewonnen werden. Auch eine Reihe weiterer Bauten sind beeindruckend, etwa die dem Säureturm benachbarte Kiesofenhalle (zwischen 1951 und 1953 erbaut), eine filigrane Eisenbetonstruktur mit Sprossenfenstern mit den imposanten Dimensionen von 30 mal 100 Metern und einer Höhe von 26 Metern.
Während anderenorts Industrieareale schnellstens umgenutzt und zur Unkenntlichkeit entstellt werden, hat sich Halter dafür entschieden, für das Attisholz-Areal eine sanfte und sukzessive Transformationsstrategie zu entwickeln und setzt diese mit einer schrittweisen Arealöffnung seit 2018 um. Mitte 2022 verkaufte man das 73 000 Quadratmeter messende Kernareal (Attisholz uno) an die Pensionskasse der UBS. Als Entwicklerin und Baurechtsnehmerin bleibt Halter aber für die Transformation des Areals verantwortlich und behält das übrige Gelände mit 420 000 Quadratmetern (siehe auch «Baurecht, Landwert und zwei ungleiche Partner», S. 134). Im Kernareal sollen 740 Wohnungen entstehen, ausserdem mehrere Hundert Arbeitsplätze.
Stärkung der bestehenden Charakteristika 2021 hat der Kanton Solothurn die Nutzungsplanung für das Attisholz-Areal genehmigt, die vorab in einer Planungsgruppe aus Gemeinde, Kanton und Halter erarbeitet wurde. Dabei legte Halter grossen Wert auf die abgestimmte Entwicklung mit Gemeinde und Kanton sowie die Partizipation der Bevölkerung.
Als nächster Schritt erfolgte ein Studienauftrag zur Freiraumplanung, den die Wiener Büros DnD Landschaftsplanung unter der Leitung von Anna Detzlhofer und FSA Architektur, geführt von Regina Freimüller-Söllinger, mit ihrem Projekt «Schicht für Schicht» gewannen. Die beiden Planerinnen setzen mit ihren Teams architektonisch auf den Dialog zwischen Alt und Neu, sodass der historische Baubestand zu grossen Teilen bewahrt bleiben und inszeniert werden kann. Zusätzliche Kubaturen werden so integriert, dass sie die Bestandsgebäude nicht dominieren. Wichtig ist dabei der Gedanke der städtebaulichen Porosität: Die baulichen Setzungen lassen Wege und Sicht-
beziehungen frei, sodass die spezielle Topografie des Orts erlebbar bleibt. Durch das Versetzen und das Abtreppen der Volumina wird dieser grundlegende Gedanke fortgeführt.
Die Lektüre der landschaftlichen Schichtung mit ihren übereinandergestaffelten Terrassen führte zur Identifizierung von vier Ebenen, die schon jetzt unterschiedliche Charakteristika besitzen. Es beginnt mit dem Aarequai, der das Flussufer ganz im Süden flankiert und sich zum Landschaftsraum der Aare hin öffnet. Der Attisboulevard ist als frühere Erschliessungsachse der Cellulosefabrik industriell geprägt; hier soll der raue Charakter erhalten bleiben. Das gilt auch für das eine Geländestufe höher gelegene Kochereiplateau mit markanten Bauten wie dem Säureturm und der Kiesofenhalle. Der Attiscampus ganz im Norden wirkt hingegen eher intim und bildet einen Gegenpol zu den urbanen und öffentlichen, tiefer gelegenen Bereichen des Areals.
Die vier horizontalen Ebenen, die durch bestehende Geländekanten voneinander abgesetzt sind, werden zukünftig durch bauliche und landschaftsplanerische Interventionen in ihrem unterschiedlichen Ausdruck gestärkt. Hinzu kommt eine Optimierung der vertikalen Erschliessungen in Form von Treppen und Rampen, so einer breiten Panoramatreppe, die zukünftig vom Attisboulevard zum Kochereiplateau führt und damit auch die Zugänglichkeit des Areals von Norden aus verbessert.
Der Masterplan von DnD und FSA überzeugt durch seine Mischung aus der klaren Lektüre des Orts und zurückhaltenden Interventionen, welche die bestehenden Potenziale nutzen und stärken. Zudem besitzt er genügend Flexibilität hinsichtlich zukünftiger Nutzungen, die sich angesichts eines Zeithorizonts von möglicherweise mehr als zwei Jahrzehnten ändern können. Der erste einer Reihe von Wettbewerben für Teilgebiete auf Grundlage des landschaftsplanerischen und städtebaulichen Masterplans wurde im Dezember 2022 entschieden. Burckhardt + Partner gewannen einstimmig mit einem sehr überzeugenden Beitrag die Konkurrenz für das Kochereigebäude.
→ www.attisholz-areal.ch
15 Komplex Nr. 16/2023
S. 10 – Das Attisholz-Areal liegt, umgeben von Feldern, Wiesen und Wälder, direkt an der Aare. Während 130 Jahren wurde hier Cellulose produziert. 2008 musste die Fabrik geschlossen werden.
S. 13 – Der Platz an der Aare öffnet sich gemäss dem Siegerprojekt «Schicht für Schicht» zum Flussraum. Seine kiesbedeckte Oberfläche fällt zum Ufer hin ab. Von der Rampenspindel blickt man auf das gegenüberliegende ehemalige Südareal der Cellulose Attisholz (oben). Für die Landschaftsarchitektin Anna Detzlhofer ist es wichtig, dass so viel von der bestehenden Substanz erhalten bleibt wie möglich. Die historischen Kesselbecken werden in eine wasserdurchflutete und von Bäumen umstandene Gartenlandschaft integriert (unten).
S. 14 – Der geschützte Säureturm ist das ikonische und weithin sichtbare Wahrzeichen das Quartiers. Dass es gelingt, ihn – wie vom Siegerprojekt angedacht – zum Aussichtsturm umzufunktionieren, ist noch nicht sicher und bedarf weiterer Abklärungen.
DnD
Landschaftsplanung ZT KG
DnD Landschaftsplanung wurde 2012 von Anna Detzlhofer und Sabine Dessovic in Wien gegründet und agiert als Ziviltechnikerbüro für Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur. Die bearbeiteten Themenfelder sind Wohnbau, Bildungs- und Gewerbebau sowie öffentlicher Raum; die Projekte resultieren zumeist aus Wettbewerben. Anna Detzlhofer gründete in den 1990er-Jahren das Büro Detzlhofer in Wien. Sie arbeitete mehrfach mit Adolf Krischanitz zusammen, so beim Wettbewerb für den Messeplatz Basel (1997) und bei der Mustersiedlung Hadersdorf (2002–2007) in Wien. Seit 2017 ist sie Mitglied im Gestaltungsbeirat der Stadt Salzburg. → www.dnd.at
Freimüller Söllinger Architektur ZT GmbH
FSA entstand 2016 unter Regina Freimüller-Söllinger in Wien. Nach Studienjahren an der TU Wien, der University of Michigan und der Architecture Association School of Architecture London war Regina Freimüller-Söllinger 1998 bis 2013 Forschungsassistentin und Dozentin an der ETH Zürich. Zu ihren viel beachteten Projekten zählen unter anderem die Siedlung Tivoligasse (2019) und die Siedlung Florasdorfer Spitz (2022), beide in Wien. → www.freimueller-soellinger.at
Geländeschnitt: Gut erkennbar ist das abfallende Terrain zur Aare hin. Einige Gebäude sollen aufgestockt, andere im Volumen sanft reduziert werden.
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Die volumetrische Perspektive zeigt die sich vom Fluss weg am Hang emporstaffelnden Baukörper des vormaligen Industrieareals der Cellulose Attisholz.
Mit dem Platz an der Aare will Anna Detzlhofer das Konversionsprojekt starten. Hochstämmige Bäume vermitteln an die anschliessenden Freiräume.
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Die Wiener Landschaftsarchitektin Anna Detzlhofer gewann 2022 mit ihrem Team von DnD Landschaftsplanung den Wettbewerb für die Freiraumplanung Attisholz in der Nähe von Solothurn. Seitdem arbeitet sie an der Frage, wie das ehemalige Industrieareal für die anstehende Umnutzung zu einem gemischten Quartier konzipiert werden kann.
Komplex: Frau Detzlhofer, was waren Ihre Eindrücke vom Attisholz-Areal, als Sie es das erste Mal besucht haben? Worin haben Sie Potenziale gesehen, worin vielleicht auch Probleme?
Anna Detzlhofer: Extrem beeindruckend für uns war die vertikale Struktur der Schichtungen am Hang – aber auch die Weite der Landschaft. Wenn man von Norden, also von der Gemeinde Riedholz kommt, sieht man sich fast unerwartet mit der gigantischen Massstäblichkeit der Bauten konfrontiert und blickt über die
Aare hinüber auf die Ebene, die sich auf der anderen Uferseite anschliesst. Und dann sind da natürlich die Relikte der Industriearchitektur, die dort ein dichtes, gestaffeltes Ensemble bilden – Hallen, Säureturm, Kesselbecken. Das Arrangement der Bauten ist historisch gewachsen, das könnte man gar nicht in einem Zuge erstellen. Wir konnten nur froh sein, hier arbeiten zu dürfen.
Das Projekt, mit dem Sie letztlich im Wettbewerb erfolgreich waren, heisst «Schicht für Schicht». Ganz praktisch gesprochen: Wie haben Sie die Grundideen entwickelt?
Es gab eine erste offizielle Begehung mit allen Beteiligten, an der wir natürlich dabei waren. Wir haben uns aber dann noch einen weiteren Tag Zeit genommen, nicht zuletzt deswegen, weil wir – anders als in Wien – nicht so schnell wieder vor Ort sein konnten. Dieser Tag war äusserst hilfreich, und es hat sich
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Entwicklung & Städtebau
für uns schon einiges geklärt. Die ersten Themen ergaben sich aus der intensiven Begehung des Areals. Wir haben unser Projekt «Schicht für Schicht» genannt, weil die Topografie eine wesentliche Rolle spielt. Zum einen die charakteristische Topografie des Geländes, das steil zur Aare hin abfällt, und zum anderen die historischen Schichten. Naturräumlich lassen sich die Schichten auch als Sedimentschichten verstehen. Das war der Ursprung einer Idee für eine konsequente Materialisierung. Wir wollten das Thema von Schichten, von Gesteinskörnungen, die ja unten grob sind und in der Regel nach oben hin immer feiner werden, zunächst in das Projekt einfliessen lassen. Aber das hat sich dann in dieser Abstraktion nicht übertragen lassen.
Was stand diesem Gedanken entgegen?
Wir dachten an die Frage der Oberflächenbeläge: Unten grobkörniger, oben feinkörniger, das war die Idee. Aber es funktionierte mit der Bespielung und der Nutzung nicht. Dennoch war der grundlegende Gedanke sehr hilfreich für unsere weitere Arbeit: Wir sind auf diese Weise auf das Thema der Schichten gekommen, das wir dann in anderer Form interpretiert haben. Wenn man das Gelände besucht, ist man fasziniert von der vertikalen Staffelung, von den Gebäuden, die auf verschiedenen Ebenen organisiert sind. Als Landschaftsarchitektinnen wollen wir nicht einfach überall Grün haben, sondern die Charaktere der Freiräume stärken. Für mich als Referenz wichtig war die Villa d’Este in Rom. Um den Palast mit Renaissancegarten existiert eine Hangsituation, es gibt Wasser, besonders wichtig aber sind die Terrassen, von denen aus sich immer wieder ein Panorama eröffnet. Aufgrund dieser Blicke erschliessen sich die räumlichen Dimensionen der Anlage. Das lässt sich recht gut übertragen auf die Situation im Attisholz.
Das Attisholz-Areal soll vom Ufer aus nach oben hin entwickelt werden.
Können Sie die einzelnen von Ihnen definierten Bereiche mit ihren Charakteristika kurz vorstellen?
Ganz unten liegt das Aarequai mit dem Platz an der Aare. Diesen möchten wir gern in den Fluss hinaus verlängern, weil sich von dort
aus ein fantastisches Panorama bietet und er einen Echoplatz zur Nutzung vis-à-vis darstellt. Oberhalb verläuft der Attisboulevard mit Drehscheibe und der Brücke zum anderen Ufer sowie dem Bärengraben, einer imposanten Tunnelstrecke. Der Attisboulevard ist eigentlich der urbanste Teil, der auch kulturell und gastronomisch schon verankert ist. Eine Geländestufe höher erreicht man das Kochereiplateau mit seinen Höhenversprüngen sowie markanten baulichen Zeugnissen wie dem Säureturm und dem Kesselbecken. Das Kochereiplateau ist wahrscheinlich für die Leute aus dem Quartier der wichtigste Ort. Wenn man oben in Riedholz wohnt, dann fungiert diese Ebene als Verteiler, von der aus sich das ganze Areal erschliessen lässt. Über das Kochereiplateau und die Kiesofenhalle wird später auch das weiter östlich gelegene neue Wohnquartier angeschlossen werden. Zuoberst schliesslich befindet sich der Attiscampus, der allerdings erst zuletzt entwickelt wird. Er besitzt einen gartenartigen, introvertierten Charakter, während die anderen Bereiche eher öffentliche Räume sind.
Mit welchen Elementen arbeiten Sie, um die unterschiedlichen Charaktere der Freiräume zu stärken?
Zunächst gibt es ein Bepflanzungskonzept, das verschiedene Schwerpunkte hat. Oben auf dem Attiscampus haben wir mehr die Streuobstwiesen, auf dem Kochereiplateau die Niederwaldpflanzgesellschaften. Der Attisboulevard wird von Pionierwaldcharakter und Einzelgehölzen geprägt, und am Aarequai schliesslich sind es eher hochstämmige Bäume. Natürlich stellt sich immer wieder die Frage, wo und welches Grün in einem derartigen Industriekomplex sinnvoll ist. Wasser ist überdies ein wichtiges Thema. Wir möchten das Inselbächli wieder freilegen, das heute unterirdisch verläuft, und auch sonst Wasser an verschiedenen Stellen erlebbar machen, ob als Wasserspiel, als geflutetes Becken oder als Brunnen. Dann gibt es immer wieder schon bestehende kreisförmige Elemente wie Kessel, Tanks und Becken. Auch dieses Thema nehmen wir auf und spielen es weiter – zum Beispiel in der Möblierung der öffentlichen Räume oder bei der Beleuchtung. Ein weiterer wichtiger Punkt ist für uns natürlich auch das Recycling: Werden wir Materialien aus den
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bestehenden Gebäuden weiterverwenden, also Bauteile retten und eventuell anderswo auf dem Gelände einbauen können?
Der Ausgangspunkt Ihres Konzepts ist der Platz an der Aare. Er liegt direkt am Ufer und wird eine der ersten Interventionen auf der Basis Ihrer Ideen sein.
Für uns ist der Platz an der Aare so etwas wie ein Testfeld: Wie sieht die Topografie aus, wie verbindet sich der Freiraum mit den umliegenden Gebäuden, wie verhält es sich mit den Nutzungen? Wichtig ist für uns auch die besagte Plattform als Erweiterung in den Fluss. Der Eingriff in die Uferzone ist rechtlich gar nicht so leicht umzusetzen. Aber uns wurde zugestanden, abschnittweise Gehölz zu roden. Besonders wichtig ist uns der Bezug zum gegenüberliegenden Ufer der Aare. Dort befand sich ursprünglich das südliche Areal der Cellulosefabrik Attisholz mit gewaltigen Holzlagern. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Das Büro Mavo Landschaften aus Zürich hat dort 2018/ 2019 den Uferpark Attisholz Süd realisiert. So wie ursprünglich beide Industrieareale miteinander verbunden waren – die Anlieferung der Holzschnitzel erfolgte vom Südareal aus mittels der Bahnbrücke –, wollen wir auch die Freiraumgestaltung auf beiden Seiten des Flusses miteinander in Beziehung setzen. Darum muss der Platz an der Aare auch als landschaftlich geprägter Raum erlebbar sein. Das Problem ist die grosse Rampenspindel, die seit einigen Jahren dort steht. Wir können nicht auf sie verzichten, aber sie wirkt wie ein Fremdkörper. Daher überlegen wir uns Strategien, sie etwas aus dem Blickfeld zu nehmen. Der Platz selbst fällt mit vier Grad zum Ufer hin ab. Er darf auf keinen Fall gepflastert oder versiegelt sein. Wir stellen uns eine Kiesdecke vor.
Also ist gerade die Frage der Oberflächen für Sie wichtig.
In der Tat. Denn die Oberflächen definieren den Charakter von Freiräumen. Ich vergleiche es gern mit Textilien: Die Wahl des Stoffs definiert schon den Charakter des Kleides. Aus Filz wird etwas komplett anderes als aus Samt oder Seide. So sollte der Attisboulevard
beispielsweise eine raue und industrielle Anmutung besitzen.
Das Interessante an Ihrem Konzept ist, dass es sich nicht nur auf die Freiraumplanung fokussiert, sondern auch architektonische Ansätze aufweist.
Die architektonischen Aspekte sind von den städtebaulichen und den freiraumplanerischen Aspekten ja nicht zu trennen. Wie schon bei einigen anderen Projekten arbeiten wir auch diesmal mit der Wiener Architektin Regina Freimüller-Söllinger zusammen. Der Austausch ist sehr bereichernd, die Inputs von ihr sind jedes Mal wieder eine grossartige Ergänzung. Wir haben zu Beginn des Projekts von Halter ein 3D-Volumenmodell erhalten, mit dem wir arbeiten und unsere Thesen visualisieren und prüfen konnten. Damit kamen Fragen auf wie: Wo ordnen wir was an? Welche Baumasse bleibt bestehen? Wo kommt etwas Neues? Ein zentrales Thema für Regina Freimüller-Söllinger war die Porosität in der Bebauung, um Blickbeziehungen und Durchwegungen zu ermöglichen. Dabei waren uns die Schnitte besonders wichtig, denn dort, wo man eine Topografie hat, kann man ohne Schnitte nicht arbeiten. Die Verschränkung der Ebenen über die Gebäude ist zentral. Wir wollten also vielfach mehr Durchlässigkeit. Das bedingt natürlich, dass die Baumasse, die man an einer Stelle entfernt, an anderer Stelle kompensiert werden muss. Sonst wird es für die Auftraggeber zum Problem. Wichtig war auch die Höhenfrage, denn im ersten Modell gab es Gebäude, die so hoch waren wie der Säureturm. Wir haben gefunden, dass das gar nicht geht. Es kann nicht sein, dass ein Gebäude den Säureturm wegdrückt. Heute besteht Konsens darüber, dass der Säureturm die Dominante bleiben wird. Allerdings wissen wir noch nicht, wie man ihn konkret nutzen kann. Ein Aussichtscafé ist nicht möglich, und ob der Säureturm zukünftig als Aussichtspunkt dienen kann, ist noch zu klären.
Wie stellt sich das Projekt Attisholz im Vergleich zu anderen Projekten dar, an denen Sie gerade arbeiten?
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Städtebau
Entwicklung &
Attisholz ist für uns ein aussergewöhnliches Projekt – aufgrund seiner historischen Tiefe, der topografischen Situation und seines gewaltigen Massstabs. Mit so einem Luxus an Raum sind wir nicht jeden Tag konfrontiert. Speziell war auch die Tatsache, dass wir uns zu einem sehr frühen Zeitpunkt einbringen konnten, nämlich bevor die urbanistischen und architektonischen Festlegungen gefallen waren. Für mich als Landschaftsarchitektin ist es eine ideale Voraussetzung, wenn nicht alles schon definiert, sondern die Beweglichkeit auch im Städtebau noch gegeben ist. Entscheidungen, die städtebaulich nicht gut sind, kann man auch in der Freiraumplanung nicht korrigieren. Daher war für uns die Herangehensweise von Halter vorbildlich.
Nicht zuletzt die Klimakrise führt zu einem verstärkten Interesse an der Landschaftsarchitektur. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Für uns ist der grosse Massstab zentral. Bei einem kleinen Bauprojekt können wir vielleicht Fassaden begrünen oder einen Dachgarten anlegen. Aber der Klimakrise im städtischen Kontext wirklich zu begegnen, gelingt nur auf der übergeordneten Quartierebene. Denn die wirklich resilienten Konstanten im Stadtgefüge sind die Freiräume. Architektur ist letztlich statisch, Freiräume ermöglichen Bewegung. Die Bewegung ist für mich eigentlich die Essenz der Freiraumplanung.
Spannend am Attisholz-Projekt ist ja, wie Sie mit dem vorgefundenen Bestand umgehen. Industriebrachen bieten immer die Gefahr der Romantisierung. Das ist selbst bei dem zu Recht viel gelobten Landschaftspark in Duisburg-Meiderich von Peter Latz der Fall: Das einstige Hüttenwerk wirkt heute wie ein romantisches, surreales Objekt in einem Landschaftspark.
Die Ideenfindung war auch nicht einfach, weil die klassischen Elemente eines Parks hier nicht greifen. Denn auch wenn das Attisholz
heute den Charme der Abgelegenheit besitzt, werden hier in Zukunft mehrere Tausend Menschen wohnen und arbeiten. Darum ist auch räumliche Differenzierung nötig, die wir durch das Herausschälen der unterschiedlichen Bereiche und Atmosphären zu erzielen versuchen. Ein einheitliches Konzept über das ganze Areal zu ziehen, wie es andere Wettbewerbsbeiträge versucht haben, wäre für mich nicht angemessen gewesen. Das war nicht unser Zugang.
Angemessenheit ist ein wichtiges Thema. Es gibt einerseits die Möglichkeit des einheitlichen Konzepts, das der Komplexität und der Heterogenität des Bestands nicht gerecht wird, aber vielleicht dank repetitiver Elemente einen Wiedererkennungseffekt besitzt. Und dann gibt es die Möglichkeit extrem kleinteiliger und kapillarer Interventionen. Es scheint, Ihr Konzept findet den Mittelweg, weil es genug Kraft entwickelt und sich doch auch in Zurückhaltung übt. Das ist eine gute Kombination, gerade angesichts der Tatsache, dass sich der gesamte Transformationsprozess über einen langen Zeitraum erstreckt und damit Veränderungen möglich sein müssen.
Es freut mich, dass meine Herangehensweise verstanden wird. Mit so einem langen Planungshorizont umzugehen, ist nicht ganz einfach. Aber ich bin zuversichtlich, dass es funktionieren wird!
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S. 18 – Anna Detzlhofer (62) lebt und arbeitet in Wien. Sie ist seit 2022 Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Landschaftsarchitektur (ÖGLA).
GEMISCHTES PROGRAMM FÜR EIN
GRÜNES QUARTIER
Visualisierungen:
Der Architekturwettbewerb hat in der Schweiz eine lange Tradition. Doch die Digitalisierung des Bauwesens und die Einführung von Building Information Modeling (BIM) verändern auch ihn. Beim 2022 ausgeschriebenen Wettbewerb für die Gestaltung des Projekts La Cité du Vin im waadtländischen Rolle begleitete die Halter AG sowohl die sechs teilnehmenden Architekturteams als auch die Jury und die Bauherrschaft auf diesem neuen Weg. Die Gewinner werden nun an einen durchgehend digitalen Planungs- und Ausführungsprozess herangeführt.
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Text: Héloïse Gailing
Atelier Brunecky
Auf dem historischen Areal der Schenk Suisse SA, einem der führenden Erzeuger von Schweizer Weinen und bekannter Westschweizer Weinhändler, soll in den nächsten Jahren unter dem Namen La Cité du Vin ein neues Quartier entstehen. Als die Halter AG zusammen mit den Investoren Helvetia Versicherungen, Raiffeisen Pensionskasse und Previs Vorsorge 2021 die Ausschreibung für das Areal gewonnen hat, war seine grundsätzliche Gestaltungsform schon definiert. Bereits 2013 hatte man das städtebauliche Projekt eingeleitet und einen Studienauftrag zur Ausarbeitung eines Quartierplans ausgeschrieben. Als Gewinner ging damals das Architekturbüro CCHE hervor.
Der Quartierplan «Gare Nord – Schenk» sieht die Realisierung neuer Produktionsstätten für das Unternehmen im Norden der Parzelle entlang der Autobahn vor. Damit wird der etwas mehr als 26 000 Quadratmeter grosse südliche Teil der Parzelle, auf dem sich der alte Standort in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof der SBB befindet, für die Schaffung eines neuen, gemischten Wohnviertels frei. Diesen beiden Grundstücken soll nun mit dem Projekt La Cité du Vin eine einheitliche Identität gegeben werden.
Einheit und Vielfalt
Der Quartierplan umfasst etwas mehr als 43 000 Quadratmeter zulässige Geschossfläche, die in Wohnungen, Verkaufs- und Gewerbeflächen sowie Zonen für Verwaltung und öffentliche Einrichtungen aufgeteilt ist. Dabei liegen die unterschiedlichen Nutzungen auf dem Areal so, dass sie im Kontext zu ihrem Standort stehen: Im Süden in Bahnhofsnähe ist ein Gebäude mit Geschäften und Wohnungen vorgesehen; der westliche Rand der Bebauung, entlang der Hauptstrasse in Richtung der neuen Produktionsstätte von Schenk, soll bevorzugt Gewerbebetriebe aufnehmen; abseits des Verkehrs erstreckt sich ein Park, an dem Wohnungen entstehen. Angrenzend an diese Nutzungen, ist eine öffentliche Schule geplant, die das Viertel zur Stadt hin öffnet. Der Quartierplan definierte auch die neue Bahnhofsplattform ausserhalb des Wettbewerbsperimeters und einen angrenzenden öffentlichen Raum, der vom städtischen in die Landschaft führt. Eine Einkaufszeile auf der Rückseite des zum Bahnhof gelegenen Gebäudes soll den Übergang zu einem Landschaftspark markieren, mit dem das neue Quartier, das von Fussgängerwegen durchzogen ist, von der Weitläufigkeit des Areals profitiert.
Das gemischte Programm bestimmt den Charakter dieses Projekts, das mit der Forderung nach sozialer Durchmischung, typologischer Vielfalt und variablen Wohnungsgrössen durch den 2022 ausgeschriebenen Architekturwettbewerb weiter geschärft wird. So sollen die Mieten im künftigen Quartier auch für Bezüger mittlerer Einkommen bezahlbar sein, mit kleinen Einheiten, die auf den belebten Bereich am Bahnhof ausgerichtet sind, und grosszügigen Familienwohnungen mit Anschluss zum rückwärtigen Park. Preisgünstiger Wohnraum (15 Prozent der Geschossfläche) und Seniorenwohnungen (5 Prozent) sind am westlichen Rand und zum Bahnhof hin verteilt. Laut Wettbewerbsprogramm sollen sich die unterschiedlichen Nutzungen und Bevölkerungsgruppen im architektonischen Ausdruck widerspiegeln. Anstelle eines einheitlichen Stadtviertels fordert die Ausschreibung differenzierte Bereiche, die gemeinsam ein Quartier mit einer starken Identität bilden. Das gesuchte Projekt sollte daher «die Beziehungen zwischen Einheit und Vielfalt, Vergangenheit und Gegenwart geschickt erkunden, um ein lebendiges Stadtbild mit vielen Facetten zu entwerfen».
Die Bedeutung der Freiräume
Den Freiräumen kommt damit eine besondere Bedeutung zu. Sie sind dank eines Netzes öffentlicher und halböffentlicher Wege, die das Areal durchqueren und die soziale Interaktion fördern, das Bindeglied dieses heterogenen Ensembles. Sie übernehmen aber auch Aufgaben bezüglich Mobilität, Wassermanagement, Klima und Biodiversität und bieten gleichzeitig Orte für Freizeitgestaltung, Entspannung und Begegnung an. Die Aufgabe der Freiräume ist es, Zusammenhalt zu schaffen, damit die beiden Parzellen zu einem Ganzen verschmelzen können – zu La Cité du Vin, einem Quartier mit einer starken und selbstbewussten Identität, einem Stadtauftakt, der sowohl auf die lokale Weinbautradition als auch auf einen urbanen, zeitgemässen Lebensstil verweist.
Das Wettbewerbsprogramm forderte von den teilnehmenden Büros neben der Qualität der Freiraumgestaltung auch die Notwendigkeit eines integralen Ansatzes. Folglich bestanden die sechs konkurrierenden Teams alle aus mindestens einem Architektur- und einem Landschaftsarchitekturbüro. Zwei wurden sogar von Landschaftsarchitekten geleitet. Als Sieger ging schliesslich eines dieser beiden Teams, angeführt vom Studio Vulkan Land-
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schaftsarchitektur aus Zürich in Zusammenarbeit mit LRS Architectes aus Genf und LVPH Architectes aus Pampigny, hervor.
Überzeugt von der Radikalität des Entwurfs, entschied sich die Jury für das homogenste Projekt, das zwischen einem Gebäude mit starkem industriellem Charakter vis-à-vis dem Bahnhof und einer grünen Insel mit elf Häusern auf dessen Rückseite unterscheidet. Das erste Gebäude profitiert von seiner städtischen Lage und bietet grosse Flexibilität sowohl in der Gestaltung als auch für eine zukünftige Entwicklung. Seine Skelettbauweise eignet sich für verschiedene Nutzungen, die Integration dreier Atrien bringt natürliches Licht bis in die Mitte des Gebäudes. Die Schule wurde an den Kopf des Quartiers verlegt, was ihr Eigenständigkeit verleiht und den Vorteil bietet, dass sich ihr Hof von den anderen Aussenanlagen abgrenzt. Im Park strahlen die zehn Holzhäuser mit innen liegendem Erschliessungskern und einem Kranz aus umlaufenden Balkonen eine Leichtigkeit aus, die im Kontrast zu ihrem steinernen Sockel steht. Ähnlich vielfältig sind die Grundrisse mit unterschiedlichen Typologien, die der Forderung nach sozialer Durchmischung gerecht werden.
Neben der architektonischen Qualität überzeugte die Eingabe des Gewinnerteams auch durch grosse Grünflächen mit Baumbestand. Der von einem Teil der Häuser einer Stützmauer gleich umgebene Park wird zu einem eigenständigen Ort auf zur Stadt erhöhtem Niveau. Zum Bahnhof hin dient der Höhenunterschied dazu, das Erdgeschoss der Gebäude zu einem lebendigen Sockel mit Arkaden auszubilden. Treppen und Rampen durchbrechen diese Einfassung punktuell und bilden Durchgänge von der Stadt in den Park. Die Wege, die diesen durchziehen, ergeben ein durchaus homogenes Verkehrsnetz, das nicht dazu neigt, eine Achse mehr zu betonen als die andere. Trotz der strengen Vorgaben des Quartierplans gelang es dem Gewinnerteam, dem gesamten Ensemble eine sehr spezifische Identität zu verleihen, die das Projekt als Ganzes prägt.
Der digitale Wettbewerb
Der Wettbewerb ist und bleibt ein grossartiges Instrument. Stets gelingt es ihm, die Entscheidungsträger mit seinen Resultaten zu überraschen. Selbst hier, im Kontext eines digitalen Wettbewerbs, mit einem streng definierten Quartierplan und einer klaren Immobilienstrategie, führte die Kreativität von
Architekten und Landschaftsarchitekten zu vielfältigen und unerwarteten Antworten. Anders als bei einem solchen Verfahren zu erwarten wäre, hielten die aus den BIM-Modellen ermittelten Daten die Jury nicht von einer feinsinnigen Beurteilung ab. Auch deshalb, weil das digitale Modell nur ein Teil der geforderten Dokumente war und seine Erstellung keine konstruktiven Details erforderte, die den kreativen Spielraum hätten einschränken können.
Ähnlich wie das weisse Gipsmodell beim traditionellen Wettbewerb, dienten die datengestützten BIM-Modelle im Wettbewerb zum Projekt La Cité du Vin hauptsächlich dazu, die Morphologie der Entwürfe zu verstehen und die verschiedenen Vorschläge neutral zu vergleichen. Darüber hinaus erleichtert das Tool die Prüfung der Flächen und Projektkosten sowie der Sonneneinstrahlung in den Innenräumen erheblich. Laut einer anonymen Umfrage unter den konkurrierenden Teams war das Feedback zum Einsatz von BIM-Modellen im Wettbewerb sehr positiv.
Um den Übergang zu einem digitalisierten Bauprozess zu erleichtern, betreute Halter die Teams während des Wettbewerbs und bietet nun den Gewinnern im Rahmen der Projektentwicklung regelmässige Treffen mit verschiedenen Spezialisten an. Ziel ist es, die Architekten auf ihrem Weg zu einer digitalen Praxis zu begleiten, die die Planung, die Ausführung als auch den Übergang des Projekts in den Betrieb erleichtert. Das Modell soll ein Instrument unter vielen bleiben, die der architektonischen und städtebaulichen Qualität dienen.
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Situationsplan Siegerprojekt: Um den erhöht gelegenen Park zieht sich eine Stützmauer, die in weiten Teilen vom steinernen Sockel der Häuser gebildet wird.
Grundriss Regelgeschoss Siegerprojekt: Die Wohnungen der Häuser im Park liegen um einen Betonkern herum, der die vertikale Erschliessung, Bäder und Technik aufnimmt.
Accès vé o-parking t C1 R 2N A C2 R+ N+A D1 R 4N A D2 D3 D4 R 4N A C3 R N A E1 5 A E2 R N A E3 R 5N A C1 R N C2 R 3N A D1 R 4N A D2 R 3N A D3 R 4N A D4 R+4N+A C3 R+4N+A E1 R 5N E2 R 5N A E3 R N C1 R N A D1 R+4N+A D2 R 3N A D3 R 4N A D4 C3 E1 R E2 E3 C1 R 2N A R+3N A D1 R 4N D2 D3 R N A C3 R 4N A E1 R 5N A R 5N A C1 C2 R 4N A D2 R+3N+A D3 R+4N+A D4 C3 E1 R 5N A E2 E3 C1 C2 D1 D2 D3 R 4N A D4 R 4N A C3 R 4N A E1 R N A E2 R N A E3 R 5N A 27 Komplex Nr. 16/2023
S. 24/25 – Das von den Büros Studio Vulkan, LRS und LVPH entworfene Gebäude beim Bahnhof entspricht mit seinem industriellen Charakter der urbanen Atmosphäre seiner Umgebung. Für die Häuser mit Ausrichtung auf den Park sind ein steinerner Sockel und Begrünung vorgesehen. Dazwischen liegt die verkehrsfreie Einkaufszeile, ein lebendiger Ort, der Begegnungen ermöglicht.
S. 29 – Das Siegerprojekt entwickelt zwischen den Häusern im Park ein verzweigtes Wegenetz. Die Gebäude weisen grosszügig bemessene umlaufende Balkone auf, die private Aussenräume bilden und die Wohnungen in die Natur hinein verlängern. Die Einheiten im Erdgeschoss profitieren mit Terrassen von der grünen Umgebung.
Studio Vulkan Landschaftsarchitektur AG
Das 2014 gegründete Büro entstand aus dem Zusammenschluss von Schweingruber Zulauf Landschaftsarchitekten und Robin Winogrond Landschaftsarchitekten. Das Team von Studio Vulkan Landschaftsarchitektur mit Sitz in Zürich und München zählt rund vierzig Personen aus zehn unterschiedlichen Nationen. Studio Vulkan formuliert in verschiedenen Projekten mögliche Antworten für die Weiterentwicklung der heutigen Landschaftsarchitektur und zur Sensibilisierung der Menschen in Bezug auf ihre natürliche und gebaute Umwelt. → www.studiovulkan.ch
LRS Architectes SA
LRS Architectes wurde 1999 von Laurent Lin, Alain Robbe und Rolf Seiler in Genf gegründet. Heute besteht das Büro aus einem multidisziplinären und multikulturellen Team, das in den Bereichen Stadtplanung und Architektur sowie in der Lehre tätig ist. Seine Projekte sind hauptsächlich aus gewonnenen Wettbewerben hervorgegangen. Sie reichen vom Einfamilienhaus bis zur Stadtplanung und umfassen Programme für Wohnungen, Büros und öffentliche Einrichtungen im Auftrag lokaler und internationaler Bauherren. → www.lrs.ch
LVPH Architectes Sàrl
Das 2003 von Laurent Vuilleumier und Paul Humbert gegründete Büro hatte sich mehrere Jahre der Umnutzung von landwirtschaftlichen Gebäuden gewidmet, bevor es grössere, aus öffentlichen Architekturwettbewerben hervorgegangene Projekte bearbeitete. LVPH wurde 2006, 2014 und 2018 mit der Distinction Romande d’Architecture ausgezeichnet und beschäftigt derzeit 31 Mitarbeitende, die sehr unterschiedliche Programme für die Romandie und die Deutschschweiz entwerfen. Wenn es die Mandate zulassen, übernimmt das Büro auch die Bauleitung. → www.lvph.ch
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Schnitte Siegerprojekt: Die Häuser begrenzen den Park mit einem von Arkaden durchbrochenen Sockel (oben). Der Park liegt erhöht zum Niveau der Stadt (unten).
& BIM 425 90 426 50 426 50 5 7 11 13 396 55Atelier 40 Kitchenette 12 3.5m stockage 8m Artisanat atelier 361 261 N.F. ±0.00 = +402.50 grillage métallique main-courante acier inoxydable 460 100 Bac pour végétalisation Façade béton hydrodémolie N.F. ±0.00 = 402.50 L ACOUSTIQUE Pour les bâtiments du parc le projet répond la question du bruit en proposant un système un volet en verre installé dans embrasure de la fenêtre Fermés les volets garantissent la ventilation des pièces par les joints creux avec embrasure Ce système est économique et flexible Il altère pas aspect de la façade et peut également être proposé option pour appartements E2 408 50 abri PC activités ateliers 408 50 408 00 399 30 plaza stock vélos 396 55 +R 423 00 409 70 408 50 411 50 414 50 430 00 limite parcelle28
Insgesamt wurden sechs Teams zum Architekturwettbewerb für La Cité du Vin, aufbauend auf dem 2013 von CCHE entwickelten Quartierplan, zugelassen. Alle eingereichten Projekte interpretieren die strengen städtebaulichen Regeln für das Optimieren der Grundflächen und den Entwurf qualitativ hochwertiger Innenund Aussenräume anders. Während einige der Teilnehmer ihren Fokus auf die Gestaltung der Freiräume mit Balkonen und Gärten legen, schlagen andere eine intensive Arbeit an den Wohnungstypologien oder der gemeinsamen Erschliessung der Gebäude vor. Auch technische und ökologische Fragen werden aufgeworfen und durch landschaftsarchitektonische Massnahmen oder die Auswahl der Fassadenmaterialien beantwortet.
Neben dem Siegerprojekt vertiefen auch die fünf anderen Eingaben das Ineinandergreifen und den Dialog der Disziplinen Architektur und Landschaftsarchitektur. Die Vielfalt der präsentierten Lösungen gibt einen Einblick in die Kreativität und die Qualität der eingeladenen Büros.
Alle Projekte des 2022 ausgeschriebenen Architekturwettbewerbs sowie die Beurteilung der Jury sind online einsehbar. → www.vivre-laciteduvin.ch
unterschiedlichen Zonen, die das Areal gliedern, auf. Während die lang gestreckten Gebäude im Park durchgehende Wohnungen anbieten, schlagen ihre kompakten, punktförmigen Nachbarbauten Ecklösungen vor. Alle Wohnungen verfügen über grosse, vorspringende Balkone, die die Wohnzimmer in den Aussenraum hinein verlängern. Die unterschiedliche Ausrichtung der Balkone prägt die Erscheinung der Gebäude und verleiht ihnen eine gewisse Dynamik. Die Fassaden sind entweder holzverkleidet oder mit Kalk verputzt. Für Kontinuität und architektonische Bezüge sorgen die horizontalen Auskragungen der Balkone und die speziellen Sockel aus ockerfarbenem gestampftem Lehm.
Burckhardt + Partner AG, Lausanne, und Atelier Descombes Rampini SA, Genf
Das Projekt der Büros Burckhardt + Partner und Atelier Descombes Rampini teilt das Quartier mit einer starken Betonung auf zwei Fussgängerachsen klar in drei Zonen auf. Dennoch sind die Grenzen nicht strikt. Eine Reihe von Gebäuden steht zwischen dem urbanen Bereich in Bahnhofsnähe und dem verkehrsfreien Park. Hier schieben sich die Aussenanlagen wie geräumige Taschen mit kleinen Plätzen und Höfen in das Volumen hinein.
Die Grundrisse der Wohnungen sowie die Gestaltung der Fassaden greifen die drei
Der Vorschlag des Basler Teams, bestehend aus Harry Gugger Studio und Westpol Landschaftsarchitektur, ist geprägt durch die Fragmentierung der Gebäudefront zum Bahnhof hin in drei einzelne Baukörper sowie die Schaffung eines von Geschäftsflächen umgebenen Gewerbehofs im Nordwesten. Die beiden Hauptverkehrsachsen auf der Parzelle sind nicht eindeutig bestimmt; ihre Gestaltung oszilliert zwischen bepflanzten Bereichen, die einerseits direkte Verbindungen schaffen, anderseits Grenzen setzen.
Die im Süden zum Bahnhof hin geplanten Baukörper haben ähnliche Dimensionen wie jene im westlichen Teil, während die Gebäude im Park als fragmentierte Volumen organisiert sind. Auf diese Weise nehmen sich die Häuser visuell zurück und bieten mehr Fassadenfläche. Grosse, vorspringende Balkone tragen dazu bei, die gebaute Masse zu gliedern, ebenso wie die Laubengänge, die einige der Gebäude erschliessen. Dadurch entsteht eine grosse Vielfalt von Wohnungen mit originellen Zuschnitten.
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Harry Gugger Studio AG und Westpol Landschaftsarchitektur GmbH, beide Basel
Entwicklung & Städtebau
Itten + Brechbühl AG, Lausanne, Argemí Bufano Architectes Sàrl, Genf, und MAP Architecture du Paysage SA, Lausanne
In einem grossen Park auf der ganzen Parzelle integriert das Projekt eine Vielzahl von Themengärten und kleinen, sich wiederholenden Anlagen. Durch diese Fülle gelingt es den Architekten, einen einheitlichen, umhüllenden Flächeneffekt für das gesamte Gelände zu schaffen, selbst im städtischen Bereich in Richtung des Bahnhofs.
Die im Park gelegenen Gebäude sind leicht verformt und trapezförmig, was die Verkehrsströme erleichtert und eine gewisse Dynamik erzeugt. Durch den Wechsel von Häusern mit Loggien an den Ecken und Häusern, die einen Kranz aus umlaufenden Balkonen tragen, kann das Team verschiedene Typologien anbieten, die in ihrer Funktionsweise interessant sind. Jedoch beurteilte die Jury den Entwurf als zu grosszügig. Das Gremium kritisierte auch den Mangel an Licht in einigen der Wohnungen –dieser konnte mit dem BIM-Modell überprüft werden.
Suisse verbindet – eine Massnahme, die die Verwurzelung des Standorts mit der Weinbautradition symbolisch verdeutlichen soll. An diese Idee anknüpfend, wird die Fussgängerzone auf der Rückseite des lang gezogenen Gebäudes in Bahnhofsnähe mit einem Weinspalier bedeckt. Dieses Bild konnte den Bewertungsausschuss jedoch nicht überzeugen. Die Gebäude zeichnen sich durch ein Spiel mit fragmentierten Volumen und grossen Balkonen aus, die den Baukörpern zerklüftete und individualisierte Silhouetten verleihen. Eine Vervielfachung der Fassadenlinien erzeugt in den Wohnungen unterschiedliche Ausblicke und Ausrichtungen. Der Gebäuderiegel entlang des belebten Bahnhofs erwidert diese Gestaltungsform mit einer gefalteten Fassade, welche die Balkone aufnimmt und wie verzerrt wirkt.
Dieser Entwurf schlägt eine Nord-Süd-Achse für Fussgänger vor, die den Bahnhof mit den künftigen Produktionsstätten von Schenk
Verzone Woods Architectes Sàrl, Vevey, Magizan SA, Lausanne, und EMF Paysage, Girona (Spanien)
Auch dieses Team schlägt vor, den am Bahnhof liegenden Riegel zu durchbrechen, allerdings nur in den oberen Stockwerken – eine Geste, die den Willen zeigt, das Projekt mit seiner direkten und entfernten Umgebung zu verbinden. Gleichzeitig wird der Park über seine Grenzen hinaus verlängert, um den Chemin du Grand-Pré auch an seinem nördlichen Rand zu begrünen. Die Jury war von der Dichte des Entwurf begeistert, kritisierte jedoch, dass dieser Vorzug auf Kosten bestimmter Typologien erreicht wurde.
An den Hausfassaden kommen verschiedene Materialien in harmonischen Farben zum Einsatz. Eine grosse Achse organisiert die Anlage, verhilft den Wohnungen zu Ausblicken und schützt sie gleichzeitig vor Immissionen. An den Rändern des Grundstücks wurden die Balkone zurückversetzt, um den Lärmschutz zu verbessern.
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RDR Architectes SA, Lausanne, und Forster-Paysage Sàrl, Prilly
ES NICHT.
Text: Vittorio Magnago Lampugnani
Lageplan des Stadtviertels Horner Geest, Hamburg: die Stadtperipherie als Addition von Archipelen. Die einzelnen Bereiche, die als städtebaulich und architektonisch zusammenhängend gedeutet werden, sind farblich gekennzeichnet.
VORSCHLÄGE ZUM UMBAU DER
Entwicklung
–
& Städtebau
Essay DIE PERIPHERIE GIBT
AGGLOMERATION ZU EINEM STÜCK STADT
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Das Phänomen des Suburbanen ist gleichzeitig mit jenem des Urbanen entstanden: Bereits in der Antike kennzeichnete ein unscharf begrenzter Bereich den Übergang der Stadt zur umliegenden Landschaft. Dieser Bereich wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts als potenzielle Alternative zur überdichteten und verschmutzten industriellen Grossstadt entdeckt, aber auch als Ort, wo man billig Menschen ansiedeln konnte, die sich keine Stadtwohnung zu leisten vermochten.
Gesichter der Peripherie
Mit dem Aufkommen der Industrialisierung und der damit zusammenhängenden Migration vom Land in die Stadt wuchsen in ganz Europa die Städte stark und überwiegend unkontrolliert an. Die urbane Peripherie frass sich in weite Areale um die Stadtzentren, wucherte entlang der Verkehrsinfrastrukturen, der Bahngleise und Ausfallstrassen, und vereinnahmte sowohl Dörfer als auch landwirtschaftliche Flächen. Die Gartenstadtbewegung von Ebenezer Howard versuchte dieses Phänomen in bessere städtebauliche und soziale Bahnen zu lenken, spielte aber zugleich eine proaktive Rolle. So wandte sich Raymond Unwin, Architekt, Stadtplaner und angesehene Galionsfigur des Garden City Movement, in seinem Buch «Town Planning in Practice» von 1909 gegen die Überbauung von freier Landschaft durch wild und teilweise auch eng zusammengewürfelte Häuser, die offensichtlich von keinerlei Besorgnis um die gemeinschaftlichen Bedürfnisse der Bewohner geleitet wurde. Selbst die ansonsten fortschrittsbegeisterte «Charte d’Athènes» von 1942 und deren Wortführer Le Corbusier machten das konzeptlose und unkontrollierte städtische Wachstum des Maschinenzeitalters für das Chaos der zeitgenössischen Städte verantwortlich und attackierten die suburbanen Ansiedlungen. Mit den Stadterweiterungen von Paris, Barcelona und Berlin hatte das 19. Jahrhundert bereits eindrucksvoll vorgeführt, dass auch bislang nie da gewesene Entwicklungsschübe der Grossstädte durch ausgesprochen urbane Massnahmen aufgefangen zu werden vermochten: So verwandelte sich etwa Berlin nach den Leitlinien von James Hobrecht von einer Stadt mit 525 000 Einwohnern in eine Metropole von 2 Millionen Menschen. Gleichwohl setzte die Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts das Einfamilienhaus mit Garten als Miniatur und Surrogat des aristokratischen Schlosses sowie des grossbürgerlichen Landhauses durch, und zwar weitestgehend ohne städtebauliche Skrupel. Die frühen Vorstädte wie Hampstead Garden Suburb bei London von Barry Parker und Unwin, Riverside bei Chicago von Frederick Law Olmsted und Calvert Vaux oder Coral Gables bei Miami von George Edgar Merrick waren überwiegend exklusiv, aber auch unverwechselbar und sowohl
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landschaftlich als auch stadträumlich von höchster Qualität. Was in ihrer Folge entstand, war eher gleichförmig und ubiquitär; und zwar ganz gleich, ob opulent oder billig. Im unglücklichen Zusammenspiel politischer, soziologischer, technokratischer und marktwirtschaftlicher Kräfte explodierten die Städte in fragmentierte periphere Ansiedlungen, die nicht länger besonnen aus dem verdichteten Zentrum herauswuchsen, sondern es mit aufgelockerten und grösstenteils labyrinthischen Strukturen belagerten. In diesen Strukturen wohnen heute in Europa etwa zwei Drittel der Gesamtbevölkerung, andernorts sogar noch mehr.
Die Zeiten, als ausserhalb der Stadt nur die Ärmsten der Armen in trostlosen Häusern oder Baracken unmittelbar neben stinkenden und lärmenden Fabriken wohnten, sind längst vorbei. Heute ist die Agglomeration, vertraulich Agglo abgekürzt, eine verwirrende Mischung von Gartenstädten, Einfamilienhausgruppen, Gartenkolonien, Schlafsiedlungen, Bürogebäuden, Kleinindustrie, leer stehenden, unter- oder umgenutzten Fabriken, Gewerbekomplexen, Einkaufszentren, Sportbauten, Logistiklagern. Und allgegenwärtigen gewaltigen Infrastrukturen. Sie stehen auch weiterhin unter starkem Entwicklungsdruck und sind die grosse Chance, aber auch das Sorgenkind der zeitgenössischen Stadtplanung.
Strategien für die Urbanisierung der Agglomeration Was muss getan werden, um das Aschenputtel der europäischen Urbanisation in eine begehrenswerte Prinzessin zu verwandeln? Zuallererst ihre Nutzung sorgfältig ausbalancieren. Ein Grossteil des schlechten Rufs der Peripherie ist ihrer Monofunktionalität geschuldet: Schlafsiedlungen, Fabrikkomplexe, Gewerbegebiete und Einkaufsmeilen liegen meist starr voneinander getrennt. Das Gegenteil ist anzustreben: eine Mischung von Nutzungen, die sämtliche Bedürfnisse der Bewohner erfüllt und aus Funktionsinseln lebensfähige und lebensfrohe Quartiere macht.
Diese Nutzungen müssen so eng beieinanderliegen, dass sich die Menschen leicht zwischen ihnen bewegen können. Die fahrig gestreute Agglomeration muss verdichtet werden. Allerdings nicht masslos und nicht überall und nicht beliebig. Wenn etwa Hauszeilen aus den 1950er-Jahren, die unzeitgemäss locker angeordnet, aber in sich gut proportioniert sind und angenehme Freiräume einfassen, rigide aufgestockt werden, werden ihre Qualitäten zerstört, ohne substanziell mehr Bewohner aufzunehmen. Nicht jedes Grundstück eignet sich für eine Bebauung; wenn es etwa so stark emissionsbelastet ist, dass der Architektur, um einigermassen bewohnbar zu sein, aus Gründen des Lärmschutzes abweisend geschlossene Strassenfassaden aufgezwungen werden, mit Fenstern, die nicht geöffnet werden dürfen. Und Hochhäuser dürfen nicht dort ent-
34 Entwicklung
Städtebau – Essay
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stehen, wo zufällig gerade Platz oder ein Investor da ist, sondern ausschliesslich an städtebaulich bedeutsamen Stellen.
Verdichtung, auch kluge und angemessene, verlangt nach Kompensation. Diese bieten die Freiräume. Doch nicht die unwirtlichen Brachen sind gemeint, nicht die diffusen Restflächen, von denen es in der Agglomeration mehr als genug gibt, sondern Strassen, Plätze, Garten- und Parkanlagen. Sie müssen zusammenhängend entworfen und sorgfältig gestaltet werden. Sie müssen sogar, wo immer es geht, zeitlich vor den Häusern geplant werden. Die Häuser sind privat, die Freiräume gemeinschaftlich. Sie bilden das räumliche, aber auch und vor allem das soziale Rückgrat einer Nachbarschaft. Deswegen haben sie Vorrang. Ihn zu gewähren, ist keineswegs nur Ausdruck sozial beseelter Selbstlosigkeit: Die Freiräume werten auch die angrenzenden Liegenschaften auf. Wenn es Strassen, Plätze, Grünanlagen gibt und diese gut funktionieren, brauchen die Gebäude sie nicht in ihrem Inneren nachzuäffen, wie es seit Jahrzehnten die Einkaufszentren tun und nun zunehmend auch die neuen Bürokomplexe, die neben Arbeitsplätzen auch Fitnesscenter, Kaffeebar und Restaurant in verglasten Atrien andienen. Derlei hybride Anlagen sind Surrogate dessen, was die Stadt ungleich besser, lebendiger und übrigens auch effizienter bietet. Die Agglomeration offeriert kaum genuin öffentliche urbane Annehmlichkeiten; genau da sollte ihre Aufwertung ansetzen.
Tatsächlich müssen die wirren Nutzungs- und Baukonglomerate der Peripherie in möglichst eigenständige urbane Nachbarschaften verwandelt werden, ihrerseits untereinander und mit dem Stadtzentrum vernetzt. Das ist nur durch eine Planung möglich, die nicht an den Eigentumsgrenzen haltmacht. Die Einzelarchitekturen, die mittlerweile auch am Stadtrand anspruchsvoll entstehen, setzen attraktive Akzente, helfen aber strukturell wenig. Was die Agglomeration dringend braucht, sind übergreifende städtebauliche Entwürfe, die präzise und konkret sind. Nur sie können den Entwicklungsrahmen bilden, der die Neubauten ebenso zur Geltung kommen lässt wie die bestehenden Baustrukturen. Nur sie können funktionale, ökonomische und soziale Synergien fruchtbar werden lassen. Nur sie können aus dem belanglosen Nebeneinander von Gebäuden, Freiräumen und Verkehrsinfrastrukturen ein spannungsvolles urbanes Ganzes schaffen.
Solche grenzüberschreitenden Planungen sind nicht von ungefähr rar. Sie brauchen einen politischen Anwalt, der sie mit Blick auf das Gemeinwohl initiiert, verantwortet und durchsetzt: jenseits von administrativen Festlegungen und Partikularinteressen. Und sie erfordern grosses städtebauliches Können, nicht zuletzt weil sie sich nicht hinter schwammigen planerischen
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Lageplan des Projekts für das Stadtviertel Horner Geest, Hamburg: die neue Manshardtallee als Rückgrat des verdichteten Quartiers, der erhaltene und behutsam aufgewertete Baubestand, der Weiterbau der Stadt als Collage mit neuen urbanen Archipelen.
Horner Geest 2030, Hamburg, Studienauftrag
Ein Modell für die Verdichtung der aufgelockerten Stadtperipherie
Das Hamburger Stadtviertel Horner Geest ist mit seinen frei stehenden Hausgruppen in grosszügigen Grünräumen ein attraktiver Wohnort: sozial und stadträumlich. Sein besonderer Charakter darf durch die vorgesehene vergleichsweise starke Verdichtung nicht verwässert werden. Vorgeschlagen wird deswegen eine behutsame städtebauliche Akupunktur. Die bestehenden Gevierte werden respektvoll erhalten, ihre Freiräume nutzerfreundlich aufgewertet. Wo die Bausubstanz veraltet ist, werden die Gevierte nach und nach durch neue, substanziell und entschieden dichtere Ensembles ersetzt. Diese verbinden Urbanität mit grosszügigen, bepflanzten Höfen. Die parkierenden Autos kommen von den Strassen weg in mehrgeschossige Parkgaragen, die später in Gewerbeflächen umgewandelt werden können. Die existierenden Grünanlagen werden arrondiert, ökologisch aufgerüstet und miteinander verknüpft. An den zwei U-Bahn-Stationen entstehen stark verdichtete funktionale und identitätsstiftende Zentren. Dazwischen spannt sich die neue Manshardtallee auf: Sie nimmt den Langsamverkehr auf, ohne den motorisierten Verkehr ganz zu verdrängen, und bildet als innovative Begegnungszone das gemeinschaftliche Rückgrat des Quartiers. © Baukontor Architekten mit Feddersen & Klostermann, Nipkow Landschaftsarchitektur, Atelier Girot und Transsolar Klima Engineering
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Stadtviertel Horner Geest heute: eine typische Stadterweiterung der 1950er- und 1960er-Jahre, nach dem Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt mit heterogener Bebauung im Grünen.
Audorfring: der Archipel heute. Frei gestreute, angenehm proportionierte Hauszeilen mit Abstandsgrün, Parkplätzen und Garagen dazwischen. Die Manshardtallee ist eine reine Fahrstrasse ohne Aufenthaltsqualität.
Audorfring, Axonometrie: der aufgewertete Archipel mit neu genutzten und gestalteten Freiräumen. In der Mitte die neue Manshardtallee, links oben angeschnitten eine neue, verdichtete Bebauung.
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Der Horner Geest Platz, schematische Axonometrie: Überlagerung des Bestandes, der im Zusammenhang mit der Anlage des neuen U-Bahnhofs abgerissen wird, und der verdichteten, gemischt genutzten Bebauung, die ihn ersetzt, um einen neuen städtischen Platz zu schaffen.
Horner Geest Platz, Axonometrie: Die offene Hofbebauung definiert klar den neuen Platz und die ebenfalls neue Manshardtallee; im Inneren entstehen geschützte, gemeinschaftliche Gärten.
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Abstraktionen verstecken dürfen, sondern neben funktionalen und technischen ausgesprochen konkrete räumliche, ja ästhetische Festlegungen treffen müssen.
Das urbane Ganze wird die Spezifik der Areale, aus denen sich die Agglomeration zusammenfügt, nicht ausradieren und auch nicht vereinnahmen. Eine moderne Stadt ist kein homogenes Gebilde, sie ist eine Komposition unterschiedlicher Elemente. Die Elemente können und müssen so verschieden sein wie die Epochen und Umstände, die sie hervorgebracht haben. Sie dürfen aber nicht so verschieden sein, dass sie keinerlei Gemeinsamkeiten und keinen Zusammenhang zeigen.
Genau das aber droht der Agglomeration. Ihr planloses Wuchern hat zu einem Sammelsurium von Nutzungen und Architekturformen geführt, die es zu ordnen und zu beruhigen gilt. Das ist umso anspruchsvoller, als es nicht darum gehen kann, alles abzureissen und neu zu bauen. Aus wirtschaftlichen, aber auch aus ökologischen und nicht zuletzt aus kulturellen Gründen muss vielerorts mit dem Bestand gearbeitet werden. Es gilt also, sorgfältig abzuwägen, wovon man sich verabschieden darf, um es durch Besseres zu ersetzen und dadurch auch eine neue städtebauliche Qualität zu erreichen, und was erhalten und eventuell umgenutzt oder umgebaut werden soll. Wie vorteilhaft Letzteres sein kann, zeigen die revitalisierten Industrieanlagen, die vielerorts geschmeidige Funktionalität mit identitätsstiftendem Charme verbinden.
Phantombild eines urbanen Quartiers
Die Neuordnung muss darauf ausgerichtet sein, in der Agglomeration Stadtquartiere zu schaffen. Der Begriff wird neuerdings viel gebraucht. Nachdem jahrzehntelang bei grösseren neuen Bauvorhaben nur von Überbauungen, Arealen, Gebieten und Siedlungen die Rede war, werden sie nun vielerorts als Quartiere bezeichnet, um ihnen die Aura einer Urbanität zu verleihen, die nicht selten leeres Versprechen bleibt. Was muss ein Ort bieten, um das Versprechen tatsächlich einzulösen?
Zunächst: einen ausgewogenen Nutzungszusammenhang. Überwiegend wird es um Wohnhäuser gehen. Dazu Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen, aber auch Läden und Kinos. Und durchaus auch Arbeitsorte: Büros, Manufakturen, möglicherweise kleine Fabriken. «Doppelt so viele Wohnungen wie Arbeitsplätze» ist ein stabiler Richtwert. Idealerweise werden die Bauten weder monofunktional sein noch auf eine bestimmte Nutzung exakt zugeschnitten, sondern im Erdgeschoss gemeinschaftliche Einrichtungen aufnehmen und überhaupt jenes Mass an Neutralität aufweisen, das Anpassung und Wandel erfordert. Ein Quartier ist keine Schlafsiedlung und auch kein Arbeitsgetto, sondern ein Stadtfragment. Ein Quartier
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ist idealerweise eine kleine Stadt in der grossen. Tatsächlich muss die Grösse eines Quartiers überschaubar sein, und die Wege zwischen seinen Orten müssen kurz sein. Es gibt keine festen Regeln, wohl aber Orientierungswerte: Alles, was man zum täglichen Leben braucht, sollte in zehn Minuten zu erreichen sein, also in einem Umkreis von etwa 500 Metern. Um sich selbst zu tragen, benötigt ein Quartier die kritische Bevölkerungsgrösse von ungefähr 10 000 Menschen. Diese müssen, um auf eine beschränkte Fläche zu passen, zusammenrücken: Ein Quartier braucht Dichte.
Mit seiner urbanen Umgebung wird es sich vernetzen, gleichwohl benötigt es einen klar erkennbaren Plan. Dieser wird an die bestehenden Strukturen anbinden, aber eine eigene Gestalt besitzen und neben Anschlusspunkten auch Grenzen: nicht physische, sondern ästhetische. Die Geometrie des Strassenmusters muss in sich konsistent sein: ganz gleich, ob orthogonal oder gekurvt, ob hierarchisch oder homolog. Ebenso konsistent müssen Ausführung und Ausstattung der öffentlichen Räume, der Strassen und Plätze sein: die Bodenbeläge, die Bürgersteige, die Vorgärten, die Einfriedungen, aber auch die Strassenbeleuchtung, die Sitzbänke und sämtliche übrigen Möblierungselemente. Sie machen den Stadtraum nicht nur benutzbar und einladend, sondern auch charakteristisch. Das Stadtviertel wird zu einem architektonischen Wurf.
Doch nicht nur das Strassenmuster muss schlüssig erscheinen, auch die Architekturen müssen miteinander verwandt sein. Freilich gehören zu einem funktional gemischten Quartier auch besondere Bauten, in allererster Linie die gemeinschaftlichen. Doch die Mehrzahl der Gebäude muss den Zusammenhalt im Quartier physisch erkennbar machen und verbildlichen, vor allem mit den Fassaden. Sie bilden die Schnittstelle zwischen privatem Wohnen (oder Arbeiten) und öffentlichem Leben. Sie sind das Gesicht der Häuser und, in ihrer Summe, jenes des Quartiers.
Unbedingt braucht ein Quartier ein gemeinschaftliches Zentrum: einen Platz. Auch ein Anger oder ein Park, selbst eine besondere Strasse vermögen diese Aufgabe zu erfüllen. Das Zentrum hat funktionale Gründe: Einrichtungen wie Wochenmarkt oder Festveranstaltungen benötigen einen geeigneten Raum. Es hat aber auch und vor allem symbolische Gründe: Die kleine Gemeinschaft braucht einen Ort, wo sie zusammenkommen, sich darstellen, sie selbst sein kann. Einen Ort der Identifikation.
Die Peripherie wie das Zentrum? Spätestens hier liesse sich einwenden: Überschaubare, wiedererkennbare Quartiere, lebenswerte Plätze, Alleen und Gärten
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mit hoher Aufenthaltsqualität, ruhig gestaltete Häuser, würdige Gemeinschaftsbauten – sind die vorgeschlagenen Strategien nicht identisch mit jenen, die im Stadtzentrum, in der kompakten, historisch gewachsenen Stadt umgesetzt werden sollten?
In der Tat: Sie sind es. Zwar ist in der Agglomeration die Ausgangslage eine andere, anspruchsvollere als jene der kompakten Stadt, aber das Ziel ist hier wie dort das gleiche: eine gut funktionierende, attraktive und in jeder Hinsicht nachhaltige urbane Umwelt.
Diese urbane Umwelt verdient die Peripherie genauso wie das Zentrum. Sie wird dort anders sein, aber nicht schlechter. Die moderne Stadt bietet unterschiedliche Orte, doch jeder dieser Orte muss qualitativ gleichwertig sein: funktional, sozial und ästhetisch. Nur wenn das gelingt, wird die moderne Stadt auch einer modernen, gleichgestellten, gerechten und zukunftsfähigen Gesellschaft entsprechen.
Vittorio Magnago Lampugnani (72), in Rom geboren, studierte an der Universität La Sapienza und an der Universität Stuttgart Architektur. In den 1980er-Jahren gestaltete er die Internationale Bauausstellung Berlin massgeblich mit. Später gab er in Mailand die Zeitschrift «Domus» heraus und war Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main. Von 1994 bis 2016 hatte er den Lehrstuhl für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich inne. Seit 1981 führt der Italiener das Studio di Architettura in Mailand, seit 2010 in Partnerschaft mit Jens Bohm das Büro Baukontor Architekten in Zürich. Daneben lehrt er an der Graduate School of Design der Harvard University und schreibt für die «Neue Zürcher Zeitung». Zu seinen wichtigsten Projekten gehören der Novartis Campus in Basel, das Richti-Quartier in Wallisellen, der Untergrundbahnhof Mergellina in Neapel und das Geschäftshaus am Schiffbauplatz in Zürich; zu seinen wichtigsten Publikationen «Die Modernität des Dauerhaften» (1996), «Die Stadt im 20. Jahrhundert» (2010), «Atlas zum Städtebau» (2018) und «Bedeutsame Belanglosigkeiten» (2019). → www.baukontorarchitekten.ch
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EIN DORF BEIM BAHNHOF BULLE
Die Westschweiz erlebt derzeit einen tiefgreifenden städtebaulichen Wandel, der eng mit der Modernisierung ihrer Verkehrsnetze verbunden ist. Ein von den SBB initiierter Prozess fokussiert insbesondere auf Gebiete rund um Bahnhöfe und transformiert diese zu lebendigen Ouartieren. Parallel dazu werden Bahnbrachen für neue Stadtviertel freigegeben. Das Projekt Velâdzo am Bahnhof Bulle ist Teil dieses Prozesses. Der von Itten + Brechbühl und Strata Architecture entworfene Wohn- und Geschäftskomplex schliesst direkt an den Bahnhof an und fügt sich in neue öffentliche Räume ein.
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Text: Héloïse Gailing
Fotos: Philippe Béchet, Benoit Hauviller
Es handelt sich um einen Knotenpunkt. Unmittelbar am Bahnhof Bulle, zwischen einem neuen Gebäudeensemble und dem künftigen Bahnhofplatz gelegen, beteiligt sich der von Itten + Brechbühl und Strata Architecture entworfene und zusammen mit der Halter AG realisierte Bau an der Gestaltung der Stadt. Neben der Aufnahme von Geschäftsflächen, die für den neuen Auftakt zur Stadt Bulle wichtig sind, verbindet er die verschiedenen Nutzungen und Ebenen des neuen Quartiers. Dafür wurde die Form des offenen Blockrands gewählt, der auf einem durchbrochenen Sockel mit zwei Geschäftsebenen steht und an den öffentlichen Raum anschliesst. Für die horizontalen und vertikalen Verbindungen sorgt der Einbau eines zentralen, natürlich belichteten Atriums. Auf der einen Seite der unteren Ebene verlängert ein grosses Volumen den künftigen Bahnhofplatz bis in das Einkaufszentrum hinein. Gleichzeitig wurde eine Verbindung zur Unterführung geschaffen, die den Reisenden unmittelbaren Zugang verschafft. Auf der oberen Ebene führt das Atrium direkt zu Bahnsteig 1 und einem höher gelegenen Platz, den es mit einer Ladenfront belebt.
Eine Vielzahl von Programmen
Die integrierende Funktion des Sockels, der die öffentlichen Räume auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft, die Passagierströme in die Stadt leitet und gleichzeitig eine eigene Dynamik entfaltet, steht für die Komplexität dieses Projekts, in das zahlreiche Akteure involviert waren. So erfüllt dieser Teil der Entwicklung sowohl die Anforderungen an einen wichtigen öffentlichen Raum als auch jene an ein multimodales Drehkreuz, das die Züge der Freiburger Verkehrsbetriebe (TPF) mit dem regionalen Busbahnhof, den Gemeindebussen und der durchgängigen Fuss- und Veloverbindung Voie verte verknüpft. Darüber hinaus stellt das Bauwerk die Logistikwege für die Geschäfte sicher und bietet dem Quartier Parkplätze in einem Parkhaus, das sich über das Grundstück hinaus unter den neuen Bahnhofplatz schiebt. Da das Projekt Teil eines Vorhabens zur Aufwertung des Stadtviertels und damit von regionaler Bedeutung ist, werden der Zugang und bestimmte technische Anlagen mit der Nachbarschaft gemeinsam genutzt, etwa die Fernkältestation oder die Fotovoltaikanlage auf dem Dach. Die Verflechtung der verschiedenen Nutzungen und die unterschiedlichen Bezüger stellten eine echte Herausforderung für die Planung und die
Koordination dar. Hinzu kam die hohe Komplexität des Bauprojekts selbst, die sich aus der Vielzahl der Programme, die es beherbergt, ergibt.
Der Eingang zur Stadt
Über dem Einkaufszentrum stehen zwei grosse lineare Gebäude so, dass sie zu beiden Seiten des Blockrands den Blick in die ferne Landschaft freigeben: auf der einen Seite zum Dent de Broc und auf der anderen Seite zum Moléson, dem Wahrzeichen der Freiburger Voralpen. Die um einen begrünten, die regionalen Typologien frei interpretierenden Hof angeordneten Volumen sind so platziert, dass sie die vermittelnde Rolle des Sockels fortsetzen. Im Norden grenzt das eine L-förmige Gebäude an den Bahnhofplatz und markiert den Kopf des Ensembles, im Süden bildet das zweite L eine Front entlang der Gleise und kanalisiert den Zugang zur Stadt vom Bahnsteig aus. Die Durchbrüche, die sich zwischen den zwei Gebäuden auftun, sorgen für Luft und Licht in diesem relativ dicht bebauten Bereich.
Sozusagen als Echo auf das Atrium des Einkaufszentrums bildet der Innenhof das Herzstück des Projekts. Er verbindet und erschliesst die beiden Gebäude. Das Thema der bewusst gesetzten Durchbrüche prägt das Projekt von oben bis unten, abgestimmt auf die jeweilige Nutzung. Diese Vertikalität wird durch das vom Hof über das Atrium bis ins Parkhaus einfallende natürliche Licht noch unterstrichen. Die Ankunft unter der Erde wird so zur Inszenierung. Darüber hinaus erhält der Hof durch die geschaffenen Sichtbezüge zum Bahnsteig und zum oberen Platz die gleiche Durchlässigkeit wie das Atrium. Er ist als privater Aussenbereich gedacht, der die Aussicht auf die Stadt und die entfernte Landschaft ermöglicht und den Mietern einen Ort der Begegnung und Besinnung anbietet.
Rund um den Innenhof sind in den Erdgeschossen beider Häuser Büros und Gewerbeflächen untergebracht, darunter auch eine Kindertagesstätte. In den vier Etagen darüber befinden sich 76 Mietwohnungen. Die einzige Ausnahme dieser geschichteten Nutzung bildet ein Hotel am südwestlichen Ende der Anlage, das sich über die gesamte Höhe des Gebäudes erstreckt und in der fünften Etage ein BistroRestaurant beherbergt. Das Viersternehotel und die projektierte qualitätsvolle Wohnungsausstattung, deren Standard doch erschwinglich bleibt, zeigen den Willen der Bauherrschaft zur Aufwertung der Immobilie und die
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Situationsplan: Zwei grosse, lineare Gebäude bilden einen offenen Blockrand, der gegen Norden an den Bahnhofplatz grenzt und gegen Süden an die Gleise.
Grundriss unteres Erdgeschoss: Das Einkaufszentrum ist direkt an den neuen Bahnhofplatz und die Unterführung zu den Gleisen angebunden.
HALTER . ITTENBRECHBÜHL . STRATA ARCHITECTURE LE NOUVEAU BÂTIMENT DE LA GARE DE BULLE PLANS DE PROJET Plan de rez-de-chaussée inferieur 025 10 1.400 HALTER . ITTENBRECHBÜHL . STRATA ARCHITECTURE LE NOUVEAU BÂTIMENT DE LA GARE DE BULLE PLANS DE PROJET Plan de situation ruealbert-rieter chemindescrêts route de la pâla place de la gare avenuedelagare 0251015 1.500 45 Komplex Nr. 16/2023
Bedeutung des Bauprojekts für die zukünftige Entwicklung der Stadt Bulle.
Homogene Vielfalt
Auf den oberen Etagen sind die durchgesteckten Wohnungen in Nord-Süd-Richtung angeordnet. Einige nur auf eine Seite hin ausgerichtete kleinere Wohnungen – Studios und Zweizimmereinheiten – sind auf der Südseite zu finden. Sie verfügen über eine Loggia, deren Lage das Wohnzimmer gliedert oder verlängert. In den Dreizimmerwohnungen bietet die Anordnung der Schlafzimmer zu beiden Seiten des Wohnzimmers den Mieterinnen und Mietern die nötige Flexibilität, die Räume ganz nach Belieben zu nutzen. An den jeweiligen Gebäudeenden wurden grössere Wohneinheiten mit unterschiedlichen Typologien untergebracht. Die Grundrissorganisation wird durch eine Stahlbetonstruktur ermöglicht, die auf einem unregelmässigen Raster mit Breiten von 3,20 bis 3,80 Meter zwischen den Schlaf- und Wohnzimmern basiert. Die Schichtung der Programme stellt immer eine Herausforderung für das Zusammenwirken von Grundrissen und Struktur dar. In diesem Fall wurden die Geschäftsflächen jedoch dem strukturellen Raster der Wohnungen angepasst, wobei die Trennwände punktuell als tragende Scheiben genutzt werden. Im Parkhaus hingegen mussten 60 Zentimeter hohe Abfangträger eingebaut werden, die die Lasten der Gebäude aufnehmen, sie umverteilen und gleichzeitig der Gestaltung der Parkplätze Rechnung tragen.
Die Fassade nimmt den inneren Raster auf: Vorgefertigte Betonelemente, denen Zuschlagstoffe aus dem Jura einen beigen Farbton verleihen, gliedern die Oberfläche und geben ihr eine netzartige Struktur. Das abgekantete Profil der vertikalen Pfeiler sorgt für eine Dynamik, die mit der Strenge des Rasters bricht. Zum Fassadenkonzept gehört auch das Spiel einer Richtungsumkehr dieser Schrägen entsprechend den Fugen der horizontalen Bänder, was den Eindruck einer zufälligen Verteilung vermittelt und visuelle Bewegung erzeugt. Zwischen den Betonpfeilern greift eine Füllung aus mit Blech verkleideten Verbundplatten die dunkle Farbe der Fensterrahmen auf. Die ebenfalls lackierten Geländer fügen sich in die Komposition ein und verstärken die beabsichtigte Kontrastwirkung.
Urbanes Dorf
Wie viele Grundstücke, bei denen es sich um ehemalige Brachen der Freiburger Verkehrs-
betriebe handelt, musste auch dieses Stück Land vor Beginn der Bauarbeiten saniert werden. Die Altlastenentsorgung wurde jedoch durch die umfangreichen Erdarbeiten erleichtert, die für das Projekt nötig waren. Neben der Tatsache, dass die Bauarbeiten während der Coronapandemie mit den damit verbundenen Einschränkungen durchgeführt wurden, war auch die Koordination der verschiedenen Projektbeteiligten eine echte Herausforderung für die Bauleitung. All diese Anstrengungen wurden jedoch mit dem von der Zeitschrift «Bilan» in Zusammenarbeit mit dem Verband der Schweizerischen Immobilienwirtschaft SVIT vergebenen Westschweizer Immobilienpreis «Prix de l'immobilier romand 2022» in der Kategorie «Bâtiments mixtes» belohnt. Die Auszeichnung wurde sowohl für das Pflichtenheft des Bauherrn als auch für das Projekt der Architekten sowie für die Ausführung durch den Totalunternehmer verliehen.
Schliesslich beschlossen die Freiburger Verkehrsbetriebe als Eigentümer der Liegenschaft, die Anlage unter dem Namen Velâdzo –das Wort steht im Freiburger Dialekt für «Dorf» – zu vermarkten. Die Wahl eines Begriffs aus dem ländlichen Vokabular für ein Projekt mit städtischem Charakter überrascht zunächst, doch sie zeigt auch den Willen der Bauherrschaft, die angestrebte Urbanisierung der Region voranzutreiben, ohne aber die Lebensqualität, die hier zu finden ist, zu beschneiden.
Das Bauwerk bietet einerseits Ausblicke auf die charakteristische Landschaft rundum sowie Begegnungsräume auf der Ebene des Stadtviertels. Andererseits entstanden ansprechende Wohnungen unterschiedlichen Zuschnitts, die direkt ans Verkehrsnetz angebunden sind. Das Projekt, das für die Stadt Bulle im Moment ehrgeizig erscheinen mag, nimmt eine vernünftige und wünschenswerte Stadtentwicklung mittelgrosser Städte vorweg, für die die Mobilität der Zukunft ein starker Treiber sein wird.
→ www.veladzo.ch
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Grundriss 1. Obergeschoss: Rund um den begrünten Innenhof liegen Geschäftsund Büroflächen, auch eine Kindertagesstätte ist hier eingemietet.
Grundriss Regelwohngeschoss: In den beiden Gebäuden sind auf den Etagen 1 bis 5 Wohnungen unterschiedlicher Grösse und Typologie untergebracht.
HALTER . ITTENBRECHBÜHL . STRATA ARCHITECTURE LE NOUVEAU BÂTIMENT DE LA GARE DE BULLE PLANS DE PROJET Plan des étages type 025 10 1.400 HALTER . ITTENBRECHBÜHL . STRATA ARCHITECTURE LE NOUVEAU BÂTIMENT DE LA GARE DE BULLE PLANS DE PROJET Plan de premier étage 025 10 1.400 48 Architektur & Design
LOGEMENTS
LOGEMENTS
LOGEMENTS
LOGEMENTS
BUREAUX
COMMERCES
COMMERCES
PARKING
CAVES
S. 42 – Das Projekt Velâdzo ist direkt mit dem renovierten Bahnhof von Bulle verbunden und stellt einen neuen Zugang zur Stadt dar.
S. 46 – Die Setzung der Gebäude um einen begrünten Innenhof herum sorgt für Luft und Licht in dieser relativ dicht gestalteten Bebauung. Gegen Osten ergeben sich Ausblicke auf das nahe Stadtzentrum von Bulle (oben). Vom Norden her führt eine breite Treppe entlang der Ostseite des Blockrands. Sie bildet eine direkte Verbindung zwischen dem unteren Bahnhofplatz und dem oberen Platz, über den der Zugang zu Bahnsteig 1 erfolgt. Durch diese öffentliche Achse werden auch die beiden Untergeschosse miteinander verbunden (unten).
S. 49 – Aufzüge und eine Rolltreppe verbinden die beiden Geschosse des Einkaufszentrums mit belichtetem Atrium (oben). Die Wohnungen verfügen über raumhohe Fenster, die mit dunkel lackierten Geländern gesichert sind (unten).
S. 51 – Zwischen den Häusern im Innenhof liegt das Glasdach des Atriums. Hier fällt das Tageslicht ein und wird bis ins Parkhaus geleitet. Die Fassade aus vorfabrizierten Betonteilen liegt wie ein Netz über den Gebäuden.
Itten + Brechbühl AG
Seit der Gründung des Architekturbüros durch Otto Rudolf Salvisberg und Otto Brechbühl im Jahr 1922 in Bern erstellt, experimentiert und behauptet sich Itten + Brechbühl durch seine Architektur und das Bauen in verschiedenen Massstäben. Das Büro verfügt über grosse Erfahrung mit Arbeitsprozessen, spezifischen Programmen und angemessenen Lösungen, was sich auch in seiner Struktur widerspiegelt. So sind im Laufe der Jahre Netzwerke in Form permanenter und projektbezogener Partnerschaften entstanden. Itten + Brechbühl ist weltweit und lokal, im grossen und im kleinen Massstab als Architekt und Generalplaner tätig. → www.ittenbrechbuehl.ch
Strata Architecture Sàrl
Strata Architecture wurde 1994 von Pierre-André Bohnet und Diana Stiles gegründet. Der Name Strata steht für die kreative Vielfalt, die sowohl in der Arbeit am Objekt als auch an Innen- oder Aussenräumen zum Ausdruck kommt. Die Interventionen beziehen sich auch auf die Landschaft und die urbane Dimension der Stadt. Die Arbeitsphilosophie von Strata beruht auf der Bereitschaft, mit Materialien und Farben zu experimentieren und gleichzeitig nach neuen Kompositionen von Formen und Räumen zu suchen. Je nach Situation können die kreativen Ansätze sehr unterschiedlich sein und führen zu variablen Aussagen, die die Vielfalt des Kontexts, der Geschichte oder der Umwelt hervorheben. → www.strata.ch
Querschnitt: Die verschiedenen Programme der Überbauung sind übereinandergestapelt und doch intelligent miteinander verschränkt.
HALTER . ITTENBRECHBÜHL . STRATA ARCHITECTURE LE NOUVEAU BÂTIMENT DE LA GARE DE BULLE PLANS DE PROJET Coupe transversale 025 10 1.300 50
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VORBOTE
ZUKUNFT
Fotos:
Als städtisch geprägtes Bauwerk ist der von Burkard Meyer Architekten geplante Bäretower in Ostermundigen derzeit noch ein Solitär. Mit seiner Fassade aus eloxiertem Aluminium ragt er 32 Stockwerke hoch in den Himmel. In gut sechs Jahren aber wird er, zusammen mit der dann fertiggestellten Tramhaltestelle, den Fixpunkt des neu entstehenden urbanen Zentrums der wachsenden Berner Vorortgemeinde bilden.
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Text: Reto Westermann
Damian Poffet
EINER URBANEN
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Elegant reckt sich der Bäretower neben dem Bahnhof Ostermundigen in die Höhe. Wer ihn umrundet, stellt fest: Das Gebäude präsentiert sich aus jeder Himmelsrichtung anders. Von Osten gegen den Bahnhof hin ist die Silhouette schlank, von Norden her verankert ein Annexbau den Turm optisch im Boden, von Westen offenbart er seitliche Auskragungen, und von Süden präsentiert das Gebäude seine Breitseite. Aktuell zeigen sich rund um den Bäretower noch starke Gegensätze zwischen der ländlich geprägten Architektur des einstigen Dorfes und dem urbanen Neubau: Etwa an der Nordwestecke, wo das städtisch wirkende Bistro im Turmfuss direkt an eine dreigeschossige Wohnsiedlung aus den 1950er-Jahren mit Giebeldächern grenzt. Im Osten wiederum ist das historische Bahnhofsgebäude aus dem Jahr 1912 nur einen Steinwurf entfernt. Doch das Umfeld wird sich bald wandeln: Der Turm ist ein Vorbote der angelaufenen Urbanisierung der Vorortgemeinde. In gut sechs Jahren halten neben dem Hochhaus die Trams der neuen Linie aus Bern am ebenfalls neuen Umsteigepunkt zur S-Bahn. Auch die Eingemeindung in die Bundeshauptstadt ist aufgegleist, und weitere Neubauten werden folgen. Zugleich mit dem Hochhaus hat Ostermundigen, angrenzend an die künftige Tramstation, jetzt schon einen Stadtplatz erhalten. Ein solcher fehlte in der bandförmig entlang der Bernstrasse verlaufenden Bebauung bisher.
Möglich wurde die Realisierung des von der Halter AG entwickelten Bäretowers durch die 2015 erfolgte Annahme der neuen Bebauungsordnung. Mit dieser konnte der Gasthof Bären abgebrochen und durch das Hochhaus mit 32 Stockwerken, einem fünfgeschossigen Annexbau, einem dreigeschossigen frei stehenden Gebäude – Kubus genannt – und einem Platz ersetzt werden. Die Pläne dazu stammen vom Badener Architekturbüro Burkard Meyer, als Bauherrschaft fungierte Helvetia Versicherungen.
Spannungsvolle Fassadentopografie
Das Hochhaus ist ein idealer Stadtbaustein. Auch wenn der Bau aktuell noch Kontraste setzt, fügt er sich doch gut ein. Dafür sorgt vor allem die sorgfältig und filigran gestaltete Fassade aus wechselweise naturbelassenem und bronzefarben eloxiertem Aluminium. Gerippte, stranggepresste Elemente, ähnlich einem Trapezblech, setzen horizontale Akzente, Lisenen zwischen den Fenstern betonen die Höhe der Geschosse, abwechselnd fassadenbün-
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dige Festverglasungen und nach hinten versetzte Fensterflügel erzeugen Tiefenwirkung.
Grundriss 32. Obergeschoss: Die Dachterrassen der Attikawohnungen erreicht man über Treppen von den Loggien aus.
Grundriss 11.–28. Obergeschoss: Der kleinere Kern der Regelgeschosse schafft mehr Platz für die Wohnungen.
Grundriss 9. Obergeschoss: Rund um den Erschliessungskern sind das Restaurant, dessen Küche und Terrasse angeordnet.
Grundriss 6. Obergeschoss: Ein Grossteil der Wohnungen hier verfügt über eine Loggia als privaten Aussenraum.
Situationsplan: Der fünfeckige Kubusbau, das Hochhaus und der Annexbau sind durch den Bärenplatz direkt neben dem Verkehrskreisel miteinander verbunden.
Arealschnitt
zweigeschossigen Tiefgarage. Gut zu sehen, ist der Wechsel der Grundrissform auf Höhe des Restaurants.
Arealschnitt: Hochhaus, Kubus und Annexbau stehen auf einer
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Die zweifarbige Materialisierung sorgt zudem je nach Licht, Tages- oder Jahreszeit für wechselnde Farbspiele.
Dieselbe Fassadengestaltung wurde auch für den Annexbau sowie in leichter Abwandlung für das Kubusgebäude übernommen und bindet diese zu einer Einheit zusammen. Aufgelockert wird die Silhouette des Hochhauses durch vorund rückspringende Ecken sowie einen Wechsel der Grundform zwischen der 9. und 10. Etage. Mit diesem haben die Architekten aus der Not eine Tugend gemacht: Die spannungsvolle Fassadentypologie sorgt nämlich zugleich dafür, dass die Regeln für den Schattenwurf des Hochhauses eingehalten werden.
Der Wechsel in der äusseren Form widerspiegelt sich in den Grundrissen. Vom Erdgeschoss bis und mit dem Restaurant im 9. Stockwerk ist der Erschliessungskern lang gezogen, muss er doch zusätzlich zum Treppenhaus und zu den drei über alle Geschosse fahrenden Aufzügen noch zwei weitere Lifte für den Gastrobetrieb aufnehmen. Rund um diesen langen Kern sind vom 3. bis zum 8. Obergeschoss je sieben Wohnungen angeordnet. Das 9. Geschoss wird vom Restaurant belegt. In den achtzehn darüber liegenden Stockwerken ist der Erschliessungskern kompakter. Hier docken je fünf Wohnungen an. In den Geschossen 29 bis 31 jeweils nur vier, dafür grössere Einheiten. Bei fast allen Wohnungen haben die Architekten Wohn- und Essbereich in den Gebäudeecken angeordnet. Dadurch bieten diese spannende Ausblicke in mindestens zwei Himmelsrichtungen. Das Wechselspiel zwischen aussen und innen zeigt sich auch im obersten Geschoss. Dieses ist überhöht und markiert so den Abschluss des Gebäudes. Entsprechend bieten die drei Penthousewohnungen mehr Raumhöhe. Der Ausbau aller Wohnungen ist schlicht, zurückhaltend und geprägt durch die ebenfalls in Aluminium ausgeführten inneren Oberflächen der Aussenwände, weiss verputzte Trennwände sowie Böden aus Eichenholz. Die grossen, fix verglasten Fenster warten mit breiten Fensterbänken auf und bieten in den 152 Wohnungen wahlweise Aussicht in die Berner Alpen, Richtung Stadt oder Jurakette. Im Erdgeschoss des Hochhauses sind ein Bistro und eine Gewerbefläche untergebracht. Daneben befindet sich im Annexbau die Empfangshalle des Hotels Harry’s Home. Darüber sind in vier Geschossen die Hotelzimmer angeordnet – einerseits zur Aussenfassade und andererseits zu einem U-förmigen Innenhof hin, der sich zwischen dem Hochhaus und dem
Annexbau aufspannt. Der solitär stehende dritte Baukörper beherbergt eine Apotheke, eine Bank und zwei Geschosse mit Arztpraxen. Kubus und Hochhaus fassen den Bärenplatz ein, der in wenigen Jahren einen Teil des neuen urbanen Zentrums von Ostermundigen bilden wird, das dann voraussichtlich keine Gemeinde mehr ist, sondern ein Stadtteil von Bern.
S. 53 – Beim Blick am Gebäude nach oben zeigen sich die Auskragungen als markante architektonische Details. Je nach Licht entstehen wechselnde Farbspiele.
S. 54/55 – Der Bäretower wächst als Landmarke aus der dörflich geprägten Umgebung der Vorortgemeinde Ostermundigen hervor.
S. 56 – Auch aus den Strassen der angrenzenden Quartiere der nahen Stadt Bern ist der Bäretower gut zu sehen.
S. 57 – Die Auskragungen im Grundriss schaffen zusammen mit den grossen Fenstern spannende Durchblicke.
S. 58/59 – Je nach Himmelsrichtung geniesst die Mieterschaft der Wohnungen Ausblicke auf die Hügellandschaft des Umlands, die nahe Stadt Bern oder in Richtung Jura und Berner Alpen.
S. 60 – Die Parkettböden aus geölter Eiche holen die Farbpalette der nahen Natur rundum in den Wohnraum.
S. 61 – Die Fassdenbereiche der drei Gebäude sind innen wie aussen mit eloxiertem Aluminium bekleidet – auf der Innenseite farblos, auf der Aussenseite wechselweise farblos und bronzefarben.
S. 62/63 – Je nach Blickwinkel kontrastiert das Hochhaus auf spannende Weise mit der es umgebenden Architektur aus der Nachkriegszeit.
S. 64 – Ein Teil der Wohnungen im 10. Obergeschoss verfügt nicht nur über eine Loggia, sondern dank der Auskragung des darunterliegenden Restaurants zusätzlich über eine Terrasse.
Burkard Meyer Architekten AG
Burkard Meyer aus Baden gehört zu den Büros, deren Architektur die Schweiz seit Jahrzehnten prägt. Es wurde 1968 von Urs Burkard und Adrian Meyer gegründet. Heute wird es von sechs Partnern geführt und beschäftigt total rund dreissig Mitarbeitende. Zu den bekanntesten Bauten des Büros gehören das Hochhaus beim Bahnhof Winterthur (2000), das Wohn- und Geschäftshaus Falken (2006), das Freizeit- und Entertainment-Center Trafo auf dem ehemaligen ABB-Gelände (2003) oder das Berufsbildungszentrum (2006), alle in Baden. Grosse Bekanntheit erlangte auch das 2019 fertiggestellte Bürogebäude Suurstoffi 22 in Rotkreuz, das erste aus Holz bestehende Hochhaus der Schweiz. → www.burkardmeyer.ch
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SCHLICHTE HÜLLE, GLÄNZENDER KERN
An prominenter Lage in Zürich, an der Ecke Bahnhofstrasse / Kuttelgasse, hat die für Umbauprojekte solcher Art bekannte Architektin Tilla Theus die Sanierung zweier Häuser geplant. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verbunden, liegen diese an der Grenze von Altstadt und Einkaufsmeile – da, wo früher die Stadtmauer samt Graben verlief. Mit dem Spagat zwischen geschützter historischer Substanz und modernem Ambiente für Luxusbrands soll die durch Halter Renovationen umgebaute Liegenschaft ab Dezember 2023 die Kette teurer, exklusiver Geschäfte komplettieren.
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Text: Nele Rickmann
Visualisierungen: Stube 13
Die Bündner Architektin Tilla Theus ist bekannt für Luxus und Eleganz. In den 1990erJahren berühmt geworden durch den Umbau des Fünfsternehotels Widder (1985–1995), zeigte sie damals bereits ihr Können bei sensiblen Eingriffen im historischen Bestand der Altstadtquartiere. Seither ist Tilla Theus zur Ikone geworden, vor allem, wenn es sich um Projekte handelt, bei denen das Alte in neuem Glanz erstrahlen soll. Kein Wunder also, dass sich an der hochpreisigen Bahnhofstrasse in Zürich bereits fünf ihrer unzähligen Umbauprojekte verorten lassen, darunter auch der berühmte Leuenhof mit extravaganter Erdbebenertüchtigung im Innenhof – eine beeindruckende und durchaus kunstvolle Konstruktion, durch die in den Innenräumen der nötige Freiraum bestehen bleibt.
Das Team um Tilla Theus macht mit aussergewöhnlichen Ideen auf sich aufmerksam und hat die Gabe, gegenwärtige Herausforderungen in zeitlose Entwürfe zu übersetzen. Während andere Architekturschaffende auf Gradlinigkeit und Einfachheit setzen, macht sich Tilla Theus einen Namen durch Opulenz, Ornamentik und eine vielfältige wie ebenso vielfarbige Gestaltung. Ein Besuch ihrer Architektur ist ein Erlebnis, die Atmosphäre ist jeweils unverkennbar.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Bauherrin RFR Holding das anspruchsvolle Umbauprojekt für die 2019 erworbenen, nebeneinanderliegenden Häuser Bahnhofstrasse 52 und Kuttelgasse 10 nach einem Wettbewerb an Tilla Theus vergab. Auch RFR ist im Hochpreissegment zu Hause. Die aus Deutschland stammende Investorengruppe hält unter anderem das berühmte Seagram Building von Mies van der Rohe und das Chrysler Building in New York in ihrem Portfolio. Für die Halter AG, die als Totalunternehmerin alle Beteiligten an einen Tisch bringt, ist das neue Projekt in Zürich eine «nicht alltägliche Referenz», so Anna von Sydow, Geschäftsführerin von Halter Renovationen. «Seine besondere Lage, die konstruktiven wie auch technischen Ansprüche des Bestands und eine umfangreiche Organisation machen das Vorhaben zu einer komplexen Angelegenheit», betont sie. Eine Herausforderung, der sich Halter und das Team um Tilla Theus gemeinsam stellen.
Vom Fröschengraben zur Bahnhofstrasse
Die Bahnhofstrasse zählt zu einer der teuersten und exklusivsten Einkaufsstrassen der Welt. Jedoch war sie nicht immer eine Luxus-
meile, sondern bis in die 1880er-Jahre Stadtgraben von Zürich. Mit einer Länge von 1,4 Kilometern reichte der ehemalige Fröschengraben vom Zürichsee bis zum Hauptbahnhof, der 1847 als zentraler Knotenpunkt für Züge aus dem In- und Ausland errichtet wurde. Um den Bahnhof mit den Stadtteilen rund um den Paradeplatz zu verbinden, begann man 1864 mit dem Bau der Bahnhofstrasse nach Vorbild der damals neu geplanten Pariser Boulevards von Georges-Eugène Haussmann. Der Fröschengraben, der seit Zürichs Gründung der alten westlichen Stadtmauer vorgelagert war, wurde dafür gänzlich eingedeckt.
Im Zuge der Bebauung an der neu angelegten Bahnhofstrasse wurde in den 1880er-Jahren an der Ecke Kuttelgasse ein palastähnliches Gebäude im italienischen Renaissancestil erstellt. 1908 zog hier die Firma E. Spinner & Cie. ein, die in ihrem «Seiden-Haus» mehr als 200 Mitarbeitende beschäftigte und in den Räumen eindrucksvolle Modenschauen veranstalten liess. Seither heisst das Gebäude im Zürcher Volksmund «Spinnerhaus». In der Folge eines Eigentümerwechsels Ende 1920erJahre ging die Liegenschaft an die Firma Pieper & Co. über, die 1929 ein Gesuch für ein Umbauprojekt für ihre neue Geschäftsstelle bei der Baubehörde Zürich einreichte. Das Architekturbüro Stettler Ammann Herrigel setzte auf einen purifizierenden Eingriff, «aus dem ein den Forderungen unserer Zeit entsprechendes Projekt hervorgegangen ist», so die «Neue Zürcher Zeitung» am 20. Juli 1930. Diesem fiel unter anderem die reich verzierte Fassade und ein runder Erker zum Opfer, der früher die Ecksituation Bahnhofstrasse / Kuttelgasse prägte.
Der Umbau ist das Resultat einer Zeit, in der man Ornament und Dekoration verurteilte. Einfachheit, Gradlinigkeit und helle Räume sollten die Architektur prägen. Von dieser Umbauphase 1929/30 ist das Gebäudepaar bis heute am sichtbarsten geprägt.
Bauarbeiten nach Mass
Historische Pläne verweisen auf die Lage der Stadtmauer quer durch die beiden Häuser an der Bahnhofstrasse 52 und der Kuttelgasse 10, denen sich Tilla Theus mit ihrem Team widmet. Das Haus an der Kuttelgasse ist seit seiner Entstehung Teil der Altstadt und muss demnach anderen baurechtlichen Anforderungen folgen als der Gebäudeteil an der Bahnhofstrasse. Gegenwärtig ist die gesamte Liegenschaft eingerüstet. An der Fassade zur Kuttelgasse
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lassen sich die Häusergrenzen von aussen jedoch klar erkennen: Eine vertikale Gliederung zeigt die historische Trennung der beiden Gebäude. Dabei fällt auf, dass das Haus an der Kuttelgasse niedriger ist. Die Bahnhofstrasse 52 glich man bei ihrer Erbauung mit zwei zusätzlichen Geschossen in der Höhe dem Fassadenbild des neuen Boulevards an. Das Team um Tilla Theus wird die gegenwärtige äussere Erscheinung bewahren; lediglich die Oberflächen der unterschiedlich ausgestalteten Fassaden (Kunststein, Sandstein, Putz) sollen gereinigt werden. Die Fenster jedoch, die in den 1990er-Jahren ersetzt wurden, wird man zurückbauen. So kann ein Teil des ursprünglichen Fassadenbilds an der historischen Kuttelgasse durch Holzfenster mit Sprossen wiederhergestellt werden.
Nicht nur mit diesem Eingriff wird denkmalpflegerischen Auflagen entsprochen, auch andere Interventionen unterliegen strengen Vorschriften. So sind etwa alte Hourdisdecken auf Stahlträgern in der Liegenschaft an der Bahnhofstrasse erhaltenswert. An der Kuttelgasse steht neben weiteren Elementen das Treppenhaus unter besonderem Schutz. Hier will Tilla Theus die historische Substanz unter Einsatz spezieller Materialien und Farben zu neuem Leben erwecken. Ansonsten wird das gemeinsame Innere der beiden Häuser komplett entkernt. Dies ist nötig, um die heutigen gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen und auch weil durch Bauarbeiten in den 1990er-Jahren viel Substanz zerstört und ersetzt wurde. «Die grosse Herausforderung ergibt sich vor allem durch die Ansammlung unterschiedlicher Zeitschichten und Bautechniken», erklärt Björn Missbichler, Bauleiter bei Halter Renovationen und vor Ort verantwortlich für den Umbau.
Flexibilität im Ausbau
Vom Untergeschoss ausgehend, wird im Gebäudekomplex in den nächsten Monaten ein geräumiger Retailbereich auf drei Etagen entstehen. Das gesamte Erdgeschoss und das 1. Obergeschoss sollen mit grossen Fensterflächen zur Bahnhofstrasse hin geöffent werden. Auf den drei respektive fünf Ebenen darüber sind weitere Gewerbeflächen und Büros geplant. Im Hausteil an der Kuttelgasse soll die bestehende Dachwohnung gemäss Auflagen saniert werden. Grosse Dachterrassen in den obersten Geschossen beider Häuser bieten den neuen Nutzern einen einzigartigen Blick über das Stadtzentrum von Zürich.
Für die Erschliessung der einzelnen Geschosse wurde das zentrale Haupttreppenhaus der Liegenschaft an der Bahnhofstrasse, das zudem nun der Aussteifung und Erdbebenertüchtigung dient, an seine ursprüngliche Stelle zurückversetzt – nachdem es in den 1990er-Jahren weiter nach vorne, in Richtung Fassade verschoben worden war. So gewinnen die Flächen der verschiedenen Geschosse mehr Flexibilität, um unterschiedlich genutzt und bespielt zu werden.
Tilla Theus und ihr Team stellen mit dem Projekt die Grundausstattung für weitere zukünftige Nutzungen, indem sie die Bausubstanz in Hinblick auf statische und energetische Anforderungen mit Sorgfalt erneuern. Dabei setzen sie auf Flexibilität – so kann beispielsweise der Retailbereich mit sich ändernden Ansprüchen jederzeit geteilt und getrennt genutzt werden. Die ursprüngliche Aufteilung in zwei Häuser spielt dem in die Hände, da so jeweils ein Zugang von der Strassenseite sowie eine vertikale Erschliessung über die beiden Treppenhäuser gewährleistet ist.
Durch schwerwiegende Eingriffe in den Jahren 1929 und 1930 sowie mehrere darauffolgende Umbauten verloren das Haus an der Kuttelgasse und vor allem der ursprünglich palastähnliche Bau im italienischen Renaissancestil an der Bahnhofstrasse ihre städtebauliche Präsenz. Mit der Sanierung durch Tilla Theus soll sie der Bausubstanz wiedergegeben werden. Auch wenn die Hülle im Vergleich zur Anmutung der Nachbarbauten unscheinbar und zurückhaltend bleibt, wird das qualitativ hochwertig ausgebaute Innere nach der im Dezember 2023 geplanten Fertigstellung dazu beitragen, dass die Häuser ihre Wirkung an einer der exklusivsten Strassen der Welt zurückerlangen.
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Architektur & Design
S. 68 – Ende des 19. Jahrhunderts im italienischen Renaissancestil erbaut, wurde die Fassade des Hauses an der Bahnhofstrasse in den Jahren 1929/30 von allen Verzierungen befreit. Der Umbau durch Tilla Theus soll dem Haus nun seine städtebauliche Präsenz wiedergegeben.
S. 70 – Das Geschäftshaus an der Bahnhofstrasse und das anschliessende Haus an der Kuttelgasse werden durch die Baumassnahmen zu einer Einheit verbunden und können doch flexibel genutzt werden. Im Erdgeschoss und im 1. Obergeschoss sowie im Untergeschoss entstehen exklusive Ladenflächen. In den Stockwerken darüber sollen Gewerbe und Büros einziehen.
S. 71 – Die Visualisierung zeigt die grosszügigen Büros auf einer der oberen Etagen, die mit gläsernen Trennwänden geteilt werden können (oben). Das Erdgeschoss öffnet sich mit grossen Fensterflächen zur Bahnhofstrasse hin. Die Materialisierung soll edel und einladend wirken (unten).
S. 73 – Blick in das Innere der entkernten Häuser. Die nicht geschützten Decken wurden komplett entfernt und neu eingezogen. Statische Massnahmen verstärken die neue Konstruktion, die individuell auf den durch frühere Umbaumassnahmen überlagerten Bestand reagiert.
Tilla Theus und Partner AG
Die in Chur geborene Tilla Theus studierte an der ETH Zürich und schloss 1969 mit dem Diplom ab. Danach arbeitete sie in einer Architektengemeinschaft und gründete 1985 ihr eigenes Büro Tilla Theus und Partner. Von 1974 bis 2006 sass die Architektin in der Denkmalpflegekommission des Kantons Zürich, von 1981 bis 1993 in der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. Zu ihren herausragenden Projekten gehören der Umbau des Hotels Widder (1988–1995), der Neubau des Fifa-Hauptquartiers (2003–2006) und der Umbau des Leuenhofs (2016–2022), alle in Zürich. Zurzeit arbeitet sie mit fünfzehn Mitarbeitenden an zahlreichen Projekten. Das Büro ist spezialisiert auf Neubauten im anspruchsvollen städtebaulichen Kontext, eine einzigartige innenarchitektonische Gestaltung sowie sorgfältige Umbauprojekte und Sanierungen von geschützter historischer Substanz. Tilla Theus machte sich so über die Grenzen der Schweiz hinaus einen Namen und ist zu einer der bekanntesten Architektinnen der Gegenwart geworden. → www.tillatheus.ch
Architektur & Design
Grundriss Erdgeschoss: Beide Häuser wurden zu einer Liegenschaft verbunden. Der offene Raum mit zwei Treppenhäusern ermöglicht eine flexible Nutzung.
DATUM: MST.: REVIDIERT: GEZ: PLN GR.: A4 TILLA THEUS & PARTNER AG, BIONSTRASSE 18, 8006 ZÜRICH, TEL. 044/ 368 10 10, FAX 044/ 368 10 20, INFO@TILLATHEUS CH BAHNHOFSTRASSE 52, 8001 ZÜRICH sg/vl PL NR.: 5G00_01 ERDGESCHOSS 1:200 12 12 2022 74
Ansicht Bahnhofstrasse: Die mit Kunststein verblendeten Sockelgeschosse setzen sich klar von den darüberliegenden Stockwerken mit Sandsteinfassade ab.
Schnitt Kuttelgasse: Die Bahnhofstrasse 52 ist zwei Geschosse höher als das Nachbarhaus an der Kuttelgasse. Beide Gebäude verfügen über Dachterrassen.
DATUM: MST.: REVIDIERT: GEZ: PLN GR.: A4 TILLA THEUS & PARTNER AG, BIONSTRASSE 18, 8006 ZÜRICH, TEL. 044/ 368 10 10, FAX 044/ 368 10 20, INFO@TILLATHEUS CH BAHNHOFSTRASSE 52, 8001 ZÜRICH sg/vl PL NR.: 5F90_01 FASSADE BST 1:200 12 12 2022 DATUM: MST.: REVIDIERT: GEZ: PLN GR.: A4 sg/vl PL NR.: Schnitt CC 1:200 12 12 2022 75 Komplex Nr. 16/2023
Das Bauen im Bestand zieht sich durch das Schaffen der Architektin Tilla Theus wie ein roter Faden: vom Erstlingswerk, dem Altersheim Hof in Mollis (1970–1973), über ihr bekanntestes Projekt, das Fünfsternehotel Widder in Zürich (1985–1995; 2012–2017), bis hin zu gegenwärtigen Umbauten, wie dem Leuenhof an der Bahnhofstrasse in Zürich (2017–2023) oder dem Hotel Caspar in Muri (2017–2022). Die Projekte von Tilla Theus zeigen, wie architektonische Tendenzen zeitgemäss aufgegriffen werden können und gleichsam Bestand sorgfältig in die Zukunft getragen wird.
Komplex: Was interessiert und inspiriert Sie am Bauen im Bestand?
Tilla Theus: Mir ging es nie darum, einfach nur meine eigenen Ideen auf der grünen Wiese zu verwirklichen. Vielmehr interessierte mich schon immer der Dialog zwischen dem früher Gedachten und dem Weiterentwickeln in die Zukunft.
Vor welchen Herausforderungen stehen Sie und Ihr Team dabei?
Es geht darum, die Seele des Gebäudes zu erkunden und die Haltung der Architekten, die es erstellt haben, zu verstehen. Wie eine Detektivin studiere ich den Bestand bis in den hintersten Winkel und kann so erkennen, welche Veränderungen das Gebäude akzeptiert und welche es nicht zulässt. Es geht mir um ein positives Weiterbauen, bei welchem mit dem Altbestand gerechnet und dieser eventuell neu interpretiert wird.
Mit welchem Augenmass setzen Sie energetische Massnahmen unter dem Druck der Klimakrise um?
Bauen im Bestand und energetische Sanierung schliessen sich nicht aus. So sollte beispielsweise nach dem Zwiebelprinzip in mehreren dünnen Schichten gedacht werden, anstatt mit einer dicken, einschichtigen Massnahme das Gebäude zum Ersticken zu bringen. Herausfordernd sind aber nicht nur energetische Vorgaben, sondern auch der Erdbebenschutz. Statische Verstärkungen können das Wesen eines bestehenden Baus zerstören. Beim Leuen-
hof verlagerten wir die Erdbebensicherung deshalb in den Innenhof, was sich nun wie Kunst am Bau anfühlt.
Wo machen Luxussanierungen heutzutage überhaupt noch Sinn?
Luxus allein ist eine sinnfreie Hülle. Jede Sanierung muss zwingend einen nachhaltigen Mehrwert generieren – wirtschaftlich, ökologisch und ästhetisch. Es ist wie bei den Menschen: Ein Gebäude muss sich stets weiterentwickeln, der Zeit anpassen und überraschen.
Wie können Sie mit Ihrer Arbeit zur Verdichtung beitragen?
Verdichten heisst mehr Nutzung generieren. Das kann im Bestand durch intelligente Grundrisse geschehen oder auch durch Ergänzungen im Horizontalen oder Vertikalen, vielleicht zukünftig sogar unterirdisch mit bepflanzten und farbig gefassten Lichthöfen.
Was sind die Argumente für einen Ersatzneubau?
Auch ein Ersatzneubau kann interessant und sorgfältig gestaltet werden und Neues möglich machen. Wenn die bestehende Substanz zu wenig hergibt, ist ein Ersatzbau die richtige Antwort. Beim Gemeindehaus in Unterengstringen oder beim Haus Wolf in Muri haben wir beispielsweise diesen Weg gewählt.
Im Gegensatz zur meist schlichten Schweizer Architektur setzen Sie auf Opulenz. Wie verorten Sie sich im Architekturdiskurs?
Ich habe in der Fünfsternehotellerie mit dem Umbau des Hotels Widder einen neuen Trend der Authentizität und Echtheit gesetzt. Meine Haltung wurde von meinen Kolleginnen und Kollegen zunächst belächelt, denn es war die Zeit der Schweizer Kiste. Sie gab den Ton an in der Architekturbranche. Für ein Hotel war unser Ansatz damals allerdings umwälzend neu. Auch heute – 38 Jahre nach dem Planungsbeginn – begeistert diese Haltung noch immer. Architektur
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Welches sind Ihre Vorzeigeprojekte?
Alle – es ist vor allem die Vielfalt, die mir gefällt.
Wie gelingt es Ihnen, mit Ihren Entwürfen einzigartige Atmosphären zu schaffen?
Ich versuche, Gebäude als Ganzes zu erfassen, mache keinen Unterschied zwischen repräsentativen und sogenannt weniger wichtigen Räumen, unterscheide nicht zwischen Architektur, technischer Sanierung und Innenarchitektur. Alles muss aus einem Guss sein und demselben Prinzip folgen. Das ist ein langer, intensiver Prozess: harte Gedankenarbeit, viele Versuche, diverse Materialbemusterungen und deren Verarbeitung sowie natürlich der diskursive Austausch mit meinem Team.
Denken Sie in Ihrer Arbeit lange nach, oder vertrauen Sie eher Ihrer Intuition?
Es muss beides Platz haben. Oft wird nach einer langen Suche und intensivem Denken der Schlüssel intuitiv gefunden.
Welche anderen Lektionen haben Sie in Ihrer langen Karriere als Architektin gelernt?
Viele Wege führen nach Rom. Dabei ist es wichtig, Geduld zu haben.
Welchen Rat würden Sie jungen Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben?
Freue dich auf deine Zukunft, und arbeite hart! Der Weg ist steinig, aber schenkt unendlich viel Freude, wenn das Resultat vor uns steht. Um die eigene gebaute Vision erleben zu dürfen, lohnt sich die grosse Mühe.
Tilla Theus (79) ist seit mehr als dreissig Jahren nicht nur für ihre architektonischen Entwürfe bekannt, auch ihr Look ist stets bis ins kleinste Detail abgestimmt.
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WOHNEN, WO EINST DIE INDUSTRIE BLÜHTE
Vor rund fünfhundert Jahren lockte die Worble die ersten Schmieden an, die mit der Wasserkraft ihre Hämmer antrieben. Später entstand daraus ein renommierter Familienbetrieb, dem die 2022 fertiggestellte Wohnüberbauung Hammerwerk in Worblaufen ihren Namen verdankt. Der von Büro B Architekten geplante Neubau am Aareufer liegt in unmittelbarer Nähe der alten Fabrikhallen, die dem Ort einen einzigartigen Charakter verleihen. Drei riesige Hämmer haben bis heute überlebt –und könnten eines Tages wieder in Betrieb gehen.
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Text: Daniela Meyer
Fotos: Damian Poffet
«R. Müller» verkünden grosse goldene Lettern auf schwarzem Grund. Darunter weist ein Pfeil Richtung Hammerwerke. Das Schild hängt an der Fassade eines dreigeschossigen Häuschens am Schmiedeweg 5 in Worblaufen, das heute zur Gemeinde Ittigen gehört. Die altdeutsche Schrift verrät, dass es sich dabei um ein Relikt aus vergangenen Zeiten handelt. Wer dem Pfeil in die enge Rechtskurve folgt, wird die Häuserzeile entlang den Hang hinuntergeführt, wo die schmale Strasse in einen Platz mündet. Dort, am Ufer der Aare, treffen zwei unterschiedliche Epochen aufeinander und bilden eine eigene kleine Welt. An der östlichen Platzkante endet die kleinteilige, verschachtelte Bebauungsstruktur, die von der industriellen Vergangenheit des Areals erzählt. Gegenüber ragt ein sechsgeschossiger Neubau in die Höhe: die 2020 begonnene und 2022 fertiggestellte Wohnüberbauung Hammerwerk. Ein frei stehendes historisches Gebäude bildet den Abschluss zum Flussraum.
Der zentrale Platz, zu dem auch ein baumbestandener Spielbereich gehört, und die 77 Eigentumswohnungen sind aus einem 2014 ausgelobten Studienauftrag hervorgegangen, zu dem sechs Architekturbüros aus der Region eingeladen waren. «Dabei hat die Auseinandersetzung mit dem Ort und dem teilweise denkmalgeschützten Bestand eine wichtige Rolle gespielt», hebt Marcel-Jann Blattert von Halter Entwicklungen hervor, der das Projekt während der Realisierung begleitet hat.
Im Gegensatz zu anderen Arealentwicklungen liegt die Wohnüberbauung in einem gewachsenen Umfeld, was ihr eine starke Identität verleiht. Eine weitere Besonderheit ist die Lage am Wasser. Die Parzelle reicht bis an den Uferweg, wo wenige Meter weiter die Aare dahinfliesst. Der Ausblick auf die grüne Uferzone und den Fluss macht die Wohnlage einzigartig. Gleichzeitig birgt die Situation aber auch Risiken – bei Hochwasser droht das Grundstück überflutet zu werden. Dass es sich dabei um kein realitätsfremdes Szenario handelt, zeigte sich gleich zu Beginn der Bauarbeiten, als die Aare über das Ufer trat und die noch offene Tiefgarage überschwemmte.
Als wolle die Überbauung dem Fluss Respekt zollen, weicht sie davon zurück und sucht die Nähe zum nordseitigen Steilhang. Das Team um Michael Schmid von Büro B Architekten schlug einen zusammenhängenden Gebäudekörper vor, der parallel zur Aare verläuft und sich leicht vom Terrain abhebt. Damit konnte es den Studienauftrag für sich entscheiden. «Die
einfache Bebauungsstruktur besteht aus fünf Turmhäusern, die über einen zweigeschossigen Sockelbau miteinander verbunden sind», erklärt der Architekt. «So gewährleistet die Siedlung eine visuelle Durchlässigkeit zwischen dem Flussraum auf der einen und dem Hang auf der anderen Seite.» Jeder Gebäudeteil verfügt über einen attraktiven, südseitigen Zugang und ist über den vorgelagerten Gehweg erreichbar. Die um ein paar Stufen vom Terrain abgehobene Esplanade schützt den Wohnbau vor einem 300-Jahr-Hochwasser. Gleichzeitig wird sie zu einer halbprivaten Flaniermeile, wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner im Alltag begegnen.
Kunstvoller Ausblick
Wer eine der vier Maisonettewohnungen in der Sockelzone besitzt, betritt diese über die angrenzende Terrasse. In den zweigeschossigen Wohnungen mit direktem Kellerzugang lebt es sich fast wie im Einfamilienhaus. Die übrigen 73 Wohnungen verteilen sich auf die fünf Haupthäuser und bieten einen vielfältigen Mix, der vom Studio mit 35 Quadratmetern bis zur 153 Quadratmeter grossen 5,5-Zimmer-Wohnung reicht. Viele Einheiten zeichnen sich durch einen Wohnbereich mit angrenzender Loggia aus, von wo man auf die Aare und den bewaldeten Hang am gegenüberliegenden Ufer blickt. Dieses Panorama verleiht den Wohnungen eine einmalige Atmosphäre. Davon sei er stets aufs Neue fasziniert, schwärmt ein Bewohner: «Mit jeder Jahreszeit ändern sich die Farben und die Stimmung – fast so, als würde ich aus meinem Wohnzimmer ein Bild von Franz Gertsch betrachten.» Ein paar wenigen Bewohnerinnen und Bewohnern, deren Wohnungen sich zum Hang orientieren, bleibt diese Aussicht verwehrt. Doch direkt vor ihrer Haustür dehnt sich eine grosse Wiese aus, die dazu einlädt, Liegestühle, Badetücher oder Picknickdecken auszubreiten und den Blick auf den Flussraum aus dieser Perspektive zu geniessen. Besonders im Sommer, wenn auf und neben der Aare reger Betrieb herrscht, färbt das urbane Flair der nahen Stadt auf die Umgebung der Hammerwerke ab und verdeutlicht deren attraktive Lage: mitten im Grünen und doch nur eine Flussbreite von Bern entfernt.
Ein Stück Industriegeschichte Ein Naherholungsgebiet an der Stelle, wo die Worble in die Aare fliesst? Das konnte sich vor fünfhundert Jahren wohl kaum jemand ausmalen. Aus dieser Zeit stammt der heutige
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Architektur & Design
Situationsplan: links die neue Wohnüberbauung, die vom Aareufer zurückweicht; rechts die ineinander verzahnten Industriehallen und die historische Bebauung.
Situationsplan
Grundriss 2. Obergeschoss: Die fünf Haupthäuser basieren auf einer ähnlichen, sechseckigen Grundform. Ihr Innenleben bringt unterschiedliche Wohnungen hervor.
Obergeschoss AHW Ind Nr Gr A - IA Situationsplan AHW Ind: Dat: Nr: Gez: Gr: Mst: 5512 Hammerwerke Worblaufen Bauprojekt Schmiedeweg Velos Spielplatz Haus 1 Haus 2 Haus 3 Haus 4 Haus 5 Haus 1 Haus 2 Haus 3 Haus 4 Haus 5 Maisonette Maisonette Maisonette Maisonette Schmiedeweg Reckweg
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Name der Wohnüberbauung und erinnert an eine lebhafte industrielle Vergangenheit: Genau lässt sich das Entstehungsdatum der ersten «Hammerschmiede zu Worblaufen» nicht mehr eruieren; gewiss ist jedoch, dass dort spätestens seit dem frühen 16. Jahrhundert ein Hammerschmied tätig war.1 Der Bach, der den Schmiedeweg entlang in die Aare runterfliesst, lieferte damals die Wasserkraft für den Antrieb der Hämmer, mit denen die Schmiede das Eisen bearbeiteten. Anfänglich produzierten sie Flachstahl für Wagenräder, Pflugscharen, Sensen und schon bald die ersten Waffen. Im 19. Jahrhundert, als in der Stadt Bern eine rege Bautätigkeit einsetzte und gleichzeitig mit dem Bau des Eisenbahnnetzes begonnen wurde, lieferten sie Werkzeuge zur Bearbeitung des Sandsteins sowie für den Schienenbau. Nicht zuletzt profitierte der Betrieb an der Worble auch von der Produktion verschiedener Waffenbestandteile während der beiden Weltkriege.
Seit 1844 waren die Hammerwerke im Besitz der Familie Müller, die sie stets an die nächste Generation weitergab – bis im Jahr 2014, als ihre Maschinen verstummten. Marcel-Jann Blattert weist darauf hin, dass der Erwerb dieser Liegenschaft kein alltäglicher Vorgang war: «Halter kaufte nicht bloss ein Grundstück, sondern die Firma R. Müller respektive deren gesamtes Aktienpaket.» So wurde die Halter AG kurzzeitig zum Besitzer einer geschichtsträchtigen Hammerschmiede. Inzwischen hat der Immobilienentwickler den Bestand aus der damaligen Zeit weiterverkauft. Das Areal prägen die Bauten aus der 170-jährigen Ära Müller aber weiterhin. Davon zeugt nicht nur das Schild, das an der Fassade des 1871 weitgehend erneuerten Wohnhauses hängt und den Weg zu den Hammerwerken weist. Auch an anderen Stellen ist die Atmosphäre von damals noch spürbar. Tritt man aus einem der Hauseingänge des Neubaus und blickt Richtung Osten, zeigt sich ein Bild, das bereits seit 1944 existiert: im Hintergrund ein ehemaliges Fabrikgebäude, das den Abschluss zum Platz bildet; rechter Hand das zweigeschossige Haus, das inzwischen renoviert wurde, dessen Äusseres sich dadurch aber kaum verändert hat. Dabei handelt es sich um das vor rund achtzig Jahren erstellte Werkstatt- und Bürogebäude. Nach der Renovation bietet es im Obergeschoss Platz für zeitgemässe Büros und Ateliers, im Erd1 100 Jahre Hammerwerke Müller / Worblaufen 1844–1944, Jubiläumsschrift vom 20. April 1944.
geschoss befindet sich die Werkstatt von Linck Keramik. Dieses Haus, das inzwischen in Privatbesitz ist, nimmt eine Vermittlerrolle ein am Platz, wo der Wohnungsneubau und die alten Fabrikhallen einander gegenüberstehen.
Raum für eine Handwerkstradition sichern Ein grosses Tor führt in das Fabrikgebäude und gibt Einlass in eine Welt, wo die Vergangenheit auflebt. In der Halle riecht es nach Maschinenöl, die Wände sind russgeschwärzt, die Beleuchtung ist spärlich. Mehrere Schmiede und Metallbauer haben hier ihre Werkstätten eingerichtet. Durch das verschachtelte Innenleben der Halle gerät man immer tiefer in den Sog der Geschichte. Ganz hinten, wo die Halle an den kanalisierten Bach grenzt, da stehen sie: drei riesige, wasserbetriebene Schwanzhämmer aus der Anfangszeit der Hammerwerke. An der Wand hängen ebenso grosse Schmiedezangen und andere Werkzeuge. Eine Reifenbiegemaschine, mit der damals der Flachstahl für die Wagenräder gebogen wurde, steht ebenfalls im Raum. Nicht nur der Kunstschmied, der hier sein Atelier eingerichtet hat, zeigt sich begeistert von diesen historischen Gerätschaften. Auch die Equimo AG, ein Tochterunternehmen der Basler Stiftung Edith Maryon, die inzwischen im Besitz der denkmalgeschützten Räumlichkeiten ist, möchte diese Relikte erhalten. In erster Linie hat sie mit dem Kauf der Liegenschaft aber bewirkt, dass das traditionelle Handwerk des Schmiedens an der Worble fortgesetzt werden kann.
Vielleicht wird die Berner Stadtbevölkerung bald nicht mehr bloss in Gummibooten an den grosszügigen Loggien und Terrassen der neuen Wohnüberbauung Hammerwerk vorübergleiten, sondern auch ihrem historischen Nachbarn einen Besuch abstatten, um mehr über die einmalige Geschichte dieses Ortes zu erfahren.
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Architektur & Design
Querschnitt durch die Sockelzone: In den zweigeschossigen Wohnungen mit direk
tem Kellerzugang lebt es sich fast wie in einem Einfamilienhaus.
Ansicht von Westen: links der Wohnungsneubau, rechts das ehemalige, inzwischen renovierte Werkstattund Bürogebäude, im Hintergrund die alte Produktionshalle.
Schnitt AHW Ind: Dat: Nr: Gez: Gr: Mst: 5512 Worblaufen Revision Westfassade AHW Ind: Dat: Nr: Gez: Gr: Mst: 5512 Hammerwerk Worblaufen 85 Komplex Nr. 16/2023
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S. 78 – Je nach Perspektive erscheinen die fünf Haupthäuser der 2022 fertiggestellten Wohnüberbauung Hammerwerk wie regelmässig aneinandergereihte Einzelbauten.
S. 81 – Der Ausblick auf den grünen Flussraum und die Aare macht die Wohnungen einzigartig. Die Loggien sind mit Feinsteinzeug-Platten belegt, die mit anthrazitfarbenem Eisenglimmer pulverbeschichteten Metallgeländer scheinen markant und doch transparent genug (oben). Blick in eine der Wohnungen, die über einen ineinander übergehenden Wohn- und Essbereich mit offener Küche verfügt (unten).
S. 82 – Die vier Maisonettewohnungen im Sockelbereich profitieren von vorgelagerten Terrassen, die mit Sonnensegeln geschützt sind. Hier befinden sich auch die direkten Wohnungszugänge.
S. 87 – Die Wohnungen im zweiten Obergeschoss verfügen nebst der Loggia in der Gebäudeecke über eine grosse, seitlich angelagerte Terrasse (oben). Der Innenausbau basiert auf drei Designlinien und konnte von den Eigentümern mittels Onlinekonfigurator visualisiert werden (unten).
Büro B Architekten AG
Das erstprämierte Projekt beim Ideenwettbewerb für das SelveAreal in Thun führte 1990 zur Gründung der Büro B Architekten. Aus der anfänglich lockeren Arbeitsgemeinschaft wurde mit dem Gewinn weiterer Wettbewerbe schon bald eine feste Bürostruktur. Heute führen 6 Geschäftsleitungsmitglieder das Büro, das insgesamt rund 35 Mitarbeitende beschäftigt. Sie bearbeiten ein breites Aufgabenspektrum, wozu aktuell mehrere Schulbauten sowie ein Wohn- und Pflegeheim zählen. Im Grossraum Bern hat das Büro eine Vielzahl von Projekten realisiert, darunter verschiedene Wohn- und Verwaltungsbauten wie die Wohnüberbauung für die Migros im Breitenrain (2019) oder den Hauptsitz der Postfinance (2012). → www.buero-b.ch
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Ansicht von Süden: Über dem zweigeschossigen Sockel löst sich die Überbauung in fünf Turmhäuser auf, was ihr eine visuelle Durchlässigkeit verleiht.
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«ES GEHT DARUM, DEM TEAM EINE VISION AUFZUZEIGEN»
Was haben ein Unternehmensleiter und ein Spitzensportler gemeinsam? Im Fall von Markus Mettler, dem CEO der Halter AG, und Andy Schmid, Handballprofi, Spielmacher des HC KriensLuzern sowie zukünftigem Trainer der Schweizer Nati, ganz schön viel. Und das nicht nur, weil beide beim wegweisenden Entwicklungsprojekt Pilatus Arena engagiert sind. Wir vereinbarten ein Gespräch und befragten die zwei Leistungsträger zu Motivation, Weitsicht, Tiefschlägen und Timing.
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Text: Sherin Kneifl Fotos: Dan Cermak
Die Pilatus Arena ist ein wegweisendes Projekt mit starken Wegbegleitern. Nach über einem Jahrzehnt Planungsphase und mehreren Einsprachen fand am 29. November 2022 der Spatenstich in Kriens bei Luzern statt. Die unter der Federführung der Halter AG entstehende Sport- und Eventhalle mit Mantelnutzung (4000 Sitzplätze, 380 Wohnungen) soll zum kulturellen Treffpunkt in der Zentralschweiz werden. Gleichzeitig ist das Bauvorhaben ein Paradebeispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit von öffentlicher und privater Hand. Zwei Persönlichkeiten, die schon heute für die Arena werben, sind Markus Mettler, CEO der Halter AG, und Andy Schmid, Spielmacher auf der Position Rückraum Mitte des Handballklubs HC KriensLuzern. Eine Zusammenarbeit, die beiden Spass macht.
Komplex: Herr Mettler, sehen Sie sich auch als eine Art Spielmacher im Unternehmen?
Markus Mettler: Absolut. Mir geht es darum, jeden einzelnen unserer Mitarbeitenden zu motivieren, anzutreiben und ja, manchmal auch zu disziplinieren. CEO wie Spielmacher brauchen Durchhaltewillen und Ehrgeiz. Das Bewusstsein, Teil eines Teams zu sein, ist wichtig. Und auch das Wissen, dass das Team adäquat besetzt ist und bei allen das gleiche Mindset vorherrscht.
Herr Schmid, Sie sind seit Ihrer Jugend im Leistungssport. Wie gelingt es Ihnen, sich mit fast vierzig Jahren noch immer zu Höchstleistungen zu pushen?
Andy Schmid: Indem ich mir bewusst mache, dass ich von allen Seiten ständig an meiner Leistung gemessen werde. Falls ich die nicht abrufe, werde ich sehr schnell hinterfragt. Ich kann nicht grosse Töne spucken und Erwartungen in den Raum stellen, wenn ich nicht top performe. Vorbild zu sein, ist eines der Hauptkriterien im Hinblick auf Leadership. Nur so kann ich die Kollegen erfolgsorientiert beeinflussen. Gerade absolviere ich die Trainerausbildung und habe gelernt, dass es darum geht, dem Team eine Vision aufzuzeigen.
Markus Mettler: Genau! Schon Antoine de SaintExupéry benutzte das Gleichnis vom Schiffbauer: Lehre den Leuten nicht, wie man Bäume fällt, Balken zimmert und so weiter, sondern verankere in ihnen die Sehnsucht nach dem weiten Meer. Man muss das grosse Ganze vermitteln und alle dazu inspirieren, es anzustreben. Wenn die gesamte Energie einer Firma in eine Richtung geht, schafft man automatisch ein Momentum.
Herr Schmid, was ist Ihre Vision für den HC Kriens-Luzern, für den Sie seit letzter Saison spielen?
Andy Schmid: Ich möchte die Handball-Euphorie wecken und den Weg zur Pilatus Arena begleiten. Das ist auch der Grund, warum ich überhaupt noch spiele. Da ich mich jedoch im Winter meiner Karriere befinde, besteht keine Chance mehr, dass ich in der neuen Arena noch als aktiver Athlet auftreten werde. Das ist sicher ein Unterschied zwischen unseren beiden Jobs: CEO wird man in einem Alter, in dem ein Profisportler ans Aufhören denken muss.
Was ist die Herausforderung Ihres Jobs, Herr Mettler?
Markus Mettler: In der Leitungsfunktion in einer Firma ist man nicht der Spezialist in einer Einzeldisziplin. Es geht um das generalistische Verständnis. Das Führungsteam muss fachliche Ahnung haben plus soziale Kompetenzen mitbringen. Besonders Letztere werden mit der Erfahrung immer besser. Für mich lautet die entscheidende Frage: Wie lange kann ich meinen Ehrgeiz auf einem Level halten, dass ich jeden Morgen aufstehe und bis am Abend etwas erreichen möchte? Sich eine gewisse Rebellion zu bewahren, gehört ebenfalls dazu. Ich muss mich täglich dem Wettbewerb stellen wollen. Dieser Erfolgshunger ist einem gegeben – oder eben nicht. Ich will in meinem Job etwas bewegen.
Wie stecken Sie sich Ziele?
Andy Schmid: Der Spitzensport ist sehr schnelllebig, und man ist von äusseren Faktoren abhängig. Wir definieren konkret nur, wo wir am Ende der Saison landen wollen und wie
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sich alle Beteiligten verhalten müssen, damit wir dorthin kommen. Am meisten Motivation ziehe ich aus bereits erreichten Erfolgen. Wenn ich einmal das Gefühl des Sieges hatte, dient das als Ansporn, es nochmals erleben zu wollen.
Wie definieren Sie Erfolg?
Markus Mettler: Ich messe Erfolg weniger am Erreichen von gesetzten Zielen, sondern daran, ob ich zufrieden bin mit der Entwicklung. Key-Performance-Indicators sind mir zu eindimensional. In einer Organisation muss man ein Potpourri von Zielen parallel verfolgen. Ich bin sehr selbstkritisch und überlege oft, ob ich persönlich das Maximum rausgeholt habe oder im Endspurt müde geworden bin. Eine meiner Aufgaben besteht darin, zu verhindern, dass wir, gesättigt vom Erfolg, aufhören, besser zu werden. Es darf nicht sein, dass ein neuer Mitarbeitender zur Halter AG und ihren Schwesterunternehmungen kommt und denkt, er werde automatisch erfolgreich. Das wäre wie ein Spieler, der zum Schweizer
Handballmeister kommt und meint, im nächsten Jahr werde der Verein auf jeden Fall wieder den Titel holen. Wenn ich aber das Gefühl habe, jeder unserer 490 Mitarbeitenden ist ehrgeizig genug, dann lasse ich sie machen. Es gibt nichts Besseres als Mitarbeitende, die nach vorne streben.
Wie wichtig ist es, nach einem erreichten Erfolg auch mal innezuhalten und zu feiern?
Andy Schmid: Eigentlich wäre das sehr wichtig, ist aber heute kaum mehr möglich. Unsere Agenda ist eng getaktet, nicht nur im Sport. Was man erreicht hat, vergessen die Fans und die Medien ganz schnell. 2017 bin ich mit den Rhein-Neckar Löwen zum zweiten Mal deutscher Meister geworden, 2018 haben wir den Titel knapp verpasst. Das war eine Katastrophe. Aber drei Jahre zuvor hätten alle über Platz zwei gejubelt. In der Sommerpause habe ich es jeweils geschafft, abzuschalten und zu reflektieren – im Positiven wie im Negativen. In einer Saison gibt es mehr negative
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– Interview
Gesellschaft & Umwelt
Ereignisse, besonders wenn man hoch ambitioniert ist, in der anderen mehr positive. Beim Projekt Pilatus Arena gab es auch Tiefschläge. Euch wurden viele Steine in den Weg gelegt. Wie gehst du an Hürden heran, Markus?
Markus Mettler: Die sind für uns Part of the Game und nichts Dramatisches. Wir haben sogar unser Businessmodell daraufhin ausgerichtet. Unsere Strategie lautet, eine gewisse Unternehmensdimension zu haben, die uns ermöglicht, unsere Ambitionen zu realisieren, nämlich die besten und die wichtigsten Projekte in der Schweiz zu entwickeln und zu bauen. Wir wissen, dass die länger dauern und auch mal geblockt werden können. Dank unseren Strukturen können wir ohne Stress darauf reagieren. Wenn man in einer direkten Volksdemokratie wie der Schweiz Vorhaben in Angriff nimmt, haben die Menschen viel Mitspracherecht. Das äussert sich beim Bauen in Einsprachen. Es heisst nicht von ungefähr, dass man in der Schweiz keine architektonisch exemplarischen, fantastischen Würfe mehr machen kann. Ein Stück weit ist diese Situation ja in Ordnung, weil die Auswirkungen eines Baus auf Mensch und Umgebung enorm sind, aber die Verfahren werden unnötig in die Länge gezogen. Schon 2006, als ich als Leiter Entwicklungen bei der Halter AG anfing, sind wir davon ausgegangen, dass es jedes Jahr einen Monat länger dauern wird, bis man ein durchschnittliches Vorhaben zu Ende bringen kann. Es wird immer komplizierter, in jeglicher Hinsicht.
Wie gehen Sie mit Enttäuschungen um?
Markus Mettler: Beim Projekt Pilatus Arena sind manche Mitarbeitenden bei Halter zu hundert Prozent engagiert. Für sie sind Verzögerungen, Einsprachen et cetera hart. Sie sind dann mit einem permanenten Stop-andgo konfrontiert, ohne Einflussmöglichkeiten auf die äusseren Umstände zu haben. Ich persönlich muss mir eine dicke Haut zulegen, wie ein Politiker, und wissen, dass es reicht, mindestens 51 Prozent der Leute zu überzeugen. Ich muss eine Opposition aushalten können. Ich muss sogar ertragen, dass manche unsere Ideen furchtbar finden und generell gegen alle Neuentwicklungen Opposition machen. Der Spatenstich zur Pilatus Arena Ende November 2022 hat für vieles entschädigt.
Was ist Ihnen bei der neuen Halle wichtig?
Andy Schmid: Je grösser eine Spielstätte, desto anonymer kann man als Sportler hineinund hinausgehen. Das ist angenehm. Und um den Heimvorteil ideal nutzen zu können, muss es die Möglichkeit geben, in der Halle zu trainieren. Als Zuschauer erwarte ich einen gewissen Komfort, zum Beispiel, bequem zu sitzen. Ich muss genügend Bewegungsfreiheit haben und etwas Feines konsumieren können. In der kleinen Schulsporthalle, wo der HC Kriens-Luzern bislang spielt, würde ich als neutraler Zuschauer keinen Match anschauen gehen, weil all das nicht möglich ist. Nur absolut Handballbegeisterte kommen an diesen Ort. Das Bestreben bei der Pilatus Arena lautet, Menschen zu einem Event – Handball wird nur eines von vielen sein – zu locken. Ich war in jeder relevanten Halle in Deutschland zugange. Darum kann ich nun meine Erfahrungen einbringen.
Markus Mettler: Für uns war der Entwurf der Architekten Giuliani Hönger die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt eine Baubewilligung bekommen haben. Wir haben drei Verfahren aneinandergereiht: erst die Testplanung, dann den Studienauftrag und schliesslich den Wettbewerb. Dieses Vorgehen sichert unsere Ansprüche sowie jene der öffentlichen Hand ab. In der Betriebsphase ist die Funktionalität entscheidend. Tolle Erlebnisse, die drei bis vier Stunden dauern dürfen, müssen möglich sein. Es muss uns gelingen, eine prickelnde Atmosphäre zu kreieren, in der man sich gern aufhält und auch konsumiert.
Wie kann Leben in die Architektur einziehen?
Markus Mettler: Zahlreiche positive Erlebnisse führen letztlich zu einer Markenbildung. Darum ist die Interaktion mit der Umgebung wichtig: Der Ort erhält dann ein positives Image, wenn die Halle erfolgreich und wenn die darin stattfindenden Veranstaltungen für die Besucherinnen und Besucher bereichernd sind. Gelingen uns laufend coole Events, werden wir einen Impact haben. Das ist sogar noch wesentlicher als der sportliche Erfolg des HC Kriens-Luzern, dessen Heimat die Pilatus Arena ja in Zukunft sein wird.
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Andy Schmid: Schon der zentrale Standort in der Innerschweiz bietet eine Riesenchance. Der Handball wird mit dem HC Kriens-Luzern zwar Dauergast sein, andere Sportarten, Messen, Konzerte, Comedy und so weiter müssen aber genauso stattfinden, um ein möglichst breites Publikum anzuziehen. Auch für die Handballnationalmannschaft, in der ich seit zwanzig Jahren spiele, haben wir uns lange einen derartigen Ort gewünscht. Welche Veranstaltungen wünschst du dir für die neue Pilatus Arena, Markus?
Markus Mettler: Es kommt nicht darauf an, was ich mir wünsche, sondern welche konkreten Marktbedürfnisse wir mit einer unverwechselbaren Leistung erfüllen können. Das Fassungsvermögen der Pilatus Arena von 4000 Personen ist ideal. Man kann hier genauso viel Erlebnis bieten wie in einer Halle mit 10 000 Plätzen – eine Kapazität, die zum Beispiel das Hallenstadion Zürich hat –, und muss nicht andauernd Spitzenstars wie die Rolling Stones auffahren, um die ganze Arena zu füllen. Wir haben so ein grösseres Marktpotenzial.
Die Arena wird von zwei Hochhäusern für Wohnen, Büros und ein Hotel flankiert. Das eine soll mit 110 Metern sogar der höchste Wohnturm der Schweiz werden. Könnten Sie sich vorstellen, dort zu wohnen?
Markus Mettler: Klar. Im Moment lebe ich zwar den Gegenentwurf davon: Ich wohne mit meiner Frau und unseren drei Kindern in einem Einfamilienhaus im Thurgau. Aber ich kann überall sein und überall arbeiten, weil ich sehr anpassungsfähig bin und die spezifische Qualität eines Ortes sehe.
Andy Schmid: Als ich noch in Deutschland gespielt habe, verbrachte ich mit meiner Familie die Sommer immer in der Schweiz. In den Ferienmonaten von der Bundesliga haben wir uns dann ab und zu eine Wohnung in den goldenen Hochzwei-Türmen auf der Luzerner Allmend gleich neben dem Fussballstadion gemietet. Das Hochhaus-Feeling ist sehr speziell.
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Wie entscheidend war es, das Projekt als Public-PrivatePartnership anzugehen?
Markus Mettler: Zunächst hat der Initiant Nick Christen ein optimales Grundstück der öffentlichen Hand gesucht. Er hat die Evaluation gemacht und ist im Mattenhof-Quartier im Süden Luzerns fündig geworden. Der Deal zwischen der öffentlichen und der privaten Hand ist, dass man privat eine Nutzung von öffentlichem Interesse finanziert. Im Gegenzug bekamen wir für das Areal fast die dreifache Nutzung zugesprochen, als bei einer rein privaten Nutzung mit Wohnungen et cetera drin gelegen hätte. Es handelt sich um einen einfachen Mechanismus: Die öffentliche Hand wird nicht strapaziert in Bezug auf Steuergelder und hat darum nicht den politischen Druck, sich rechtfertigen zu müssen, warum sie diesen Bau unterstützt. Wir privaten Investoren – die Halter AG, Familie Schwöbel und Toni Bucher sowie die Helvetia Versicherungen für das kleinere der zwei Hochhäuser –haben die Möglichkeit für Quersubventionen und können zudem die Verantwortung für den Betrieb übernehmen.
Wie sehr kommt es aufs Timing an?
Markus Mettler: Wir können nicht auf eine Timeline achten. Die Politiker, mit denen wir ein Projekt initiieren, sind bei der Umsetzung häufig gar nicht mehr in ihrem Amt. Wir müssen daher ein Eins-a-Argumentarium parat haben, sozusagen das «why» für jedes Projekt, sowie ein stabiles Mehrwertgerüst, das auf ideellen Argumenten basiert. Zudem ist das Stakeholder-Management entscheidend. Politiker sind als Fahnenträger gut. Ist die Bewegung einmal angestossen, ist der zeitliche Ablauf kaum mehr beeinflussbar.
Welches Feedback haben Sie zum Projekt bekommen?
Markus Mettler: Wir erhalten viele Gratulationen, vor allem, weil wir damit zeigen, dass massgebliche Ideen realisierbar sind. Darin liegt auch einer meiner stärksten persönlichen Motivatoren: Hochkomplexes umzusetzen, ist eine extrem befriedigende Aufgabe. Hinzu kommt, es denjenigen zu zeigen, die vorher immer sagten: «Das ist gar nicht möglich.»
Das spornt uns als Unternehmen an. Ein Highlight wird sicher die Eröffnung 2025/26.
Herr Schmid, Ihre aktive Karriere wird dann beendet sein. Was können Sie neben Ihrer zukünftigen Rolle als Nati-Trainer noch bewegen?
Andy Schmid: Der Nachwuchs ist das A und O im Sport. Ohne Breite keine Spitze, ohne Spitze keine Breite. Viel nachhaltiger als Geld von Mäzenen, um die besten Spieler zusammenzukaufen, ist eine solide Jugendförderung. Hier engagiere ich mich gern weiter. Auch meine zwei Söhne spielen mit sechs und zehn Jahren bereits Fussball und Handball.
Was war Ihr grossartigstes Sportereignis?
Andy Schmid: Der erste deutsche Meistertitel 2016 mit den Rhein-Neckar Löwen, einem Verein, der bis dato noch nie Meister war. Neben dem Handball werde ich nie das Tennisspiel in Wimbledon 2018 vergessen, nach dem ich mit Roger Federer plaudern durfte. Ich habe grundsätzlich keine Angst vor Konversation, aber vor diesem Treffen haben meine Knie geschlottert.
Markus Mettler: Ich bin eher periodisch Fan an Sportereignissen. Eine Stunde später läuft schon wieder Business as usual. Sehr cool war allerdings das Spiel Schweiz gegen Togo an der Fussball-WM 2006. Ich stand im Westfalenstadion in Dortmund in einer Wand von 50 000 Landsleuten. Die Emotionen waren noch stärker als die Freude über den Sieg.
Wie mutig müssen Sie für Ihren
Job sein?
Andy Schmid: Nicht mutiger als andere Sportler. Die Erfahrung härtet dich ab, und das Risiko ist Normalität. Ich spiele ja nur mit Leuten, die Profis sind. Wir alle wissen genau, wann die Verletzungsgefahr hoch ist. Darum passiert relativ wenig. Weil wir uns gegenseitig respektieren.
Markus Mettler: Für mich ist Mut Gewöhnungssache. Ich muss unzählige Entscheidungen
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Gesellschaft & Umwelt – Interview
treffen. Die fälle ich leichter, wenn ich ein integriertes Bild der Umgebung habe. So kann ich die Auswirkungen abschätzen, Szenarien mental simulieren. Es braucht Courage dafür, den ersten Entscheid zu treffen. Mit jedem weiteren geht es einfacher. Mittlerweile mache ich das sehr gern, weil ich weiss, dass jeder Entscheid uns weiterbringt. Ich sage auch unseren Mitarbeitenden – und meinen Kindern –regelmässig: «Trainiert euch das an. So kommt man schneller vorwärts.»
Haben Sie ein Erfolgscredo?
Andy Schmid: Meine Mutter hat immer gesagt, wenn etwas gut sei, solle man es nicht ändern. Vielleicht bin ich auch deshalb so lange beim gleichen Verein in Deutschland geblieben. Immerhin hat mich das zum Meistertitel und zum Vizemeister gebracht.
Markus Mettler: Mein Leitsatz lautet: Vertrauen, getrauen, betrauen. Das gibt einem viele richtige Hebel in die Hand.
S. 88 – Markus Mettler, CEO der Halter AG, und Andy Schmid, Handballprofi beim HC Kriens-Luzern, spielen sich im Gespräch die Bälle zu. Das Treffen fand in der Krauerhalle in Kriens statt, der momentanen Spielstätte des Vereins.
S. 91 – Andy Schmid wechselte 2022 vom deutschen Bundesligaklub Rhein-Neckar Löwen zum HC Kriens-Luzern. Vor einem Jahr hat der Familienvater mit Yoga begonnen.
S. 92 – In einem Regal im Geräteraum liegen Trainingsbälle verschiedener Ballsportarten für den nächsten Einsatz bereit (links). An einer Holzwand der Krauerhalle ist ein grosses Klublogo angebracht. Hier finden bislang die Spiele der Handball League statt (rechts).
S. 94 – Meistens arbeitet er, aber manchmal sucht er auch den Ausgleich. Zu Markus Mettlers Lieblingssportarten gehören Joggen und Biken.
S. 95 – Zwei Männer, die sich gut verstehen und an einem Strang ziehen. Besonders wenn es um die Promotion für die Pilatus Arena geht (links). An einer Magnetwand werden Strategie und Spielzüge simuliert (rechts).
S. 97 – Markus Mettler und Andy Schmid machen ihren Job mit Leidenschaft. Gemeinsame Themen wird es auch nach der aktiven Zeit des Profisportlers geben.
Andy Schmid (39) wurde in Horgen geboren und zog schon als Kind nach Luzern. Dort durchlief er die Jugendabteilungen des BSV Borba Luzern. Von 2002 bis 2004 spielte er in der Nationalliga B für die Spielgemeinschaft SG Stans / Luzern. Daraufhin wechselte er zum Grasshopper Club Zürich, wo er 2007 sein Debüt in der Nationalliga A gab. Mit ZMC Amicitia Zürich wurde er in der Folge zweimal Schweizer Meister. 2009 wechselte der Nationalspieler zu Bjerringbro-Silkeborg, ein Jahr später unterschrieb er bei den Rhein-Neckar Löwen. Von 2014 bis 2018 wurde er jeweils zum wertvollsten Spieler der deutschen Handball-Bundesliga gewählt. Zusammen mit den Löwen gewann Andy Schmid zwei deutsche Meisterschaften (2016, 2017) und den DHB Pokal (2018). 2022 kehrte das Ausnahmetalent in seine Heimat zurück und ist seitdem beim HC Kriens-Luzern unter Vertrag. Andy Schmid wird ab Sommer 2024 Trainer der Schweizer Handball-Nationalmannschaft. → www.hckriens-luzern.ch
Markus Mettler (54) ist Dipl. Bau-Ing. ETH mit Nachdiplomstudium in Betriebswissenschaft. Nach seiner Ausbildung war er fünf Jahre bei zwei Beratungsunternehmungen in den Bereichen Life-Cycle-Management sowie Immobilienberatung und -bewertung tätig. Danach wechselte er als Projekt- und Bereichsleiter Immobilienentwicklung zu einem Totalunternehmer. Seit 2006 ist er bei der Halter AG: zuerst vier Jahre als Geschäftsführer der Geschäftseinheit Entwicklungen, seit 2010 als CEO und seit 2015 als Mitinhaber. In dieser Funktion amtiert Markus Mettler auch als Verwaltungsratspräsident von Tend AG, Raumgleiter AG, Integral DesignBuild AG, MOVEment Systems AG sowie Luucy AG. Als Initiator und Co-Präsident des Branch Do Tank engagiert er sich stark für eine zukunftsfähige Bau- und Immobilienwirtschaft in der Schweiz und nimmt in dieser Funktion Einsitz im Vorstand des Dachverbands der Schweizer Bauwirtschaft Bauenschweiz. → www.halter.ch
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EIN BLICK AUF DIE GESCHICHTE DES GENOSSENSCHAFTLICHEN WOHNUNGSBAUS IN DER SCHWEIZ
Die Schweiz ist ein Land von Mieterinnen und Mietern, hier leben weniger als 40 Prozent der Bevölkerung in den eigenen vier Wänden. Die Wohnbaugenossenschaften bieten besondere Qualitäten, sie bleiben allerdings marginal im gesamten Wohnungsmarkt. Im Kontext des rasanten Städtewachstums und prekärer Wohnverhältnisse – entstanden an der Schwelle zum 20. Jahrhundert – haben die schweizerischen Genossenschaften in den Perioden nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg ihre Hochphasen erlebt. Nach dem Schock der Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre verlor die Bewegung stark an Schwung und hat sich erst jüngst wieder stärker belebt.
98 KLEIN, ABER FEIN.
Gesellschaft & Umwelt – Essay
Text: Florian Müller
Als Selbsthilfeorganisationen entstanden, treten Wohnbaugenossenschaften seit über einem Jahrhundert mit dem Anspruch auf, Wohnraum dauernd der Spekulation zu entziehen und den Gemeinschaftssinn zu befördern.1 Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften stellen heute in der Schweiz die wichtigsten Akteure des nicht profitorientierten Wohnsektors dar – noch vor den kommunalen Körperschaften. Genossenschafter sind Miteigentümer. Oft wird vom «dritten Weg im Wohnungsbau» gesprochen, der sich zwischen dem selbst bewohnten Wohneigentum und der Miete situiert und die Vorteile der beiden Formen verbinden soll. Die Mitglieder erwerben Anteilsscheine, die ihnen Mitspracherechte garantieren und sie vor Kündigungen schützen. Die Wohnbaugenossenschaften verpflichten sich in der Regel auf das Prinzip der Kostenmiete, wodurch die Mieten gemäss Daumenregel rund 15 bis 25 Prozent unter dem Durchschnitt liegen.2 Sie traten und treten ausserdem mit dem Anspruch an, mehr als nur ein Dach über dem Kopf zu bieten. «Es soll nicht allein nur genossenschaftlich gebaut werden, nein, auch das Wohnen, der Verkehr von Mensch zu Mensch soll weiterhin in genossenschaftlichem Sinne gepflegt und gefördert werden», so resümierte es der Basler Genossenschafter Walter Ruf 1930.3 Eine Ansicht, die auch vier Jahrzehnte später durch den Genossenschafter Ferdinand Kugler vertreten wurde. Während die Gründung der Genossenschaften meist aus dem Bestreben erfolge, preisgünstigen Wohnraum zu schaffen, so Kugler, würden sie auch ideelle Ziele verfolgen, «nämlich die Idee der genossenschaftlichen Zusammenarbeit zu verwirklichen und gleichzeitig die erstellten Wohnungen und Häuser für immer der Spekulation zu entziehen.»4 Lange bedeutete das auch, bürgerliche, hygienische und sittenmoralische Vorstellungen durchzusetzen. Die Mitglieder sollten zur Hygiene, zu einem sittlichen Familienleben und zu rechtschaffenen Bürgern erzogen werden. Die Zeiten ändern sich, und die Genossenschaften haben inzwischen die paternalistisch unterfütterte Moralität abgelegt. Der Dienst an der Gesellschaft bleibt aber ein zentrales Anliegen. Es gehört bis heute zum Selbstverständnis, das gemeinschaftliche Zusammenleben zu fördern und in den neuen Mustersiedlungen innovative städtebauliche, ökologische und soziale Lösungen zu exemplifizieren.
Der Genossenschaftsfunktionär und Zürcher Stadtrat (SP)
Adolf Maurer sprach 1969 von gemeinnützigen Baugenossenschaften
1 Vgl. Müller, Florian: Mieter:innenland Schweiz. Siedlungsprojekte, politische Regulierung und private Interessen im schweizerischen Wohnungsbau, 1870–1974, Diss. Universität Zürich, Zürich 2022.
2 Vgl. Sotomo GmbH: Gemeinnütziges Wohnen im Fokus. Ein Vergleich zu Miete und Eigentum, Bundesamt für Wohnungswesen, Grenchen 2017.
3 Ruf, Walter: Das gemeinnützige Baugenossenschaftswesen der Schweiz, Zürich 1930, S 113.
4 Schweizerischer Verband für Wohnungswesen (Hg.): Mensch und Wohnen. Schweizerischer Verband für Wohnungswesen, 1919–1969, Zürich 1969, S. 70.
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als einem «urschweizerischen Element», um ihre Ausrichtung zu umschreiben.5 Tatsächlich stellen sie im Grunde eine für die Schweiz typische öffentlich-private Mischlösung des Wohnungsproblems dar. Die Genossenschaften verpflichten sich statuarisch, dauerhaft preisgünstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, agieren aber als private Selbsthilfeorganisationen losgelöst und, zumindest im Prinzip, unabhängig von der öffentlichen Hand, auch wenn sie vielfach bei Neubauprojekten auf öffentliche Hilfen angewiesen sind.
Die Präsenz der Genossenschaftsbewegung in den öffentlichen und politischen Debatten der letzten Jahre darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem gemeinnützigen Sektor in der Schweiz insgesamt eine marginale Rolle zukommt. Die Schweiz ist ein Land von Mieterinnen und Mietern. Die Mehrheit mietet, und zwar meist Wohnungen von renditeorientierten Anbietenden. Sehen wir von Ausnahmen wie der Hochburg Zürich ab, wo Genossenschaften etwa einen Fünftel des Wohnungsbestands besitzen und ganze Quartiere prägen, blieb der genossenschaftliche Einfluss beschränkt. Schweizweit sind je nach Schätzung rund vier bis fünf Prozent des Gesamtbestands im Besitz solcher gemeinnütziger Selbsthilfeorganisationen. Blicken wir auf die letzten fünfzig Jahre zurück, ist sogar festzustellen, dass ihr Anteil abgenommen hat.
Die Anfänge des genossenschaftlichen Wohnungsbaus
Die ersten gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften entstanden im ausgehenden 19. Jahrhundert im Kontext der Industrialisierung und der Urbanisierung. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich von England um den Erdball ausbreiteten und die Schweiz früh ergriffen, gingen mit einem rasanten Wachstum der Städte einher. In den spektakulären – und oft spekulativ getriebenen – Wachstumsphasen sprengten sie die Grenzen der engen mittelalterlichen Stadtmauern und wuchsen schnell in die umliegenden Landschaften hinaus. Wohnungsbau war dabei eine privatwirtschaftliche Angelegenheit. Von gewieften Gelegenheitsspekulanten über die meist kleinen bis mittleren Baumeisterbetriebe bis hin zu Terraingesellschaften bauten zahlreiche Hände an den neuen Quartieren und stampften in atemberaubendem Tempo neuen Wohnraum für die mobilen und meist mittellosen zuziehenden Arbeitssuchenden vom Land aus dem Boden. Während die Entwicklung in den wohlhabenden Quartieren und Vororten, an den mondänen Boulevards und in den Verwaltungsbezirken verhältnismässig geordnet verlief, prägten prekäre bauliche und hygienische Zustände sowie dicht belegte Wohnungen das Bild der
100 Gesellschaft & Umwelt – Essay
5 Ebd., S. 13.
Zürich Friesenberg: Flugansicht von 1967. Im Bild Häuser der Familienheim-Genossenschaft, die hier bis heute in 25 Etappen rund 2300 Wohnungen erstellt hat. © ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv, Werner Friedli
Siedlungsgenossenschaft Freidorf in Muttenz: Zentraler Platz der Siedlung mit angrenzenden Mehrfamilienhäusern, gegenüber (angeschnitten) das grosse Gemeinschaftshaus mit Laden, Festsaal, Turnhalle, Restaurant und weiteren Gemeinschaftsräumen. © Gta Archiv / ETH Zürich, Hannes Meyer
Siedlungsgenossenschaft Freidorf in Muttenz: Der Lageplan aus der Publikation «Siedlungsgenossenschaft Freidorf» von 1922 gibt die strenge Anordnung der Siedlung wieder. © Gta Archiv / ETH Zürich, Hannes Meyer
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Unterschichtenquartiere. Die Wohnungsfrage entwickelte sich zu einem zentralen Problem der sozialen Frage, das in Reformbewegungen grenzübergreifend debattiert wurde. In weiten Kreisen von links bis rechts löste die unübersehbare soziale Ungleichheit der rasch gewachsenen liberalen Städte des 19. Jahrhunderts ein Unbehagen aus. In den vergleichsweise kleinen Schweizer Städten nahmen die Zustände zwar nie die katastrophalen Verhältnisse an wie in Grossstädten manch anderer Industrieländer, doch auch in der Schweiz zeugten beengende Mietshäuser in Blockrandüberbauung, Gewerbe- und Industriebetriebe in Wohnnähe und schmutzige Strassenzüge vom Elend breiter Schichten. Die Arbeiterquartiere galten den Eliten und Reformkreisen als sittenlose Herde für Seuchen und weckten Ängste vor sozialen Unruhen.6
In diesem Kontext griffen die Gemeinden zunehmend in die Entwicklung ein. Sie reglementierten den Städtebau über Bauordnungen, erstellten neue Infrastrukturen, bauten Repräsentationsbauten und legten Strassen, Gas- und Wasserleitungen sowie Kanalisationen an, um die schlechten hygienischen Bedingungen zu verbessern. Gegen die Jahrhundertwende gingen die Verwaltungen in Städten wie Bern, Genf oder Zürich zudem dazu über, kommunale Wohnungen zu bauen, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken.
Diesen – bescheidenen – kommunalen Versuchen ging bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Erstellung von Mustersiedlungen grossbürgerlicher Akteure und von Selbsthilfeorganisationen voraus. Philanthropische Kreise aus dem Bürgertum und Unternehmen der neuen Grossindustrien bauten erste kostengünstige und gesunde Arbeiterwohnungen, und Arbeiter schlossen sich in Selbsthilfeorganisationen zu Aktien- und Baugesellschaften zusammen, um mit vereinten Kräften selbst den Bau von Wohnungen zu stemmen. Die ersten eigentlichen gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften entstanden gegen Ende des Jahrhunderts. Eine Pionierrolle kam den Eisenbahnern zu, die mithilfe der Pensionskasse der Schweizerischen Bundesbahnen SBB genossenschaftliche Wohnhäuser erstellten. Frühe Beispiele von Gründungen stellten die Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft ZBWG (1892) und die Basler Wohnbaugenossenschaft (1900) dar.
Insgesamt blieben die Bemühungen zur Verbesserung der Wohnverhältnisse aber kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heissen Stein. Der Bestand der Wohnungen gemeinnütziger und öffentlicher Träger blieb überschaubar. Zudem waren es vor allem Familien von Facharbeitern und Angestellten, die in die
6 Vgl. Bärtschi, Hans-Peter: Industrialisierung, Eisenbahnschlachten und Städtebau. Die Entwicklung des Zürcher Industrie- und Arbeiterstadtteils Aussersihl. Ein vergleichender Beitrag zur Architektur- und Technikgeschichte, Basel 1983; Kurz, Daniel: Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich 1900 bis 1940, Zürich 2008; Walter, François: La Suisse urbaine, 1750–1950, Genève 1994.
Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft ZBWG, Sonneggstrasse, Zürich, in einer Grafik von 1893. © Zeitschrift «Wohnen», Ausgabe Juli / August 2016
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preisgünstigen Musterwohnungen einzogen, während die Schichten, die in besonders ärmlichen und beengten Verhältnissen lebten, kaum Zugang erhielten.7
In diesen Jahren etablierten sich Wohnbaugenossenschaften zaghaft zu beachteten Akteuren des nicht profitorientierten Wohnungssektors, doch fiel die erste Hochphase des genossenschaftlichen Wohnungsbaus erst in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.
Kriseninterventionen und Genossenschaftsboom
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führte in zahlreichen Ländern der industrialisierten Welt zum eigentlichen Startpunkt einer zentralstaatlichen Wohnungspolitik. Die Schweiz stellte keine Ausnahme dar, da breite Bevölkerungsschichten unter Armut litten und sich eine problematische Wohnungsnot herausbildete. Der Pfarrer, Sozialreformer und sozialdemokratische Zürcher Stadtrat Paul Pflüger beschrieb die Situation 1920 in dramatischen Worten: «Der Mangel an Wohnräumen hat eine Überfüllung der Wohnungen, eine Zusammenpferchung der Menschen (…) zur Folge. In alle Ritzen und Löcher schlüpfen obdachlose Menschen hinein. (…) Jugendverwahrlosung, Prostitution und Alkoholismus stehen in engem Zusammenhang mit der Wohnungsnot.» «Von der Lösung der Wohnungsfrage», so Pflüger, hänge «die weitere Zukunft ab. Die Wohnungsnot bildet einen bleibenden Explosionsherd für soziale Unruhen.»8
Die hohe Kriegsinflation, materielle Not und soziale Spannungen, die 1918 im Landesstreik implodierten, sowie der Zusammenbruch der Neubautätigkeit bewogen den Bundesrat in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, erstmals umfassend wohnungspolitisch aktiv zu werden – und in eine Domäne zu intervenieren, die bis anhin als eine privatwirtschaftliche und kommunale Aufgabe angesehen wurde. Der Bund baute ab 1917 den Kündigungsschutz aus, regulierte die Mietpreise und förderte ab 1919 den Neubau. Bis Mitte der 1920er-Jahre unterstützte er den Bau von rund 18 000 Wohnungen, was mehr als der durchschnittlichen Jahresproduktion entsprach. Diese Unterstützungen, die auch von privaten Trägern beantragt werden konnten und kantonal organisiert wurden, beförderten den ersten Genossenschaftsboom, der dann später nach der Einstellung der Bundessubventionen durch die städtischen Unterstützungen weitergetragen wurde. Die Stadtregierungen bauten teilweise zwar auch in Eigenregie kommunale Wohnungen, unterstützten aber insbesondere gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften, die zu wichtigen städtebaulichen Partnern
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7 Vgl. Ruf 1930; Wenger, Rudolf: Wohnungsnot und kommunaler Wohnungsbau in der deutschen Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der Kriegs- und Nachkriegszeit, (ohne Erscheinungsort) 1931.
8 Pflüger, Paul: Die Bekämpfung der Wohnungsnot. Gutachten an den zürcherischen Regierungsrat, Zürich 1920, S. 4 und 20.
avancierten. In der Deutschschweiz war eine Gründungswelle zu beobachten, und 1919 konstituierte sich der genossenschaftliche Dachverband «Schweizerischer Verband zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus» unter dem Präsidium von Emil Klöti, dem einflussreichen Wohnungspolitiker und sozialdemokratischen Bauvorsteher der Stadt Zürich. Dem – vornehmlich männlichen – Vorstand gehörten neben schillernden Reformern und Architekten wie Hans Bernoulli oder Camille Martin namhafte sozialdemokratische und bürgerliche Vertreter der Exekutiven und Verwaltungen sowie Vertreter des (philanthropischen) Bürgertums und der Grossindustrie an. Im Gegensatz zum kommunalen Wohnungsbau, der vor allem in linken Kreisen befürwortet wurde, stiessen Wohnbaugenossenschaften bis in bürgerliche Kreise hinein auf Sympathien. Die Förderung von gemeinnützigen, aber privaten genossenschaftlichen Selbsthilfeorganisationen liess sich besser mit den Grundsätzen der liberalen Wirtschaftsordnung vereinbaren als der Bau von Wohnungen im öffentlichen Besitz.9
Die Zentren des genossenschaftlichen Wohnungsbaus stellten der Stadt-Kanton Basel sowie insbesondere das rote Zürich dar. Die Siedlungen jener Jahre waren durch die Ideale der Gartenstadt geprägt. Für die Zürcher Genossenschaftspionierin Dora Staudinger war 1918 «von jedem Gesichtspunkt aus, sei es vom gesundheitlichen, sei es vom ästhetischen, vom kulturellen, sozialen und vor allem vom ‹zukunftswirtschaftlichen› Standpunkt aus, die einheitliche Gartenstadt-Siedlung ausserhalb der Grossstadt» zu bevorzugen. Hier liessen sich das «Einfamilienhaus, der Garten, das genossenschaftliche Wohnen» am besten verwirklichen.10
Dezentrale Siedlungen entsprachen jedoch oft nicht den Bedürfnissen nach Wohnungen in Arbeitsnähe, und das Ideal des Einfamilienhauses mit Pflanzgarten zur Selbstversorgung liess sich auf den begrenzten Flächen der urbanen Zentren selten verwirklichen. Tatsächlich wurden die Siedlungen jener Jahre in den Städten meist als geschlossene und einheitlich gestaltete, mehrgeschossige Überbauungen sowie als durchgrünte Siedlungen in offener Zeilenbauweise an den Stadträndern erstellt. In den «Kolonien» kam man den Forderungen nach «Licht, Luft und Sonne» nach und integrierte Frei- und Begegnungszonen. Die Wohnungen waren einfach, aber zweckmässig ausgestattet.
9 Vgl. Kurz, Daniel: Den Arbeiter zum Bürger machen. Gemeinnütziger Wohnungsbau in der Schweiz 1918–1949, in: Schulz, Günther (Hg.): Wohnungspolitik im Sozialstaat. Deutsche und europäische Lösungen, 1918–1960, Düsseldorf 1993, S. 285–304; Schelbert, Marcel: Gemeinnütziger Wohnungsbau im Spannungsfeld zwischen Staat und Privatwirtschaft. Die Vorstände der Wohnbaugenossenschaften Schweiz und ihrer Regionalverbände 1920, 1950, 1980, Masterarbeit Universität Zürich, Zürich 2021; Zitelmann, Reto: «Nackte, feuchte Mauerwände» und das Dach «stellenweise undicht». Wohnverhältnisse der Arbeiterschaft, Wohnungsnot und Wohnpolitik, in: Rossfeld, Roman; Koller, Christian; Studer, Brigitte (Hg.): Der Landestreik. Die Schweiz im November 1918, Baden 2018, S. 61–78.
10 Staudinger, Dora: Unser Kampf gegen die Wohnungsnot, in: ABZ (Hg.): Unser Kampf gegen die Wohnungsnot, Zürich [1919], S. 3–14, hier S. 12.
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Als glänzendes Vorbild galt die Siedlungsgenossenschaft Freidorf, die der Verband Schweizerischer Konsumvereine VSK (die heutige Coop) zwischen 1919 und 1921 nach den Plänen des Reformarchitekten Hannes Meyer bei Muttenz erstellte und die weit über die Landesgrenzen hinaus grosse Beachtung erhielt. Das Projekt stellte die Gegenthese zu den verrufenen, dicht belegten städtischen «Mietskasernen» in Blockrandüberbauung dar. Im Freidorf wurde die Utopie des genossenschaftlichen Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus modellhaft erprobt. Die idealtypisch und klar strukturierte Gartensiedlung mit 150 (Reihen-)Einfamilienhäusern und Pflanzgärten wurde auch mit Gemeinschaftsräumen und eigenem ACV-Laden ausgestattet. Der Gemeinschaftssinn wurde hochgehalten, und das Sozialleben der Bewohnerinnen und Bewohner war weitreichend organisiert.
Während die bundesstaatlichen Kriseninterventionen Mitte der 1920er-Jahre aufgehoben wurden, förderten verschiedene Städte während des zu dieser Zeit einsetzenden Neubaubooms weiterhin neue Siedlungen und trugen den genossenschaftlichen Wohnbauboom.
Anfang der 1930er-Jahre, mitten in der Grossen Depression, welche die Weltwirtschaft ab 1929 erschütterte, brach der Neubau dann aber brutal ein. In Anbetracht hoher Leerwohnungsbestände und seiner restriktiven und zaghaften Arbeitsbeschaffungsmassnahmenpolitik verweigerte der Bund diesmal Stützungsmassnahmen zugunsten des Wohnungsbaus. Das änderte sich erst nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Zentralstaatliche Eingriffe und zweiter genossenschaftlicher Bauboom
Der Kriegsausbruch wirkte in der Schweiz wie in zahlreichen europäischen Ländern als Katalysator, der zentralstaatlichen Eingriffen in die Wohnungsmärkte einen neuen Schub verlieh. In der Schweiz folgte eine kurze, von 1939 bis 1950 dauernde Schlüsselperiode der Wohnungspolitik, in welcher der Bund unter dem Vollmachtenregime in vorher und nachher nie mehr gesehenem Ausmass in die Siedlungsentwicklung eingriff.
In den ersten Kriegsjahren brach der Neubau aufgrund düsterer Renditeaussichten und der Verknappung und Verteuerung von Arbeitskräften und Baumaterialen ein, und es entwickelte sich eine prekäre Wohnungsnot. Der Bund reagierte, indem er den Wohnungsmarkt erneut einer umfassenden Regulierung unterstellte. Er verschärfte den Mieterschutz und die Preiskontrolle, rationierte die knappen Baustoffe und läutete 1942 zur Bekämpfung der Wohnungsnot und als Arbeitsbeschaffungsmassnahme widerwillig und zähneknirschend eine grosse Wohnbauförderaktion ein, die bis 1949 fortgeführt wurde. In drei Wohnbauaktionen unterstützte
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Siedlungsgenossenschaft Freidorf in Muttenz: Flugperspektive auf die Gesamtanlage. © Gta Archiv
ABZ-Genossenschaftssiedlung Im Herrlig in Zürich Altstetten: Zeittypische Mehrfamilienhäuser der Nachkriegszeit mit 2- bis 5-Zimmer-Wohnungen, um unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden und eine soziale Durchmischung in der Siedlung zu fördern. © Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Walter Läubli
Genossenschaftssiedlung Obermatten der Rotach und der ASIG in Rümlang: Lageplan der Siedlung aus 2 achtgeschossigen Punkthochhäusern, 10 Längswohnblöcken mit drei bis fünf Geschossen und 22 eingeschossigen Atriumhäusern. © ETH-Bibliothek, Zürich, Siedlung Obermatten Rümlang, Zeitschrift «Wohnen», Band 38, 1963
Genossenschaftssiedlung Obermatten der Rotach und der ASIG in Rümlang: Die Atriumhäuser im Vordergrund setzen sich deutlich von den höhergeschossigen Wohnhäusern ab. © ETH-Bibliothek, Zürich, Bildarchiv, Werner Friedli
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er den Bau von rund 82 000 Wohnungen. Auf dem Höhepunkt wurden durch den Bund, die Kantone und die Gemeinden mehr als zwei Drittel des Neubaus unterstützt und Subventionen à fonds perdu bis zu 45 Prozent der Erstellungskosten gewährt. Die Subventionen konnten nicht nur von gemeinnützigen, sondern (unter Auflagen) auch von renditeorientierten Trägern beantragt werden, die etwas mehr als die Hälfte aller subventionierten Wohnungen erstellten. Der kommunale Wohnungsbau blieb marginal, während die gemeinnützigen Genossenschaften etwas weniger als die Hälfte der subventionierten Wohnungen bauten.
Die Wohnbauaktionen läuteten in der Deutschschweiz den zweiten genossenschaftlichen Wohnbauboom ein. In zahlreichen mittleren und grösseren Städten etablierten sich die Genossenschaften als bedeutende Akteure auf dem Wohnungsmarkt, wobei relativierend festzustellen ist, dass deren Anteil kaum je einen Zehntel des Gesamtbestands überschritt. Eine der wenigen Ausnahmen bildete erneut Zürich, wo Wohnbaugenossenschaften die Entwicklung von Quartieren deutlich prägten. In der Westschweiz und im Tessin konnten sich die Genossenschaften demgegenüber nicht als wichtige Akteure etablieren.
Das Ideal der Genossenschaften, das Einfamilienhaus mit Pflanzgarten, liess sich auf den teuren Böden der wachsenden urbanen Räume nicht «restlos verwirklichen», weshalb man sich in «vielen Fällen mit Kompromissen begnügen» musste, wie der bereits erwähnte Emil Klöti 1944 feststellte.11 Zusammenhängende, differenzierte und durchgrünte Siedlungen in offener Bauweise wurden das Mass der Dinge, an dem sich die Genossenschaften und ihre Architekten in der Kriegs- und Nachkriegszeit orientierten. Zweistöckige Reihenhäuser und drei- bis viergeschossige Wohnblocks in schlichter, aber sauberer Ausführung mit Satteldächern, Putz und Blumenfenstern prägten im Zeitgeist die Überbauungen. Ein sprechendes Beispiel stellte die Siedlung Im Herrlig der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich ABZ dar, die zwischen 1946 und 1948 in Altstetten entstand. Die grösste Genossenschaft Zürichs erstellte hier nahe dem Bahnhof in lockerer Zeilenbauweise insgesamt 217 Wohnungen – für Schweizer Verhältnisse ein grosses Projekt. Das Architekturbüro Aeschlimann & Baumgartner richtete die einfach, aber komfortabel ausgestatteten Wohnungen in dreigeschossigen Mehrfamilien- und zweigeschossigen Reihenhäusern auf optimale Besonnungsverhältnisse aus und sorgte für grosszügige Grünflächen. Die Siedlung verfügte zudem über einen Lebensmittelladen, eine Metzgerei sowie ein grosses
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11 Klöti, Emil, Wohnungspolitik im Dienste des Familienschutzes, in: Schweizerischer Bundesrat: Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren «Für die Familie». (Vom 10. Oktober 1944), in: Bundesblatt 1944 I, S. 865–1143, hier S. 1127.
Gemeinschaftslokal, um den Gemeinsinn aktiv zu fördern. Die Stadt ehrte die Mustersiedlung mit einer Auszeichnung. Dass die Kolonie in den Augen des Stadtrats ein Erfolg war, vermag wenig zu erstaunen, war er doch früh in die Planung einbezogen und hatte den Bau grosszügig unterstützt. Die Stadt gab der ABZ billiges Bauland ab, gewährte Hypotheken und sprach Subventionen, bedingte sich im Gegenzug aber Mitbestimmungsrechte aus. Diese enge öffentlich-private Zusammenarbeit war typisch für die Jahre des subventionierten Wohnungsbaus zwischen 1942 und 1949. Die Wohnbaugenossenschaften avancierten in Zürich zu eigentlichen ausführenden Organen des Hochbauamts und seines Vorstehers, dem Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner, um den rasanten Stadtumbau zu bewerkstelligen.
Bedeutungsverlust während des Wohnbaubooms der Nachkriegszeit Der zweite genossenschaftliche Wohnbauboom endete nach 1950 abrupt. Mit dem Kriegsende wuchs die Kritik an den Interventionen in den Wohnungsmarkt, und die Wohnbauförderung des Bundes stiess auf zunehmende Widerstände aus der privaten Wohnwirtschaft und der Bundesverwaltung selbst. 1949 ergriff der Schweizerische Grund- und Hauseigentümerverband das Referendum gegen eine befristete Weiterführung der Förderaktion. Obwohl die Vorlage die beiden Kammern des Bundesparlaments problemlos passiert hatte und durch alle Bundesratsparteien mit Ausnahme der FDP unterstützt wurde, lehnten die Stimmbürger die Weiterführung der bundestaatlichen Wohnbauförderung im Januar 1950 mit 54 Prozent Nein-Stimmen ab. Das Verdikt hatte weitreichende Auswirkungen. Während die meisten Länder der westlichen Welt in der Nachkriegszeit entweder den sozialen Wohnungsbau oder den Zugang zu Wohneigentum stark förderten, zog sich der Bund bereits 1950 wiederum stark aus der Wohnbauförderung zurück.
Ohne Bundessubventionen waren die Kantone und Gemeinden finanziell nicht mehr in der Lage oder willens, die Unterstützung im selben Umfang aufrechtzuerhalten. Der präzedenzlose Wohnbauboom der Hochkonjunktur, der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und bis zur Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre anhielt, wurde durch privatwirtschaftliche Akteure getragen und war auf den renditeorientierten Mietmarkt ausgerichtet. Die Genossenschaften beteiligten sich zwar am Bauboom, der sich zunehmend von den Zentren in die Agglomerationsräume und die Klein- und Mittelstädte verschob, ihr Anteil an der Neubautätigkeit war aber bescheiden. Für sie wurde es deutlich schwieriger, Neubauprojekte zu stemmen. Der Bund führte zwar ab 1958 wiederum ein moderates Förderprogramm ein, die Hilfen waren aber nicht mehr mit denen der Wohnbauaktionen der 1940er-Jahre vergleichbar.
Genossenschaftssiedlung Im Herrlig der ABZ in Zürich Altstetten: Lageplan. © Maurizio, Julius: Der Siedlungsbau in der Schweiz 1940–1950, Erlenbach 1952, S. 125
Genossenschaftssiedlung Im Herrlig der ABZ in Zürich: Fotografie aus der Zeit der Erstellung. © Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich, Hugo Paul Herdeg
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In Anbetracht der zurückhaltenden Politik der öffentlichen Hand
waren es private Entwickler, die den Wohnbauboom als «inoffizielle Planer»12 prägten, wie es die Raumplanungsforscherin Martina Koll-Schretzenmayr formuliert hat. In den drei Jahrzehnten der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg verdoppelte sich der Wohnungsbestand, und das Landschaftsbild der Schweiz wurde regelrecht umgebaut. Die Siedlungsräume dehnten sich in die periurbanen Regionen aus, entlang der Verkehrslinien entstanden im Einzugsgebiet der Zentren unzählige neue Überbauungen, und ehemals bäuerlich geprägte Dörfer wandelten sich zu Schlafstädten der in die Zentren pendelnden Bewohnerinnen und Bewohner. Die Moderne hielt Einzug in die Architektur, Hochhäuser und teils in Vorfabrikation erstellte Grosssiedlungen in den Agglomerationsräumen wurden zum Inbegriff der Nachkriegszeit.13
Auch wenn der Grosssiedlungsbau in der Schweiz nie die Dimensionen wie in anderen europäischen Ländern annahm, gewann er diskursiv und praktisch stark an Bedeutung. Progressive Architektinnen und Architekten trachteten nach der Anknüpfung an die internationale Moderne und dachten in neuen Massstäben und Höhen, und auf der verzweifelten Suche nach pragmatischen Lösungen fanden Grosssiedlungen Eingang in die Debatten und die Praxis des preisgünstigen Wohnungsbaus. Zuerst in der West- und dann in der Deutschschweiz erprobten Architektinnen und Architekten im Auftrag öffentlicher und privater Bauherren den industrialisierten Grosswohnungsbau.
Auch im genossenschaftlichen Wohnungsbau verabschiedete man sich zunehmend von den heimeligen Ensembles mit ihren zweibis viergeschossigen Zeilenbauten. Auf den grünen Wiesen an den Rändern der urbanen Zentren entstanden stattdessen durchgrünte, moderne Überbauungen. Indem die Planer in den Siedlungen vierbis zwölfgeschossige Wohnblöcke, Scheiben- und Punkthochhäuser sowie niedrigere Terrassen- und Reihenhäuser miteinander kombinierten, durchbrachen sie die beklagte biedere Monotonie der ehemaligen Mustersiedlungen und schufen Platz für grosszügige Aussenräume. Bekannte grosse Überbauungen waren – neben kleineren genossenschaftlichen Siedlungen – das Tscharnergut (1958–1965) in Bern Bümpliz oder die Cité du Lignon (1962–1971) in Vernier bei Genf.
Ein frühes Beispiel solcher Ensembles stellt die Siedlung Obermatten dar, welche die (bürgerliche) Baugenossenschaft Rotach und die (sozialdemokratische) Arbeiter-Siedlungs-Genossenschaft
12 Koll-Schretzenmayr, Martina: Gelungen – misslungen? Die Geschichte der Raumplanung Schweiz, Zürich 2008, S. 43.
13 Vgl. Allenspach, Christoph: Architektur in der Schweiz. Bauen im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1998, S. 82–109; Eisinger, Angelus: Städte bauen. Städtebau und Stadtentwicklung in der Schweiz, 1940–1970, Zürich 2004.
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ASIG zwischen 1958 und 1963 gemeinsam in der Zürcher Vorortsgemeinde Rümlang in unmittelbarer Nähe zum Flughafen Kloten erstellten. Das Projekt gestaltete sich alles andere als einfach. Die federführende Rotach verbrachte Jahre, um auf dem überhitzten Zürcher Bodenmarkt ein geeignetes und bezahlbares Grundstück zu finden, und ohne die hohen Bundessubventionen der 1940erJahre erwies sich die Finanzierung als schwierig. Mit Krediten auf dem regulären Kapitalmarkt und Unterstützungen des Kantons und der Gemeinde Zürich gelang es den Genossenschaften schliesslich, die finanziellen Mittel aufzubringen. Sie erstellten nach den Plänen des Architekturbüros Walter Gachnang & Sohn eine moderne Gartensiedlung mit 292 Wohnungen. Statt der sauber aufgereihten Zeilenbauten der Siedlung Im Herrlig aus den 1940erJahren entstand eine differenziert komponierte Überbauung mit eingeschossigen Atriumhäusern, drei- bis fünfgeschossigen Längswohnblöcken sowie zwei achtgeschossigen Punkthochhäusern. Die modernen, minimalistischen Bauten mit Flachdach wurden versetzt angeordnet und liessen im Zentrum Platz für eine grosse Spielwiese. Die standardisierten Grundrisse der traversierenden Wohnungen wiesen den zeitgemässen Komfort für gestiegene Ansprüche auf. Die Überbauung, für die auch ein Gemeinschaftsraum und ein öffentlicher Kindergarten einplant worden waren, wurde teilweise bereits mit Fertigelementen erstellt. Trotz vor Ort vorfabrizierten Elementen und starker Normierung blieb auf der Baustelle insgesamt aber wie oft in der Schweiz vieles Handwerksarbeit. Günstiges Bauland, Standardisierung und öffentliche Unterstützungen erlaubten Mietpreise, die eklatant unter den Durchschnittsmieten vergleichbarer Objekte in der Stadt Zürich lagen.
Kritik an den Siedlungen der Hochkonjunktur Solche Grossüberbauungen im Grünen gerieten in den 1960er-Jahren in den Sog einer breiten Kritik an der stürmischen Entwicklung der Hochkonjunktur. Trotz rekordhoher Neubautätigkeit konnte das Wohnungsproblem nicht gelöst werden, und die Wohnungsfrage entwickelte sich, wie es der freisinnige Bundesrat Ernst Brugger 1970 ausdrückte, zum «Politikum Nr. 1»14, in dem die Schattenseiten der Hochkonjunktur deutlich zutage traten. Anhaltende Wohnungsnot und steigende Mietkosten, die Spekulation mit Grund und Boden, die Verdrängung angestammter Bevölkerungskreise im Zuge der Neuüberbauungen in den Innenstädten und die ausufernde Siedlungsentwicklung in die Breite auf Kosten des Natur- und Kulturlandes weckte von links bis rechts tiefgreifende Ängste
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14 Vgl. Bundesarchiv BAR, 7295B#2016/90#1183* Protokolle (1958–1975), Eidg. Wohnbaukommission. Protokoll der 31. Plenarsitzung vom 26. und 27. November 1970, S. 5.
Genossenschaftssiedlung Obermatten der Rotach und der ASIG in Rümlang: Im Vordergrund die Atriumhäuser. © Archiv ZHdK, Art Ringger, 1967
und Widerstände. Die Rede von einer «Krise der Stadt» machte länderübergreifend die Runde.
Als Sündenböcke galten vielfach Bauunternehmen, denen Spekulation und Gewinne auf Kosten des Gemeinwohls vorgeworfen wurden. Kumulationspunkt der Kritik am Wohnungsbau im Kapitalismus bildete im Sommer 1972 die Siedlung Sunnebüel des Generalunternehmers und Vorreiters der industriellen Vorfabrikation Ernst Göhner, der im Einzugsgebiet Zürichs auf ehemaligen Landwirtschaftsflächen zahlreiche Grosssiedlungen aus dem Boden stampfte.15 Aus heutiger Sicht erstaunt das Feindbild Göhner. Die Göhner-Siedlungen sind mittlerweile rehabilitiert, und die Mietpreise waren für damalige Verhältnisse günstig. Um 1970 boten sich die serielle Fertigbauweise, die Grösse des Generalunternehmens und das oft harsche Vorgehen jedoch geradezu an als Sinnbild des ungestümen Wachstums mit all seinen negativen Folgeerscheinungen.
Entwicklung nach dem Boom
Mit der Ölpreiskrise Mitte der 1970er-Jahre endete das drei Jahrzehnte anhaltende Wirtschaftswunder. Die Wirtschaftskrise markierte auch den Schlusspunkt des präzedenzlosen Wohnbaubooms. Durch die Krise und nicht zuletzt aufgrund des Exports der Arbeitslosigkeit im Rahmen der umstrittenen Ausländerpolitik des Bundes standen nun nach einer langen Phase prekären Wohnungsmangels plötzlich viele Wohnungen leer. Unter den Vorzeichen der einbrechenden Nachfrage und den sich verschlechternden Bedingungen auf dem Kapitalmarkt trübte sich die Baulust der Genossenschaften wie der privaten Entwickler merklich ein. Das noch 1974 verabschiedete Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz (WEG) gab dem wenig Gegensteuer. Das WEG war ein Gesetz der Hochkonjunktur. Die Hilfen waren auf die Grosssiedlungen in den grünen Agglomerationsgürteln zugeschnitten und beruhten auf der Annahme anhaltenden Wirtschaftswachstums. Die Hochphase des Grosssiedlungsbaus und der Glaube an ein grenzenloses Wirtschaftswachstum erhielten Risse.
Die Kritik an der modernen Stadt überdauerte die Krise der 1970er-Jahre. «Stadtkritik statt Zukunftseuphorie, Bewahrung und Freiräume statt Modernisierung und radikaler Umbau» lautete das Credo breiter Kreise von der Heimatschutzbewegung über die Architekturzirkel bis hin zur alternativen Linken. Auch wenn Bewohnerinnen und Bewohner, wie Umfragen immer wieder zeigten, selbst gern in den Siedlungen wohnten, kippte das Image von Grosssiedlungen und Wohnhochhäusern deutlich ins Negative, während der Altbestand aus dem 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert
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15 Vgl. Furter, Fabian; Schoeck-Ritschard, Patrick: Göhner Wohnen. Wachstumseuphorie und Plattenbau, Baden 2013.
diskursiv stark aufgewertet und als Gegenthese zu den angeblich seelenlosen seriellen Neubauten stilisiert wurde.16
Die Genossenschaften bekundeten Mühe, sich den veränderten Kontexten anzupassen. Nicht nur die Krise, sondern auch der Umgang mit den Trends zu mehr Einzel- und jungen Paarhaushalten sowie Wohngemeinschaften forderte sie heraus. Selbst noch oft in traditionellen Idealen der Kernfamilie (mit dem männlichen Familienoberhaupt und dem Schweizer Pass) verhangen, fiel es ihnen schwer, sich von althergebrachten Vorstellungen zu lösen. Meistens beschränkten sie sich darauf, ihren Bestand zu erhalten und zu verwalten. Neu gegründete Genossenschaften aus Kreisen der jungen akademischen Mittelschicht erstellten tendenziell kleinere Überbauungen, wo sich das nachbarschaftliche Wohnen besser verwirklichen liess. Ein stark beachtetes Beispiel war die 1981 fertiggestellte Reihenhaussiedlung Zelgliacker der Gemeinnützigen Mietwohn AG Gemiwo in Windisch.
In den 1980er- und 1990er-Jahren begannen sich erste traditionelle Wohnbaugenossenschaften für die neuen Wohnbedürfnisse zu öffnen, und eine neue Generation von Genossenschafterinnen und Genossenschaftern trat mit neuem Selbstverständnis und Anspruch an. In der Folge gewann der gemeinnützige Wohnungsbau zusehends an Schwung und erlebte im neuen Jahrtausend eine merkliche Wiederbelebung. Gemeinnützige Genossenschaften bauten insbesondere in urbanen Zentren wiederum in grösseren Massstäben, und die neue Generation experimentierte mit alternativen Wohnformen, verschrieb sich städtebaulichen, sozialen, ökologischen Zielen und erprobte neue Formen partizipativer Mitbestimmung.
Die Wiedererstarkung der Genossenschaften fiel in eine Zeit der Wiederentdeckung städtischer Qualitäten. Nach einer Phase der Suburbanisierung und dem Exodus aus den urbanen Zentren gewannen die Städte wieder an Attraktivität, und die Bevölkerungszahlen stiegen an. Den Genossenschaften kamen dabei unter dem Eindruck angespannter städtischer Mietmärkte und der Gentrifizierung zwei Entwicklungen zugute. Einerseits veränderte die Deindustrialisierung die Stadtstrukturen, und mit frei werdenden Flächen boten sich neue städtebauliche Möglichkeiten. Als Reaktion darauf, dass die direkten Bundesunterstützungen Anfang der 2000er-Jahre weitgehend eingestellt wurden, nahmen anderseits im Zuge der politisch aufgeladenen Stimmung die
16 Vgl. Althaus, Eveline: Sozialraum Hochhaus, Bielefeld 2018; S. 111–116; Schnell, Dieter (Hg.): Die Architekturkrise der 1970er-Jahre, Baden 2013; Zberg, Nadine: Von der Gartenstadt in den Stadtdschungel. Stadtkritik am Anfang und am Ende der städtebaulichen Moderne, in: Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 87–104.
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Siedlung Zelgliacker der Gemiwo in Windisch: Die kleine Siedlung besteht aus zwölf Wohneinheiten in Reihen und zentralem, verkehrsfreiem Gemeinschaftsraum. © Zeitschrift «Wohnen», Ausgabe Dezember 2021, Thomas Bürgisser, Metron
Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich: Hof und Dachterrassen der Überbauung bilden einen begrünten Park, der grosszügige Begegnungszonen bietet. © Genossenschaft Kalkbreite, Volker Schopp
Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite in Zürich: Gesamtansicht der grossen Strassenrandsiedlung mit vom Verkehrslärm abgeschirmtem Innenhof. © Genossenschaft Kalkbreite, Martin Stollenwerk
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öffentlichen Unterstützungen in verschiedenen Städten, insbesondere in solchen mit linken Mehrheiten, wieder zu. Seit den 2010er-Jahren sind zahlreiche lokale Initiativen eingereicht worden, die dem genossenschaftlichen Wohnungsbau Rückenwind gegeben haben.17
Ein jüngeres Beispiel der neuen Generation von Genossenschaften stellt die viel beachtete, 2007 gegründete Genossenschaft Kalkbreite dar, die in Zürich an der Schnittstelle der Stadtkreise 3 und 4 bis 2014 eine gemischt genutzte Überbauung realisierte. Die Siedlung steht über der Tramabstellanlage der Verkehrsbetriebe Zürich, auf deren Dach ein grosszügiger Innenhof konzipiert wurde, um den in einem mehrgeschossigen Geviert Wohnungen, Gewerberäume und Kultureinrichtungen untergebracht sind. Die Kalkbreite zeugt vom Anliegen, nicht nur günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sondern neue Formen des Zusammenlebens, eine Durchmischung und soziale Interaktionen zu fördern sowie nachhaltige städtebauliche und ökologische Lösungen zu erproben.
Auch innovative privatwirtschaftliche Unternehmen haben jüngst den genossenschaftlichen Wohnungsbau als Geschäftsfeld vorangetrieben, wie das Beispiel der 2021 bezogenen und von der Halter AG entwickelten Siedlung Huebergass der Entwicklergenossenschaft «Wir sind Stadtgarten» in Bern zeigt. Die 103 mehrheitlich auf Familien ausgerichteten Wohnungen werden nach dem Prinzip der Kostenmiete vergeben, die Gemeinschafts- und Aussenräume sind auf eine soziale Interaktion ausgerichtet, und die Bewohnerinnen und Bewohner verfügen über partizipative Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Die politischen Vorstösse und die Bauprojekte zeigen den Aufwind, den der genossenschaftliche Wohnungsbau jüngst erhalten hat. Zwar haben Genossenschaften nach wie vor gegen Widerstände und Vorurteile zu kämpfen, und die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen», gemäss welcher der Anteil des gemeinnützigen Wohnungsbaus im Neubau auf über zehn Prozent hätte angehoben werden sollen, wurde im Februar 2020 von den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern abgelehnt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass der dritte Weg des Wohnungsbaus wiederum als eine dem schweizerischen System bestens angepasste Form des preisgünstigen Wohnungsbaus an Strahlkraft gewinnt. Innovative Genossenschaften erproben städtebauliche Lösungen und weisen den Weg zur kostgünstigen und nachhaltigen Versorgung mit Wohnraum. Sie bieten «Mehrwerte, von denen nicht nur die Bewohner-
17 Vgl. Balmer, Ivo; Gerber, Jean-David: Why are housing cooperatives successful? Insights from Swiss affordable housing policy, in: Housing Studies 33 (2), 2017; Cuennet, Stéphane; Favarger, Philippe; Thalmann, Philippe: La politique du logement, Lausanne 2002; Koch, Philippe: The role of housing cooperatives in Switzerland; Working Paper ZHAW, Winterthur 2021.
Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite, Zürich: Ansicht von der Badenerstrasse aus. © Genossenschaft Kalkbreite, Volker Schopp
Genossenschaftssiedlung Huebergass in Bern: Holzfassade und begrünte Aussenflächen. © Halter AG, Damian Poffet
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schaft, sondern die ganze Gesellschaft profitiert», wie es Bundesrat Guy Parmelin (SVP) anlässlich des Hundertjahrjubiläums des Dachverbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz 2019 ausgedrückt hat.18
18 Wohnen Extra. Die Mieterzeitschrift, April 2019, S. 5.
Florian Müller (37), Dr. phil., ist Wirtschaftshistoriker und forscht zur Entwicklung des Wohnungsmarktes und der Wohnungspolitik aus historischer Perspektive. Er ist Co-Leiter eines Forschungsprojekts an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich und Wissenschaftlicher Assistent an der Fernuni Schweiz. Der vorliegende Essay stützt sich in weiten Teilen auf Ergebnisse seiner Dissertation zum Wohnungsbau und zur Wohnungspolitik in der Schweiz, die hier in ausgewählten Ausschnitten und in gekürzter Form für ein interessiertes Publikum aufbereitet ist.
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Genossenschaftssiedlung Huebergass der Entwicklergenossenschaft «Wir sind Stadtgarten» in Bern: Blick in die Siedlung mit einer verkehrsfreien Begegnungsstrasse als Mittelpunkt der Anlage. © Halter AG, Damian Poffet
DER WOHLSTAND FRISST SEINE KINDER
Die fehlende Verdichtung und überteuertes Bauland sind nur ein Teil des Problems. Der Markt der Schweizer Wohnimmobilien krankt auch daran, dass durch die Individualisierung und die ungebremst hohe Zuwanderung immer mehr Wohnraum nachgefragt wird. Die Verknappung hat verheerende Auswirkungen: Arme Haushalte müssen einen wachsenden Teil ihres Einkommens zum Wohnen ausgeben. Eine Entwicklung, die durch die jahrzehntelange Tiefzinspolitik der Schweizer Nationalbank noch befeuert wurde, die die Eigentumsquote hochschraubte und einen Umverteilungsprozess von Arm zu Reich in Gang setzte.
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Text und Grafiken: Martin Neff
Gesellschaft & Umwelt
Die Schweiz ist eine Insel des Wohlstands. In sämtlichen internationalen Rankings, die wirtschaftlich relevante Indikatoren bemessen, schwingt Helvetia obenauf. Meist liegt sie auf einem Podestplatz und nicht selten auf Platz eins. Namentlich die politische Stabilität, ein schlanker Staat, die hervorragende Infrastruktur und ein gut funktionierendes Bildungssystem sowie effiziente öffentliche Dienstleistungen sind Garanten für eine ausserordentlich hohe Wettbewerbsfähigkeit. Dem Unternehmenssektor wird zudem eine besondere Effizienz und Produktivität attestiert. Demzufolge ist hierzulande das Pro-KopfEinkommen eines der höchsten der Welt. Alles in Butter, möchte man konstatieren. Die Schweiz ist schliesslich auch seit nunmehr bald zwei Dekaden – mit ganz wenigen Unterbrechungen – ein klassisches Zuwanderungsland. Sie hat beispielsweise die USA, die diesem Ruf jahrzehntelang gerecht wurden, gemessen an der Nettomigration pro Einwohner längst überflügelt. Eine überdurchschnittliche Zuwanderung ist ein sehr zuverlässiges Indiz für eine hohe Standortqualität und prosperierenden Wohlstand.
Die Schweiz droht jüngst jedoch zum Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Denn seit geraumer Zeit kommt es infolge der überdurchschnittlichen Bevölkerungszunahme vielerorts zu Engpässen. Namentlich die Verkehrsinfrastruktur ist überlastet und der Wohnungsmarkt zusehends am Anschlag. Qualitativ ist das Angebot zwar hochstehend, quantitativ ist es aber alles andere als ausreichend. Wer in der Rush-Hour auf Schiene oder Strasse unterwegs ist, kann ein Lied davon singen. Ebenso, wer in einem der pulsierenden Wirtschaftszentren eine Wohnung sucht. Das braucht Zeit und Geduld, und meistens müssen Wohnungssuchende Kompromisse eingehen, anstatt in die ersehnte Traumwohnung einziehen zu können. Ein Teil dieser Misere hat strukturelle Ursachen, ein anderer ist hausgemacht. Das heutige Dilemma hat seinen Ursprung im bald dreissig Jahre andauernden Wohneigentumsboom und wurde durch die Finanzkrise 2008 noch verschärft. Um zu verstehen, wie es dazu kam, dreht man das Rad der Zeit am besten ein paar Dekaden zurück.
Auf den Spuren der Geschichte
Der Immobiliencrash der frühen 1990er-Jahre erstickte eine ungeheure spekulative Blase. Auf die jeweiligen Verhältnisse hochgerechnet war das damalige eidgenössische Desaster
mit der Subprime-Krise in den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichbar. Der Wertverlust hierzulande belief sich auf etwa 60 Milliarden Schweizer Franken, fast einen Drittel des damaligen Bruttoinlandprodukts. Die Bewältigung der Krise nahm Jahre in Anspruch. Der Mythos des stabilen Wirtschaftsstandorts Schweiz geriet ins Wanken. Gleichzeitig war dies aber auch ein wirtschaftlicher Neuanfang und die Geburtsstunde des Schweizer Wohneigentumsbooms. Da infolge des Crashs Land- und Immobilienpreise harsche Korrekturen erfuhren, die Baukartelle zerfielen, demzufolge die Baukosten in den Keller rutschten und ab 1994 die Zinsen deutlich sanken, wurde das Wohnen in den eigenen vier Wänden erstmals im damaligen Land der Mieter auch für breite Bevölkerungskreise erschwinglich. Gleichzeitig wurde in dieser Phase Stockwerkeigentum schweizweit salonfähig –zuvor waren Eigentümer faktisch ausschliesslich Haus-, aber nicht Wohnungsbesitzer – und eine extrem expansive Wohnbauförderungspolitik 1994/95 wirkte wie ein zündender Funken. Sodann sorgten nicht mehr klassische Rezessionen, sondern eine Anhäufung von Finanzkrisen für wirtschaftliche Verwerfungen. Das Dotcom-Debakel im Jahr 2000, die SubprimeKrise in den USA 2007/08 sowie die Eurokrise 2011 bis 2013 hatten jeweils denselben Ausgang. Die Zinsen fielen und fielen – in der Schweiz, dem Hort der Stabilität in allen diesen Wirren, am stärksten und schliesslich sogar tief in den negativen Bereich. Dass diese Tiefzinspolitik auch eine Reihe unerwünschter Nebenwirkungen erzeugte, nahm die Schweizerische Nationalbank in Kauf. Und so kam ein Umverteilungsprozess historischen Ausmasses in Gang, der auch heute noch anhält, trotz des jüngst moderaten Zinsanstiegs; ein Umverteilungsprozess von Arm zu Reich, sprich von Sparern zu Anlegern oder Schuldnern und für den Immobilienmarkt von Mietern zu Eigentümern.
Hätte das Mietrecht der Schweiz, wie eigentlich vorgesehen, funktioniert, hätten nicht nur die Kosten für Eigentümer, sondern auch für Mieter sinken müssen. Was nicht geschah. Ob das nun daran liegt, dass nur wenige Mieter die ihnen infolge gesunkener Referenzzinssätze zustehenden Mietsenkungen eingefordert oder Eigentümer diese den Mietern nicht weitergereicht haben, tut im Grunde nichts zur Sache. Fakt ist aber, dass sich eine riesige Schere zwischen der finanziellen Belastung von Eigentümern und derjenigen von Mietern
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10 000 20 000 30 000 40 000 50 000 60 000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022* 0 5 15 25 35 1998 2000/02 2003/05 2006/08 2009/11 2012/14 2015/17 10 000 30 000 50 000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022* 0 5 15 25 35 1998 2000/02 2003/05 2006/08 2009/11 2012/14 2015/17 118 Gesellschaft & Umwelt Neue Haushalte in der Schweiz entstehen durch Individualisierung, Geburtenüberschuss und ein Mehr an Zuwanderung. Quelle: BFS, Raiffeisen Economic Research Anteil der Wohnkosten inklusive Nebenkosten am Bruttohaushaltseinkommen nach Einkommensklassen (Quintile). Quelle: BFS (Haushaltsbudgeterhebung)
Geburtenüberschuss
Wanderungssaldo
Schätzung 1 Einkommensquintil
Einkommensquintil
Einkommensquintil
Einkommensquintil
Einkommensquintil Wohnkosten in Prozent Zahl der neu gegründeten Haushalte
Geburtenüberschuss
Wanderungssaldo
Schätzung
Einkommensquintil 2 Einkommensquintil
Einkommensquintil 4 Einkommensquintil 5 Einkommensquintil Wohnkosten in Prozent Zahl der neu gegründeten Haushalte
durch Haushaltsverkleinerungen (Individualisierung) durch
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aufgetan hat. Diese Verzerrungen wirken bis heute nach und dürften irreversibel bleiben. Denn es ist eher unwahrscheinlich, dass steigende Zinsen ebenso zaghaft überwälzt werden wie sinkende. Hinzu kommt, dass seit geraumer Zeit die Nachfrage nach Wohnraum das Angebot übersteigt. Die Attraktivität des Standorts Schweiz und die geschilderten Entwicklungen der Vergangenheit haben den Wohnungsmarkt überstrapaziert. Wir befinden uns daher im Jahr 2023 in einer Phase einer gleich dreifachen, strukturell bedingten Mangellage.
Die Situation ist angespannt
Erstens: Wir bauen insgesamt zu wenig. Zweitens: Wir bauen am falschen Ort. Drittens: Wir bauen für die Klasse und nicht für die Masse.
Zu Punkt eins ist festzuhalten, dass sich der Nachfrageüberhang aus zwei Gründen akzentuiert. Zum einen wegen der ungebremsten, hohen Zuwanderung, zum anderen wegen der gehobenen Ansprüche. Die Haushalte werden immer kleiner (Stichwort Individualisierung), die beanspruchte Fläche pro Kopf nimmt immer noch leicht zu (siehe Grafik S. 118 oben). Zu Punkt zwei ist zu spezifizieren, dass die Bautätigkeit an den gefragten Standorten –den pulsierenden Wirtschaftszentren im Mittelland – zu dünn ausfällt, während an peripheren Lagen Wohnungen leer stehen, die niemand will oder braucht. Angesichts knapper Baulandreserven und harzig funktionierender Verdichtung ist das Bauland dermassen teuer geworden, dass es beinahe unmöglich ist, günstigen Wohnraum bereitzustellen. Folglich konzentrieren sich die Investoren auf höherwertigen Wohnraum: Eigenheime oder hochpreisige Mietwohnungen für die solvente Klientel. Obwohl es vor allem an günstigem Wohnraum fehlt (Punkt drei).
Eine Insel des Wohlstands
Ist eine Lösung in Sicht? Wohl kaum, schon gar nicht in nützlicher Frist! Solange die Grenzen des Wachstums nicht in den Fokus des gesellschaftlichen und politischen Dialogs rücken, und auch dem grundsätzlich liberalen Verständnis der Schweiz widerstrebende Themen wie Migrationsbeschränkungen, sozialer Wohnungsbau oder gar Wohnraumkontingentierung nicht auf die Agenda gehoben werden, kann der Mangel vorläufig nur angebotsseitig gelöst werden. Nur: Allein von einem Kochbuch voller schöner Bilder wird bekanntlich niemand satt. Verdichtung ist zweifellos
das Rezept der Zukunft, aber das Gelingen scheitert an den nötigen Ingredienzen.
Dasselbe gilt für die Bereitstellung günstigen Wohnraums. Akute Engpassfaktoren dieses Dilemmas sind der Mangel an Bauland, nicht mehr zeitgemässe oder gar noch verschärfte Bauvorschriften und der Trend der Zeit, gegen alles und jeden erst mal Einsprache zu erheben, egal, ob man betroffen ist oder nicht. Letzteres ist eindeutig ein Wohlstandssyndrom, womit wir wieder am Anfang dieser Ausführungen angelangt wären.
Was auf der Insel des Wohlstands nämlich gern untergeht, ist die Frage nach dessen Verteilung und dessen Umverteilung über die Zeit. Da sieht die Bilanz der Schweiz nicht so rosig aus. Vor allem für die 20 Prozent der einkommensschwächsten Haushalte (erstes Einkommensquintil) ist die finanzielle Belastung des Wohnens auf über einen Drittel des Einkommens gestiegen, währenddessen die 20 Prozent der einkommensstärksten Haushalte (fünftes Einkommensquintil) für Wohnen lediglich 10 Prozent des Einkommens benötigen. Seit 2012 müssen gar alle Haushalte ausser den 20 Prozent Topverdienern prozentual mehr fürs Wohnen ausgeben (siehe Grafik S. 118 unten).
Es steht also ausser Frage: Wir brauchen nicht nur mehr Wohnraum, sondern vor allem mehr erschwinglichen Wohnraum. Und dies dort, wo heute schon das Bauland knapp und die zögerlich-harzige Verdichtung nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist.
Martin Neff (62) ist seit April 2013 Chefökonom der Raiffeisen-Gruppe. Er war nach Abschluss seines Studiums der Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz zunächst als Berater bei der S & Z GmbH in Allensbach, Deutschland, tätig, bevor er 1988 zum Schweizerischen Baumeisterverband (SBV) in Zürich wechselte. Dort wirkte er als Bereichsleiter für Konjunkturbeobachtung. Ende 1992 trat er in die Economic Research der Credit Suisse ein, baute dort Schweiz Research auf und leitete diese. 2008 wurde er zum Leiter der gesamten Economic Research und Chefökonomen der CS ernannt. Martin Neff ist neben seiner breiten ökonomischen Expertise ein ausgewiesener Kenner der Schweizer Immobilienmärkte. Seine Analysen waren und sind ein wichtiger Bestandteil der Expertise von Credit Suisse und Raiffeisen in wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Themen.
Martin Neff ist zudem als Fachrat und Dozent im Institut für Finanzdienstleistungen (IFZ) in Zug tätig und lehrte an der Donau-Universität in Krems, Österreich, Immobilienökonomie. Seit Mai 2023 ist er Mitglied des Verwaltungsrats der Halter AG. → www.raiffeisen.ch
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«DATENHOHEIT ZU HABEN, IST EINE SCHÖNE VORSTELLUNG»
Martin Strub, Geschäftsführer des Schweizer Immobilienfonds
UBS (CH) Property Fund – Swiss Mixed «Sima», will mit der Digitalisierung einen grossen Schritt vorwärtsmachen bei der nachhaltigen Bewirtschaftung seines riesigen Immobilienportfolios.
Welche Herausforderungen sich dabei stellen und wie er mit ausgewählten Partnern diesem Ziel näherkommt, erläutert der Fondsmanager auf der Baustelle des Projekts Grimselhof in Zürich Altstetten.
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Text: David Strohm
Fotos: Lukas Wassmann
Zürich Altstetten an einem trüben Tag Ende Januar. Martin Strub ist von Basel angereist, wo er am Hauptsitz der UBS sein Büro hat. Von hier aus verwaltet der Fondsmanager ein beeindruckendes Portolio mit Liegenschaften in der ganzen Schweiz. Der Grimselhof ist eine der Baustellen, die sich gerade in der Fertigstellung befinden. Grund für einen Ortsbesuch. Komplex war dabei.
Komplex: Was macht den Immobilienfonds UBS «Sima» aus?
Martin Strub: UBS «Sima» ist einer der ältesten Schweizer Immobilienfonds, gegründet 1950 und seither historisch gewachsen. Es ist die sehr breite Diversifizierung, geografisch und über alle Nutzungsarten hinweg, die ihn auszeichnet. Auf Wohnen entfällt gut die Hälfte. Unser regionaler Fokus liegt auf den wichtigen Zentren der Schweiz und deren Agglomerationen: Zürich, Bern, Basel, Genf und Lausanne. Die Grösse des Fonds mit rund 360 Liegenschaften und einem Anlagewert von über 11 Milliarden Franken erlaubt uns, auch komplexe Vorhaben anzugehen und umzusetzen. Entlang der ESG-Themen Ökologie, Soziales und Governance sehen wir uns in vielerlei Hinsicht in der Vorreiterrolle. Für den Erfolg verantwortlich sind in erster Linie unser Team, die Bank im Hintergrund und ein Netzwerk von verlässlichen Partnern.
Für die Bewirtschaftung eines so grossen Portfolios brauchen Sie professionelle Dienstleister. Welche Aufgaben sind besonders wichtig?
Für den Betrieb sind das in erster Linie die Liegenschaftsverwaltungen. Mieterinnen und Mieter sind unsere Kunden. Mit ihnen wollen wir gute und langfristige Beziehungen eingehen und pflegen. Die Verwaltungen sind als Bindeglied nahe an den Mietern. Einen guten Dienstleister zur Seite zu haben, ist daher der Schlüssel zum Erfolg.
Welche sind aktuell die grössten Herausforderungen im Betrieb der Liegenschaften?
Derzeit befindet sich die ganze Branche im Umbruch. Wir stehen vor einem bedeutenden Digitalisierungsschritt. Dabei wird sich auch das Berufsbild der Bewirtschafter deutlich verändern. Im Idealfall haben sie zukünftig mehr Zeit für die Anliegen der Mieterinnen und Mieter. Klar ist auch: So, wie wir bisher gearbeitet haben, wird es in Zukunft nicht mehr gehen.
Mit Blick auf die Performance einzelner Liegenschaften: Wo verorten Sie die erfolgskritischen Anforderungen an die Betreiber?
Ich denke, es sind zwei Sachen, die wir im Blick halten müssen. Da ist zum einen der Einsatz der Technik, für den es ein gesundes Gleichgewicht braucht. Ein Zuviel an Technik könnte manche überfordern und verursacht unnötige Kosten. Zu wenig wäre aber auch nicht gut wegen der vergebenen Chancen. Zum anderen gilt es, die gesellschaftliche Dimension in Balance zu behalten. Die Anforderungen an uns steigen stetig: beim Neubau, bei der Modernisierung des Bestands und beim Betrieb. Mein Ziel ist es, die Performance und die Ausschüttungen des Fonds auf hohem Niveau stabil zu halten.
Als Eigentümer müssen Sie auch die Betriebskosten im Griff haben. Welche Rolle spielen dabei digitale Anwendungen?
Die neuen digitalen Werkzeuge ermöglichen uns, viel schneller, oft sogar in Echtzeit an wertvolle Daten zu gelangen. Bis jetzt mussten wir oft lange warten, bis wir die Abrechnungen einsehen konnten. Viele liegen jeweils erst im Folgejahr vor. Mit diesem Problem kämpfen im Übrigen alle in unserer Branche. Mit den Resultaten aus den neuen Anwendungen können wir ohne Verzug die nötigen Schlüsse ziehen, umgehend Korrekturen vornehmen, Massnahmen ergreifen oder Projekte starten.
Die Fondsleitung hat als eines ihrer Ziele die vollständige Datenabdeckung für alle Liegenschaften
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Operations & Life Cycle – Interview
bis 2030 definiert. Wie weit sind Sie da bereits?
Wir sind mit Hochdruck daran, dieses Ziel zu erreichen, unter Umständen sogar vor diesem Datum. Dafür braucht es engagierte Leute und innovative Ansätze. Ich hoffe, wir können schon in diesem Jahr einen grossen Schritt vorwärtsmachen. Dabei ist es wichtig, dass die Realisierung mit vertretbarem Aufwand erfolgt. Die Umsetzung ist anspruchsvoll und wird nicht bei allen Liegenschaften gleich gut möglich sein.
Wie zufrieden sind Sie mit der Qualität der bestehenden Immobiliendaten?
Ich bin eher ungeduldig und nie ganz zufrieden. Der Weg zu qualitativ sehr guten und vor allem aktuellen Daten ist lang und beschwerlich. Wir sind aber schon relativ weit. Uns liegen fast alle Angaben zu fast allen Liegenschaften vor, wenn auch in sehr unterschiedlicher Qualität. Dass die Daten zur Verfügung
stehen, ist das eine. Das andere ist, damit zu arbeiten. Erst durch die Interpretation lassen sich konkrete Projekte ableiten, etwa Sanierungsmassnahmen. Einfach irgendwo eine Heizung zu ersetzen, das ist mir zu wenig. Mein Ziel ist es, dass wir das ganzheitlich und intelligent angehen.
Welchen Mehrwert bringt eine Datentransparenz in Echtzeit?
Wir müssen ein Gefühl für die richtige Menge an Daten bekommen. Was ist wichtig? Was brauchen wir wirklich? Mit grossen Datenmengen zu arbeiten, kann einen rasch überfordern. Und manchmal enden diese auf dem sprichwörtlichen Datenfriedhof. Es braucht also Augenmass. Im Kern sind es oft nur vier oder fünf Angaben, die uns effektiv dienen.
Könnte der Asset-Manager in naher Zukunft zum einem Digital Operator werden?
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Wir Asset-Manager haben schon jetzt viele Aufgaben und wenig Zeit. Die Datenhoheit zu haben, ist eine schöne Vorstellung. Leider bräuchte es dafür viel mehr Personal. Wir müssen deshalb delegieren, wo es geht, ohne die gemeinsame Zielsetzung aus den Augen zu verlieren. Aber wer weiss, auch unser Berufsbild verändert sich.
Welche Chancen sehen Sie für neu gedachte Ansätze im Betrieb, die sich mit digitalen Werkzeugen realisieren lassen?
Es ist erfrischend, zu sehen, was derzeit alles entwickelt und ausprobiert wird. Ich werde mit Vorschlägen und Ideen aus allen möglichen Bereichen regelrecht bombardiert. Ich muss für die Beurteilung genau hinschauen und fragen: «Was bringt uns das?» Oft sind es insulare Lösungen, die sich am Ende als halb so romantisch herausstellen, wie zu Beginn gedacht. Wir brauchen ganzheitliche Lösungen, die möglichst viel auf einmal abdecken.
Wo liegt die Herausforderung bei der Evaluation und beim Einsatz von solchen neuen Instrumenten?
Mir hilft meine Erfahrung aus allen möglichen Bereichen. Wir evaluieren im Dialog. Ich versuche stets, ehrlich zu sein. Das schätzen auch die, die bei uns ein neues Produkt vorstellen. Am Ende bin ich verantwortlich und muss entscheiden – mit dem Risiko, auch mal danebenzuliegen.
Lassen Sie uns dies am Grimselhof in Zürich Altstetten, einem Ihrer Pilotprojekte bei der Digitalisierung, genauer anschauen. Welche Ziele verfolgen Sie hier?
Für uns ist das Projekt tatsächlich so etwas wie ein Versuchsballon für eine konsistente digitale Bewirtschaftung. Wir wollen Erfahrungen sammeln. Mir gefällt der Ansatz, die ganze Kette an Aufgaben digital abzubilden und dabei nicht einfach eine Menge zusätzlicher Dokumente zu produzieren. Am 1. April
2023 werden die Mieter einziehen, dann können wir sehen, wie gut es zum Beispiel beim sogenannten Onboarding funktioniert hat.
Sie arbeiten beim Grimselhof mit dem Immobiliendienstleister Tend AG zusammen. Wie kam es dazu?
Wir schreiben alle Projekte anbieterneutral aus und schauen, wer und was am besten passt. Nach diversen Kontakten und Reflexionen mit den relevanten Marktteilnehmern haben wir uns schliesslich entschieden, das Pilotprojekt Grimselhof mit Tend, einer Schwesterunternehmung der Halter AG, zu starten. Ungefähr vor zwei Jahren haben wir uns zum ersten Mal zusammengesetzt und klar einen Mehrwert identifiziert. Wie wir sind die Verantwortlichen von Tend sehr unternehmerisch unterwegs. Ihre Innovationskraft ist sichtbar, und die Zusammenarbeit macht Freude.
Wo stehen Sie heute in Bezug auf die Digitalisierung?
Wir gehen Schritt für Schritt voran. Bei den klassischen Verwaltungstätigkeiten sind die Anwendungen schon ziemlich ausgereift. Als Nächstes kommen die Schnittstellen zu weiteren Akteuren hinzu: Handwerker, die offerieren, Gerätehersteller, mit denen wir Garantiefälle zu lösen haben, oder Versicherer, die eine Police ausstellen. Man darf dabei aber nicht vergessen: IT-Projekte sind komplex und werden oft unterschätzt.
Und was haben Sie noch auf Ihrer Wunschliste?
Wir möchten nicht nur Trittbrettfahrer sein, sondern die Zukunft aktiv mitgestalten. Die Fokusthemen richten sich meiner Meinung nach auf fünf Schwerpunkte aus: Nebst der Digitalisierung und der Visualisierung ist es natürlich die Nachhaltigkeit, dann die Weiterentwicklung in Bezug auf die Industrialisierung – insbesondere die durchgängige Bearbeitung mit BIM –, ebenfalls aber auch die Entwicklung von seriellem Bauen, das ermöglicht, kostengünstiger zu produzieren und Bauvorhaben zu beschleunigen. Die Vorteile der Elementbauweise mit ihren standardisierten Einzelteilen lassen sich auch auf
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Software übertragen. Der letzte Punkt ist die Kollaboration, die die verschiedenen Akteure effizient gestalten müssen, um gemeinsam Zielsetzungen zu erreichen und nicht, wie leider oft, zu blockieren.
Wo liegen die Herausforderungen im Bestand?
Oft sind bei den älteren Liegenschaften die technischen Voraussetzungen für den digitalen Wandel nicht gegeben. Ich nenne Gebäude aus dieser Kategorie die «unauffälligen Häuser». Hier muss man schauen, ob sich eine neue Technik mit vertretbarem Aufwand nicht doch realisieren lässt. Manchmal gibt es auch Widerstand von aussen, etwa, wenn das Elektrizitätswerk noch nicht so weit ist, um mit smarten Geräten zu arbeiten.
Kommen wir zu den wichtigen Themen
Nachhaltigkeit, CO₂-Reduktion und Umweltschutz. Die Fondsleitung hat
vor Kurzem ambitionierte Ziele festgelegt. Was gab den Anstoss dazu?
Die Themen beschäftigen uns schon seit Jahren, haben aber zuletzt eindeutig an Bedeutung gewonnen. Die gesellschaftliche Akzeptanz für Massnahmen ist da. Mich freut auch, dass die UBS die sogenannten ESG-Kriterien höher gewichtet. Das gibt uns Rückendeckung für den Immobilienbereich. Den Auftrag haben wir aber auch von unseren Anlegern, die darauf immer mehr Wert legen.
Welche konkreten Ziele gibt es für Ihr grosses Portfolio?
Die Ziele, die wir öffentlich publizieren, gelten in Form einer Matrix für das ganze Portfolio. Bis 2030 wollen wir die CO₂-Emissionen um 50 Prozent gegenüber dem Stand von 2019 reduzieren und keine fossilen Brennstoffe mehr für den Betrieb einsetzen. Bis 2050 soll dann Klimaneutralität mit Netto-null erreicht sein. Den Absenkpfad dafür, den wir unbedingt einhalten wollen, konkretisieren wir anhand
einer Liste mit Massnahmen. Mir ist wichtig, dass wir machen und nicht nur darüber reden. Das bedingt, das anspruchsvolle Ziel im Fokus zu behalten und uns nicht in den Details zu verlieren.
Das kostet. Woher kommen die Mittel dafür?
Nachhaltigkeit muss uns etwas wert sein und darf auch etwas kosten. Wir versuchen, die notwendigen Investitionen zu etappieren und die Mittel dafür in der Mehrjahresplanung und in den Budgets einzuplanen. Die Zielmatrix, von der ich sprach, ist komplex.
Sowohl bei Bestandsliegenschaften als auch beim Erwerb einer neuen Liegenschaft nehmen Sie eine interne Nachhaltigkeitsbewertung vor.
Welche Kriterien kommen dort zur Anwendung?
Im Neubau helfen die bekannten Labels. Ich bin zwar kein grosser Fan davon, aber sie sind nun einmal Standard. Bei Zukäufen von bestehenden Gebäuden nehmen wir die Prüfung anhand von Checklisten vor. Man sieht meist sofort, wo was nötig ist.
Welchen weiteren Herausforderungen werden Sie sich in Zukunft stellen müssen?
Ein Aspekt, den wir laufend im Blick haben, ist das Regulierungsumfeld. Hier gilt es, immer komplexere Vorgaben zu berücksichtigen. Uns beschäftigt aber auch der gesellschaftliche Diskurs, etwa zur Frage des bezahlbaren Wohnens oder zu den Vorurteilen gegenüber Immobilieninvestoren. Wir wollen verantwortungsbewusst handeln und uns der Diskussion stellen.
Letzte Frage: Wo sehen Sie UBS «Sima» in fünf Jahren?
In gewisser Weise repräsentiert UBS «Sima» das Immobilienanlagegeschäft in der Schweiz. Unsere historisch gewachsene Struktur gibt dem Fonds Stabilität. Die Welt dreht sich
weiter, doch ich gehe davon aus, dass wir auch noch in fünf Jahren das Flaggschiff unter den Immobilienfonds der UBS sein werden. Ich hoffe, das können dereinst auch meine Nachfolger sagen, wenn der Fonds hundert Jahre alt wird.
S. 120 – Noch ist die Fassade des Grimselhofs mit Planen abgehängt, doch schon am 1. April 2023 sollen die ersten Wohnungen bezogen werden.
S. 123 – Im Baubüro werden die Pläne geprüft (links). Temporäre Stromversorgung auf der Baustelle (rechts).
S. 124 – Der Fondsmanager besucht seine Baustellen in der ganzen Schweiz gelegentlich auch selbst.
S. 126 – Blick in den Innenhof der Wohnliegenschaft Grimselhof. Hier sollen in naher Zukunft die Bewohner zusammenkommen und Kinder spielen.
S. 127 – Martin Strub auf dem Baugerüst. Auch der Kontakt zu den Arbeitern vor Ort ist ihm wichtig.
Martin Strub (54) ist Managing Director und Fondsmanager des UBS (CH) Property Fund – Swiss Mixed «Sima», eines der ältesten und grössten Immobilienfonds in der Schweiz. Der Fonds hat in den letzten Jahren zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Martin Strub wurde der Bezug zu Immobilien in die Wiege gelegt. Sein Vater war Baumeister, er nahm seinen Sohn schon in jungen Jahren mit auf die Baustelle. In seiner Laufbahn hat er umfangreiche Erfahrungen in der Planung, im Bau und im Immobilienmanagement gesammelt. Bei der UBS ist er seit 2007 tätig. Martin Strub ist Vorstandsmitglied beim Branch Do Tank. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Familie im Kanton Solothurn. → www.ubs.com
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PERFECT MATCH
Text: Bettina Kunzer
Visualisierungen und Screenshots: Tend AG
Ende letzten Jahres wurde der Visualisierungsspezialist Raumgleiter AG mehrheitlich in den Immobiliendienstleister Tend AG integriert. Dies ermöglichte einen neuen, gesamthaft gedachten digitalen Vermarktungsprozess, der langjährige Erfahrung in der Immobilienvermarktung mit den Möglichkeiten neuer interaktiver Instrumente zusammenbringt. So können Abläufe nachhaltig optimiert, Mehrkosten gesenkt und ein einzigartiges Nutzererlebnis bis in die Bewirtschaftung hinein geschaffen werden.
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Operations & Life Cycle
Ein weiterer Schwenk über die voralpine Hochtallandschaft im Kanton Schwyz, und Einsiedeln präsentiert sich unter blauem Himmel, im Hintergrund ruht der Sihlsee. Dann richtet sich der Fokus auf das Wahrzeichen des Ortes, das barocke Benediktinerkloster. Die Kamera zoomt heran, aus dem imposanten Gebäude tritt ein Mönch und nimmt die Zuschauer mit auf seinen Weg durch die Gemeinde. Es folgen schnelle Videoschnitte zu Einkaufs-, Gastronomie- und Freizeitangeboten sowie die Visualisierung eines Areals nahe dem Kloster, auf dem 25 Eigentumswohnungen mit 2,5 bis 5,5 Zimmern entstehen werden. Dem Betrachter wird schnell klar: An diesem idyllischen Ort ticken die Uhren langsamer, sind die Wege kürzer und liegen die schönsten Plätze in der Natur näher als anderswo.
Bereits die Teaser-Website zur Ankündigung des Projekts Einsiedlerhof, auf der das Video zu sehen war, setzte auf emotionale Erlebbarkeit, um das Interesse der potenziellen Käuferschaft zu wecken. Und auch in den folgenden Phasen von der Entscheidungsfindung bis zum Kauf war von der Halter AG als Entwicklerin und Eigentümerin des Areals ein hochwertiges Nutzererlebnis gewünscht.
Halter übergab dem Immobiliendienstleister Tend den gesamten Vermarktungsprozess, bei dem erstmalig das neue, ganzheitliche Vermarktungspaket «Full House» zum Einsatz kam. Es beinhaltet sowohl die Bereitstellung der digitalen Technologien, die Kreation und Umsetzung aller Massnahmen als auch das Know-how des langjährigen Immobilienvermarkters im Projektmanagement und in der Prozessoptimierung. Wohnimmobilien lassen sich so perfekt positionieren und können bis in den digitalen Betrieb hinein begleitet werden.
Alles aus einer Hand – digital und schlank Dass Kunden ihre Immobilie heutzutage vorwiegend online suchen, ist kein Corona-Phänomen, aber entwickelte sich durch die Pandemie nahezu zum Selbstverständnis. Die Digitalisierung wurde auch hier zum Türöffner: Virtuelle Rundgänge, Online-Besichtigungen und digitalisierte Prozesse bis zur Vertragsunterschrift machen die Miete oder den Kauf einer Immobilie fast jederzeit und von jedem Ort aus möglich. Die modernen Technologien stehen schon lange zur Verfügung, das heute übliche Abwicklungsmodell hinkt dem Idealbild einer durchgängig digitalen Vermarktung aber noch hinterher. Es gilt nach wie vor, die Leistungen des Vermarkters mit denen von Agenturen,
Visualisierungsdienstleistern und den benötigten digitalen Services zu koordinieren. Bereits das führt zu grossem Aufwand für Immobilieneigentümer, denn sie sind bei jeder wichtigeren Entscheidung gefragt. Zudem tragen sie das hohe Mehrkostenrisiko, das aufgrund fehlender Standardisierung, veralteter Prozesse und schwer kalkulierbarer Drittkosten entsteht.
Durch die Integration von einem Grossteil der Experten für visuelle Kommunikation des Unternehmens Raumgleiter AG in die Tend AG liegen nun die Kompetenzen, um Immobilien weitestgehend digital zu vermarkten, in einer Hand. «Full House» nennt Tend diesen Vermarktungsprozess und bietet damit ein komplettes und in sich stimmiges Gesamtpaket an. Es beinhaltet den passenden ganzheitlichen Vermarktungsauftritt für ein Projekt und dessen Vollvermarktung zum Bezugstermin. Damit können Auftraggeber in zeitlicher und finanzieller Hinsicht entlastet werden. Ausserdem wird ein einzigartiges und durchgängiges Nutzererlebnis über den gesamten Vermarktungsprozess – und wenn gewünscht auch bis in die Bewirtschaftung und das Offboarding hinein –geschaffen. Dieser ganzheitliche Vermarktungsansatz führt zu einer Stärkung der Mieteroder Käuferbindung.
Der Umfang des digitalen Leistungspakets richtet sich nach den Bedürfnissen des Auftraggebers und den individuellen Projekteigenschaften. Tend übernimmt die phasengerechte Auswahl der Vermarktungsmassnahmen, die für den erfolgreichen Absatz der Objekte nötig sind. Im Zentrum dabei steht eine zielführende Customer-Journey mit intuitiver Navigation, hilfreichen und spannenden Interaktionsmöglichkeiten, aussagekräftigen Visualisierungen und allen relevanten Projektinformationen.
Zeit und Kosten sparen
Die ganzheitliche digitale Vermarktung erstreckt sich von dem Produktbranding, dem Einstieg und der Registrierung über die TeaserWebsite, die Vermarktungswebsite mit Wohnungsnavigator und bei Eigentumswohnungen auch einem Ausstattungskonfigurator bis zum digitalen Mietvertrag oder der Reservierung der Eigentumswohnung. Der Prozess wird von einem in digitaler Vermarktung erfahrenen, individuell aufgestellten Team begleitet, das sich auf das Projektmanagement und den Ausbau der Technologiekompetenz fokussiert. Christoph Stücheli, Senior-Projektleiter Digitale Vermarktung bei Tend, präzisiert es wie folgt:
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Das interaktive 360-Grad-Panoramabild zeigt alle relevanten Orte in der Umgebung der Wohnüberbauung. Selbst die nahe gelegenen Skigebiete sind markiert.
Im Navigator wird ein digitaler Zwilling des Einsiedlerhofs mit farbig markierten Wohneinheiten abgebildet. Der 3D-Scan wurde mit einer Drohne erstellt.
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«Die einzelnen digitalen Instrumente, die in einem Projekt benötigt werden, wären natürlich austauschbar, nicht aber unsere weitestgehend digitalisierte, ganzheitlich prozessbegleitende Dienstleistung, in der wir die Massnahmen orchestrieren. Wir vereinfachen die Prozesse durch deren Standardisierung. So können wir unsere qualitativ hochwertigen Leistungen zu einem attraktiven Preis anbieten.»
Beim Projekt Einsiedlerhof wurde die operative Vermarktung auf Wunsch des Eigentümers von einem im Ort ansässigen, gut vernetzten Dienstleister übernommen, der die Liegenschaft auch für die ersten zwei Jahre verwalten wird. Das digitale Vermarktungspaket und die dazugehörige Prozessbegleitung und Qualitätssicherung erfolgen durch Tend. So kann sich der Frontvermarkter auf die persönliche Kundenbetreuung und die Vertragsabschlüsse fokussieren.
Dass die visuellen Kommunikationsmittel bei Tend als Bestandteil des «Full House»Prozesses inhouse produziert werden, sei ein entscheidender Vorteil, ist Rolf Peruzzo, Projektleiter des Einsiedlerhofs bei Halter Entwicklungen, überzeugt. «Tend senkt mit diesem Konzept das Drittkostenrisiko, das oftmals durch den Einkauf der Fremdleistungen für den Immobilieneigentümer entsteht, entscheidend.» Und er führt weiter aus: «Weil wir die gesamte Vermarktung mit allen anfallenden Drittleistungen aus einer Hand erhalten, reduziert sich die Anzahl der involvierten Projektbeteiligten auf ein Minimum. Ich bin davon überzeugt, dass auch dies zu einer effizienteren Übergabe in den Betrieb führt.»
Wohnungsnavigator und virtuelle Besichtigung als Entscheidungsgrundlage Die Eigentumswohnungen im Einsiedlerhof können seit Ende letzten Jahres über den Navigator auf der Projektwebsite reserviert werden. Das Wohnungsfindungstool stellt nicht nur alle Produktinformationen wie Lage, Preis, Wohnfläche und Grundriss zur Verfügung, sondern bildet auch einen digitalen Zwilling der Liegenschaft ab. So ist nachvollziehbar, wie das Gebäude in die Umgebung eingebettet ist und welche Bereiche während des Tages in der Sonne liegen.
In einer der zwei 360-Grad-Free-PanoTouren durch eine möblierte Wohnung kann der Besucher der Website die Räume virtuell begehen und erleben. Aufkommende Fragen wie
«Hat der Kleiderschrank die richtige Grösse?», «Passt mein Sofa in den Raum?» oder «An welcher Wand kommt mein Bild am besten zur Geltung?» beantwortet ihm auf der Tour ein neuartiges Vermessungstool. «Wir entwickeln unsere digitalen Werkzeuge ständig weiter», erklärt Christoph Stücheli. «Damit möchten wir maximale Transparenz schaffen und eine gute Entscheidungsgrundlage bieten. Je mehr Faktoren miteinbezogen werden können, desto bewusster und schneller kann der Kaufentscheid fallen.» Und er fügt schmunzelnd hinzu: «Natürlich hat das auch einen gewissen FunFaktor. Man spielt mit den Tools und beschäftigt sich dadurch länger mit dem Objekt. Das schafft eine emotionale Bindung und senkt die Hürde zum Kauf. Es trennt aber auch in einer frühen Phase die Spreu vom Weizen. Wer hier seine Möbel nicht untergebracht sieht, springt an dieser Stelle ab. Damit reduzieren wir den Aufwand im Absatzmanagement.»
Wenn aber die Visualisierungen und Produktinformationen zu den Wohnungen im Einsiedlerhof zu überzeugen vermochten, dann kann man die gewünschte Wohnung im Navigator anwählen und reservieren. Nachdem die Frontvermarktung die eingereichten Unterlagen geprüft und eine Auswahl getroffen hat, erfolgt die digitale Kaufzusage zur Unterschrift. Mit der Anzahlung wird die Reservierung rechtskräftig. Im Einsiedlerhof wurden bereits wenige Tage nach dem Vermarktungsstart 17 der 25 Wohnungen auf diesem Weg reserviert.
Hohe Ausführungsqualität und ein einzigartiges Nutzererlebnis dank
Konfigurator
Einen Monat später wurde der Käuferschaft der digitale Wohnungskonfigurator freigeschaltet. Damit lassen sich die vordefinierten hochwertigen und breit gefächerten Optionen für die Bodenbeläge, Küchenfronten, Arbeitsflächen und Elektrogeräte sowie Wand-, Bodenplatten und Armaturen der Nasszellen auswählen. Während eines Beratungsgesprächs mit dem Frontvermarkter stehen zudem Muster zur Verfügung, um die Haptik der Materialien erlebbar zu machen. Der Konfigurator visualisiert, wie die Ausstattungselemente grossflächig erscheinen und welche Zusammenstellung harmonisch wirkt. Auch hier kommt eine technische Neuheit zum Einsatz. Die Muster sind mit sogenannten RFIDs versehen, sodass mithilfe eines Scanners die physischen Muster direkt eingespeist werden können, um die Ausstattung im Konfigurator zu visualisieren.
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Die so erwirkte Verschmelzung von digitaler und realer Welt vermag das Kundenerlebnis weiter zu steigern.
Die Materialwahl wird anschliessend im Kaufvertrag festgeschrieben. So ermöglicht der Konfigurator zu einem frühen Zeitpunkt einen Überblick über die Mehrkosten, die auf den Käufer einer Wohnung zukommen. Die Finanzierung kann in jeder Phase überdacht und gegebenenfalls angepasst werden. Und auch der Auftraggeber profitiert von der frühzeitigen Definition der Ausstattung. Die disruptive Technologie spart die Bereitstellung eines Käuferbetreuers komplett ein, weil die Begleitung durch den Auswahlprozess bereits vor Vertragsabschluss einfach digital durchgeführt wird. Das schafft Kostentransparenz und -sicherheit, exakte Kalkulation und Bestellung sowie letztlich eine hohe Ausführungsqualität.
Bis in den Betrieb digital begleitet «Wir sehen uns nicht mit der Beurkundung des Kaufvertrages aus der Verantwortung entlassen», betont Stücheli. «Zur Sicherstellung von effizienten, durchgängigen Prozessen und einer hohen Kundenzufriedenheit – sowohl seitens des Auftraggebers als auch der Käuferschaft – begleiten wir das Projekt bis in die Verwaltungsphase hinein.»
Dass eine ganzheitlich digitale Vermarktung beste Grundlagen für einen effizienten und nutzerfreundlichen Betrieb bietet, wird an einem weiteren Anwendungsfall deutlich. Die in der Vermarktungsphase gewonnenen Kundendaten können ohne Medienunterbruch einfach in die Betriebsphase überführt werden und stehen dort auch weiterhin für die digitale Kundenbetreuung zur Verfügung.
In einem anderen Projekt, dem Grimselhof, erhalten die Mieter der 111 Wohnungen in Zürich Altstetten die Grimselhof-App, ein Tool zur Kontaktaufnahme mit der Bewirtschaftung, zum Abrufen von News, Informationen und Dokumenten sowie zum Austausch mit der Nachbarschaft (siehe auch «Datenhoheit zu haben, ist eine schöne Vorstellung», S. 120). Hier finden sich zum Beispiel Bedienungsanleitungen, die OTO-Nummer zur Anmeldung des Glasfaseranschlusses oder eine Anwendung zur Buchung des anstehenden Umzugstermins. Das aktuelle Beispiel zeigt, dass die hohe Datendurchgängigkeit, die eine ganzheitliche digitale Vermarktung ermöglicht, auch die Bewirtschaftung und den Mieterwechsel nachhaltig vereinfacht.
Als Tend und Raumgleiter beschlossen, ihr fundiertes Immobilien- und TechnologieKnow-how zusammenzuführen, um diesen neuen Weg der ganzheitlich digitalen Vermarktung gemeinsam zu gehen, konnte man den Eindruck gewinnen, als hätten die beiden Unternehmen wie Spontanverliebte auf Tinder einfach nur nach rechts geswipt – so offensichtlich und naheliegend erscheint die Teilfusion für die Weiterentwicklung der digitalen Immobilienvermarktung. → www.einsiedlerhof-wohnen.ch
Tend AG
Das Immobilienunternehmen Tend bietet ein integriertes Dienstleistungsangebot zur Sicherung der Erträge, zur Senkung der Betriebskosten und zur Reduktion der CO₂-Emissionen in Wohn-, Gewerbe-, Büro- und Spezialliegenschaften. Die Expertise umfasst die digitale Immobilienvermarktung, Betriebsplanung und -optimierung sowie Gebäudetechnikund Energieberatung. In diesen Bereichen hat sich Tend kontinuierlich eine fachliche Exzellenz erarbeitet und dabei die Chancen von zukunftsträchtigen Technologien im Kontext neuer Prozesse erkannt. So sind bei Tend inhouse entwickelte Plattformen als auch gängige digitale Lösungen im Einsatz, mit denen die Prozesse während der Planung, Realisierung und Nutzung von Immobilien massgeblich an Transparenz und Effizienz gewinnen. Die Teilintegration von Raumgleiter in Tend setzt diesen Weg konsequent fort. Mit dem fundierten Know-how als Immobiliendienstleister, in der visuellen Kommunikation und neuen Technologien können nun Gesamtleistungspakete für wertvollere Immobilien geschnürt werden. → www.tend.ch
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Operations & Life Cycle
Der Wohnungskonfigurator bietet der Käuferschaft die Möglichkeit, die gewünsch
ten Ausstattungsmaterialien zu wählen und ihre Wirkung im Raum zu testen.
Die 360-Grad-Free-Pano-Tour ist ein virtuelles Besichtigungstool. Damit können auch Flächen und Distanzen innerhalb eines Raumes einfach gemessen werden.
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BAURECHT, LANDWERT UND ZWEI UNGLEICHE PARTNER
Illustrationen:
Liegenschaften im Baurecht müssten in Zeiten hoher Immobilienpreise und limitierender Tragbarkeitsregeln der Banken eigentlich im Trend liegen. Doch die Realität sieht anders aus. Immer noch haben Investoren Vorbehalte gegen dieses Konstrukt, zum einen, weil die Ermittlung des Landwerts eine hohe Hürde darstellt, zum anderen, weil das Risiko meist zu einseitig beim Baurechtsnehmer liegt. Mit dem Teilareal Attisholz Ost geht die Halter AG dank einem angepassten Baurechtsvertrag und einem austarierten Risk-Reward-Profil nun neue Wege.
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Text: Philipp Schelbert
Dominique Wyss
Operations & Life Cycle
Gerade im aktuellen Marktumfeld könnten durch Mieten statt Kaufen eines Landanteils sowohl der anfängliche Kapitalbedarf als auch die kalkulatorischen Tragbarkeitskosten verringert werden. Das Konstrukt Baurecht hätte also ein Win-win-Potenzial, doch ist es bei vielen Investoren nicht sonderlich beliebt. Die Hauptgründe liegen zum einen in der oft fehlenden Prognostizierbarkeit von Baurechtszins, Heimfall und Heimfallentschädigung, zum anderen besteht eine äusserst einseitige Risk-Profit-Teilung, ganz nach dem Motto: Die Bank, also der Baurechtsgeber, gewinnt immer, und das praktisch risikolos. In einer ökonomisch-rationalen Welt müsste das Risk-Reward-Profil eigentlich dergestalt austariert sein, dass zwar zwei unterschiedliche Investments zugrunde liegen, insbesondere bezüglich Risiko und Ertrag, jedoch ohne determinierte Präferenz.
Die Problematik des Landwerts
Einer der Hauptgründe für die Abneigung gegen eine Liegenschaft im Baurecht dürfte also in der Heimfallentschädigung liegen. In den meisten bekannten Fällen liegt diese beim Verkehrswert des Gebäudes zum Zeitpunkt des Heimfalls – im besten Fall bei 100 Prozent, weit häufiger jedoch nur bei 80 Prozent oder 60 Prozent davon. Damit stellt sich die Frage, wie man den Verkehrswert oder Marktwert eines Gebäudes ohne Land berechnet. Üblicherweise geht man dazu vom Marktwert der Liegenschaft ohne Baurecht aus und zieht davon den Landwert ab. Der Landwert wiederum berechnet sich durch Rückwärtsrechnung eines virtuellen Neubauprojekts, indem von dessen Marktwert die Erstellungskosten und bestenfalls noch ein Entwicklungsgewinn beziehungsweise eine Risikomarge abgezogen werden. Das verbleibende Residuum stellt nach gängiger Lehre und Praxis den Landwert dar.
Angenommen, an einer Strasse stehen sich in der gleichen Bauzone zwei identische Gebäude mit gleichem Baujahr, gleicher Konstruktion und gleichen Baukosten gegenüber. Das Gebäude rechts der Strasse gehört einem sehr engagierten, unternehmerischen Eigentümer. Die Liegenschaft präsentiert sich entsprechend gepflegt und ist gut vermietet.
Auf der linken Seite hingegen herrscht Müssiggang, was sich nicht nur im Erscheinungsbild des Hauses äussert, sondern auch darin, dass hier konstant günstige Mietflächen auf dem Markt sind. Liesse man nun den Marktwert der beiden Liegenschaften schätzen, sähe das
Ergebnis wahrscheinlich so aus: rechts der Strasse 200 Millionen Franken, links der Strasse 150 Millionen Franken. Die Planungsund Baukosten inklusive Baufinanzierung und Entwicklungsgewinn betrugen bei Erstellung für beide Liegenschaften je 150 Millionen Franken. Damit ergibt sich für das rechte Gebäude ein Landwert von 50 Millionen Franken, während die linke Parzelle rechnerisch wertlos ist. Bei einem Baurecht wird der Baurechtsgeber den Erfolg auf der rechten Seite seinem favorablen Grundstück zuschreiben, dank dem der Gebäudebesitzer seinen gewinnbringenden Ertrag erwirtschaftet hat. Auf der linken Seite wird der gleiche Baurechtsgeber wohl kaum seine Wiese als Ursache der Misere ansehen.
Für die Berechnung von Landwerten von Baurechtsliegenschaften nimmt man bisweilen auch den Shortcut, insbesondere bei Interesse an einem tiefen Landwert. Dieser berechnet sich dann auf Basis des Marktwerts der bestehenden Liegenschaft ohne Baurecht unter Abzug der altersentwerteten Baukosten. Jedoch wird so einfach ein prozentualer Anteil des Realwerts des Gebäudes entschädigt, unabhängig von Mietniveau und Performance der Liegenschaft. Die Wertsteigerung ist also einzig und allein dem Land zugeschrieben. Und wenn sich in den nächsten Dekaden die überfällige Produktivitätssteigerung auch in der Bauwirtschaft manifestiert, wird der Landwertanteil dadurch entsprechend noch höher und die Heimfallentschädigung entsprechend geringer sein.
Hier zeigt sich, dass der Baurechtsgeber umso mehr profitiert, je erfolgreicher der Baurechtsnehmer seine Immobilie positioniert und bewirtschaftet. In der Konsequenz wird der Baurechtsnehmer vor allem in den letzten Jahren vor Ablauf und Heimfall des Baurechts keine grossen Anstrengungen mehr unternehmen. Analoges gilt für Baurechtsverträge mit Anpassungen des Landwerts und entsprechend auch des Baurechtszinses während der Laufzeit. Auch hier ist nicht der Baurechtsgeber der Treiber von positiven Entwicklungen, profitiert aber davon, ohne das geringste Risiko zu tragen.
Der Landwert ist also alles andere als klar – und noch weniger dessen rechnerische Ermittlung, die von zahlreichen Annahmen abhängig ist. Ein Gutachterstreit ist somit vorprogrammiert. Böse Zungen sagen, das Beste an einem hundertjährigen Baurecht sei die Tatsache, dass die Unterzeichnenden
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des Baurechtsvertrags dessen Ende nicht mehr miterleben würden.
Insbesondere aus ökonomischer Perspektive kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass das Land per se keinen inneren Wert hat, sondern vielmehr eine Option darstellt, Erträge zu generieren. Aus dieser Sicht wären (Real-)Optionsmodelle eigentlich eine viel bessere Grundlage zur Wertermittlung. Klar ist aber auch, dass bebaubares Land ein begrenztes Gut ist und sich deshalb immer jemand findet, der dafür einen ansehnlichen Preis bezahlt, insbesondere in Zeiten mit viel Geld und wenig Investitionsmöglichkeiten. Für den konsequenten Ansatz tatsächlicher Marktpreise fehlen in den allermeisten Fällen jedoch ein liquider Markt, statistische Signifikanz sowie die nötige Transparenz. Dabei muss man sich bewusst sein, dass die hohen Landpreise eben auch nur bezahlt werden, wenn damit die Chance auf entsprechende Erträge oder Gewinne verbunden ist.
Beispiel Attisholz
Im Rahmen des Projekts Attisholz im Kanton Solothurn hat die Halter AG entschieden, das Teilareal Attisholz Ost, das in den nächsten Jahren entwickelt wird, zu verkaufen und in Form eines Baurechts wieder zurückzunehmen – sozusagen eine Sale-and-LeaseholdTransaktion (siehe auch «Eine Insel im Landschaftsraum», S. 10). Dieses Vorgehen ermöglicht einerseits, einen Teil des investierten Kapitals wieder freizusetzen, und gewährleistet andererseits die Entwicklung und Umsetzung der ursprünglichen Vision aus einer ganzheitlichen Sicht unter übergeordneten Interessen für das gesamte Areal.
In der Praxis bedeutet die Lösung Baurecht, dass Halter in einem ersten Schritt das Land an einen Investor verkauft, bei gleichzeitigem Einstieg als Baurechtsnehmer dann das Areal wie geplant weiterentwickelt und sukzessive einzelne entwickelte Baufelder an Drittinvestoren veräussert. Halter verkauft also zweimal, zuerst die Stammparzelle und danach die entwickelten Grundstücke im Baurecht. Grund genug, sorgfältig zu überlegen, wie eine solche Transaktion strukturiert werden soll, damit sowohl für den Erwerber der baurechtsgebenden Parzelle (Landeigentümer) als auch für den späteren Erwerber der baurechtsberechtigten Parzelle (Baurechtsnehmer) ein attraktives Investment resultiert – bei gleichzeitiger Wahrung der erwähnten übergeordneten Interessen für das
Gesamtareal sowie unter Berücksichtigung der eingangs geschilderten Problematik von Liegenschaften im Baurecht.
Übergeordnetes Ziel ist es, dem Baurechtsgeber ein sicheres, inflationsgeschütztes Investment und dem Baurechtsnehmer die Grundlage für eine erfolgreiche Entwicklung und Transformation des Teilareals mit entsprechender Motivation und Incentivierung für eine nachhaltig positive Entwicklung zu gewähren. Dabei würde auch der inhärente Gedanke des Baurechts berücksichtigt: Der Baurechtsgeber überlässt die Nutzung seines Grundstücks über eine längere Zeitdauer gegen eine angemessene Verzinsung dem Baurechtsnehmer. Weil die Risiken für die Entwicklung und die Nutzung beim Baurechtsnehmer liegen, sollen diesem auch die entsprechenden Erträge anheimfallen, und zwar vollständig und ausschliesslich.
Zur Erreichung dieser Vorgaben dienen im Wesentlichen die folgenden drei Elemente des Baurechtsvertrags: ein vernünftig tiefer Baurechtszins, eine Koppelung des Baurechtszinses an den LIK (Landesindex der Konsumentenpreise) und eine Partizipation an einer allfälligen Wertsteigerung des Grundstücks durch eine Festlegung des Landanteils, indem die Heimfallentschädigung im Baurechtsvertrag auf einen beidseitig akzeptierten Prozentsatz des Marktwerts der Liegenschaft ohne Baurecht festgesetzt wird.
Damit ist der Baurechtsvertrag nicht nur einfach und klar geregelt, sondern schlägt das Ertragspotenzial auch weitgehend der Partei zu, welche die wirtschaftlichen Risiken trägt. Der Baurechtsgeber wiederum hat ein tatsächlich inflationsgeschütztes Immobilieninvestment, bei welchem zudem das Risiko eines Zahlungsausfalls dank dem vergleichsweise tief angesetzten Baurechtszins gegen null minimiert wurde.
Der Baurechtsnehmer bekommt so den nötigen Spielraum, um auch wirtschaftlich schwierige Phasen zu überstehen. Insbesondere aber mit der Partizipation an einer allfälligen Wertsteigerung verfügt dieser Baurechtsvertrag über ein Element, das den Baurechtsnehmer nicht nur tatsächlich incentiviert, bis zum Ende Gas zu geben, sondern das Investment aus dessen Sicht insgesamt attraktiver macht. Dies dürfte nicht nur zu einer besseren Fungibilität der Liegenschaft am Transaktionsmarkt führen, sondern auch bei einer Fremdfinanzierung hilfreich sein.
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GETRIEBE DER INNENVERDICHTUNG
«Ja, aber …», heisst es landauf, landab – obwohl es objektiv wenige Argumente gibt gegen die Innenverdichtung als probates Mittel, um den aktuellen raumplanerischen Herausforderungen zu begegnen. Die Köpfe sagen Ja, doch die Bäuche sind zu voll. Es gilt, die Eigeninteressen zu überwinden. Politik und Behörden, Investoren und die Bauwirtschaft sind gleichermassen gefordert, die Bedenken zu entkräften.
Immer mehr Menschen wollen in urbanen Siedlungsstrukturen wohnen. Global ist ein Megatrend der Urbanisierung zu beobachten. Am städtischen Raum kristallisieren sich die wichtigsten Fragen der heutigen Zeit heraus: der Kampf gegen den Klimawandel, die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum, die Zukunft von Arbeit und Mobilität. Nach wie vor wächst die Schweizer Bevölkerung –in den letzten fünf Jahren zwischen 0,7 und 0,8 Prozent jährlich. Die Zinswende hat direkte Folgen für den Immobilienmarkt. Leerstandsquoten, die ohnehin schon sehr tief sind, sinken weiter. In der Folge nimmt die Bautätigkeit ab – Bauland steht zwar zur Verfügung, aber an den falschen Orten. Die Balance zwischen Angebot und Nachfrage wird weiter aus dem Lot geraten.
Dabei stünde ein Rezept bereit: die Innenverdichtung. Sie leistet einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele, schafft bezahlbaren Wohnraum an gefragten Lagen und wirkt der Zersiedelung und der Versiegelung des Bodens entgegen. So die Theorie. Doch der Unterschied zwischen Theorie und Praxis – das ist das Paradoxe – ist in der Praxis weit grösser als in der Theorie. Die Verdichtung als Landbewirtschaftungsstrategie ist noch nicht angekommen. Bebaubares Land wird als unendliche Ressource wahrgenommen. Mancherorts fehlt auch schlicht die politische Motivation, vor dem Hintergrund einer Not-in-my-Backyard-Haltung einer urbanen Bevölkerung. Das führt zu stockenden Reformen der lokalen Bau- und Zonenordnungen und zu raumplanerischer Mutlosigkeit.
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Text: Robin Neuhaus
Operations & Life Cycle – Kolumne
Illustration: Dominique Wyss
Ein weiteres Hindernis ist das extensive Einspracherecht, das zunehmend zur Grundsatzopposition oder für Partikularinteressen missbraucht wird. In diesem Kontext ist auch die Haltung des schweizerischen Heimatschutzes zu lesen, der mit einer Fixierung auf das Argument der grauen Energie ein faktisches Abbruchverbot fordert.
Am Beispiel des Heimatschutzes lässt sich exemplarisch beobachten, wie Organisationen und Verbände die Klimakrise für ihre eigenen Zwecke und Ideologien nutzen. So ist die Forderung eines faktischen Abbruchverbots des Heimatschutzes gerade aus energiepolitischen Überlegungen falsch. Energetisch und funktional nicht mehr intakte Gebäude beanspruchen bei ihrer aufwendigen Instandsetzung in der Regel gleich viel oder sogar noch mehr graue Energie wie ein zeitgemässer Neubau. In der Bilanz ist ein Ersatz des Bestands über die Innenverdichtung gemäss der Vorgabe des Raumplanungsgesetzes eine der klimaeffektivsten Massnahmen überhaupt. Das Argument, über Ausnützungsboni würden falsche Anreize für Hauseigentümer gesetzt und energetisch intakter Bestand zerstört, ist darum zu kurz gedacht. Der Eigentümer eines funktional intakten Gebäudes wird wenn immer möglich im Bestand verdichten, weil er (zumindest) den wirtschaftlichen Wert seiner Liegenschaft erhalten will.
Es ist gut und notwendig, historisch und kulturell wertvolle Bauten nicht mit der dualen Sichtweise der ausschliesslichen Logik von Klimaschutz und Wirtschaftlichkeit zu betrachten, sondern einer ehrlichen lnteressenabwägung zu unterziehen. Doch die Schweizer Bevölkerung wächst noch immer, und damit steigt die Wohnungsknappheit. Die einzige Alternative zur Innenverdichtung ist es, weiter auf der grünen Wiese zu bauen. Das kann niemand wirklich wollen.
Innenverdichtung kann den CO₂-Fussabdruck verringern und bezahlbaren Wohnraum schaffen
Was braucht es, damit die Innenverdichtung aus der Sackgasse der Interessen findet? Die Verdichtungsstrategie ist kein Allerortskonzept, das ist offensichtlich. Doch genau darum sind eine klar definierte Zielsetzung und deren konsequente Umsetzung gefragt. Im Zentrum der Betrachtungen stehen gemäss der Raumgliederung des Bundesamts für Statistik die Agglomerationsgürtelgemeinden sowie die Haupt- und Nebenkerne der Agglomerationskerngemeinden.
Jeder Quadratmeter Wohnfläche, der an einer zentralen Lage erstellt wird, hat einen geringeren CO₂-Fussabdruck als ein Quadratmeter Wohnfläche an einer nicht zentralen Lage. Das liegt am tieferen Flächenverbrauch pro Kopf – wo das Land teuer ist,
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gebieten die ökonomischen Grundmechanismen einen effizienteren Flächenkonsum. Gleichzeitig sinkt der Verbrauch der Mobilitätsenergie im Vergleich zu dezentralen Lagen. Die Innenverdichtung hält auch einen Mechanismus dafür bereit, bezahlbaren Wohnraum in Abhängigkeit zur zusätzlich generierten Nutzung über eine sinnvolle Quote festzusetzen. Ein Teil des durch die Innenverdichtung erreichten Ausnützungspotenzials kann dem Markt entzogen und als günstiger Wohnraum angeboten werden. Nichtverdichtung an zentralen Lagen akzentuiert das Problem bezüglich bezahlbaren Wohnraums, weil dort, wo die Leute wohnen wollen, keine Wohnungen entstehen. Mit der konsequenten Innenverdichtung wird es auch aus volkswirtschaftlichen Überlegungen sinnvoll, bezahlbaren Wohnraum an zentralen Lagen zu erstellen beziehungsweise einzufordern.
Alle Akteure sind dazu aufgerufen, die Klemme in der Innenverdichtung zu lösen und zu helfen, dass der Prozess wieder Fahrt aufnimmt. Städte und Gemeinden müssen die sich bietenden Potenziale auf ihrem Gemeindegebiet mit entsprechenden Aufund / oder Umzonungen umsetzen. Massnahmen wie Mehrwertabgaben und Mehrwertausgleich sind vorhanden. Die letzten Signale aus Bern bezüglich des politischen Innenverdichtungskillers Lärmschutz stimmen ebenfalls positiv, will doch der Bundesrat das Umweltschutzgesetz abändern und der gängigen Praxis anpassen sowie die bislang notwendige Ausnahmebewilligung in lärmbelasteten Gebieten abschaffen. Investoren und Grundeigentümer sollten dort, wo sich Kosten und Nutzen sinnvoll ergänzen, die Instrumente der Sondernutzungsplanung ergreifen, um erweiterte Nutzungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Bauwirtschaft muss in neuen Planungs- und Fertigungsmethoden denken, um die Gebäude kreislaufwirtschaftsfähig zu erstellen und den Gebäudepark bereits heute für die Verdichtungszyklen von morgen fit zu machen.
Robin Neuhaus (38), in Zürich geboren, absolvierte eine Lehre als Hochbauzeichner. Im Anschluss liess er sich in Burgdorf zum Dipl. Ing. FH in Bauprozessmanagement ausbilden. Sein Dozent Andreas Campi vermittelte ihn an die Swiss Spa Group AG, wo er unter anderem Projektleiter der Europaallee von SBB Immobilien war. Nach einer Weltreise startete er bei der Priora Development AG. Hier war er Portfolio Manager für die Liegenschaften um den Flughafen Zürich. Während dieser Zeit studierte er am Curem an der Universität Zürich und erwarb die Mitgliedschaft im Rics. Daraufhin wurde er Leiter Portfolio Management bei der Flughafen Zürich AG. Seit November 2021 ist Robin Neuhaus Projektleiter Entwicklung bei der Halter AG. → www.halter.ch
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Abbruch oder Erneuerung? Im Anspruchskanon von Verdichtung, Nachhaltigkeit, Wirtschaftlichkeit und Heimatschutz
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Bis 2050 muss der Bausektor die Raumbedürfnisse der Schweiz CO₂-neutral abdecken können. Die Ausgangslage: Die Bauproduktion verursacht heute 20 Prozent der Treibhausgas-Emissionen in der Schweiz – ein Absenkpfad ist bisher noch nicht in Sicht.
Haupttreiber des CO₂-Ausstosses sind der ungebremste Materialverbrauch und der Ressourcenverschleiss: Das Bauen verursacht heute mehr als 80 Prozent des Schweizer Abfallbergs. Mit dem jährlich produzierten Abbruchmaterial liesse sich eine meterdicke und zwanzig Meter hohe Mauer von Genf bis nach Kreuzlingen errichten.
Die Logik des Planens und Bauens muss sich ändern. Die Kreislaufwirtschaft ist der Wegweiser. Ihre Prinzipien lauten der Reihe nach: Refuse – überlege zuerst, ob es nicht auch mit Verzicht geht. Reduce – reduziere den Ressourcenverbrauch. Reuse, repair, refurbish – nutze weiter, repariere und ertüchtige. Recycle, recover – wenn keine der vorherigen Lösungen möglich ist, trenne das Material und führe möglichst viel wieder in den Ressourcenkreislauf zurück.
Dass die Anwendung der Kreislaufwirtschaft wirtschaftliche und klimafreundliche Erfolge ermöglicht, zeigt die starke Reduktion des CO₂-Ausstosses bei der Brauchenergie. Die Treibhausgasemissionen beim Heizen und beim Betrieb von Gebäuden sind beinahe auf dem Absenkpfad, um Netto-null bis 2050 zu erreichen. Das Mittel dazu: Heizungsersatz und energetische Renovation – sprich Reparieren und Ertüchtigen. Das Resultat: eine florierende HLK-Branche, die händeringend nach Fachkräften sucht. Einen solchen technologieneutralen Absenkpfad braucht es nun auch beim Planen und Bauen als Ganzes.
Reparieren und Ertüchtigen muss mehr Gewicht erhalten als heute. Wo wir stehen, zeigen aktuelle Stadtzürcher Schulhauswettbewerbe: Die klimafreundliche Stadt stellt es den teil-
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Patrick Schoeck (45) ist Leiter Baukultur beim Schweizer Heimatschutz. Nach seinem Studium der Geschichte und der Kunstgeschichte in Zürich und Örebro (Schweden) hat er mehrere Jahre Berufserfahrung in der Immobilienwirtschaft gesammelt, ehe er 2011 zu seinem heutigen Arbeitgeber gewechselt hat. Patrick Schoeck publiziert regelmässig zu Themen der Baukultur und der Architekturgeschichte. → www.heimatschutz.ch
nehmenden Büros frei, ob sie den Bestand abbrechen oder damit weiterbauen möchten. Am Ende entscheidet sich die Jury trotz valablen Alternativen oft für den Ersatzneubau. Die Begründung: Planungssicherheit, baurechtliche Bedenken und Normvorgaben sind so einfacher unter einen Hut zu bringen.
Um zu einer klimaneutralen und wirtschaftlich tragfähigen Kultur des Um- und Weiterbauens zu kommen, sind also Anpassungen am komplexen Gesamtsystem des Planens und Bauens nötig. Für den Wandel von fossilen zu alternativen Energien und Klimaneutralität fehlt uns heute noch die Expertise. Wir brauchen Chancenräume und Anreize für Innovationen. Viele Kantone fördern heute Ersatzneubauten durch eine höhere Ausnutzung. Dieser Anreiz, der die Gesamtemissionen vernachlässigt, könnte zugunsten der Umbaukultur umgedeutet werden: Wer baukulturell überzeugend weiterbaut und nicht abbricht, erhält grössere Flexibilität gegenüber den baurechtlichen Bestimmungen und Normen. Wir werden überrascht sein, welche neuen Formen der Innenentwicklung sich daraus ergeben.
Balz Halter (61) studierte an der ETH Zürich Bauingenieurwesen und an der Universität
Aktuell leben circa 8,9 Millionen Menschen in der Schweiz. Ohne politische Gegenmassnahmen werden wir eine ungebrochene Zuwanderung mit einem Bevölkerungswachstum von gegen 1 Prozent pro Jahr erleben; in gut zehn Jahren haben wir die 10-MillionenSchweiz. Der Elefant steht im Raum. Da wird er wohl bleiben und das Wachstum auch danach weitergehen.
Selbst ohne Zuwanderung steigt der Druck auf die Wirtschaftszentren. Hier finden Menschen Arbeit und Bildung. Hier gibt es attraktive Angebote an Versorgung, Kultur und Mobilität. In
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Zürich Rechtswissenschaften. Er ist Hauptaktionär und Verwaltungsratspräsident der Halter AG und führt das Unternehmen seit 1987. → www.halter.ch
den Wirtschaftszentren sind die Bauzonen beinahe ausgeschöpft. Die Umnutzungspotenziale von Industriearealen ebenso. Deshalb steigt der Druck auf die vorhandenen Bauzonen, die bestehenden Siedlungsstrukturen. Wir werden in grossem Mass abbrechen müssen, wenn wir genügend bezahlbaren Wohnraum schaffen und gleichzeitig Landschaft und Naturräume schonen wollen.
Aber wie soll die Siedlungsentwicklung nach innen zukünftig erfolgen? Die heutigen Planungsinstrumente geben darauf keine Antworten. Sie delegieren sie an den Bauherrn, an das einzelne Projekt. Will der Bauherr in relevantem Mass verdichten, wird er auf den Weg der Sondernutzungsplanung verwiesen. Damit setzt er sich jedoch dem vielstimmigen Anspruchskanon von Privatpersonen, Verbänden und staatlichen Fachkommissionen aus, die im politischen Prozess oder über Rechtsmittel ihre spezifischen Interessen durchzusetzen trachten. Er wird diesen langwierigen, kosten- und risikoreichen Prozess im Allgemeinen meiden und nach Standard-Bau- und -Zonenordnung bauen. Vieles wird abgerissen und marginal verdichtet werden. Die viel gepriesene Siedlungsentwicklung nach innen wird weder quantitativ noch qualitativ in gewünschtem Mass erfolgen. Die notwendige gestalterische, dreidimensionale und identitätsstiftende Ortsund Stadtplanung mit umfassender Güterabwägung bleibt aus.
Wir benötigen wieder Stadtplanung und Städtebau. Disziplinen, die mit der rasch wachsenden Mobilität in der Nachkriegszeit in Vergessenheit geraten sind. Stadtplanung ist eine öffentliche Aufgabe. Ebenso der Städtebau, wo es um öffentliche Räume und staatliche Einrichtungen geht. Kantone und Gemeinden wären gefordert. Aber ihnen fehlt es an Willen, Kompetenz und Geld.
Der Brennpunkt liegt in der Agglomeration. Da kann und muss im Interesse der Nachhaltigkeit Verdichtung stattfinden, und zwar in erheblichem Ausmass an Orten, die bereits bestens erschlossen sind. Mit Städtebau werden Zentralität, Urbanität, attraktive Stadträume und vielfältige Angebote geschaffen. Damit entstehen polyzentrische Stadtstrukturen, die Naturräume schonen, genauso wie erhaltenswerte Dörfer, Gartensiedlungen und Einfamilienhausquartiere.
Stadtplanung muss über Kernstädte und ihre administrativen Grenzen hinaus in funktionalen Räumen erfolgen. Das kann und
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darf nicht von Planungsämtern, Ingenieur- oder Raumplanungsbüros gemacht werden. Dazu braucht es Städteplaner mit interdisziplinären Teams, die in öffentlichen Wettbewerben nicht nur die besten Lösungsansätze hervorbringen, sondern auch eine breite und weit in die Bevölkerung reichende Diskussion entfachen.
Wettbewerbsverfahren in dieser Art fördern Erkenntnisse und Kompetenzen in der Siedlungs-, Orts- und Stadtplanung sowohl bei den Planenden als auch bei den Behörden. Darüber hinaus schaffen sie Verständnis und Einsichten bei der Bevölkerung und den verschiedenen Anspruchsgruppen. Sie erzwingen den dringend notwendigen Diskurs über die Art und Weise innerer Siedlungsentwicklung und die frühzeitige Interessenabwägung und bilden die Grundlage für föderale, demokratisch legitimierte sowie qualitätssichernde und rechtsverbindliche Planungsinstrumente. Die daraus resultierenden erheblichen Ausnützungserhöhungen sichern die Wirtschaftlichkeit, indem sie bedeutende Einnahmen aus Mehrwertabgaben und Gewinnsteuern erzeugen zur Finanzierung von Planungsausgleichen, zur Gestaltung attraktiver Strassen, Plätze und Parks und zur Realisierung der erforderlichen öffentlichen Bauten.
Ingemar Vollenweider (58) studierte an der ETH Zürich und an der Columbia University in New York. Im Anschluss arbeitete er bei Kollhoff & Timmermann in Berlin. 1999 gründete er zusammen mit Anna Jessen das Architekturbüro Jessenvollenweider in Basel. Von 2006 bis 2018 war er Professor für Stadtbaukunst und Entwerfen an der TU Kaiserslautern. Neben seinen regelmässigen Jurytätigkeiten war Ingemar Vollenweider von 2018 bis 2022 Mitglied des Baukollegiums der Stadt Zürich. Seit 2018 leitet er gemeinsam mit Anna Jessen den Lehrstuhl für Städtebau an der TU Dortmund. → www.jessenvollenweider.ch
Re-use ist konservativ. Die kulturelle Dimension der Sehnsucht nach Erhalt überlagert sich neu, allerdings mit den materiellen Bedingungen des Klimawandels und der Ressourcenknappheit.
Wenn alles grundsätzlich erhaltenswert ist, geht damit gleichzeitig eine Verschiebung der Wertmassstäbe einher: Nicht mehr
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die nostalgische oder denkmalpflegerische Erinnerung an vergangene Zeiten, die sich in idealen Objekten verkörpert, sondern die Not der Einschränkung prägt die architektonische Triage. Was passiert, wenn Häuser gleichgesetzt werden mit Energie? Und wie verändert sich damit die Einschätzung von Stadträumen, wenn es zum Beispiel um Siedlungen aus den 1970er-Jahren geht?
Früh beeinflusst durch den empathischen Blick von Künstlern wie Fischli / Weiss, die alles – auch typische Siedlungen und Agglomerationen gerade aus ihrer Zeit – fotografiert haben, versuchen wir mit unserer eigenen Arbeit im Büro und in der Lehre immer wieder, uns möglichst vorurteilslos unterschiedlichsten Kontexten zu nähern, mittelmässigen wie einzigartigen, aus jüngeren und alten Zeiten. Tatsächlich liegt dieser Haltung schlicht auch die Neugier und das Interesse für unterschiedliche architektonische Genres zugrunde und wahrscheinlich auch die Unschuldsvermutung der «good intensions», die wir grundsätzlich jeder architektonischen Tätigkeit unterstellen, auch wenn es manchmal schwerfällt.
Wir haben seit den ersten Projekten selten reine Neubauten realisiert, sondern meistens um- und weitergebaut und mehr als einmal Wettbewerbe gewonnen, weil wir weniger abgerissen haben als vorgesehen. Aber um klar zu sein: Es waren letztlich immer architektonische oder städtebauliche Potenziale des Bestands, die wir wahrgenommen haben und die entsprechende Entscheidungen provozierten. In derselben Konsequenz haben wir auch zerstört, gezielt, aber manchmal auch weiter, als in den ursprünglichen Vorgaben der Denkmalpflege definiert war, im Sinne eines neuen Ganzen.
Auf den grösseren Massstab der Stadt oder des Quartiers übertragen, spitzt sich nicht nur die Dimension des Sozialen zu, sondern insbesondere auch das grundlegende Dilemma der Nachhaltigkeit, die sich zwischen Ressourceneffizienz und radikaler Ressourcenschonung entscheiden kann, also zwischen urbaner Verdichtung und Abrissmoratorium. Angesichts einer existenziellen Krise wäre es zynisch, von einer euphorischen Phase zu sprechen, in der wir uns betreffend Erhalt und Abrissverbot aktuell befinden. «Ideologisch» trifft es wohl eher, und eben das hat
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selten zu einer besseren Welt geführt. Andererseits scheint das legendäre, gern aus dem Zusammenhang gerissene Zitat «Zerstöre mit Verstand» von Luigi Snozzi nicht mehr auszureichen als Legitimierung für ein Metier der radikal beschleunigten, zunehmend globalen Veränderung. Also plädieren wir für eine Mentalität, die Kreativität aus der Auseinandersetzung mit dem Vorhandenen, manchmal auch Unscheinbaren entwickelt und dabei das Neue so verantwortungsvoll in die Welt bringt, dass es nicht primär auf Ablaufdatum, Austausch und Ersatz spekuliert, sondern auf architektonische Dauerhaftigkeit und stadträumliche Dichte – und was wäre, wenn dabei als einfache Regel die Ausnützung eines Grundstücks zusätzlich um das Doppelte der erhalten bleibenden Bausubstanz erhöht werden könnte?
Ulrich Widmer (62) ist in Trogen, Appenzell Ausserrhoden, aufgewachsen. Mit 31 Jahren wurde er zum Regierungsrat gewählt und leitete dort die Bau-, Planungs- und Umweltdirektion. Nach Stationen als Direktor des Bundesamtes für Raumentwicklung und in der Industrie ist er heute in der Kibag Holding als CEO tätig, einem Unternehmen mit 2000 Mitarbeitenden im Baustoff-, Umwelt- und Baubereich. Er weist eine über dreissigjährige Erfahrung vor, sowohl als Ingenieur, Planer wie auch aus Behörden- und Unternehmersicht. → www.kibag.ch
Vorerst: Die ganz grosse Mehrheit will Licht, Raum, Platz. Dies spricht für Abbruch und Neubau. Auch gilt: Schöne, alte Häuser, namentlich im näheren Kontext zu einem eindrücklichen Stadtbild, sollen, ja müssen erhalten, erneuert werden. Auch emotional hängen wir am Alten, am Schönen, am Ortsbildprägenden. Dies bleibt äusserst wichtig, auch in Zukunft. Es vermittelt uns Einzigartigkeit, Wärme, Kultur, Identität.
Weiter zu beachten, ist: Was ist mit der raumplanerisch so bedeutsamen Verdichtung nach innen, wenn wir vornehmlich erneuern wollen? Ein Umbau verunmöglicht da und dort eine Aufstockung, eine Erweiterung, eine grössere Ausnützung. Fragen zur Statik stellen sich, zu energetischen Auflagen, Aussendämmungen, zum Heizungssystem, zu Brandschutz, zur behindertengerechten Erschliessung. Nüchterne Güterabwägung ist hier
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gefragt, nicht Ideologie und Zeitgeist. Wirtschaftlich muss es so oder anders aufgehen.
Steile Treppen, enge Gänge, zu kleine Räume, dunkle Küchen, kaum Licht: Die grosse Mehrheit strebt nach Neuem. Wir erkennen das nicht nur in städtischen Gebieten, nein selbst in meiner früheren Heimat, dem Appenzellerland, in dessen ländlich geprägter Streusiedlungskultur mit seinen hochwertigen, arttypischen, landschaftsprägenden, im Grunde wunderschönen Holzbauten geht der Trend umgekehrt. Licht, Raum, Platz.
Eine neue Zeit? Es machen nun neue Begriffe die Runde: Kreislaufwirtschaft, zirkuläres Bauen. Wir handhaben das seit Jahrzehnten schon, nur anders genannt. Wiederverwertung, Renovation, Recycling, Vermeidung von unnötigem Abfall. Immer haben brauchbare Materialien ihren Weg zu einer neuen Nutzung gefunden. Die Akteure waren: Schrotthändler, Kunststoffverwerter, Entsorger, innovative Gewerbebetriebe, die verschiedene Materialien gekonnt auftrennen. Zugenommen hat die konsequente Umsetzung. In städtischen Gebieten wie Zürich gelangt seit Jahren kaum eine Tonne mineralischen Baustoffs – Beton, Backstein, Kalkstein – in eine Deponie, es werden Hunderttausende von Tonnen wiederverwertet zu wiederum neuen, hochwertigen Baustoffen.
Wir sind bei Kibag äusserst stolz darauf, allein im Jahr 2022 eine Menge von 50 000 Kubikmetern CO₂-reduziertem Beton mit bis zu 75 Prozent Abbruchmaterial produziert zu haben. Es wurden 500 Tonnen gasförmiges CO₂ mittels Injektion direkt im RecyclingBetongranulat gespeichert. Um dies bildhaft darzustellen: Die Menge entspricht dem Äquivalent von 40 000 Bäumen, etwa 4 Millionen Autokilometern mit einem modernen Benziner, dem 10-Fachen der Distanz Erde – Mond, über 500 Flugreisen Paris – New York oder 9000 produzierten Smartphones. So können wir heute etwa die doppelte Menge an CO₂ einer mittleren Transportdistanz zu einer Baustelle einsparen. Und das ist erst der Beginn, eine neue Technologie auch für grosse Mengen einzusetzen. Das stimmt uns frohgemut.
So mein Fazit: Eine unvoreingenommene, pragmatische Güterabwägung wird uns den Weg weisen. Wir sanieren, wo es Sinn macht, wir bauen neu, wo es Sinn macht. Dazwischen debattieren wir.
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CONSTRUCTION 4.0
SIND WIR NOCH AUF DEM BERG DER
ÜBERZOGENEN ERWARTUNGEN ODER
SCHON AUF DEM PLATEAU DER
PRODUKTIVITÄT?
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Text: Alexandra Stamou
Visualisierungen: Alexandra Stamou (S. 150), Matthias Knuser (S. 153, 155)
«Construction 4.0 bezieht sich auf die Integration fortgeschrittener Technologien wie künstlicher Intelligenz, Internet of Things (IoT) und Robotik in die Bauindustrie, um Effizienz, Sicherheit und Produktivität zu verbessern. Es zielt darauf ab, eine smarte und vernetzte Baustelle zu schaffen, bei der Prozesse automatisiert und Daten in Echtzeit analysiert werden, um die Leistung zu optimieren. Dies führt zu verbesserten Projektergebnissen, schnelleren Abschlüssen und geringeren Kosten.
Construction 4.0 wird erhebliche Veränderungen im Bauumfeld bewirken, darunter:
Erhöhte Effizienz: Automatisierung und Datenanalyse werden Prozesse vereinfachen, Abfälle reduzieren und Projektzeiten verkürzen.
Verbesserte Sicherheit: Fortgeschrittene Technologien wie Drohnen, virtuelle und erweiterte Realität und Wearables werden die Sicherheit auf der Baustelle erhöhen und Unfälle reduzieren.
Bessere Planung und Koordination: Die Verwendung von Digital-Twin-Technologie wird die Zusammenarbeit und die Koordination zwischen Design, Bau und Wartungsteams verbessern.
Nachhaltigere Bauweise: Fortgeschrittene Technologien helfen, den Umweltauswirkungen des Baus entgegenzuwirken, zum Beispiel durch optimierte Materialnutzung und eine energieeffiziente Gebäudeplanung.
– Verbesserte Gebäudeleistung: Die Verwendung von IoT-fähigen Gebäudesystemen verbessert die Leistung von Gebäuden und die Energieeffizienz, was zu niedrigeren Betriebskosten und einem besseren Benutzererlebnis führt.
Insgesamt wird Construction 4.0 zur Schaffung von cleveren, nachhaltigeren und besser funktionierenden Gebäuden und Infrastrukturen führen.»
Die Maschine spricht
Theoretisch könnte dieser Artikel über die Zukunft der Bauwirtschaft an dieser Stelle enden, und wir könnten uns an die Arbeit machen, eine schöne neue Welt zu erschaffen. Doch die obige Beschreibung ist sicherlich nicht die ganze Geschichte rund um Construction 4.0, und für viele wird die Enthüllung keine grosse Überraschung sein: Der Text wurde innerhalb von Sekunden von einer künstlichen Intelligenz (KI) namens Chat GPT als Antwort auf die Frage eines Menschen «Was ist
Construction 4.0?» über eine webbasierte Chatfunktion erfasst.
Darin liegt etwas Faszinierendes. Eine KIAnwendung hat innerhalb weniger Wochen zu einem Hype quer durch alle Branchen geführt. Man muss keinen McKinsey-Bericht lesen, um das zu erkennen. Es reichen die Presse, die Blogs und die Beiträge in den sozialen Medien. «Dieser Text wurde von Chat GPT verfasst» taucht in zahlreichen Varianten in allen möglichen Texten auf (im Journalismus, in der Wissenschaft, in Diskussionen) und scheint die derzeit am häufigsten verwendete Phrase zu sein.
Chat GPT hat schnell in unseren Alltag Einzug gehalten und uns eindrucksvoll gezeigt, dass künstliche Intelligenz – eine bahnbrechende, im Grunde branchenagnostische Technologie –ein unglaubliches Potenzial hat. Obwohl es sich noch um einen Prototyp handelt, hat Chat GPT dazu beigetragen, künstliche Intelligenz plötzlich und unvermittelt für alle verständlich zu machen. Auch wenn nur wenige der Nutzer des Dienstes genau wissen, wie die Technologie funktioniert, kann sich jeder zumindest vorstellen, wie sich die eigenen Aufgaben dadurch verändern könnten. Aufgrund der Tatsache, dass der Dienst allen, die über eine E-Mail-Adresse und eine Telefonnummer verfügen, online zur Verfügung steht, und durch die Verwendung einer äusserst einfachen Benutzeroberfläche wurde die Einstiegshürde von Beginn an sehr niedrig gehalten. Der Hype in den Medien hat zudem eine grosse Neugierde geweckt, die Chatfunktion selbst auszu-
150 Engineering & Production
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Mit Dall-E erstellte Visualisierung zu: «Future, living, house, architecture, space, drawn, 3d construction, colourful and technical, built by robots.»
probieren. Nach Angaben des Dienstes hatte Chat GPT nur fünf Tage nach seinem Start bereits eine Million Nutzer. Eine Auswertung von Statista zeigt, dass diese Marke beispielsweise von Netflix erst nach dreieinhalb Jahren, von Twitter nach zwei Jahren und von Spotify nach fünf Monaten geknackt wurde. Wer sich im letzten Jahr noch nicht aktiv mit künstlicher Intelligenz beschäftigte, der hätte nicht sofort gute Beispiele für deren möglichen Einsatz nennen können. Heute jedoch scheint das anders zu sein. Erst Ende November 2022 hat das US-Unternehmen Open AI den Prototyp eines Chatbots veröffentlicht, der auf maschinellem Lernen und dem GPT-3.5Modell1 basiert. Das GPT-Modell wurde mit einer riesigen Menge an Textdaten in einem vollautomatischen Prozess trainiert, was es zu einem der beliebtesten bisher verfügbaren Sprachmodelle macht. Als generative KI-Anwendung ist Chat GPT ein neuronales Netzwerk, das die menschliche Sprache nachahmt und die Möglichkeit eines dialogischen Austauschs zwischen Mensch und Maschine bietet. Dieser gelingt, weil die Maschine in der Lage ist, die ihr zur Verfügung stehenden Informationen zu kompilieren, zu verbinden, zu synthetisieren und zusammenzuführen. Fragt man Chat GPT selbst nach der Herkunft seiner Information und seinem Trainingsmodell, erhält man sogar eine Empfehlung, den gelieferten Informationen nicht blind zu vertrauen und diese nicht zu verwenden, ohne sie auf Genauigkeit, Aktualität oder Richtigkeit zu überprüfen.2 Schliesslich ist Chat GPT keine fehlerfreie Technologie. Alle KI-Systeme bergen das Potenzial für eine böswillige Nutzung, eine unbeabsichtigte Verbreitung von Vorurteilen oder Unsicherheiten im Zusammenhang mit Themen wie Deepfakes und Urheberrechtsfragen.
Aus der Perspektive des Gartner Hype Cycle könnte man behaupten, dass uns die Technologie selbst vor dem Tal der Enttäuschung warnt und uns rät, ihre Möglichkeiten von Anfang an sinnvoll zu nutzen. In den nächsten Jahren werden Chat GPT und ähnliche generative
1 GPT steht für Generative Pre-trained Transformer.
2 «Ich bin ein von Open AI entwickeltes Sprachmodell, das mit einer Vielzahl von englischsprachigen Internettexten trainiert wurde. Diese Trainingsdaten umfassen Websites, Bücher, Artikel und andere schriftliche Werke aus dem Internet, die es mir ermöglichen, Antworten zu generieren und Gespräche über eine Vielzahl von Themen zu führen. Es ist jedoch wichtig, zu beachten, dass die von mir bereitgestellten Informationen nicht immer genau, aktuell oder angemessen sind. Daher ist es immer ratsam, Informationen zu überprüfen, bevor man sie verwendet.»
KI-Technologien leistungsstärker werden und viele Anwendungen neu gestalten. Das amerikanische Marktforschungsunternehmen Gartner geht davon aus, dass bis 2030 mindestens ein grosser Blockbuster-Film veröffentlicht wird, bei dem 90 Prozent der Inhalte (von Text bis Video) durch KI generiert werden, während diese Technologie 2022 noch nicht einmal eingesetzt wurde. Weiter prognostiziert Gartner, dass bis 2025 etwa 30 Prozent der ausgehenden Marketingnachrichten von Grossunternehmen synthetisiert sind. 2022 waren es weniger als 2 Prozent.
Angriff von der anderen Seite
Solche Prognosen werden auch innerhalb der Halter AG als valide Ideen angesehen, und Mitarbeitende haben damit begonnen, sich mit dem digitalen Helferlein auseinanderzusetzen. Ziel ist es, die Möglichkeiten der Technologie zu erforschen, fitter und fähiger zu werden, selbst zu beurteilen, wie man sie sinnvoll einsetzt, und experimentell herauszufinden, welche Aufgaben in Zukunft effizienter und effektiver mit Diensten wie Chat GPT erledigt werden können. In erster Linie wird KI wohl die monotonen, sich wiederholenden Aufgaben in einer orchestrierten Umgebung von Mensch und Maschine erleichtern oder übernehmen. Noch interessanter und vielversprechender aus unternehmerischer Perspektive ist jedoch das Potenzial für Produktivitätssteigerungen, das mit dem Einsatz von Chat GPT und ähnlichen Technologien einhergeht. Damit könnte ein grundlegendes Ausmisten unnötiger, nicht wertschöpfender Prozesse ermöglicht werden.
Im Zusammenhang mit der digitalen Transformation verschiedener Branchen gibt es seit Jahren das viel zitierte Narrativ, dass intelligente Softwaresysteme und Roboter dem Menschen einfache Arbeiten abnehmen werden. Der Begriff «einfach» bedarf hier allerdings der Klärung, denn bisher war damit meistens Nicht-Wissensarbeit gemeint. Demnach würden zunächst Lkw-Fahrer durch autonome Fahrsysteme ersetzt, später würden Lieferroboter die Zustellung von Waren bis an die Terrassentür übernehmen.
Doch wie das «Handelsblatt»3 aktuell anschaulich berichtet, stagnieren die Fortschritte beim autonomen Fahren. Auch hat Amazon seine Experimente mit Lieferrobotern gestoppt, und es gibt noch keine KI, die
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3 Christian Rickens, Handelsblatt Morning Briefing plus, 3. Februar 2023.
einen Restauranttisch halbwegs unfallfrei abräumen kann. Mit der Entwicklung von KI und anderen automatisierten Technologien scheint eben Wissensarbeit stärker gefährdet zu sein: Ein Radiologe muss auf einmal mehr bangen als eine Pflegefachkraft, ein LKW-Fahrer weniger als ein Buchhalter.
Selbst in unserer Branche scheint der Wissensarbeiter plötzlich bedrohter zu sein als der Bauarbeiter. Dass sich dies nun ganz anders als früher erwartet darstellt, mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass die meisten Artikel von Wissensarbeitern geschrieben werden; ein Bauarbeiter hätte wahrscheinlich schon immer eine ganz andere Sicht auf die Dinge gehabt.
Beim Bauen ist es üblich, dass sich die Bauherren nicht nur an einen, sondern an mehrere Experten wenden – und das sogar in aufeinanderfolgenden Schritten –, um fachkundige Antworten auf ihre Fragen zu erhalten, Zusammenhänge früh genug zu erfassen und daraus gute Entscheidungen abzuleiten: Welche Nutzungen haben die Gebäude in der Nähe des Bauvorhabens? Wie lang darf ein Fluchtweg in einem Spital in St. Gallen sein? Welches sind die besten Sonnenstoren für Ladengeschäfte? Rechnet es sich, auf einer Nordfassade Fotovoltaikmodule zu installieren? Welche Eigenschaften soll der Bodenbelag für ein Co-Working haben? Wie hoch darf der Lärmpegel in einem Bürozimmer sein, wie hoch in einem Grossraumbüro? Wie viel Platz braucht ein Gabelstapler, um eine 90-Grad-Kurve zu fahren? Und so weiter und so fort.
Das Paradoxe daran ist, dass solche Fragen in der Vergangenheit schon tausendfach gestellt und von Wissensarbeitern oder Experten schon oft für viel Geld und Zeit beantwortet wurden. Und dennoch verlieren ihre Kunden offenbar nicht die Bereitschaft, in diesem Zyklus zu verharren, was in der Folge zu einer innovationsarmen und veränderungsunwilligen Planungs- und Bauindustrie beiträgt.
Genau hier wird eine künstliche Intelligenz wie Chat GPT tatsächlich zu dramatischen Veränderungen führen. Zum einen werden sich nicht wertschöpfende, monotone Aufgaben nicht mehr so einfach als Wissensarbeit darstellen lassen, denn genau hier liegen die Stärken von KIs, die dies einfacher und schneller erledigen. Zum anderen verschaffen KIs dem Wissensarbeiter mehr Zeit, um sich auf kreative Arbeiten zu konzentrieren. Folglich ist es falsch, zu glauben, dass künstliche Intelligenz und Robotisierung nur ein-
fache und stumpfsinnige Arbeiten ersetzen können. Im Gegensatz dazu wird die Automatisierung der einfachen Wissensarbeit die anspruchsvolle geistige Arbeit stärken und mehr Zeit für Inspiration und Innovation
schaffen. Das ist wichtig, denn bei aller Faszination für Chat GPT und Co.: Diese können nur das wiederholen und neu arrangieren, was schon geschrieben wurde.
Gleich und doch anders
Vor diesem Hintergrund wird unsere Branche in Zukunft mehr und mehr von der Automatisierung profitieren, die aus einer ganz anderen Richtung kommt als bisher angenommen. Je mehr Technologien entwickelt werden und in der Praxis zur Anwendung kommen, desto grösser ist ihr freigesetztes Potenzial und desto effektiver, industrialisierter und 4.0iger wird unsere Planungs- und Baubranche.
Die Vision, die hinter dem Einsatz der Industrialisierung in der Bauwirtschaft steht, ist auch in anderer Hinsicht vielversprechend. Die fragmentierte Wertschöpfungskette und damit alle heutigen Defizite, seien sie zeitlicher, qualitativer, sicherheitstechnischer oder kostenrelevanter Natur, sollen in Zukunft durch die Industrialisierung verschwinden. Der Wandel der Industrie wäre gekennzeichnet durch: die Etablierung von frei geformten, schnell zu bauenden, intelligenten Architekturen, den wiederholten Einsatz von detailliert durchdachten und maschinell vorgefertigten Modulen, den ressourcenschonenden Umgang mit Materialien, eine geringe bis nicht vorhandene Fehlerquote; zufriedene Arbeiter, die in sicheren, sauberen und wettergeschützten Fabrikhallen arbeiten und keine körperlich anstrengenden Tätigkeiten mehr verrichten müssen; automatische, intelligente Bauprozesssimulationen, die den Einsatz von Arbeitern, LKWs und Baumaschinen sekundengenau planen, effiziente Lieferketten und digitale Zwillinge, die das gesamte Gebäude im Betrieb überwachen und automatisch Vorschläge zur Optimierung des Betriebs generieren. Die Vision reicht bis zu einer Welt, in der Menschen und Maschinen in einer perfekt geplanten Choreografie zusammenarbeiten und ein durchgängiges virtuelles Datengerüst nutzen, um hochmoderne Gebäude zu errichten oder bestehende zu renovieren. Sowohl die Architektur als auch die Baumethoden würden die wichtigsten Fragen der Baukultur aufnehmen und die drei ineinandergreifenden Sphären der
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Engineering & Production
Nachhaltigkeit – nämlich Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft – in Einklang bringen.
Tatsächlich könnten die Verfügbarkeit von Informationen und die jetzige Nutzung von Methoden und Technologien von Construction 4.0 schon bald zu einem Paradigmenwechsel in unserer Branche führen. Statt vollautonome Baustellen und Roboter werden wir zuerst einen Sprung in der Entwicklung und der Planung sehen – und das durch einfaches Ausmisten von Routinen.
Seit Jahren reden wir über die Rationalisierung und Verschlankung des Designs, die digitale Modellierung in der Planung hin zu BIM, digitalen Zwillingen im Betrieb und nicht zuletzt evidenzbasierter Entscheidungsfindung und End-to-End-Engineering der Planungs- und Bauprozesse. Wenn man bedenkt, dass die erste Version von IFC, dem Standard für Bauwerksmodelle, aus dem Jahr 2000 stammt, wird deutlich, wie zäh diese Entwicklung ist.
Jetzt bekommen diese Themen eine neue Bedeutung, nämlich als Trainingsset für KIs. Was Entwicklungen wie Chat GPT so mächtig erscheinen lässt, ist, dass diese aus einem unermesslichen Datentopf zitieren. Für die Baubranche gibt es den nicht, und egal, wie gross ein Unternehmen ist und wie gut es seine Daten in den letzten Jahrzehnten gespeichert hat, so sind diese immer nur ein winziger Bruchteil der Trainingsmenge, die einem Chat GPT zur Verfügung stehen muss. Aber man kann vortrainierte Systeme verwenden und diese erstaunlich schnell an die eigenen Zwecke anpassen.
Werkgruppen, powered by KI
Der cyber-physische Charakter von Construction 4.0 scheint derzeit eines der erneuerungsstärksten Elemente zu sein. Cyber-physische Systeme integrieren fortschrittliche digitale Technologien wie Sensoren, IoTGeräte oder Automatisierungssysteme in die physischen Prozesse des Bauwesens. Sie ermöglichen die Überwachung und Steuerung von Bauprozessen in Echtzeit, um Effizienz und Produktivität zu steigern, die Qualität zu verbessern und Kosten zu reduzieren. Derartige Möglichkeiten und weitere Innovationen rund um das Thema Construction 4.0 rütteln unsere Branche auf und ebnen den Weg von einem traditionellen, manuellen, wasserfallmodellorientierten Ansatz zu einer stärker automatisierten, datengesteuerten, ganzheitlichen Betrachtungsweise.
Wir bei Halter verbessern stetig die Zusammenarbeit und die Kommunikation zwischen den verschiedenen an einem Bauprojekt beteiligten Parteien. Durch die Integration von Echtzeitdaten und -informationen auf eine gemeinsame digitale Plattform ermöglichen wir allen Beteiligten, fundierte Entscheidungen zu treffen und effektiver zusammenzuarbeiten. Das bringt uns zum Thema der integrierten Projektabwicklungsmodelle. Integrierte Projektabwicklung oder anders genannt DesignBuild steht bei uns für das Gesamtleistermodell mit Werkgruppen. In den Werkgruppen führen wir leistungsfähige Teams aus Planung und Bau früh zusammen. Doch die Datifizierung, der Einsatz fortschrittlicher Technologien und die Konnektivität von cyber-physischen Systemen allein reichen nicht aus, um einen Paradigmenwechsel in der Planungs- und der Bauindustrie zu vollziehen. Nur am Projekterfolg ausgerichtete leistungsfähige Teams können zu einem langfristigen Wandel führen. Dafür kommen uns die KIs sehr gelegen, und in integrierten Projektabwicklungsmodellen, bei denen die Leute miteinander und nicht gegeneinander arbeiten, finden wir wertvolle Trainingsdaten, um diese zu optimieren. Das Überdenken traditioneller Prozesse, die Neugestaltung von Beschaffungswegen, die Automatisierung von Entscheidungsabläufen, die Beseitigung unnötiger Regulierung und Nor-
mierung, die ernsthafte Erwägung neuartiger Geschäfts-, Vertrags- und Anreizmodelle und schliesslich die Etablierung einer zukunftsweisenden Kultur in der Zusammenarbeit sind
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Mit Midjourney erstellte Visualisierung zu: «Meeting with people standing and discussing around a hologramm.»
die Schlüsselelemente für die Schaffung eines neuen Rahmens zur Entwicklung unserer Branche. Das klare Ziel ist der Übergang von einer fragmentierten zu einer durchgängig orchestrierten Wertschöpfungskette, die auf integrierten Datenpools und zunehmend integrierten Teams basiert. Dies wird nicht durch KIs ermöglicht, aber Neuerungen wie Chat GPT können wir dabei sehr gut gebrauchen.
Wie fangen wir an?
Bei Halter arbeiten wir kontinuierlich an Innovationsthemen, die die Zukunft unserer Branche und damit auch uns als Unternehmen mittelbis langfristig beeinflussen werden. Wir fördern den internen und externen Wissenstransfer, setzen innovative Lösungen in Kundenprojekten um und verfolgen damit einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess. Die Innovationsthemen sind entlang des Lebenszyklus verteilt und werden von internen funktions- und bereichsübergreifenden Teams erarbeitet. Darüber hinaus verankern wir im Rahmen der internen Nachhaltigkeitsinitiative die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes im Bewusstsein aller Mitarbeitenden. Bei der Lösungsfindung und Umsetzung setzen wir auf die Kompetenzen im nahen Ecosystem sowie auf das Wissen ausgewählter Partner, ob nun mit Werkgruppen oder bei Ausbildungsinstituten.
Die Kluft überbrücken Lehre und Forschung setzen sich seit Langem mit Themen rund um Construction 4.0 auseinander. Neue, disziplinenverbindende Lehrstühle und Plattformen in Bildungseinrichtungen zeigen, dass eine früher unvorstellbare Verflechtung von Kompetenzen heute notwendig ist, um die Vision von Construction 4.0 greifbarer zu machen. Traditionelle Bereiche des Planens und Bauens, wie Architektur und Bauingenieurwesen, brechen Silos auf und verbinden sich mit Fähigkeiten aus Bereichen wie Fertigung und Systemtechnik, Informatik und Robotik sowie Sozial- und Geisteswissenschaften.4
In der Schweiz manifestiert sich dieser Paradigmenwechsel in Design++, dem 2019 von der ETH Zürich gegründeten Zentrum für erweitertes computergestütztes Entwerfen
4 Wie das kürzlich gegründete Exzellenzcluster Int CDC an der Universität Stuttgart (Cluster of Excellence Integrative Computational Design and Construction for Architecture).
in der Architektur und im Bauingenieurwesen. Design++ als Plattform ist mit fünf Departments und dem National Center of Competence in Research (NCCR) Digital Fabrication verbunden. Getreu unserem Willen, die Branche in Richtung einer echten Integration der Planungsund Bauphasen zu verändern, haben wir als Unternehmen beschlossen, eine strategische Partnerschaft mit Design++ einzugehen, und werden in den nächsten sechs Jahren aktiv zur Entwicklung des Zentrums beitragen, sowohl durch finanzielle Unterstützung als auch durch Wissenstransfer zwischen Praxis und Forschung (siehe auch «Ein Schritt in die Zukunft», S. 5). Wir erwarten, dass die Nähe zu den Entwicklungen von Design++ zu einer Produktivitätssteigerung bei Halter führen wird, zumal für die Mitarbeitenden die Möglichkeit besteht, eigene Erfahrungen im Umgang mit neuen Technologien und Prozessen zu sammeln und diese direkt dort einzusetzen, wo es sinnvoll ist.
Ein weiterer Aspekt ist die Nähe und, wenn möglich und sinnvoll, die Zusammenarbeit mit universitären Spin-offs. In den letzten Jahren haben die ersten Spin-offs damit begonnen, ihre technologischen Lösungen in realen Projekten umzusetzen und ihr Geschäftsmodell ausserhalb der schützenden Umgebung einer Bildungseinrichtung direkt auf dem Markt zu testen. Wir wissen, wie viele Hindernisse sich einem Spin-off in den Weg stellen, um eine technologische Erneuerung erfolgreich zu platzieren, da wir unsere Industrie und ihre Adaptionsgeschwindigkeit gut kennen. Die Hürde scheint sehr hoch zu sein und die Bauindustrie sehr langsam bei der Einführung von Innovationen in die Praxis.
Räume schaffen
Innovation braucht Raum zur Entwicklung und partnerschaftliche Beziehungen, in denen Dinge wie KIs und der Einsatz von Robotern gemeinsam mit uns und unseren Werkgruppen wachsen können.
Mit dem Futurama in Lupfig versuchen wir, einen solchen Raum zu schaffen (siehe auch «Nur im Paar zu haben», S. 160). Dies ist in zweierlei Hinsicht ein spannendes Projekt. Zum einen versuchen wir, einen Attraktor in Lupfig zu schaffen, zum anderen möchten wir nicht nur den Platz zur Verfügung stellen, sondern in der Kombination mit vielen anderen Firmen, Spin-offs und Start-ups eine sich gegenseitig befruchtende und kreative Umgebung aufbauen.
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Engineering & Production
Das Spiel des Jetzt
Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind zu komplex, um sie allein zu bewältigen. Und wir sind überzeugt: Protektionismus verhindert nicht nur die Innovation und den Wettbewerb, sondern kann sich auch langfristig verheerend auf die Entwicklung der Kreislaufwirtschaft und den Klimaschutz auswirken.
Construction 4.0, befördert durch innovationsaffine Werkgruppen, bietet uns einen Weg, unsere klassische Industrie grundlegend zu verändern. Die derzeit fragmentierte Wertschöpfungskette sowie Defizite in den Bereichen Planung, Beschaffung und Bau lassen sich mit einem strategischen Plan ernsthaft angehen, wobei neue Dienstleistungen sofort ermöglicht werden und neue Wertschöpfungsketten oder Geschäftsmodelle entstehen können. Wie schnell dies gehen kann,
Eine Frage bleibt: Hat Chat GPT diesen Text erfasst? Glücklicherweise ist dies irrelevant. Unternehmertum misst sich nicht daran, was wir sagen, sondern daran, was wir tun. Das Entwickler-Mindset, unsere Denkweise, die tief in der DNA von Halter verankert ist, führt uns auf den Weg der Erneuerung. Construction 4.0 ist etwas, das im Begriff ist, Realität zu werden, und KIs wie Chat GPT werden ihren Teil dazu beitragen. Der Wandel geschieht jetzt und mit jedem Schritt, den wir tun, aus uns. Unser Anspruch ist es, die Entwicklung aktiv zu gestalten. Damit sind wir nicht allein. Wir werden auch in den kommenden Jahren in diese Themen investieren und unsere Fortschritte mit unseren Partnern im Projekt- und Ausbildungsumfeld teilen sowie in unseren Kundenprojekten umsetzen. Gemeinsam müssen wir dafür sorgen, dass das Versprechen von Construction 4.0 (auch wenn es am Anfang des Textes von einer Maschine formuliert wurde) Wirklichkeit wird.
Wie Suneel Gupta5 in seiner Eröffnungsrede an der Design-Build-Konferenz in Las Vegas im November letzten Jahres eindringlich betont hat: «Let’s not play the game of someday. Let’s play the game of now. We can’t wait for courage in order to take action. We take action and let the courage catch up along the way.»6
5 Suneel Gupta, Autor, Redner, Gastwissenschaftler an der Harvard Medical School, Gründer und CEO von Rise.
6 «Spielen wir nicht das Spiel der Zukunft. Spielen wir das Spiel des Jetzt. Wir können nicht auf den Mut zum Handeln warten. Wir handeln und lassen uns auf unserem Weg vom Mut einholen.»
Mit Midjourney erstellte Visualisierung zu: «Construction site in a city with a robotic crane.»
haben wir in den letzten Monaten gesehen. Damit wir vorankommen, muss ein systemischer Wandel gefördert werden. Dieser sollte auf der Interdependenz zwischen den verschiedenen Akteuren beruhen, die unterschiedliche Innovationen rund um Construction 4.0 und neue integrative Projektabwicklungsmodelle verfolgen. In integrativen Projekten profitieren alle vom Ausmisten unnötiger und sich wiederholender Aufgaben und Prozesse. Um die cyber-physische Revolution in unserer Branche herbeizuführen, bedarf es gemeinsamer Anstrengungen zur Entwicklung neuer Lösungen und Prozesse sowie der Offenheit zwischen den Akteuren, um allfällige Doppelspurigkeiten zu vermeiden.
Alexandra Stamou (46) ist seit Oktober 2018 Leiterin Innovation und Produktmanagement bei der Halter AG. Sie ist Architektin mit einem MAS CAAD der ETH Zürich und Weiterbildungen in Strategie- und Organisationsentwicklung (HSG-SKU) sowie Digitalem Planen und Bauen (FHNW). Bevor sie 2006 für das Nachdiplomstudium nach Zürich kam, arbeitete sie als Architektin in Athen. Nach dem MAS war sie fünf Jahre bei der Schweizerischen Zentralstelle für Baurationalisierung (CRB) tätig, zuletzt als stellvertretende Leiterin Entwicklung. 2012 baute sie den ETHSpin-off Buildup AG mit auf, bei dem sie als Leiterin Entwicklung auch für die Partnerintegration verantwortlich war. Sie bewegt sich immer in den Spannungsfeldern zwischen Bau, Innovation und Digitalisierung und ist Mitglied der Kommission 451 des SIA sowie Verwaltungsrätin der Tend AG und der Raumgleiter AG. → www.halter.ch
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SCHUTZ OHNE DISRUPTION
Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten – ob dieses Zitat wirklich von Albert Einstein stammt, wie oft behauptet wird, ist nicht belegt. Dennoch eignet es sich hervorragend, um die derzeitige Diskussion zum Klimaschutz zu analysieren. Als «andere Ergebnisse» kann man die dezidierten Forderungen unserer Gesellschaft sehen, wenn es um die Eindämmung der Erderwärmung durch die Reduktion der CO₂-Emissionen sowie ein erhöhtes Nachhaltigkeitsbewusstsein geht. Gemeint sind dabei sogar radikal «andere Ergebnisse», nämlich Klimaneutralität bis 2050.
Dies betrifft und beeinflusst alle Branchen, insbesondere –wegen ihres grossen Impacts auf diese Themen – auch unsere Immobilien- und Baubranche. Der Glaube, die verbindlich definierten, sehr ambitionierten Ziele erreichen zu können, indem wir immer wieder das Gleiche tun, ist wahnsinnig, wenn nicht gar aussichtslos. Die Zielerreichung setzt die Kreislaufwirtschaft und damit einhergehend integrierte Beschaffungs-, Abwicklungs- und Zusammenarbeitsmodelle voraus. Es braucht grundsätzlich neue Herangehens- und Denkweisen, denn das Optimieren etablierter respektive veralteter Prozesse und (Wasserfall-)Modelle reicht nicht aus.
Die Prozess-, Vertrags- und Vergütungslandschaft muss sich grundlegend verändern Quantensprünge bezüglich Effizienz, Effektivität und Innovation sind nötig und sollen entsprechend gefördert und gefordert werden. Hierzu müssen die richtigen Anreize geschaffen und ein «alignment of interest» – also ein Abstimmen der Interessen aller Beteiligten – erreicht werden. Dies bedingt integrierte Prozesse: die früh- und rechtzeitige Integration aller relevanten Beteiligten sowie ergebnisorientierte respektive performance-
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Text: Maik Neuhaus
Engineering & Production – Kolumne
Illustration: Dominique Wyss
orientierte und -fördernde Vertrags- und Vergütungsmodelle. Diese entscheidenden Eigenschaften bietet das konventionelle Vertrags- und Vergütungsmodell nach SIA, das die Prozesslandschaft in der Schweizer Immobilien- und Baubranche noch immer (zu) stark prägt, nicht. Das aufwandbasierte und baukostenabhängige Vergütungsmodell (je höher der Aufwand beziehungsweise die Baukosten, umso höher ist die Vergütung) schafft falsche Anreize. Noch dazu führt es zu nicht integraler, fragmentierter und konfliktfördernder Zusammenarbeit, hemmt Innovationen und die Durchgängigkeit von Daten, Informationen und Know-how und bedingt längere Prozesse sowie höhere Kosten. Oder deutlicher formuliert: Es führt zu einem ineffizienten Einsatz von (Personal- und Kapital-)Ressourcen sowie zu nicht optimierten Ergebnissen. Die dadurch geförderte Ressourcenverschwendung steht diametral zum eingangs erwähnten Ziel der Klimaneutralität.
Der eigentliche Auftraggeber zur Effizenzsteigerung ist die Gesellschaft
Zu oft noch wird – teils aus Angst, Bequemlichkeit oder Partikularinteressen – nach veralteten Mustern vorgegangen, und zwar bezüglich Projektabwicklung, Beschaffung von Leistungen respektive Projektpartnern sowie der Zusammenarbeitsform. Am Ende steht eine Vergütung, die generell zu sehr aufwand- und zu wenig ergebnisorientiert ist. Man könnte die Abläufe mit dem Fliegen vergleichen: Wer einen Flug bucht, zahlt lediglich die (sichere) Reise zum Zielort, und zwar unabhängig davon, ob der Flieger dort direkt landen kann, Schlaufen drehen oder vielleicht sogar unvorhergesehen irgendwo anders zwischenlanden muss. Die aus Sicht des Passagiers unnötige (und überdies zeit- und nervenraubende) längere Flugdauer kann der Leistungserbringer – in diesem Fall die Fluggesellschaft – nicht verrechnen. Genauso ist es beim Sport, bei dem eine Siegerprämie für den Turnier-, Cup- oder Meisterschaftssieg vergeben wird und nicht für die Anzahl geleisteter Trainingsstunden. So muss es auch in unserer Branche sein: Nicht der Aufwand und die allfälligen Schlaufen sollen vergütet werden, sondern einzig und allein das (optimale) Resultat. Damit werden alle Beteiligten gleichermassen incentiviert, effizient und ressourcenschonend optimale Resultate zu erreichen und einen Beitrag dafür zu leisten, die von der Gesellschaft geforderten, weitestgehend gesetzlich verankerten Ergebnisse zu erbringen. Der eigentliche Auftraggeber hinsichtlich Effizienzsteigerung und Disruption ist die Gesellschaft und nicht, wie oft in Medien und Politik dargestellt, angeblich renditebesessene Investoren, Bauherren und Entwickler. Diese übernehmen nur die Aufgabe der Exekutive für die dezidierte Vorgabe.
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Die gängige Argumentation, dass optimale Resultate nur basierend auf dem konventionellen Phasenmodell und damit verbunden über eine aufwand- und kostenabhängige Vergütung erzielt werden können, ist nicht mehr als das Bestreben einer Interessengruppe, über Protektionismus und Lobbyismus ein veraltetes Geschäfts- und Honorarmodell aufrechtzuerhalten. Der Schaden, der dadurch entsteht, ist immens und – neben den langwierigen Bewilligungsprozessen und Interessenkonflikten im Normen- und Gesetzeswerk – einer der grössten Entschleuniger hinsichtlich der geforderten Klimaneutralität bis 2050.
Konkret bedeutet dies, dass auch die aufwandorientierten Honorarverträge und Vergütungsmodelle grundsätzlich neu gedacht und performancebasiert sowie ergebnisorientiert(er) formuliert werden müssen. Integrierter Bestandteil dabei ist, dass der Leistungskatalog präziser und projektspezifischer geregelt wird (Thema Bestellerkompetenz). Dadurch können der Aufwand und entsprechend auch die Kosten durch alle Beteiligten sehr präzise abgeschätzt und optimiert werden. Ziel muss es sein, die vom Besteller geforderten respektive durch den Auftragnehmer zu erbringenden Leistungen zeitlich und kostenmässig genau(er) quantifizieren zu können. Leistungen, die nur eventuell oder allenfalls mehrfach zu erbringen sind, werden nicht mehr in das Basishonorar eingerechnet, sondern – sollten sie denn tatsächlich anfallen – als Zusatzleistung vergütet (weg vom All-inclusivePrinzip, hin zu einem À-la-carte- oder auch Verbraucherprinzip).
Zudem ist das heute etablierte Malussystem, bei dem mangelhafte Leistungen des Auftragnehmers von dessen Vergütung abgezogen werden, psychologisch schwierig und führt faktisch immer zu Konflikten und schlechter Stimmung – und zwar unabhängig davon, ob die Reduktion legitimiert ist oder nicht. Dies, weil sich der Auftragnehmer auf das ursprünglich definierte (Maximal-)Honorar eingestellt hat und viel verlieren kann. Motivierender und auch partnerschaftlicher sind Incentivierungsmodelle, bei denen der Auftragnehmer bei vertragsgemässer Leistungserbringung etwas zusätzlich gewinnen kann. Hier ist es wichtig, dass die zu erreichenden Ziele für beide Partner verständlich und messbar sind.
Ausgewiesene Kompetenz und Spitzenleistungen sind gefragt Entscheidend ist, dass – um den optimalen Einsatz der Ressourcen zu erreichen – in jeder Phase durch alle Projektpartner Spitzenleistungen erbracht werden. Dafür können bei den beiden (Haupt-) Disziplinen Design und Werkplanung unter Umständen zwei unterschiedliche Partner zum Einsatz kommen – zwei Partner, die jeweils in einer der beiden Kompetenzen spezialisiert und «best
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Engineering & Production – Kolumne
in class» sind. Wichtig ist dabei natürlich, dass die DNA des Projekts sowie seine qualitäts- und identitätsstiftenden Elemente über geeignete qualitätssichernde Prozesse garantiert werden.
Es ist höchste Zeit, dass die Branche sich öffnet hinsichtlich der Alternativen zum etablierten Allroundermodell, bei dem Design und Werkplanung immer aus einer Hand kommen. Dies muss unabhängig davon geschehen, ob der Auftragnehmer qualifiziert ist oder nicht. Es gibt viele hoch kompetente Player, die auch weiterhin Design und Werkplanung auf höchstem Niveau erbringen können, wollen und sollen (also als Allrounder agieren), doch gibt es mindestens genauso viele Player, die in der einen oder anderen Disziplin die geforderte Spitzenleistung nicht erbringen können oder wollen.
Wir müssen eingefahrene Muster und Prozesse verlassen, uns vertrauen und getrauen, Neues zu tun – auch wenn es punktuell und zwischenzeitlich wehtut. Wir müssen als Branche gemeinsam die Komfortzone der letzten Jahrzehnte verlassen, denn nur so werden wir die von der Gesellschaft geforderten und unserer Umwelt geschuldeten Ergebnisse erreichen können.
Maik Neuhaus (43) absolvierte eine Hochbauzeichnerlehre in einem Architekturbüro in Freiburg. Nach der Berufsmatura studierte er Architektur an der Fachhochschule in Freiburg und arbeitete parallel in einem Architekturbüro in Genf. Nach dem Studium war er als Immobilienentwickler bei Marazzi tätig, bevor er 2008 zu Halter Entwicklungen wechselte. Dort war er bis 2013 Leiter Entwicklung und Mitglied der Geschäftsleitung. 2014 wechselte er zu Halter Gesamtleistungen und verantwortete die Entwicklung und Akquisition. Seit 2019 ist Maik Neuhaus Geschäftsführer der Halter Gesamtleistungen und Mitglied der Gruppenleitung der Halter AG. → www.halter.ch
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ZU HABEN
Seit der Immobilienkrise der 1990er-Jahre stehen die Futura Towers im aargauischen Lupfig grösstenteils leer. Nun werden die zwei verwaisten Bürotürme von der Halter AG unter dem Namen Futurama neu positioniert. Auf rund 25 000 Quadratmetern Fläche soll in den nächsten Jahren ein Zentrum für Lehre, Forschung und produzierendes Gewerbe entstehen. Die schrittweise Transformation haucht dem Ort nicht nur neues Leben ein, auch das wachsende Gewerbegebiet rundum soll von Freizeit- und Gastronomieangeboten profitieren.
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IM PAAR
Text und Fotos: Joris Jehle
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Riesig sind sie, die beiden Futura Towers, und irgendwie abweisend. Die Feinteiligkeit der Fassaden verliert sich aus der Ferne in deren schieren Grösse. Beim Näherkommen irritieren die engen Aussenräume. Hier können Fahrzeuge passieren, für Zu-Fuss-Gehende bleibt kaum Platz. Auch das Innere der Türme wirkt verloren. Seit ihrer Erstellung stehen die meisten der elf Ober- und drei Untergeschosse leer. Es wurden weder Böden verlegt noch eine Beleuchtung installiert. Nur auf einer Etage scheint Licht durch die Lücke einer Zwischenwand. Dahinter liegen einzelne Sitzungszimmer und ein Empfang, der wirkt, als wäre hier schon lange niemand mehr begrüsst worden.
Erstellt wurden die Futura Towers in Lupfig im Ensemble mit zwei weiteren Hochhäusern von 1990 bis 1992 auf der grünen Wiese. Mit dem nahen A1-Autobahnanschluss, dem geplanten A3-Anschluss sowie dem 1994 eröffneten S-Bahnhof Lupfig war das Grundstück schon damals bestens erschlossen. Der Boom der 1980er-Jahre hatte dem ehemaligen Eigentümer wohl Hoffnung gemacht – allein in den beiden Futura Towers realisierte er 25 000 Quadratmeter Nutzfläche. Doch dann kam der Schweizer Immobiliencrash von 1991. Die Bürotürme wurden zu einem grossen Teil nie vermietet und nie ausgebaut.
Der Eigentümer der Futura Towers war damals nicht der einzige, der sich verrechnet hatte. Die boomende Wirtschaft trieb die Immobilienpreise in die Höhe, die Spekulation grassierte. Regulatorische Neuerungen wie die Einführung des Pensionskassenobligatoriums 1985 und der wachsende Konkurrenzdruck unter den Banken bliesen der entstehenden Blase mehr und mehr Luft ein. Kredite wurden immer lockerer vergeben. Nachdem sich die Immobilienpreise innerhalb eines Jahrzehnts fast verdoppelt hatten, stiegen sie von 1987 bis 1990 noch weiter an.
Der New Yorker Börsencrash bremste 1987 auch den Schweizer Wirtschaftsboom. Um dessen Auswirkungen abzumildern und die Wirtschaft anzukurbeln, senkten die Schweizer Banken ihre Zinsen. Die Massnahme zeigte Wirkung – doch stärker als erhofft. Die Inflation stieg massiv. Immobilien galten als sichere Anlagen und gewannen in diesem schwierigen Umfeld bei Investoren zusätzlich an Beliebtheit. 1989 schliesslich versuchte die Nationalbank, die Teuerung abzuschwächen, indem sie ihren Leitzins schlagartig von 3,5 auf 6 Prozent erhöhte. Gleichzeitig erliess der Bund dringliche Massnahmen zur Eindämmung der Spekulation.
Auch die Gegenmassnahmen schossen weit über ihr Ziel hinaus. Die Blase platzte, die Preise fielen, faule Kredite mussten abgeschrieben werden. Die Folge: Fast ein Drittel der Schweizer Banken schlossen ihre Türen, Baufirmen gingen Konkurs, private Ersparnisse wurden vernichtet. Die Leerstandsquote von Geschäftsliegenschaften stieg bis 1993 auf 12 Prozent an. Gerade erst fertiggestellt, zählten auch die Futura Towers in Lupfig dazu.
Industriekanton Aargau
Noch heute stehen die Türme grösstenteils leer. Doch die gute Anbindung der vermeintlich peripheren Lage ist nicht unbemerkt geblieben. Rundum entstehen Bürogebäude, Gewerbebauten, Datenzentren. Diverse Firmen aus den Bereichen Produktion, Energie, Lebensmittel und Fahrzeugimport haben im Gewerbegebiet von Lupfig neue Standorte eröffnet oder bestehende erweitert.
Die Firma Suhner Schweiz AG produziert hier an ihrem Hauptsitz an der Industriestrasse seit Jahrzehnten unter anderem hoch präzise Maschinenteile für die Automobilund Flugzeugindustrie. Seit einigen Jahren mietet sie zusätzlich die beiden Erdgeschosse der Türme 1 und 2 und die grosse Produktionshalle dazwischen. Das Familienunternehmen in vierter Generation ist aufgrund der hohen Spezialisierung und der Präzision seiner Produkte weltweit tätig. Von den insgesamt rund 750 Mitarbeitenden sind 230 am Standort Lupfig tätig.
Damit ist Suhner das klassische Beispiel für ein Aargauer Unternehmen. Der Anteil von Beschäftigten im zweiten Sektor ist im Kanton nämlich mit 27 Prozent fast doppelt so hoch wie in der gesamten Schweiz (14 Prozent), und über 80 Prozent aller Beschäftigten sind in kleinen und mittleren Unternehmen angestellt, während es im ganzen Land 67 Prozent sind. Der Aargau ist also noch immer ein Industriekanton der kleinen und mittleren Betriebe. Die Schweizer Industrie hält sich hier seit der massiven Schrumpfung in den 1970er- und 1980er-Jahren relativ hartnäckig – sie hat ihre Nischen gefunden.
Nichtsdestotrotz sind die Beschäftigtenzahlen im Produktionssektor in allen Kantonen rückläufig. Der internationale Konkurrenz- und Preisdruck nimmt zu. Auch die Schweizer Industrie steht unter Innovationsdruck – sie muss bewährte Prozesse und Produkte überarbeiten oder grundlegend neu denken. Viele Firmen sind der Industrie 2.0
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zuzuordnen, weil die Produktionslinien weiterhin sehr viele menschliche Handgriffe benötigen. Erst teilweise ist die Serienproduktion vollständig durch Roboter automatisiert. Dies wird als dritte industrielle Revolution oder Industrie 3.0 bezeichnet. Inzwischen spricht man jedoch bereits von einer vierten und fünften industriellen Revolution: Industrie 4.0 ersetzt die übliche Massenproduktion gegen die automatisierte Herstellung von massgeschneiderten Einzelanfertigungen, beispielsweise mittels 3D-Druck. Mit Industrie 5.0 wird die verstärkte Zusammenarbeit von Mensch und Roboter sowie von menschlicher und künstlicher Intelligenz angekündigt.
Aus Futura Towers wird Futurama
Im zweiten, nachträglich verstärkten Untergeschoss von Turm 2 ist seit Mai 2022 Saeki Robotics eingemietet, ein Unternehmen der Industrie 4.0, das mit einem riesigen Industrieroboter Betonschalungen für die Baubranche druckt. Das Start-up ist ein Spin-off der ETH Zürich und hat einen 3D-Druckkopf sowie die entsprechende Software entwickelt. Während etwa konvexe oder konkave Schalungen herkömmlicherweise in tagelanger Handarbeit aus Holz durch Zimmerleute gebaut werden müssen, druckt Saeki diese in nur wenigen Stunden aus einem speziellen Kunststoff. Jede erdenkliche Form ist druckbar – die Produktionszeit wird lediglich durch die Grösse der Schalung bestimmt. Teure Spezialanfertigungen wie Betontreppen oder gewölbte Betondecken werden dadurch um ein Vielfaches günstiger.
Der Einzug von Saeki in die Futura Towers ist auch bei Suhner nicht unbemerkt geblieben. Das Start-up hat das Industrieunternehmen dazu inspiriert, die Möglichkeiten des 3D-Metall-Drucks für seine Produkte auszuloten. Man spricht bereits über Kollaborationsmöglichkeiten.
Das Zusammentreffen der beiden Firmen wurde möglich, weil die Halter AG die Futura Towers Anfang 2022 erwarb. Seitdem wird die Liegenschaft unter dem Produktnamen Futurama als Hub für Lehre, Forschung und produzierendes Gewerbe neu positioniert. Andreas Campi, Geschäftsführer von Halter Entwicklungen, und Alexandra Stamou, Leiterin Innovation und Produktmanagement, erarbeiteten ein entsprechendes Konzept. Dem folgend werden die Gebäude in den nächsten Jahren Schritt für Schritt saniert und ausgebaut – abgestimmt auf die Bedürfnisse der neuen Mieterschaft.
Durch die massgeschneiderte Gebäudetransformation soll der Innovationscluster nachhaltig und organisch wachsen. Die Nähe zur Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg und zum Paul Scherrer Institut in Villigen dürfte sich dabei als vorteilhaft erweisen. Angestrebt wird ein lebendiger Hub der Industrien 4.0 und 5.0, ein Ort, wo sich Mitarbeitende unterschiedlicher Unternehmungen austauschen, Synergien entstehen und Innovation gelebt wird.
Die elf Obergeschosse in den in Skelettbauweise mit einem Stützenraster von sechs mal sechs Metern erstellten Gebäuden sollen durch Deckendurchbrüche über zwei oder drei Geschosse geöffnet und besser belichtet werden. Eine Neugestaltung der bestehenden zwei Eingänge zu grosszügigen Foyers wird die Adressbildung unterstützen. Für mehr Aufenthaltsqualität sorgt dann zudem ein begehbarer, vertikaler Grünraum zwischen den beiden Türmen. Und nicht zuletzt sollen die Aussenräume und die Zufahrt zum Gebäude aufgewertet werden. Während sie einst fürs Auto geplant wurden – die Tiefgarage erstreckt sich über drei Untergeschosse, Trottoirs im Aussenraum fehlen gänzlich –, werden sie nun für Zu-FussGehende angenehmer und sicherer. Die Gemeinde hat bereits erste Schritte unternommen, um die Aufenthaltsqualität im Gewerbegebiet entlang der öffentlichen Strassen durch Trottoirs und zusätzliche Bäume zu erhöhen.
Damit hat das Futurama beste Aussichten darauf, zum Zentrum des gesamten Gewerbegebiets zu werden. Ein attraktives Gastronomieangebot am Mittag und später auch am Abend wird die Transformation begleiten. So könnte der Dachgarten der Öffentlichkeit in Zukunft auch ausserhalb der Arbeitszeiten zur Verfügung stehen. Präsentationsflächen für die ansässigen Firmen, Co-Working-Spaces und Mikroapartments vom Typ MOVEment sollen für Leben und zusätzliche Nutzungsdiversität sorgen. Bis es so weit ist, können noch ein paar Jahre vergehen, doch im Erdgeschoss und im Keller wird bereits produziert.
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Konzeptskizze Transformation Erdgeschoss: Die neuen grosszügigen Eingänge von Turm 1 und 2 werden intern verbunden.
S. 161 – Die bestehenden Eingänge der Futura Towers sind dunkel und wenig einladend. Der verblichene Lack von Fenster- und Türrahmen gibt einen Hinweis auf die Erstellungszeit. Zukünftig sollen Besucher in verglasten Foyers an den Gebäudeecken begrüsst werden. Auch die asphaltierten Aussenräume erhalten ein neues Aussehen.
S. 162/163 – Von Weitem zeigen sich die beiden Türme imposant und doch grau in grau. Die vielen kleinen Fenster verbinden sich zu einem filigranen Netz, das sich über die Fassade legt. Durch die geplante Begrünung zwischen den Gebäuden und eine neue Farbgestaltung könnte sich die Atmosphäre künftig stark verändern.
S. 164/165 – In der zwischen Turm 1 und Turm 2 gelegenen Halle produziert die Suhner Schweiz AG seit einigen Jahren unter anderem biegsame Kurbelwellen.
S. 166 – Im Gewerbegebiet der aargauischen Gemeinde Lupfig entstehen rund um die Futura Towers neue Gebäude. Darunter befindet sich auch das Green Datacenter, ein Hochleistungsrechenzentrum, das zu den grössten und modernsten der Schweiz gehört.
Konzeptskizze Transformation 1. Obergeschoss: Vertikale Durchbrüche über zwei Geschosse bringen Licht ins Gebäude.
S. 167 – Keines der elf Obergeschosse wurde je komplett ausgebaut. An jeder der knapp 55 Meter langen Längsseiten liegen 54 Fenster, die kurioserweise alle mit eigenem Lamellenstoren und manueller Kurbel ausgestattet sind.
S. 168/169 – Die Futura Towers wurden in Skelettbauweise mit einem Stützenraster von sechs mal sechs Metern erstellt. Im Erschliessungskern befinden sich Aufzüge, Treppenhäuser und Sanitärräume. Die violette Lackierung überdauerte die letzten dreissig Jahre.
S. 170 – Lediglich auf einzelnen Geschossen sind mit Leichtbauwänden einige Sitzungszimmer abgetrennt. Der Ausbau wurde jedoch nie abgeschlossen.
S. 171 – Blick auf den verlassenen Empfang im ausgebauten Bereich eines Obergeschosses. Auch hier sind die Mieter schon vor Jahren wieder ausgezogen.
Konzeptskizze Transformation Regelgeschoss: Zwischen den beiden Türmen wird ein begrünter Aussenraum entstehen.
S. 172 – Ein Teil des 2. Untergeschosses von Turm 2 wurde im Frühling 2022 für Saeki Robotics umgebaut. Die doppelte Geschosshöhe und ein Warenlift boten ideale Voraussetzungen für die Nutzung als Produktionshalle.
S. 173 – Ein Mitarbeiter des Start-ups montiert einen 3D-Druckkopf an einem Standardindustrieroboter. Mit ihm werden Schalungen aus einem speziellen Kunststoff für die Bauindustrie gedruckt.
S. 174 – Die Betonschalungen von Saeki können in allen erdenklichen Formen innerhalb weniger Stunden vollautomatisch gedruckt werden. Das reduziert Kosten und Zeitaufwand im Baugewerbe.
S. 175 – In den drei Untergeschossen wurden von 1990 bis 1992 fast 300 Einstellplätze realisiert. Später liess man sie mit Stützen verstärken, damit die Lasten darüber besser getragen werden können.
Konzeptskizze Transformation Dachgeschoss: Neben einer Fotovoltaikanlage gibt es Dachterrassen und Gastronomie.
S. 176 – 1990er-Jahre-Look: Die Richtungspfeile auf dem Boden der Tiefgarage sind leuchtend gelb. Türen und Türrahmen im ganzen Haus tragen Violett.
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AUS WILHELM WIRD VILIO
Am 29. August 1918 erwarb Wilhelm Pius Halter im Alter von 27 Jahren ein Maurergeschäft in Zürich Altstetten. Damit legte der Obwaldner den Grundstein für die erfolgreiche Entwicklung seiner Unternehmung, die heute in der dritten Generation als Halter AG geführt wird. Für die Neupositionierung des Halter Bauservice griff man nun auf eine Ableitung des Vornamens des Firmengründers zurück. Die Vilio AG steht für ein Leistungsangebot, das die Tradition hochhält: qualitätsvolle Handwerksarbeit, Zuverlässigkeit sowie Termin- und Kostensicherheit bei anspruchsvollen Renovationen und besonderen Bauvorhaben.
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Text: Christine Marie Halter-Oppelt
Fotos: Sabrina Golob
Engineering & Production
Es waren andere Zeiten. Als Wilhelm Halter 1918 mit seiner jungen Familie in sein neues Wohnhaus an der Herrligstrasse in Zürich Altstetten einzog, lag nicht etwa ein grüner Garten vor der Türe. In einem Anbau war der Geschäftstrakt untergebracht, rundherum standen Werkstätten und Materiallager. Auch Stallungen gehörten zum Geschäftssitz seiner Bauunternehmung, denn für die Anlieferung der Baumaterialien auf die Baustellen benutzte man damals noch Pferdefuhrwerke. Die schwere Arbeit vor Ort wurde von Hand und mit einfachen Werkzeugen erledigt. Die Arbeiter, von denen damals schon viele aus Italien stammten, führten die schweisstreibenden Tätigkeiten in der Höhe auf windigen Holzgerüsten aus und wohnten des Nachts in eigens für sie errichteten Unterkünften. Anna HalterMing, die Ehefrau und aktive Mitstreiterin von Wilhelm Halter, kümmerte sich nach Feierabend oft persönlich um deren Anliegen und Wohlergehen.
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg investierten Bund und Kantone verstärkt in den Wohnungsbau, um die Wohnungsnot vor allem in der Arbeiterschicht, aber auch bei den normalen Angestellten zu lindern. In dieser Phase der landesweit wachsenden Bautätigkeit legte Wilhelm Halter den Grundstein für sein erfolgreiches Wirken als Bauunternehmer in Zürich Altstetten und Albisrieden. Neben Wohn- und Geschäftshäusern für das eigene Portfolio entstanden auch mehrere Genossenschaften auf seine Mitinitiative hin.
Nach dem Tod des Firmengründers wurde Halter als Bauunternehmung und Immobilienentwickler erst von dessen Ehefrau, dann von deren zweitgeborenem Sohn Jost Halter und ab 1987 von dessen Sohn Balz Halter weitergeführt. Um seinen unternehmerischen Handlungsspielraum zu erweitern, entschied dieser 2008, die damals um die hundert Mann starke Bauunternehmung an den Mitbewerber Anliker zu verkaufen. Halter agierte fortan als Entwickler, Generalunternehmer und Immobiliendienstleister. Beim Unternehmen blieb der Halter Bauservice. Die kleine, schlagkräftige Einheit hatte bereits seit Jahren erfolgreich als Spezialtruppe für heikle, handwerklich besonders anspruchsvolle und im schnellen Einsatz auszuführende Arbeiten gedient. Mit einem festen Mitarbeiterstamm von um die zwanzig Personen hatte sie sich seit ihrer Gründung im Jahr 1989 einen treuen und vor allem auf Empfehlung basierenden Kundenstamm erarbeitet.
Neuausrichtung und Namenswechsel
Mit der Wandlung der Halter AG von einem Bauunternehmen zu einer diversifizierten Baugruppe entwickelten sich verschiedene Geschäftseinheiten, die stets den neuen Marktbedürfnissen angepasst wurden. Infolge des zunehmenden Bedarfs an Know-how und Kompetenz im Umbau von Bestandsliegenschaften gründete man 2018 die Unternehmenssparte Renovationen. Diese hat sich in den vergangenen drei Jahren unter der Leitung von Anna von Sydow ein beeindruckendes Kundenportfolio mit manch prominentem Umbauprojekt an exponierter Innenstadtlage erarbeitet (siehe auch «Schlichte Hülle, glänzender Kern», S. 68). Kurzzeitig wurde der Halter Bauservice bei Halter Renovationen integriert.
«Doch wir erkannten bald, dass unsere Geschäftsmodelle zu unterschiedlich sind und sich in der Praxis wenig Synergien ergaben», erklärt Anna von Sydow. «Darum beschlossen wir, den Bauservice wieder auszugliedern und am freien Markt gestärkt und eigenständig zu positionieren.» In der Folge wurden mehrere Workshops durchgeführt, die zu neuem Namen, Logo und Markenauftritt führten. «‹Vilio› hatte ich von Beginn an in meinem Kopf. Abgeleitet von ‹Wilhelm› und der Kurzform ‹Willi›, steht der Name für die grosse Erfahrung und die handwerkliche Expertise unserer Einheit, ermöglicht aber auch eine moderne, kundennahe Positionierung», sagt Andreas Wüthrich, VilioGeschäftsführer. Im September 2022 war es dann so weit, die Website wurde freigeschaltet. Seitdem wirbt unter dem neuen Firmennamen der Slogan «Bauservice persönlich» für die individuelle Ausrichtung der Leistungen.
In den Magazinen des Werkhofs der Vilio AG in Fahrweid bei Dietikon werden in einer Holzkiste noch immer die alten Werkzeuge aus der Ära von Wilhelm Halter aufbewahrt. Für den neuen Internetauftritt wurden sie fotografiert und zeugen nun online für jedermann sichtbar von der über hundertjährigen Handwerkstradition, die der Umbauspezialist in seiner DNA trägt. Doch natürlich geht es bei Vilio um mehr als nur um die Vergangenheit. An der Hardwaldstrasse 21 lagern auch moderne Baumaschinen sowie eine grosse Palette an Baustoffen und Bauhilfsmitteln.
Auf dem Hof fahren die Firmenwagen, die nun das Vilio-Logo tragen, ein und aus. In grossen Mulden werden Schutt und Abfall unter den Gesichtspunkten der Ökologie und der Kreislaufwirtschaft sorgfältig getrennt. Doch die wirklich anspruchsvollen Tätigkeiten warten
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bei den Kunden vor Ort. «Unsere Projekte sind immer massgeschneidert, je nachdem, welche Wünsche ein Bauherr an uns heranträgt oder welche Arbeiten ein Architekt oder eine Bauleitung zu vergeben hat», erklärt Stefan Cavallaro, der Leiter Baudienstleistungen bei Vilio.
Wachsende Referenzliste
Eines der Projekte, das Stefan Cavallaro im letzten Jahr betreute, war die komplette Sanierung einer Stadtvilla an der Rütistrasse im Zürcher Kreis 7. Hier kam der Auftrag für die Abbruch-, Maurer- und Gipserarbeiten über das planende Architekturbüro Peter Moor Architekten. Weil die Substanz von 1910 erhalten werden sollte, mussten alle originalen Details wie Türen, Parkett und Treppengeländer sorgfältig abgedeckt werden. Vilio installierte zudem die benötigten Hilfsgerüste und gewährleistete mit Provisorien auch für die anderen Gewerke den Arbeitsund Sicherungsschutz. Minutiöse Kleinarbeit wurde beim Wiederherstellen und Ergänzen der Stuckaturen sowie beim Verputzen der Fassade geleistet. Eine besondere Herausforderung war es, einen sauberen Abschluss zu den alten Sandsteingewänden, zum Sandsteinsockel und zum Sandsteinfries herzustellen.
Nur ein paar Hundert Meter entfernt, an der Aurorastrasse, sind die Planungen noch im Gang. Hier suchte der Bauherr nach dem Kauf einer Landhausvilla aus den 1960er-Jahren eine schnelle Lösung, um einen Teil des Hauses bewohnbar zu machen. Vilio wurde direkt von ihm beauftragt, eine Einliegerwohnung zu renovieren und mit neuen Bädern auszustatten. Zeitgleich wurde das grosse Wohnhaus zurückgebaut. Nach der Analyse der freigelegten Substanz durch Vilio stellte sich jedoch heraus, dass die Wünsche des Hausherrn mit einem Umbau nicht qualitäts- und kostengerecht erfüllt werden können. So wurde inzwischen ein Architekt mit den Entwürfen für einen Ersatzneubau beauftragt.
In der Marktgasse in Winterthur hingegen konnte die Sanierung eines denkmalgeschützten Altstadthauses mit Ladenflächen auf den vier unteren Geschossen und zwei Wohnungen in den Stockwerken darüber nach einem Jahr Bauzeit abgeschlossen werden. Vilio rettete die desolate Bausubstanz und befreite das Haus von Schadstoffen wie Asbest und PCB. Auch die unter Schutz stehenden, freigelegten Holzbalken in der bis unter den Giebel reichenden Dachwohnung konnten von den Rückständen
giftiger Holzschutzmittel befreit werden. Eine Aufgabe der speziellen Art erfüllen die Handwerker von Vilio gerade auf dem Attisholz-Areal bei Solothurn. Dort wird ein geschützter, hundert Meter hoher Hochkamin saniert. Die Backsteine, die bei der Restaurierung zum Einsatz kommen, wurden eigens und nach dem historischen Original produziert.
«Wir erstellen auch die Pläne für einen Umbau, machen Kostenschätzungen, erledigen die Bewilligungsverfahren, entwerfen den Zeitplan und übernehmen die Bauleitung. Vilio bietet einen Rundumservice wie ein Totalunternehmer, jedoch mit offener Abrechnung», erklärt Andreas Wüthrich. Die perfekte Ausführung liegt in den Händen seiner Mitarbeitenden: ein festes, eingespieltes Team. Sie heissen Carlos Lopez Rodrigues, José Manuel Miguelez-Martinez, Roberto Quintieri, Joaquim Reanha – um nur vier zu nennen – und bringen alle grosse handwerkliche Fertigkeit und Freude am Arbeiten mit. «Etwas, das man heute nur noch schwer findet», betont Andreas Wüthrich, der hofft, dass auch die seit einiger Zeit ausgeschriebene Maurerlehrstelle bald besetzt werden kann. Schliesslich möchte Vilio als Traditionsunternehmen auch in den Nachwuchs investieren. → www.vilio-bauservice.ch
S. 180 – Wilhelm Pius Halter (1891–1944) übernahm am 29. August 1918 das Baugeschäft von Jakob Müller in Zürich Altstetten. Mit Unternehmergeist und Weitblick legte er in den folgenden 26 Jahren den Grundstein für die Halter AG.
S. 182 – Die Stadtvilla an der Rütistrasse in Zürich wurde innen wie aussen aufwendig renoviert. Historisches Detail: die kassettierte Holzdachuntersicht. Bei den Putzarbeiten war der saubere Abschluss zu den Sandsteingewänden wichtig (linke Spalte von oben nach unten). Stuckaturen wurden restauriert und ergänzt. Alte Beschläge liess man neu aufarbeiten. Die originalen Bodenleisten bekamen einen neuen Anstrich. Alle Bäder wurden geschmackvoll ausgestattet (rechte Spalte von oben nach unten).
S. 183 – Im ganzen Haus wurde der Putz erneuert. Punktuell zog man neue Wände ein (oben). Während der Bauarbeiten blieb das alte Holzgeländer sorgfältig abgedeckt. Jetzt trägt es, frisch lackiert, zum historischen Charme der Stadtvilla bei (unten).
S. 185 – Zum Leistungsangebot von Vilio gehören Baumassnahmen aller Art, zum Beispiel Verputzarbeiten innen und aussen, Fliesenlegerarbeiten und Abbrucharbeiten (oben). Der Werkhof von Vilio liegt in Fahrweid bei Dietikon (unten).
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VERFAHREN MIT MODELLCHARAKTER
Die Digitalisierung des Bauwesens erfasst Schritt für Schritt auch das Behördenverfahren. Viele öffentliche Stellen arbeiten bereits an der ersten Stufe der digitalen Baueingabe. Die Stadt Wien entwickelte mit einem Forschungsteam im EU-geförderten Projekt Brise-Vienna nun einen vollständigen digitalen Open-BIM-Bewilligungsprozess. Dieser zeigt bereits im Pilotbetrieb die Vorteile der Verwendung von offenen Modellierungsmodellen – nicht nur für die Behörden, sondern auch für die Planungsteams.
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Text und Grafiken: Christian Schranz, Harald Urban
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Das Planungsteam des Architekturbüros arbeitet auf Hochtouren an seinem BIM-Modell. Alle Wünsche des Auftraggebers sind berücksichtigt, und die Baueingabe bei der Behörde steht an. Doch bevor dies geschehen kann, müssen aus dem 3D-BIM-Modell erst die 2D-Eingabepläne sowie weitere Unterlagen auf Papier erstellt werden – ein Medienbruch und ein Rückschritt von digital auf analog. Die 2D-Eingabepläne erfordern zudem Informationen, die eigentlich im 3D-BIM-Modell schon vorhanden wären. Wieso könnte nicht einfach das BIM-Modell eingereicht werden?
Die Mitarbeitenden der Baubehörde erhalten die ausgedruckten Pläne und Unterlagen. Die Aufteilung der Dokumente auf die entsprechenden Abteilungen beginnt. Papier wird hinund hergetragen beziehungsweise -geschickt. Danach fangen die Prüfungen an: Sind die eingereichten 2D-Pläne und Unterlagen vollständig, oder bedarf es weiterer Präzisierungen? Möglicherweise muss die Baueingabe nachgebessert und neu eingereicht werden. Erst danach folgt die Prüfung der Einhaltung aller rechtlichen und technischen Bestimmungen. Ein längeres Verfahren nimmt seinen Lauf. Wäre die Digitalisierung nicht auch hier eine Unterstützung für die Behörde?
Genau diesen Fragen widmet sich die Digitalisierung des Behördenverfahrens. Es soll sowohl die Planungsteams als auch die öffentlichen Stellen im Bewilligungsprozess unterstützen. Doch wie sieht dieser Weg aus?
Digitaler Reifegrad
Das Reifegradmodell (siehe Grafik S. 188 oben) zeigt die verschiedenen Digitalisierungsstufen im Bewilligungsprozess. Level 0 steht für die analoge 2D-Eingabe: In der Vergangenheit prägten analoge Unterlagen den Bewilligungsprozess. Die Planungsteams zeichneten alle einzureichenden Pläne. Seit der Einführung von CAD wurden die Pläne ausgeplottet und als Papierpläne mit zahlreichen anderen Unterlagen zur Behörde gebracht. Diese teilte die Pläne und die Unterlagen auf die zuständigen Abteilungen auf.
Viele Kommunen und Länder arbeiten schon heute am ersten Schritt der Digitalisierung. Level 1 stellt die digitale Baueingabe dar: Anstatt die Papierpläne zu den Behörden zu bringen, gibt es eine Webplattform, über die die Planungsteams Pläne und Unterlagen als PDF-Dateien hochladen können. Die Aufteilung der Unterlagen an die einzelnen Abteilungen erfolgt automatisch und vernetzt mit Daten-
banken. Danach nutzen alle Beteiligten eine webbasierte Kommunikation. Dieser erste Digitalisierungsschritt ist nicht so einfach, wie er erscheinen mag. Besonders wichtig ist der richtige IT-technische Aufbau der Webplattform, damit später auch weitere Digitalisierungsschritte schnell und einfach vollzogen werden können.
Der nächste Schritt ist Level 2. Er bezieht das digitale Modell mit ein: Hier laden die Planerteams das Open-BIM-Modell im IFC (Industry Foundation Classes), dem offenen Standard für den Datenaustausch in der Bauindustrie, hoch. Die Verwendung von Open BIM ist wichtig, weil die Planungsteams so frei in der Wahl ihrer BIM-fähigen Software sind. Die Behörden wiederum können die hochgeladenen Modelle einfach speichern und langfristig verwenden (ähnlich den früheren Papierplänen), da die IFC-Datenstruktur ISO-genormt ist. Die Prüfung erfolgt nun direkt an den OpenBIM-Modellen.
In Level 3 hat die Behörde bereits einen modellbasierten Bebauungsplan und kann diesen für die Prüfung der Open-BIM-Modelle verwenden.
Der Open-BIM-Bewilligungsprozess
In Wien entwickelte ein Forschungsteam gemeinsam mit den Abteilungen der Stadt Wien einen Open-BIM-Bewilligungsprozess im EU-geförderten Forschungsprojekt Brise-Vienna. Dieses fokussierte sich ganz auf Level 2. Dazu bildete das Team zuerst den gesamten analogen Bewilligungsprozess in einer Prozesslandkarte ab und optimierte sodann den Prozess sowie die Prozessschritte für den digitalen OpenBIM-Bewilligungsprozess.
Erst die teilautomatische Prüfung der OpenBIM-Modelle führt zu einer Entlastung der Mitarbeitenden der Baubehörde. Dazu sind drei Modelle erforderlich: das Bauantragsmodell BAM, das Referenzmodell REM und das Serviceinformationsmodell SIM (siehe Grafik S. 188 unten). Diese drei Modelle fliessen im Prüfmodell der Behörde zusammen. Damit können nun die teilautomatischen Prüfungen der baurechtlichen und bautechnischen Bestimmungen erfolgen.
Das Fachmodell der Architektur bildet das eingereichte BAM. Für dieses Modell gibt es genaue Anforderungen (Level of Geometry, Level of Information), denn das BAM muss alle Informationen enthalten, die auch bei einer bisher üblichen Einreichung erforderlich waren. So muss beispielsweise klar aufgeführt
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Das Reifegradmodell zeigt die verschiedenen Digitalisierungsstufen (Level 0, Level 1, Level 2, Level 3) im Bewilligungsprozess.
Das Bauantragsmodell BAM, das Serviceinformationsmodell SIM und das Referenzmodell REM fliessen im Prüfmodell der Behörde im IFC-Standard zusammen.
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analoge Unterlagen (Plan, Anfrage …) Webplattform Eingabe Kommunikation modellbasierte analoge 2D-Eingabe Level 0 SIM Prüfmodell Behörde BAM (Fachmodell Architektur) IFC (Industry Foundation Classes) ist der offene Standard für den Datenaustausch in der Bauindustrie REM Level 1 Level 2 Level 3 Prozessanalyse Ist → Soll Einbindung Open-BIM-Modelle 3D-Grundlage Bebaubarkeit digitale Baueingabe Open-BIMBewilligungsverfahren Open-BIMBehördenverfahren modellbasierter Bebauungsplan + Open-BIMEingabe + Fertigstellung / Digital Twin teilautomatische Prüfung Kontrolle Einsichtnahme Online-Abgabe der Eingabeunterlagen webbasierte Kommunikation Vernetzung von Datenbanken
sein, welche Räume Aufenthaltsräume sind, da für diese spezielle Bestimmungen gelten. Das REM bildet die Einschränkungen des Baugrunds beziehungsweise des Bebauungsplans ab. Es stellt somit gewissermassen eine Umhüllung für die mögliche Bebauung auf dem entsprechenden Grundstück dar. Das SIM entspricht im Open-BIMModell einem Würfel, der für jene Bestimmungen steht, die nicht geometrisch dargestellt werden, aber für die baurechtliche und bautechnische Prüfung erforderlich sind.
Somit kann die Behörde das BAM gegenüber dem REM und dem SIM prüfen. Dazu gibt es drei Typen von Prüfregeln: automatische Prüfregeln, teilautomatische Prüfregeln und unterstützende Prüfregeln. Die automatische Prüfregel liefert ein eindeutiges Ergebnis: Bestimmung erfüllt oder nicht erfüllt. Beispiele dafür sind die erforderlichen Breiten von Türen, die ausreichende Grösse der Fensterflächen zur Belichtung der dahinterliegenden Aufenthaltsräume oder die Einhaltung der Baulinien und Bauhöhen. Die teilautomatische Prüfregel weist zwar ein Ergebnis aus, benötigt aber noch eine Entscheidung des Behördenvertreters. Ein Beispiel dafür ist die Fluchtweganalyse. Die unterstützende Prüfregel hilft dem Beurteilenden grafisch, beispielsweise durch die Anzeige der tragenden Bauteile.
Diese Art der Prüfung der eingereichten Open-BIM-Modelle beschleunigt den Bewilligungsprozess entscheidend. Sehr viele zeitaufwendige Schritte erfolgen durch die Prüfsoftware und müssen nicht mehr von der Behörde selbst durchgeführt werden.
Prüfung vor Einreichung
Der Zeitraum der Prüfung der baurechtlichen und bautechnischen Bestimmungen ist jedoch nicht der einzige Einflussfaktor auf die Dauer des Bewilligungsprozesses. Zuerst müssen die Unterlagen vollständig und in prüfungssowie bewilligungsfähiger Qualität vorliegen. Ist dies nicht der Fall, müssen zusätzliche Unterlagen angefordert oder die eingereichten zur Nachbesserung zurückgeschickt werden.
Die Vollständigkeit der Unterlagen kann bereits in Level 1 durch die entsprechende Gestaltung der Einreichmaske der Webplattform erlangt werden. Im Projekt Brise-Vienna baute das Forschungsteam eine zusätzliche Qualitätsmassnahme ein: die Vorprüfung noch vor der Eingabe. So kann das Bauantragsmodell BAM bereits vor dem Einreichen geprüft werden. Da hierbei die Behörde noch nicht involviert
ist, erfolgt eine Prüfung mit allen automatischen Prüfregeln, die keine Entscheidung durch den Vertreter der Baubehörde erfordern. Das Planungsteam kann das BAM so oft prüfen, wie es möchte. Jedes Mal erhält es einen Prüfbericht und verbessert das Modell. Es reicht das Modell erst ein, wenn der automatische Check keine Fehler mehr aufweist. Damit ist auch sichergestellt, dass das BAM alle Anforderungen an die Prüffähigkeit erfüllt – ein Qualitätscheck für das OpenBIM-Modell.
Unterstützung für Planungsteams und Behörden
Der im Projekt Brise-Vienna entwickelte OpenBIM-Bewilligungsprozess zeigt, dass die Digitalisierung der Baueingabe sowohl für die Planungsteams als auch für die Behörden eine grosse Unterstützung ist. Die Planungsteams können durch die automatische Vorprüfung ihre BIM-Modelle so lange verbessern und prüfen, bis diese in ausreichender Qualität bewilligungsfähig sind. Die Behörde erhält ein sehr gutes Unterstützungstool, das ihr zeitraubende Prüfungen abnimmt und den Bewilligungsprozess beschleunigt.
Das eingereichte Open-BIM-Modell bietet im Verfahren zusätzliche Möglichkeiten: Durch den Einsatz von Augmented Reality könnte das geplante Bauwerk direkt am Baugrund visualisiert werden – anstatt des Baugespanns oder zusätzlich.
Christian Schranz (49) begann seine Forschungsarbeit an der University of Illinois at Urbana-Champaign in den USA und setzte diese an der TU Wien fort, wo er heute den Bereich Digitaler Bauprozess leitet. Seine Forschungen beschäftigen sich mit der Modellierung von Baukonstruktionen und der Digitalisierung im Bauwesen. Als Vorstandsmitglied von Building Smart Austria ist er fürs Quality-Management und die Open-BIM-Ausbildung verantwortlich. Er ist Teil der Prüfungskommission für die BIM-Cert-Ausbildung. Bei Building Smart International ist er im Steering-Committee der Professional Certification. → www.tuwien.at/cee/ibb/zdb
Harald Urban (31) ist stellvertretender Leiter des Forschungsbereichs Digitaler Bauprozess an der TU Wien, staatlich geprüfter Baumeister und einer der ersten Certified Trainer (BIM) von Building Smart Austria. Dort leitet er die nationale Working-Group Open-BIM-Bewilligungsverfahren, die er im EU-geförderten Forschungsprojekt Brise-Vienna weiterentwickelt. Er betreut zahlreiche Forschungsprojekte zum Thema Digitalisierung im Bauwesen und ist Mitautor der von der Wirtschaftskammer Österreich und dem österreichischen Klimaschutzministerium beauftragten Studie «Potenziale der Digitalisierung im Bauwesen».
→ www.tuwien.at/cee/ibb/zdb
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Mission
Mit unseren Kunden identifizieren wir Entwicklungspotenziale von Arealen, Grundstücken, Bauprojekten und Liegenschaften und setzen sie um: für einen effizienten Einsatz unserer Ressourcen.
Personalbestand
370 Mitarbeitende
Umsatz 2022
800–900 Mio. CHF
Verwaltungsrat
Balz Halter
Präsident
Roger Dettwiler
Dr. Urs Ernst
Dr. Nicolas Iynedjian
Martin Neff
Mitglieder
Organisation Unternehmung
Markus Mettler
CEO
Thomas Bachmann
Corporate Services
Andrin Gantenbein Rechtsdienst
Anna Domagala
Kommunikation
Alexandra Stamou Produkt- und Innovationsmanagement
Business-Development
Als Grundlage für die Investitionen unserer Kunden und Partner identifizieren wir Trends und Mehrwertpotenziale, entwickeln Nutzungsvisionen sowie Geschäftsmodelle und erstellen qualifizierte Business-Cases.
Organisation
Ede I. Andràskay Geschäftsführer
Olivier Thomas Westschweiz
Raphael Burkhalter
Region Bern
Raphael Strub Zentral- und Nordwestschweiz
Rolf Geiger Ostschweiz
Alex Valsecchi Investitionsmanagement
Gesamtleistungen
Optimales Entwickeln, Planen und Realisieren sind unsere Kernkompetenzen. Die Projektund Unternehmensstrategien unserer Kunden stehen dabei im Zentrum und sind für uns richtungsweisend.
Organisation Maik Neuhaus Geschäftsführer
Diego Frey
Engineering / Digitales Planen und Bauen
Marcel Weber Region Basel
Daniel Blaser Region Bern
Frédéric Boy Westschweiz
Oliver Kern Region Zürich
Adrian Roth Ostschweiz
Philip Kiefer Zentralschweiz
Renovationen
Wir erkennen den Mehrwert durch die nachhaltige Erneuerung oder die Umnutzung von Bestandsliegenschaften und realisieren eine kosteneffiziente, wertbeständige und zukunftstaugliche Lösung.
Organisation
Anna von Sydow Geschäftsführerin
190 Die Halter AG auf einen Blick
HALTER AG
Daniel Handschin
Entwicklung und Akquisition
Roland Baron
Alexander Delev
Burim Mustafa Ausführung
Lars Steffen Engineering
Entwicklungen
Wir entwickeln und realisieren Immobilien marktkonform und wertsteigernd. Dabei stehen Investoren- und Nutzerbedürfnisse sowie Städtebau mit nachhaltigem Mehrwert im Vordergrund.
Organisation
Andreas Campi Geschäftsführer
Kurt Ernst Baumann Leiter Entwicklung
Paulo Brandao Leiter Entwicklung Westschweiz
Silvan Bohnet Leiter Entwicklung Basel
Mario Ercolani Baumanagement Ost
Bertrand Borcard Baumanagement West
Adressen
Hauptsitz Schlieren
Halter AG
Zürcherstrasse 39
8952 Schlieren
T +41 44 434 24 00
Geschäftsstelle Basel
Halter AG
Freilager-Platz 4
4142 Münchenstein
T +41 61 404 46 40
Geschäftsstelle Bern
Halter AG
Europaplatz 1A
3008 Bern
T +41 31 925 91 91
Geschäftsstelle Luzern
Halter AG
Am Mattenhof 12
6010 Kriens
T +41 41 414 35 40
Geschäftsstelle Lausanne
Halter SA
Rue de Genève 17
1003 Lausanne
T +41 21 310 13 00
Geschäftsstelle Genf
Halter SA
Esplanade de Pont-Rouge 5
1227 Grand Lancy
T +41 21 310 13 00
Geschäftsstelle St. Gallen
Halter AG
St. Leonhard-Strasse 49
9000 St. Gallen
T +41 71 242 44 10
www.halter.ch
191 Komplex Nr. 16/2023
Nr. 16/2023
Herausgeber und Redaktion
Halter AG
Zürcherstrasse 39
8952 Schlieren
T +41 44 434 24 00
www.halter.ch
Online-Ausgabe
www.komplex-magazin.ch
Heftkonzept und Redaktionsleitung
Christine Marie Halter-Oppelt
Gestaltungskonzept und Art Direction
Studio Marie Lusa: Marie Lusa, Dominique Wyss
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Hubertus Adam, Philippe Béchet, Johannes Buchinger, Beatrice Catalani, Dan Cermak, Héloïse Gailing, Sabrina Golob, Benoit Hauviller, Joris Jehle, Sherin Kneifl, Matthias Knuser, Bettina Kunzer, Vittorio Magnago Lampugnani, Daniela Meyer, Florian Müller, Martin Neff, Maik Neuhaus, Robin Neuhaus, Jan Paulich, Damian Poffet, Nele Rickmann, Philipp Schelbert, Christian Schranz, Patrick Senn, Alexandra Stamou, David Strohm, Harald Urban, Lukas Wassmann, Reto Westermann
Korrektorat und Satz deutsche Ausgabe
Patrizia Villiger
Übersetzung französische Ausgabe
Supertext AG, Zürich
Korrektorat französische Ausgabe
Mario Giacchetta
Umschlag
Genossenschaftssiedlung Huebergass der Entwicklergenossenschaft «Wir sind Stadtgarten», Bern. © Damian Poffet
Auflage
12 000 Exemplare (deutschsprachige Ausgabe)
2000 Exemplare (französischsprachige Ausgabe)
Lithografie und Druck
Druckerei Odermatt AG, Dallenwil
Hinweis
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Das Magazin Komplex wurde im Projekt mit Climate Partner CO₂-kompensiert, also klimaneutral gedruckt. www.swissclimate.ch, Kompensations-Nr.: SC2023040502
In der Schweiz gedruckt.
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Impressum
KOMPLEX DAS MAGAZIN DER HALTER AG