HRM Hochstapler Issuu

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HOCHSTAPLER


EDITORIAL

Nur heiße Luft?

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iebe Leserinnen und Leser, dieses Editorial schreibe ich wie immer in Anspannung, immer in der Befürchtung, es könnte trivial werden, Sie anöden und Ihnen den Weg ins Heft vermasseln. Gleichzeitig aber immer auch in dem großen Wunsch, Ihren Blick auf einen unbekannten Winkel des Lebens zu richten, Sie zu inspirieren und nicht selten auch aus Wut über ungerechte Zustände, im groben Widerstand gegen etwas, in letzter Zeit auch manchmal verzagt und etwas peinlich berührt für etwas. Bisher hat es mir selten die Sprache verschlagen, aber quälend ist das Schreiben oft dennoch gewesen. Das ist heute nicht anders. Vielmehr ist es in dieser bizarren Gegenwart noch verzwickter, denn die Zeit ist eine andere geworden. Wir sind mit einer Zäsur konfrontiert. Für die meisten ist es die erste einschneidende nach dem Mauerfall, dem 11. September oder der Finanzkrise. Wir durchleben eine erschütternde, schockierende, lähmende, einschüchternde, aber auch hoffnungsvolle, sehnsüchtige und aufbruchsvolle Zeit. Die Pandemie hebt unseren Alltag, unser Leben, diese rasende global vernetzte Welt aus den Angeln, während wir dazu gezwungen sind, zuzusehen: Wir müssen zusehen, wie sich der Puls der Welt verlangsamt, wie Zustände von einem auf den anderen Tag kippen, allzu oft ins Dramatische. Wir sind Zaungäste, die beschämt wahr-

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nehmen, wie wir auf unsere niedersten Instinkte zurückgeworfen werden. Wie der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Aber auch, wie er zu zivilem Miteinander aufruft, wie Nachbarn einander helfen, wie Populisten sich der Lächerlichkeit preisgeben, wie Menschen für ihre Werte und Überzeugungen einstehen, selbst dann noch, wenn sie sich dafür in Gefahr begeben müssen. Und all das geschieht in einer beinahe unerträglichen Gleichzeitigkeit des Seins: Der Frühling macht einfach weiter, die Bäume knospen, die Sonnenstrahlen wärmen den Fußboden unserer Wohnung. Und währenddessen ist da der Virus, der wohl auch in der Luft schwingt, die wir atmen, der Ärzten grausame Entscheidungen abverlangt und es Menschen verwehrt, ihre Liebsten in einem Trauergeleit angemessen zu verabschieden. Das Leben geht gewissermaßen einfach weiter. Wir stehen auf, essen, trinken, schlafen, lieben, weinen, lachen, schütteln das Kissen auf, trinken Kaffee, heben den Fussel vom Boden auf, schieben die Stühle an den Tisch, räumen das Geschirr in den Schrank. Es heißt, der Mensch gewöhnt sich an alles. Doch wir werden uns nicht an den jetzigen Zustand gewöhnen. Aber vielleicht an die Erfahrungen, die wir gerade machen. Ich könnte Ihnen an irgendeiner Stelle in diesem Editorial einen gewitzten Übergang zum Heftthema „Hochstapler“ schreiben. Vielleicht würde ich den Einstieg nutzen und

Ihnen verraten, dass die grundlose Angst zu versagen ein Indiz für das Impostor-Syndrom sein kann, bei dem die Betroffenen von massiven Selbstzweifeln in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten geplagt werden. Ich könnte Ihnen, wie ich es ursprünglich vorhatte, schreiben, dass in dieser Krise, die ihren Namen redlich verdient hat, Hochstapler wie Trump endlich schlechte Karten haben. Dass ihre Lügengebäude, wie das bei pathologischen Hochstaplern eben so ist, zum Scheitern verurteilt sind. Ich könnte versuchen, Sie zu überzeugen, dass wir uns auch mit anderen Themen beschäftigen sollten, abseits der Pandemie. Dass Sie die Lektüre über Hochstapler womöglich ablenkt, gedanklich fortträgt und dem Ist-Zustand die Stirn bietet. Aber das wäre in erster Linie eines: Hochstapelei. Bleiben Sie gesund. Ihre Hannah Petersohn

Hannah Petersohn, Chefredakteurin Human Resources Manager

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24 Windbeuteleien und

MEINUNG

Luftgeschichten können unterhaltsam sein, bis sie

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Editorial

zwanghaft werden. Ein Gespräch über krankhafte Lügner

SCHWERPUNKT: Hochstapler

8 Debatte aktuell Wie verändert die CoronaPandemie unsere Arbeitswelt? Ein Interview mit der Philosophin Lisa Herzog

14 Karrierekick Elternzeit Personaler Sebastian PitschnerFinn ist mit seiner Familie um die Welt gereist und hat gerade dadurch etwas für seine Karriere getan

13 Schnappschuss Wie viele Politiker passen in einen Aufzug? Und wer zahlt das Bußgeld in Corona-Zeiten? #Abstandhalten

17 Rettung aus der Insolvenz Wie ein junger BWL-Absolvent ein Traditionsunternehmen vor der Pleite rettete und ihm zur Agilität verhalf

20 Zu schön, um wahr zu sein Betrug oder Einfallsreichtum? Gedanken über das Wesen der Hochstapelei 24 Windbeuteleien Der Psychiater Hans Stoffels ist Experte für zwanghafte Lügner und ihre Krankheitsgeschichte. Ein Gespräch 30 Und Action! Eine Bilderstrecke über zehn ganz besondere Aufschneider und ihre Geschichten 40 Die Skeptiker Die Mitglieder des Vereins GWUP überprüfen Wünschelrutengänger, Telekinetiker, alternative Heilkundler oder Astrologen. Ein Interview 46 Background-Check Welche Methoden gibt es, um hochstapelnden Bewerbern auf die Schliche zu kommen?

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Der Personaler Sebastian Pitschner-Finn ging während seiner Elternzeit mit der Familie auf Weltreise – bis zum Ausbruch der Pandemie. Ein Bericht über Krisentauglichkeit in der Elternzeit

Fotos: Privat, Nikola Trajkovic

6 Meine Arbeitswelt Gunther Olesch, einer der führenden Personalmanager Deutschlands, über KununuBewertungen und sein Hobby: Rockmusik


72 50 Unter der Lupe Ein Detektiv verrät, wie er Fälschungen in Bewerbungsunterlagen aufdeckt

Wie lässt sich Trauerbegleitung als Teil der Unternehmenskultur etablieren? Sieben Tipps einer Expertin

53 Vorsicht, Dienstleister! Es gibt auch schwarze Schafe unter den HR-Dienstleistern. Worauf Personaler achten sollten

IM FOKUS: VALUE OF HR

VER B AN D

56 D ie Kunst des Blendens Schaumschläger, Prahlhans, Blender – hochstapelnde Mitarbeiter sind allgegenwärtig

68 Raus aus der Komfortzone Was hat es mit der Managementmethode Objectives and Key Results (OKR) auf sich?

86 Editorial

60 K ompetente Tiefstapler Warum hadern erfolgreiche Menschen oft mit ihren Fähigkeiten? Über das Impostor-Phänomen 64 Als der große Zweifel kam Arno Frank, Schriftsteller und Sohn eines Hochstaplers und Betrügers, im Gespräch über seinen Vater

ANALYSE 72 Im Trauerfall Angesichts der CoronaPandemie sollten sich Unternehmen Gedanken machen, wie sie mit trauernden Mitarbeitern umgehen wollen. Sieben Ratschläge einer Trauerbegleiterin

87 H R zwischen Krise und Chance Wie krisentauglich sind moderne Arbeitsmodelle? Mitglieder des BPM-Präsidiums über ihre aktuellen Erfahrungen 90 Nachwuchsförderpreis 2020 91 Personalmanagement Award 2020 92 HR für die Zukunft Angebote für Young Professionals und Studenten

P RAXI S LETZ TE SEITE 78 Sieben Gedanken Lassen sich Stimmungen managen?

RE CHT

Foto: Jacob Owens – unsplash.com, Twelve Photographic Service

80 Aktuelle Urteile

68 Raus aus der Komfortzone: Was es mit der Führungsmethode OKR auf sich hat

82 Essay Was Personaler gegen Arbeitszeitenbetrug unternehmen können und wie sich aktuelle Urteile auf die Arbeit im Homeoffice auswirken 85 Impressum

94 Fragebogen Hochstapeln gehört für sie zum Geschäft: Nina Künzel ist Personalerin und Business Partnerin beim GabelstaplerHersteller Kalmar


DEBATTE

AKTUELL

Die große Abhängigkeit Ein Interview von Hannah Petersohn Die Corona-Krise offenbart die Schwachstellen unserer Gesellschaft und unserer Arbeitswelt. Die Autorin und Philosophieprofessorin Lisa Herzog über die ungleiche Verteilung von Anerkennung und Lohn, die drohende Revolution der Mittelschicht und darüber, wie eine Arbeitswelt nach der Pandemie aussehen könnte 8

Frau Herzog, wir führen dieses Gespräch Ende März. Wenn das Interview veröffentlicht wird, könnte die Lage in Bezug auf die Corona-Krise wieder eine ganz andere sein. Ist es überhaupt schon an der Zeit, darüber nachzudenken, wie unsere Arbeitswelt nach der Pandemie aussehen wird? Wir sollten uns unbedingt und grundsätzlich immer Gedanken über die Arbeitswelt machen, auch weil sich in den vergangenen Jahren ein paar Dinge in eine problematische Richtung entwickelt haben. Die derzeitige Krise macht die Diskrepanzen sichtbar. Welche Diskrepanzen meinen Sie? Es geht darum, wie bestimmte Gruppen in der Arbeitswelt wahrgenommen und behandelt werden, jetzt und vor der Krise. Die gesellschaftliche Anerkennung und die Einkommen sind

Foto: Stephan Rumpf Picture Alliance

MEINUNG


MEINUNG

höchst ungleich verteilt. Das betrifft Pflegekräfte, Kassierer oder jene, die in der Logistik arbeiten. Berufe, die als niedere Tätigkeiten abgetan worden sind. Jetzt sind sie es, die das aktuelle öffentliche Leben noch am Laufen halten. Und alle stellen fest: Ohne sie kommt unsere Gesellschaft nicht aus. Und dann gibt es auch noch die Dienstleistungen, die zwar nicht überlebensnotwendig, aber für unser Sozialleben unglaublich wichtig sind: Restaurants, Cafés, kleine Geschäfte. Die Frage ist: Wird es sie nach der Krise noch geben? Oder bleiben nur die großen globalen Konzerne übrig? Unser gesellschaftliches Leben wäre dann sehr viel ärmer. Derzeit ist ein Teil der Gesellschaft mit Kurzarbeit und langen, gleichförmigen Tagen mit Ausgangsbeschränkungen konfrontiert. Ärzte und Pfleger hingea p r il 20 20

gen schieben 24-Stunden-Schichten und sind einer hohen Ansteckungsund Lebensgefahr ausgesetzt, so wie auch der überarbeitete Kassierer im Supermarkt, der dann auch noch beschimpft wird, weil das Toilettenpapier rationiert werden musste. Normalerweise schafft Arbeit positive Formen des Soziallebens. Doch das funktioniert jetzt nicht mehr. Die einen sind einsam und stellen fest, wie sehr ihnen der soziale Kontakt fehlt. Die anderen erleben extrem verdichtete Formen der Arbeit, die nur noch ein sehr eingeschränktes Miteinander zulassen. Es ist kaum Zeit, sich besonnen zu besprechen, weil lebensnotwendige Aufgaben keinen Aufschub dulden. Warum ist das soziale Miteinander im Arbeitskontext so wichtig? Gerade wenn schwierige ethische Entscheidungen anstehen, ist es wichtig, dass es genügend Zeit gibt, um diese Situation mit Kollegen zu besprechen, um innezuhalten und in Ruhe zu überlegen: Wie geht man nun vor? Dann beispielsweise, wenn sich Ärzte fragen müssen: Wen können und sollten wir retten, wenn nur noch ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht? Momentan geht es sehr viel um die unbürokratische und durchaus großzügige Rettung von Unternehmen. Mitarbeiter hingegen haben qua Kurzarbeitszeit Lohneinbußen hinzunehmen. Wie wird sich dieses Gefälle auswirken? Die Gefahr dabei ist, dass Ungleichheiten weiter verschärft werden. Meine größte Sorge ist, dass die jetzt schon Privilegierten noch privilegierter sein werden und diejenigen, die ohnehin benachteiligt sind, weiter abrutschen. Das ist der klassische Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen. Ich befürchte, dass die Generation, die nach der Krise das erste Mal in den Arbeitsmarkt eintritt, enorm schlecht dasteht. Es ist

wissenschaftlich erwiesen, dass die Kohorten, die in Krisenzeiten auf den Arbeitsmarkt kommen, ihr Leben lang ein niedrigeres Gehalt haben, während jene, die bei einer guten Konjunktur in den Arbeitsmarkt eintreten, langfristig besser verdienen. Auch längere Schulschließungen können negative Auswirkungen haben, weil nicht alle Kinder bei den Schularbeiten unterstützt werden können, was sich wiederum negativ auf die Chancengleichheit auswirkt. Wie könnte ein drohender Anstieg dieser ungleichen Verteilung abgefedert werden? Wir müssen diejenigen, die jetzt weniger unter der Krise leiden oder vielleicht sogar davon profitieren, in die Pflicht nehmen. Man könnte Abgaben auf die größten Vermögen einführen, um die durch Corona entstandenen Schäden aufzufangen. Denn diese Vermögen können nur durch all die Menschen erhalten bleiben, die gerade alles geben, um die Gesellschaft auch jetzt noch weiter zu versorgen. Vor der Pandemie ging es Deutschland wirtschaftlich betrachtet vergleichsweise gut. Diese Situation erlaubte es, in Ruhe über eine Veränderung der Arbeitswelt nachzudenken. Das wirkt rückblickend wie Luxus, jetzt wo es ums nackte Überleben auf allen Seiten geht. Wie wird uns die Rezession in der Art und Weise, wie wir arbeiten, beeinflussen? Das kommt darauf an, was wir als Gesellschaft aus dieser Krise machen. Es gibt auch positive Effekte: Wir sehen viel stärker, welche Berufsgruppen wichtige Beiträge leisten. Ich könnte mir auch vorstellen, dass das deutsche System, mit Kündigungsschutz, Mitbestimmung und Kurzarbeitsregelungen, wieder aufgewertet wird, weil wir damit womöglich viel besser durch die Krise kommen werden als mit einem stark deregulierten System wie im angelsächsischen Raum. Denkbar ist auch, dass sich die Bereitschaft, digitale In9


MEINUNG

Karrierekick statt Karriereknick Kinder gelten immer noch als Karrierebremse. Dabei können Angestellte gerade während der Elternzeit Kompetenzen erwerben, die sie im Job dringend benötigen. Sebastian Pitschner-Finn ist Personaler und reiste während der Elternzeit mit seiner Familie um die Welt. Bis die Corona-Pandemie kam. Ein Erfahrungsbericht geschrieben in einem Wohnmobil in Neuseeland Foto: Privat

Ein Beitrag von Sebastian Pitschner-Finn

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MEINUNG

Sebastian Pitschner-Finn ist bei einem global tätigen Maschinenbauer als Leiter der Abteilung Compensation & Benefits angestellt. Bis vor kurzem bereiste er mit seiner Frau, den gemeinsamen drei Kindern und zwei Rucksäcken die Welt – während der Elternzeit. Auf der Reise hat er festgestellt, dass die Realität vor Ort oft eine andere ist als es Reisereportagen suggerieren. So

es daran, dass wir auf unserer Reise schon unzählige unbekannte, oft überraschende Herausforderungen meistern mussten und nun besser mit der Ungewissheit umgehen können.

hat er sich mit seiner Familie in Ländern, die mitunter als gefährlich gelten, willkommen und sicher gefühlt.

Diffuse Angstmentalität

Bis zur Corona-Pandemie. Nach einer abenteuerlichen Rückholaktion ist die Familie Pitschner-Finn nun wohlbehalten zurück in Deutschland angekommen.

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ährend ich in meiner Elternzeit auf der Südinsel Neuseelands auf einem verlassenen Campingplatz im Nirgendwo sitze und konzentriert diesen Text schreibe, scheint der Rest der Welt aus Angst im Chaos zu versinken – zumindest vermittelt die mediale Berichterstattung derzeit diesen Eindruck. Und wenn in manchen Supermärkten Toilettenpapier und Tütensuppen ausverkauft sind, zeigt sich, dass Angst zu fragwürdigen Entscheidungen und Handlungen führen kann. Die Sorge ist besonders groß, weil das Coronavirus für die meisten vollkommen unerwartet aufgetaucht, kaum greifbar und in seiner Entwicklung schwer vorhersehbar ist. Zudem sorgt unser Gehirn dafür, dass wir Gefahren mehr Bedeutung beimessen als Chancen und dass wir unbewusst nur diejenigen Informationen aufnehmen, die unsere Ängste bestätigen. Aber obwohl ich kaum eine Vorstellung davon habe, wie sich die Lage weiter entwickeln und welche Auswirkungen der Virus auf den letzten Teil unserer Weltreise in Südostasien haben wird, bin ich relativ gelassen. Vielleicht liegt a p r il 20 20

Als ich mich dazu entschlossen habe, ein Jahr lang Elternzeit zu nehmen, um mit meiner Familie um die Welt zu reisen, habe ich im Vorfeld viele Gespräche mit anderen Vätern geführt. All diese Gespräche hatten eines gemeinsam: Sie waren geprägt von einer diffusen Angst vor dem Ungewissen. Obwohl die rechtlichen Rahmenbedingungen der Elternzeit eigentlich eindeutig sind, fürchten viele Väter einen Karriereknick oder den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Ich vermute, dass solche Ängste dazu beitragen, dass die Elternzeit insbesondere von Männern nach wie vor nur sehr begrenzt genutzt wird. Die Sorge vor dem Ungewissen ist auf der einen Seite verständlich. Andererseits irritiert sie mich, denn Unternehmen und Mitarbeiter agieren schließlich immer in einem unsicheren Umfeld, gerade in einer globalisierten, sich schnell verändernden Welt voller Risiken. Also müssen Mitarbeiter heute eigentlich mehr denn je dazu in der Lage sein, sich flexibel in einem schwer planbaren Umfeld zu bewegen sowie Chancen zu identifizieren und zu nutzen. Und das können sie in der Elternzeit lernen, vor allem, wenn sie sich auf Reisen begeben, wie in meinem Fall.

Mit Selbstbewusstsein auf Willkür reagieren Während meiner einjährigen Elternzeit die Welt zu umrunden, bietet mir die große Chance als Familienvater und als HR-Manager zu wachsen. Davon war und bin ich überzeugt. Dennoch hatte ich natürlich ein mulmiges Gefühl, als ich meinem Chef von meinen Plänen in Kenntnis setzte. Denn ich wusste weder, wie er reagieren würde, noch, was mich in einer abgelegenen Hütte in Mexiko oder an der Grenze von Guatemala erwarten würde. Jetzt befinde ich mich bereits am Ende unserer Reise um den Globus und kann sagen, dass meine Sorgen weitgehend unbegründet waren. Von meinem Arbeitgeber und meinen Kollegen kamen fast ausschließlich positive, mitunter auch bestärkende Reaktionen. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich dem Unternehmen nach meiner Rückkehr einen erheblichen Mehrwert bieten kann. Schließlich gelang es uns nur mit Kreativität, Organisationstalent und einem gewissen Kommunikationsgeschick, im Dschungel von Südmexiko ohne Transportmittel und nennenswerte Spanischkenntnisse dringend benötigte Lebensmittel zu beschaffen. Die 15


Roman Gorovoy ist Geschäftsführer von Electrostar Starmix. Die Inhaberfamilie des Technologieanbieters ist mit der Familie Gorovoy freundschaftlich verbunden: Roman Gorovoy und der Sohn des Inhabers besuchten dasselbe Internat. Im Jahr 2005 investierte Gorovoys Vater in das strauchelnde Unternehmen und bat seinen Sohn, der gerade das Betriebswirtschaftsstudium an der Durham University in England abgeschlossen hatte, die Geschäfte zu führen. Vorerst war er Assistent der Geschäftsführung, ab 2007 übernahm er die Leitung. Der Unternehmensgründer Robert Schöttle ist der Erfinder des Warmlufthändetrockners.

Unser Weg aus der Krise

Foto: Horst Rudel

Ein Gastbeitrag von Roman Gorovoy

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Vor 15 Jahren stand der Technologieanbieter Electrostar Starmix kurz vor der Pleite: Das Unternehmen machte zwar Umsatz, fuhr jedoch keine Gewinne mehr ein. Der gebürtige Russe Roman Gorovoy übernahm als 23-Jähriger die Geschäftsführung und krempelte das tradierte Unternehmen um. Ein Erfahrungsbericht

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MEINUNG

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ie Geschichte beginnt 2005: Das mittlerweile knapp einhundert Jahre alte Unternehmen Electrostar Starmix, das sich mit der Produktion von Staubsaugern einen Namen machte, geriet zunehmend ins Straucheln. Der schwäbische Elektrogerätehersteller hatte jahrelang Gelegenheiten zur Modernisierung verpasst. Das Unternehmen konnte dem steigenden Wettbewerbsdruck im Bereich der weißen Ware – also Haushaltsgeräten – kaum noch standhalten. Denn bereits Ende der Siebzigerjahre drängten zahlreiche neue Hersteller auf den Markt, deren Produkte bei vergleichbarer Qualität deutlich günstiger waren. Es blieb nur ein radikaler Neuanfang. Wie viel der mit Agilität zu tun haben würde, war zum damaligen Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Der Auftakt des Wandels war hart: Die Belegschaft musste auf unbezahlte Überstunden eingestimmt werden bei gleichzeitiger Streichung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds.

Keine Geduld für Agilität Das Unternehmen stand damals mit dem Rücken zur Wand: Die Umsätze sanken, die Firma schrieb rote Zahlen. Um sich über Wasser zu halten, wurden Grundstücke verkauft, die sich im Unternehmens- oder Familienbesitz befanden. Es war an der Zeit für eine grundlegende Restrukturierung. Für Modewörter wie Agilität, New Work und flache Hierarchien fehlte in dieser Stabilisierungsphase noch das notwendige Wissen, aber auch die Geduld. Es ging erst einmal um das Grundlegende: Wir mussten die Finanzen stärker kontrollieren, indem wir beispielsweise das Messebudget komplett strichen. Außerdem schärften wir die Produktpalette und gaben den traditionsreichen, aber wenig gewinnbringenden Bereich „Haushaltsgeräte“ auf. Um Mitarbeiter in diesen harten Zeiten zu halten und ihnen dennoch eine Perspektive zu bieten, haben wir ihnen garantiert, dass sie ihren Arbeitsplatz behalten und auch den Standort nicht wechseln müssten. Dadurch akzeptierten sie die zeitlich begrenzte Mehrarbeit ohne Lohnausgleich und den Verzicht auf das Urlaubs- und Weihnachtsgeld. 2007 hatten wir es geschafft. Wir erwirtschafteten seit Jahren das erste Mal wieder Gewinn. Ein Jahr später erzielten wir sogar das beste Ergebnis seit Jahrzehnten. Damit hatten wir einen psychologisch und symbolisch wichtigen Sieg errungen, der uns zusammenschweißte. Dann kam das Jahr 2009.

Eine weitere Krise In Folge der Finanzkrise verloren wir fast 30 Prozent des Umsatzes und standen wieder dort, wo wir 2005 angefan18

gen hatten. Die abgekühlte Konjunktur, das Misstrauen an den Finanzmärkten und weitreichende Investitionsstopps bedrohten genau die Grundlagen, die wir mit viel Mühe aufgebaut hatten. Ohne eine erneute konsequente Restrukturierung hätte Electrostar Starmix keine Chance gehabt, diese weitere Krise zu überleben. Die Abteilungen mussten mit sehr knappen Budgets zurechtkommen. Dennoch mussten wir auch während dieser Zeit keinen einzigen Mitarbeiter betriebsbedingt entlassen. Am Ende konnten wir selbst dieses Krisenjahr mit einer schwarzen Zahl abschließen. Doch die Unsicherheit blieb. Nach der Krise verschärfte sich der Wettbewerb. Um das gewohnte Wachstumstempo zu halten, mussten wir mit den Preisen runtergehen. Das wiederum erzeugte einen enormen Kostendruck auf die Gesamtorganisation. Ab diesem Zeitpunkt kamen für uns erstmals Lean Management und agile Arbeitsmethoden ins Spiel.

Verantwortung abgeben Unser Unternehmen sollte auch in angespannten und unsicheren Phasen stabil sein. Wir wollten schneller und flexibler agieren. Die Devise lautete, aus Kundensicht zu denken und die Mitarbeiter abteilungsübergreifend in diesen Wandel einzubeziehen. Um das zu erreichen, ließen wir uns von der Unternehmenskultur eines typischen Start-ups inspirieren – dass Unternehmensberater diese Veränderungen unter dem Motto „Agilitätswende“ zusammenfassen, wurde mir erst später bewusst. Bis heute fällt es mir schwer, die Vielfalt der Teilschritte in eine Schublade zu stecken. Im Tagesgeschäft ging es uns immer um praktische Entscheidungen und einen Prozess, der sich allmählich und in enger Abstimmung mit Mitarbeitern aller Abteilungen vollzog. Schrittweise wurde ein Teil der Verantwortung von überlasteten Führungskräften an die unteren Management-Ebenen übergeben. Wir bauten abteilungsübergreifende Teams auf und ebneten Hierarchien ein, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Zuvor hatte die Fertigung ein Meister geleitet, nun lag die Gesamtverantwortung für die Produktion bei einem neu gegründeten Team. Dadurch konnten wir Projekte schneller realisieren.


Leonardo DiCaprio verkörpert in der Gaunerkomödie „Catch Me If You Can“ den real existierenden Hochstapler Frank William Abagnale, der sich erst als Pilot, dann als Oberarzt und später als Rechtsanwalt ausgab – bis zu seiner Festnahme.

Ein Beitrag von Anett Kollmann

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Hochstapelei ist zeitlos, spektakulär und abgründig. Diese gewiefte Form des Betrugs fasziniert durch ihren Einfallsreichtum und ist gleichzeitig unheimlich, weil sie eine Zeit lang gelingt und schließlich doch grandios scheitert. Gedanken über das Wesen der Hochstapelei

Foto: DreamWorks/courtesy Everett Collection (2)

Zu schön, um wahr zu sein


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aben Sie heute schon Lippenstift aufgetragen oder Ihre Haare über eine kahle Stelle gekämmt, um anziehender, jünger und vielleicht leistungsfähiger zu erscheinen? Keine Sorge, das ist noch keine Hochstapelei, sondern nur banale Selbstoptimierung, die als solche erkannt und durchschaut wird. Hochstapeln hingegen ist eine besondere Form der Lüge. Doch wann wird aus einer schönen Illusion der betrügerische Schwindel? Der strenge Aufklärer Immanuel Kant zählte die Schminke bereits zum Betrug, als er über den gesellschaftlichen Schein der Menschen philosophierte. Der Unterschied zwischen Sein und Schein sowie die Möglichkeit, daraus Profit zu schlagen, hat schon viele Philosophen, Theologen, Literaten und Juristen beschäftigt. Auch Psychologen, Psychiater, Soziologen und Kriminalisten versuchen dieser besonderen Form des Betrugs auf die Spur zu kommen. Dem eigenen Sein einen höheren Schein zu geben, vorgeblich etwas Besseres zu sein, als man ist, oder mehr zu können, als man kann, ist eine Sache, die es im menschlichen Zusammenleben wohl schon immer gab. Es ist eine anthropologische Konstante. Hochstapelei ist nach deutschem Gesetz kein strafbares Delikt. Juristisch geahndet wird sie nur als Betrug, Urkundenfälschung, Amtsanmaßung oder Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen. Selbst ernannte Ärzte können wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und der Fälschung von Gesundheitszeugnissen belangt werden. Einen anderen Namen als den eigenen zu benutzen, gilt als Ordnungswidrigkeit. Ansonsten darf nach dem zweiten Artikel des Grundgesetzes jeder sein, wer und was er will. Wir dürfen unsere Persönlichkeit frei entfalten, eingeschränkt nur dort, wo Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstoßen wird.

Prinzessin ohne Stammbaum, die falsche Heilige und die unverbindliche Verlobte bis zum Möchtegernmediziner und Goldmacher. Trotz allem Glanz, der moderne Hochstapler umgab, blieb er im Wesen, was schon der angebliche Bettler war: ein Betrüger mit einem erfundenen Selbst, das ihn besserstellte, als Geburt, Talent und Leistung es hergaben. Die Postmoderne erkor den Hochstapler zum Kulturtypus des 20. Jahrhunderts. Er wird zum Zeitgeistidol und verliert dadurch seine historisch gewonnene Kontur, denn in der postmodernen Identitätskrise des Selbst werden fortan alle zu Hochstaplern erklärt. Wer Karriere machen will, folgt dem Diktum: Fake it till you make it! Parallel dazu beobachten Psychologen die Konjunktur des gegenteiligen Typus: erfolgreiche Menschen, die glauben, nichts zu können, und nur zufällig, mit Glück oder durch die Fehler anderer, zum Ziel gekommen zu sein. Es sind jene, die am HochstaplerSyndrom leiden.

Die Meister der kalten Empathie Hochstapler kennen die Sitten ihres Reviers sehr genau. Sie sind ein Spiegel der Gesellschaft, ihrer Werte und ihrer Sehnsüchte. Als Meister der kalten Empathie erkennen

Vom Gentleman zum konturlosen Zeitgeistidol Es war die Kriminalistik, die diesem Phänomen im 19. Jahrhundert seinen offiziellen Namen verpasste: Hochstapelei. Die Verbrechenskundler hatten das Wort ihren Delinquenten abgelauscht. Diese nutzten seit dem Mittelalter eine mündliche Geheimsprache, das Rotwelsche, in der ein „Stappler“ oder „Hochstappler“ ein falscher Bettler war. Einer, der sich mit gefälschten Zeugnissen und erlogenem Unglück als Bedürftiger ausgab. Durch die Polizeiberichte wurde der Begriff lexikalisiert. So machte der Hochstapler als Verbrechertypus eine rasante Karriere und galt bald als geistige Elite, als Gentlemen unter den Ganoven. Hochstapelei wurde zum Schlagwort für jeglichen Identitätsschwindel: vom Millionär mit leerem Konto über die a p r il 20 20

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HOCHSTAPLER

Illustration: Nikola Trajkovic

Über Windbeuteleien und Luftgeschichten

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Ein Interview von Hannah Petersohn

Es gibt Menschen, die gar nicht anders können, als zwanghaft zu lügen. Sie verstricken sich in Fantasiegeschichten und täuschen dabei ihr Umfeld und nicht zuletzt auch sich selbst. Der Psychiater Professor Hans Stoffels ist Experte für Menschen mit der Neigung zum manischen Lügen. Ein Gespräch über die Tragik des notorischen Schwindlers und darüber, welches Potenzial in ihm schlummert

Herr Professor Stoffels, Sie sind spezialisiert auf die Behandlung zwanghafter Lügner. Wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen pathologischem Lügen und harmlosen Flunkern? Das Spektrum beim Lügen ist sehr breit. Auf der einen Seite gibt es das bewusste Lügen wie die alltägliche kleine Flunkerei und das bewusste betrügerische Lügen. Und auf der anderen Seite gibt es Menschen, die die Kontrolle über sich und ihr Verhältnis zur Wahrheit verloren haben. Sie lügen, wie sie atmen. Sie tun das zwanghaft und lügen selbst dann noch, wenn sie sich selbst Schaden zufügen. Also handeln viele Lügner gar nicht kontrolliert, indem sie eine Illusion kreieren, die sie immer wieder bewusst an eine Situation anpassen können? Man muss genau hinschauen: Es gibt Menschen, die bewusst lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Dieses zwanghafte, pathologische Lügen ist das Extrem innerhalb des Spektrums,

das in seiner reinen Form eher selten ist. Die meisten Menschen sind ja keine Hochstapler, die unwillkürlich, sobald sie auf andere Menschen treffen, ihre Biografie neu erfinden. Die krankhaften Lügner und Hochstapler unterliegen einem rätselhaften Zwang. Sie lügen nicht mit Absicht. Allerdings gibt es auch die Fälle, und da muss man sehr aufpassen, in denen ein Lügner das Krankheitsbild benutzt und sagt: „Ich kann ja nichts dafür!“ Es gibt eben viele Schattierungen. Warum werden Menschen überhaupt zu notorischen Lügnern? Das Thema beschäftigt die Psychologie seit über einhundert Jahren. Auffällig ist, dass jene, die zum fantastischen Schwindel neigen, oft eine entbehrungsreiche Kindheit hatten. Sie versuchen, belastende und schamvolle Erlebnisse durch die Erfindung einer anderen Realität und Identität zu verdecken und zu überwinden. Das geht wahrscheinlich eine ganze

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Zeit lang gut und dann bricht das Konstrukt zusammen. Andernfalls hätten Sie keine Patienten. Das zwanghafte Lügen ist unvereinbar mit einem stabilen privaten und beruflichen Leben. Es führt notwendigerweise zu kleineren oder größeren Katastrophen. Aber darin liegt auch eine Chance. Dieser Zusammenbruch kann dazu führen, dass jemandem bewusst wird, dass mit ihm etwas nicht stimmt, und er sich dann fragt, was eigentlich mit ihm los ist. Wie verhalten sich Menschen mit der Diagnose Pseudologica phantastica im Alltag? Sie haben meistens zwei Begabungen: eine ausgeprägte Fantasie mit sehr vielen produktiven Einfällen. Sie leben gewissermaßen in einer wachträumerischen Versunkenheit, wie man sie gelegentlich bei Jugendlichen beobachten kann. Im jugendlichen Alter stellt eine solche Versunkenheit ein normales Entwicklungsstadium

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dar. Der Pseudologe aber transportiert seine Träume in die Realität und will sie dort als Wirklichkeit ausleben. Dann kommt die zweite Begabung hinzu: Pseudologen haben ein großes suggestives Potenzial, also eine starke Wirkung auf andere Menschen. Sie sind durch ihre Erzählungen und ihr Verhalten faszinierend. Bei ausgeprägt krankhaften Schwindlern kommt eine Autosuggestion hinzu: Sie sind von ihren Geschichten auch selbst überzeugt, glauben ihren eigenen Erfindungen und sind aufrichtig empört, wenn jemand diese Geschichten in Zweifel zieht. Sind pathologische Lügner vielleicht sogar zu großen Taten imstande, weil sie eine bestimmte Fähigkeit so sehr antizipieren, dass sie sie dadurch auch eher erreichen, im Sinne einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung? Beim pathologischen Lügen ist das Scheitern von Anfang an angelegt. Es handelt sich oft um den Versuch, ein Kindheitstrauma zu bewältigen. Aber es ist eine Pseudobewältigung und kann auf lange Sicht nicht gut gehen. Sind zwanghafte Lügner vielleicht aber gute Ideengeber und inspirierend? Das kann durchaus sein. Es gab eine Bloggerin, die sogar für ihre Geschichten und literarischen Ideen ausgezeichnet wurde und Preise gewonnen hat. Sie spielen auf die Historikerin Marie Sophie Hingst an, die der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem vermeintliche Holocaust-Opfer gemeldet hat. Allerdings war keiner von ihnen Jude und wurde auch nicht ermordet. Sie hat sich, soweit ich weiß, als Kind einer jüdischen Familie ausgegeben, was nicht der Wahrheit entsprach. Und sie hat behauptet, ein Krankenhaus in einem Slum in Neu-Delhi gegründet zu haben, in dem sie sogar Patienten behandelt habe. Ihre Geschichte endete tragisch: Sie nahm sich das Leben. Aber ein Umstand gibt zu denken: Ihre Geschichten trafen 26

Hans Stoffels ist niedergelassener Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er war viele Jahre Leiter der psychiatrischen Abteilung der Schlosspark-Klinik Berlin. Zuletzt hat er als Chefarzt eine Privatklinik für Psychiatrie und Psychosomatik geleitet. Der Professor für Psychiatrie ist spezialisiert auf Persönlichkeitsstörungen wie Pseudologie, also zwanghaftes Lügen, oder Narzissmus.

auf ein Publikum, das fasziniert war. Ein Lügner braucht also immer auch gewillte Zuhörer? Ja, jemand, der Geschichten erfindet, ist auf ein Publikum angewiesen. Er will sie nicht nur in seiner Fantasie für sich spinnen, sondern sie auch leben. Er ist dabei auf andere angewiesen, die er in diese Geschichten miteinbezieht. Er lebt gleichsam von der Anerkennung und der Faszination seiner Zuhörer. Welche Lügengeschichten sind besonders häufig? Wir können zwischen Opfer- und Heldennarration unterscheiden. Bei der Heldennarration geht es um Bewun-

derung und Beifall. Bei der Opfernarration geht es den Erzählern darum, Mitleid und Aufmerksamkeit bei ihren Zuhörern zu erwecken. Ich habe eine Patientin, die eine Krebserkrankung erfunden hat. Dazu kam es ganz unwillkürlich: Sie wurde von Kommilitonen gefragt, wie es ihr gehe, und hat bei der Antwort nur kurz gezögert. Dadurch wurden ihre Zuhörer neugieriger und haben interessierter nachgefragt. Sie bemerkte diese erhöhte Aufmerksamkeit und hat dann behauptet, sie fühle sich nicht so gut und habe demnächst einen Arzttermin. Daraus entspann sich ein Dialog, während dem ihr immer mehr Aufmerksamkeit zuteil

Foto: Privat

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Illustration: Nikola Trajkovic

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wurde. Beim nächsten Treffen wurde sie nach dem Arztbesuch gefragt und fügte weitere unwahre Begebenheiten hinzu. Plötzlich war sie in dieser Geschichte gefangen. So etwas verselbstständigt sich schnell. Offensichtlich brauchen diese Menschen Aufmerksamkeit. Sehen Sie da ein besonders hohes Suchtpotenzial? Im Frankreich wird das zwanghafte Lügen auch Mythomanie genannt. Also das manische Erfinden von Mythen. Dem Verhalten liegt ein großes Geltungsbedürfnis zugrunde, von dem viele dann auch besessen sind. Beobachten Sie eine generelle Zunahme des pathologischen Lügens in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie? Ich habe den Eindruck, das hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Der Trend zur Fiktion ist in der gegenwärtigen Gesellschaft sehr ausgeprägt. Der neue Begriff des Postfaktischen ist nicht ohne Grund allgegenwärtig. Auch in der Arbeitswelt gibt es immer wieder Hochstapler. Was können Unternehmen tun, damit Angestellte gar nicht erst in die Versuchung kommen zu lügen? Man sollte nicht nur dem äußeren Erfolg einer Person Glauben schenken, sondern ihn immer auch kritisch beobachten. Es gilt herauszufinden, ob die Person auch in schwierigen Situationen produktiv ist und gewisse Ressourcen aktivieren kann. Ich wäre immer misstrauisch, wenn jemand nur auf einer Wolke des Erfolgs schwebt. Wie sollte eine Führungskraft am besten mit jemanden umgehen, der als Lügner enttarnt worden ist? Das ist schwierig und kann auch tragisch enden, wie bei der Bloggerin, die sich das Leben genommen hat. Das zeigt, wie zerbrechlich das Leben eines a p r il 20 20

Hochstaplers ist. Dennoch ist es unbedingt notwendig, einem Hochstapler die Realität offen in einem Gespräch vor Augen zu führen. Man kann nicht demjenigen, der die Lüge aufdeckt, die Verantwortung für die Reaktion des Hochstaplers auf seine Enttarnung zuschreiben. Jeder ist für sein Handeln selbst verantwortlich. Wichtig ist auch, dass sich der Enttarnte erklären und rechtfertigen darf. Woran kann man einen zwanghaften Lügner erkennen? Das ist nicht einfach, und man sollte sich nie einen Vorwurf daraus ma-

chen, wenn man einen zwanghaften Lügner nicht sogleich als solchen erkennt und entlarvt. Das kann auch sehr aufmerksamen, kritischen Menschen passieren: Eine Patientin von mir hatte ihrer vorherigen Therapeutin fantastische Opfergeschichten erzählt und unter anderem behauptet, sie sei missbraucht worden. Irgendwann hat sie dann die Wahrheit gesagt und erklärt, es sei einfach über sie gekommen. Die Therapeutin war so gekränkt, dass sie die Patientin nicht mehr weiterbehandeln konnte.

Sind es immer bestimmte Menschen, die sich hinters Licht führen lassen? Es handelt sich nicht um eine bestimmte Personengruppe mit einem besonderen Persönlichkeitsprofil, der das passiert. Das sind sehr unterschiedliche Menschen, manchmal sind sie leichtgläubig und wollen aus irgendeinem Grund, dass die erfundene Geschichte stimmt. Sie passt dann einfach zu gut in ihr aktuelles Weltbild. Wurden Sie selbst schon einmal professionell getäuscht? Nur so bin ich überhaupt zu diesem Thema gekommen: Vor über zwanzig Jahren habe ich an einer wissenschaftlichen Tagung in Wien teilgenommen, bei der es um die Spätfolgen einer Traumatisierung durch den Holocaust ging. Die Organisatoren hatten einen Betroffenen, einen sogenannten Child Survivor, eingeladen, der über sein Leben berichtet hat. Das Publikum war fasziniert und beeindruckt von seiner Geschichte. Nach einigen Monaten stellte sich heraus, dass alles erfunden gewesen war und der Mann in einem Schweizer Kinderheim aufgewachsen ist. Auch ich habe damals nicht gewagt, an seiner Geschichte zu zweifeln. Wie hat der enttarnte Lügner von damals reagiert? Von dem Child Survivor wird berichtet, dass er sich zurückgezogen hat, aber weiterhin in die Synagoge geht und die Kippa trägt. Er sagt, es sei ihm egal, was andere von ihm denken. Er habe seine Identität gefunden und sei mit ihr in Übereinstimmung. Das klingt ziemlich renitent. Bei dem vermeintlichen Child Survivor handelt es sich gleichsam um eine stabile Form krankhaften Lügens. Aber auch bei ihm ist die Lüge aufgeflogen und er ist gescheitert, nur mit dem Un27


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HOCHSTAPLER

Und Action! Hochstapler sind häufig gleichermaßen skurril, faszinierend und skrupellos. Eine Auswahl zehn ganz besonderer Aufschneider. Von Hannah Petersohn und Jeanne Wellnitz

Ein Schuster in Uniform Am Nachmittag des 16. Oktober 1906 wurde im deutschen Kaiserreich Hochstapler-Geschichte geschrieben: Der vorbestrafte Schuster Friedrich Wilhelm Voigt marschierte als kostümierter Hauptmann mit einem Trupp gutgläubiger Soldaten zum Köpenicker Rathaus bei Berlin, nahm „im Namen Seiner Majestät“ den Oberstadtsekretär und den Bürgermeister fest und beschlagnahmte die Stadtkasse. Voigt flog erst auf, als die „Verhafteten“ in Berlin ankamen und dort von niemandem empfangen wurden. Sein Coup ging als „Köpenickiade“ in die Sprachgeschichte ein und Voigt selbst wurde als „Hauptmann von Köpenick“ berühmt. Er starb 1922 verarmt im Alter von 72 Jahren. Der Legende nach sollen ihm bei seinem Begräbnis französische Soldaten die letzte Ehre erwiesen haben, weil sie ihn für einen echten Hauptmann hielten.

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Foto: Wikimedia

Friedrich Wilhelm Voigt


Elizabeth Holmes

Foto: BRENDAN MCDERMID Picture Alliance

Die Versprechen einer Selfmade-Millionärin

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Wenn Elizabeth Holmes als Kind gefragt wurde: „Was möchtest du einmal werden?“, antwortete sie: „Millionärin“. Mit Anfang 20 hatte sie diesen Traum bereits verwirklicht: Sie gründete das schon bald millionenschwere Biotech-Start-up Theranos, das damit warb, mit nur einem Tropfen Blut zahlreiche Analysen durchführen zu können. Ein schwarzer Pullover war ihr Markenzeichen, eine Reminiszenz an Apple-Gründer Steve Jobs, denn auch sie hatte die Vision, die Welt zu verändern. Die Medien feierten sie als Wunderkind des Silicon Valley und Investoren pumpten Geld in ihr Unternehmen. Bis der Journalist John Carreyrou mit seiner investigativen Re-

cherche ihre Betrugsmasche entlarvte: Holmes‘ entwickelte Technologie hat nie funktioniert, was sie eiskalt zu verheimlichen wusste. Am Tag, als ihr Unternehmen schließen musste, sah man Holmes mit pinkfarbener Sonnenbrille auf dem Burning-Man-Festival tanzen. Aktuell läuft noch der Prozess gegen sie: Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu 20 Jahre Haft.

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Bernard Madoff

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Theoretisch würde er im Jahr 2159 aus der Haft entlassen werden: Bernard Madoff, einst renommierter Wertpapierhändler und Vorsitzender der Technologiebörse NASDAQ, sitzt bereits seit elf Jahren im Gefängnis. Er gilt als der größte Finanzbetrüger der Geschichte. Durch ihn ist ein Schaden von 65 Milliarden Dollar entstanden, unter seinen 4.800 Opfern sind Prominente wie Hollywoodregisseur Steven Spielberg. Harry Markopolos, Ermittler für Finanzbetrug, kam Madoff bereits 1999 auf die Schliche. Seine Hinweise wurden jedoch von der US-Börsenaufsichtsbehörde ignoriert. Erst als im Zuge der Finanzkrise 2008 Madoffs Kunden ihr

Geld zurückforderten, flog ihm sein Schneeballsystem um die Ohren: Er hatte Auszahlungen vor allem durch Einzahlungen neuer Kunden geleistet. Madoff wurde 2009 zu 150 Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis zeigt der über Achtzigjährige übrigens weiterhin Geschäftssinn: Er kaufte eine Zeit lang heiße Schokolade am Warenausgang auf und veräußerte sie mit Gewinn beim Hofgang.

Foto: Brendan McDermid Picture Alliance

Der Jahrhundertbetrüger


The Yes Men

Sie stellen gefälschte Websites der Welthandelsorganisation, von Shell oder George W. Bush ins Netz und lassen sich dadurch als Experten oder Unternehmenssprecher für Konferenzen buchen, auf denen sie dann mit abstrusen Theorien und zynischen Vorschlägen das Publikum narren: Das Aktivisten-Duo The Yes Men entlarvt auf diese Weise das betrügerische Handeln diverser Konzerne oder Staaten. So sprachen die Yes Men, die unter wechselnden Pseudonymen agieren, auf einer Konferenz vor Tausenden Teilnehmern über ein neues System des Sklavenhandels, das in Freihandelsverträgen festgeschrieben werden sollte. Ein anderes

Mal gaben sie sich auf einer Tagung als Vorstandsvorsitzende von Exxon aus und erzählten von einer neuen Technik, die dem Mineralölkonzern ermöglichen sollte, aus Leichen Energie zu gewinnen. Das Erschreckende dabei ist stets die Reaktion des Publikums: Niemand zweifelt die vermeintlichen Vertreter an, keiner empört sich über ihre menschenverachtenden oder grotesken Ideen. Einmal erklärte das Duo auf einer Messe, warum Unternehmen den Tod von Menschen in Entwicklungsländern akzeptieren sollten. Sie bekamen Beifall.

Foto: wikimedia

Yes, they can!

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Franziska Czenstkowski

Irgendwann begann die verwirrte Frau, die zuvor aus dem Berliner Landwehrkanal gefischt wurde, dann doch zu reden: Sie sei Anastasia, die jüngste Tochter des russischen Zaren. Als sie diese ungeheuerliche Verwandtschaftsgeschichte preisgab, befand sie sich bereits in der Psychiatrie. Die Herrscherfamilie wurde zwei Jahre zuvor von den Bolschewiki im Zuge der Revolution ermordet. Man schrieb das Jahr 1920. Gleichwohl sich schon bald herausstellen sollte, dass es sich bei dem Fräulein um Franziska Czenstkowski handelte, einer ärmlichen Fließbandarbeiterin aus Danzig, wurde sie zur Projektionsfläche für die im Exil lebenden Anhänger des Zaren. Und so blieb sie bei ihrer Version, legte sich auch noch das Pseudonym Anna Anderson zu und stritt jahrzehntelang vor Gericht um ihr vermeintliches Zarenerbe. Erst ein Gentest brachte nach ihrem Ableben die Gewissheit: Eine Verwandtschaft zur Zarenfamilie war ausgeschlossen. Ob sie bewusst getäuscht oder zwanghaft gelogen hatte, konnte hingegen nie zweifelsfrei geklärt werden.

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Foto: wikimedia

Die falsche Großfürstin


Foto: Quagga Illustrations Picture Alliance

Der Goldmacher Im Oktober 1701 finden sich in einer Berliner Apotheke ein paar Neugierige zusammen, um Zeugen dessen zu werden, wonach schon so viele trachteten: der Entstehung von Gold aus unedlen Metallen. Es ist der junge Apothekerlehrling Johann Friedrich Böttger, der sich als Alchemist versucht, nicht ohne Hang zur Kunst des Geschichtenerzählens: So habe Böttger eine besondere Substanz von einem griechischen Mönch erhalten, mit der er das begehrte Gold herstellen könne. Durch welche List auch immer er diese Fantasterei bewerkstelligt haben mag: Das Experiment, so zumindest der Eindruck der Anwesenden, war geglückt und schnell verbreitet sich die Kunde vom Alchemisten Böttger und seinen nahezu magischen Kräften. Das weckt auch beim chronisch klammen sächsischen König August dem Starken Begehrlichkeiten. Er hält Böttger in Meißen gefangen und zwingt in zum Goldmachen. Dabei entsteht eher a p r il 20 20

Johann Friedrich Böttger

zufällig das nicht minder begehrte Porzellan, das zuvor noch höchst kostspielig aus China nach Europa importiert werden musste. Als auch August der Starke einsehen muss, dass der Goldmacher nur ein falscher Fuffziger ist, lässt er ihn ziehen. Die Freude über die Freiheit währt jedoch nicht lang: Böttger, der mit seinen wunderlichen Experimenten konsequent Raubbau an seinen oberen und unteren Atemwegen betrieben hatte, stirbt bereits im Alter von 37 Jahren. 39


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HOCHSTAPLER

Der Mentalist Uri Geller gilt als umstritten. Handelt es sich um echte Telekinese oder doch nur frechen Mumpitz? Solche Fragen stellen sich auch die Skeptiker der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften. Sie unterziehen vermeintlich übersinnliche Phänomene strengen wissenschaftlichen Tests. Kleiner Spoiler: Bisher konnte sie noch kein selbst ernannter Telekinetiker überzeugen.

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Foto: GALLOWAY ASTLEY GALLOWAY Picture Alliance

Die Skeptiker


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Ein Interview von Hannah Petersohn

Behauptet jemand, er könne Dinge mit der Kraft seiner Gedanken bewegen, treten sie auf den Plan: die Mitglieder der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Sie überprüfen Wünschelrutengänger, Telekinetiker, Heilkundler oder Astrologen. Auch in der HR-Szene gibt es viele Heilsversprechen, Mythen und fragwürdige Instrumente, sagt Rouven Schäfer, GWUP-Mitglied und selbst Personaler.

Herr Schäfer, Sie sind stellvertretender Vorsitzender der GWUP. Waren Sie schon immer ein Skeptiker? Mich hat zumindest schon in meiner Jugend gewundert, wie unkritisch und naiv über bestimmte Themen berichtet wird, wie zum Beispiel über das Bermudadreieck, Telekinese oder Ufo-Sichtungen. Aber auch die Psychoanalyse wurde lange Zeit kaum kritisch überprüft und völlig unreflektiert bejubelt. Der Journalist Dieter Zimmer nannte sie einmal völlig zu Recht einen „Tiefenschwindel“. Das meiste, was sich Freud da sehr fantasievoll ausgedacht hat, konnte mittlerweile empirisch widerlegt werden. Die Psychoanalyse ist also ein ziemlich stumpfes Schwert. Würden Sie sagen, dass Freud ein Hochstapler war? Das würde ich mir nicht anmaßen. Es gibt aber Kritiker, die das genau so sehen. Man muss dazu erst einmal definieren, was man unter einem Hochstapler versteht. Es gibt krasse Fälle von Hochstaplern, zum Beispiel jemand wie Gert Postel, der eine Psychiatrie geleitet hat, ohne irgendetwas studiert zu haben, geschweige denn Medizin oder Psychologie. Das sind Menschen, die wissen, dass sie hochstapeln. Und dann gibt es noch solche, die einfach in ihrer Gedankenwelt gefangen sind. Man kann ihnen nicht vorwerfen, bewusst

zu täuschen. Freud war deswegen auch kein klassischer Hochstapler. Was macht einen Skeptiker aus? Ein Skeptiker ist jemand, der Behauptungen auf den Grund geht und sich nicht mit der Antwort einer Autorität zufriedengibt. Für manche Menschen ist das völlig in Ordnung, wenn eine Führungskraft oder ein Präsident wie Trump ihnen sagt, wie etwas ist. Ein Skeptiker hingegen fragt: Welches Interesse hat die Autorität? Welche Belege gibt es für die Behauptungen? Skeptiker nutzen die Instrumente des kritischen Denkens und lassen sich deshalb schwerer täuschen. Kann man Sie denn noch täuschen? Natürlich. Alle Menschen unterliegen kognitiven Verzerrungen. Jeder täuscht sich und kann getäuscht werden. Das hängt auch davon ab, wie emotional involviert man in ein Thema ist. Es gibt Wissenschaftler, die kritisch sind und rational denken, dann erleben sie einen Trauerfall in der Familie und suchen plötzlich den Kontakt ins Jenseits. Das ist menschlich nachvollziehbar. Die intuitive, schnelle Reaktion ist oft erst eine emotionale. Das langsame, kritische, methodische Denken ist hingegen anstrengender. Aber wenn man es ausgebildet hat, ist man eher in der Lage, Fakten von Fiktion zu unterscheiden. Also ist auch ein Skeptiker im Krisen-

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modus nicht vor Scharlatanerie gefeit? Dafür muss es nicht einmal eine Krise geben. Es gibt auch Menschen, die in ihrem Fachgebiet grundsätzlich skeptisch sind, in anderen hingegen nicht. Ich kenne einen kompetenten Autor, der sich kritisch mit Neurolinguistischer Programmierung auseinandergesetzt hat. Aber bei seiner Religion verbietet er sich einer kritischen Betrachtung. Das ist sektoral-skeptisch. Das sind Menschen, die Parapsychologie als Pseudowissenschaft ablehnen, aber homöopathische Mittelchen nutzen. Sind Sie ein Vollzeit-Skeptiker? Es gibt Bereiche, vor allem im Privaten, in denen ich nicht streng skeptisch bin, aber ich bin sicherlich relativ immun gegen esoterische und pseudowissenschaftliche Behauptungen. Allerdings sehe ich als Personaler immer wieder, dass es gerade in unserem Bereich viele Mythen gibt, denen HRler Glauben schenken. Welche Mythen im HR-Bereich gibt es denn? Es gibt typologische Persönlichkeitstests, die so schlecht, primitiv und stereotyp sind, dass es ein Skandal ist, dass sie im Personalmanagement angewendet werden. Oft werden Menschen dabei in vier oder 16 Persönlichkeitstypen eingeteilt, am besten noch nach Farben. Da gibt es dann den 41


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Der BackgroundCheck

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Illustration: Nikolai Trajkovic

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Ein Beitrag von Sven Lechtleitner

Zweifeln Personaler am Wahrheitsgehalt von Unterlagen und Aussagen potenzieller Bewerber, sollten sie die Kandidaten auf Herz und Nieren prüfen. Welche Methoden gibt es? Und ab wann bewegt man sich im rechtlichen Graubereich?

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in erfundener Abschluss oder eine gefälschte Urkunde sind mit Sicherheit seltene Einzelfälle. Und doch gibt es sie – diejenigen, die sich auf diese Weise eine Position erschleichen. Schafft es ein Bewerber mit Hinterlist durch den Recruiting-Prozess ins Unternehmen und wird dann enttarnt, können Firmen mit arbeitsrechtlichen Schritten gegen ihn vorgehen. Doch fernab von einem eindeutigen Betrug scheinen geschönte Lebensläufe nahezu an der Tagesordnung zu sein. Die einen mogeln eine Lücke weg, die anderen werten einen Sachbearbeiterjob zum Managerposten auf. Bewerber möchten sich von ihrer besten Seite präsentieren. Doch manche stellen sich vielversprechender dar, als sie in Wirklichkeit sind. Sie kreieren eine Art Lichtgestalt ihrer selbst. Kommen im Auswahlprozess Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit auf, sollten HR-Verantwortliche genauer hinschauen. Der Überprüfung eines Kandidaten sind allerdings Grenzen gesetzt. Ohne Einverständnis sind Background-Checks oder das Einholen von Referenzen tabu.

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Indizien für Flunkereien „Kommt mir bei Unterlagen oder Positionen etwas komisch vor, lasse ich Vorsicht walten“, sagt Katharina Hain, Senior Department Manager Recruitment Management bei Hays. Sie ist seit vielen Jahren für das Unternehmen tätig und betreut unter anderem das Active Sourcing. Unstimmigkeiten zeigen sich schon mal darin, wenn Angaben im Lebenslauf nicht mit denen in Zeugnissen übereinstimmen. Aufhorchen lassen sie auch unterschiedliche Schriftarten innerhalb eines Zeugnisses. Dann sei es entweder schlecht geschrieben oder schlecht gefälscht. In diesem Fall würde die Recruiting-Expertin genauer hinschauen – sofern der a p r il 20 20

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Illustration: ERol Ahmend unsplash.com


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„Anrufen bringt nichts.­­“ Ein Interview von Anna Kröning

Zeugnisse, Arbeitsnachweis, Lebenslauf – all diese Unterlagen nimmt Manfred Lotze genauer unter die Lupe. Er ist Geschäftsführer einer Detektei und entlarvt regelmäßig Hochstapler. Geschätzt jede dritte Bewerbung, die er bislang überprüft hat, wies Fälschungen auf.

Herr Lotze, welche Branche ist am stärksten von Hochstapelei betroffen? Es gibt kaum eine Branche, die solche Probleme nicht kennt. Es ist weit verbreitet, dass Menschen falsche Angaben über ihre Fähigkeiten machen, um eine Stelle zu bekommen. Welches Ziel verfolgen Menschen, die sich mit falschen Qualifikationen schmücken? Entweder wollen sie eine Entschädigung erreichen und provozieren die Kündigung. Clevere Bewerbungstrickser legen es von vornherein darauf an, eine Abfindung zu bekommen. Viele Arbeitgeber scheuen den Gang zum Gericht, weil der Ausgang für sie oft ungünstig ist. Oder aber sie wollen eine Position erlangen, die über ihre Qualifikation hinausgeht, und mehr Geld verdienen. Darum werden Bewerbungen aufgehübscht. Aber dieser Begriff ist mir zu schwach. Ich würde eher von Bewerbungsbetrug sprechen. Wo fängt der Betrug an? Schon bei den „fließenden Spanischkenntnissen“, obwohl die Kenntnisse nur für

eine einfache Unterhaltung genügen? Das würde ich Schönfärberei nennen, sie lässt sich nicht als Urkundenfälschung bezeichnen. Dazu gehören auch Aussagen im Anschreiben wie: „Im letzten Jahr habe ich mich intensiv mit bestimmten Themen befasst“, um darüber hinwegzutäuschen, dass jemand arbeitslos war. Zu klassischen Betrügereien gehören Urkundenfälschung und die falsche Angabe von Daten. Sie gehen weit über arglistige Täuschung hinaus. Wie gehen Sie bei der Überprüfung vor? Wir bieten ein zweistufiges Verfahren an. Zuerst geht es ums Papier, dann um die Person. Im Bewerbungs-Check prüfen wir, ob eine Bewerbung wahrheitsgemäß ist, dazu nehmen wir die Unterlagen unter die Lupe. Das präventive Überprüfen von Bewerbern ist für Kunden inzwischen Standard. Die Bewerber müssen dafür auch ihre Einverständniserklärung abgeben. Die zweite Stufe ist dann die Überprüfung der Person, dabei nehmen wir zum

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Beispiel Stichproben von Zeugnissen oder informieren uns bei früheren Arbeitgebern. Was raten Sie Firmen, um zu vermeiden, dass sich Hochstapler einschleichen? Wir raten zur Prävention und dazu, die Unterlagen schon vor Einstellung zu überprüfen. Das wird häufig, gerade im Mittelstand, versäumt. Allerdings kostet es mehr Geld, wenn ein Mitarbeiter durch Trickserei eine höhere Position im Unternehmen erreicht hat. Der Aufwand ist dann auch für uns größer als bei der Überprüfung vor einer Festanstellung. Wir müssen dann Beweise sammeln, die vor Gericht verwendet werden können. Wie gehen Sie vor, wenn Sie einen Mitarbeiter überprüfen? Rufen Sie bei früheren Arbeitgebern an? Nein, anrufen bringt nichts. Da bekomme ich aus Datenschutzgründen keine Auskunft. Ich gehe selbst unangekündigt zu der Personalabteilung der früheren Firma und zeige die Kopie des Zeugnisses vor, das mein Auftrag51


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Mehr Schein als Sein

Ein Beitrag von Sven Lechtleitner

Eine Marketingstrategie von externen Beratern ist es, die eigene Person auf Hochglanz zu polieren. Doch manchmal weist die schillernde Fassade Risse auf. Wie sich HR bei der Zusammenarbeit mit Dienstleistern nicht hinters Licht führen lässt

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b Berater, Coaches oder Trainer: Der HR-Welt bietet sich ein breites Spektrum an Dienstleistern. Wer sich als Experte in dem Markt positionieren möchte, braucht mehr als nur Fachwissen. Erfolg verzeichnen oftmals jene Selbstständigen, die aus ihrer Person eine Marke kreiert haben. Sie stehen auf Bühnen, betreiben Pressearbeit, bloggen zu ihren Themen und vertreten eine klare Botschaft. Eine gelungene Strategie. Dabei prahlen die einen mit Know-how und Referenzen, die anderen ernennen sich selbst zum HR-Experten. Doch bei allem Engagement für die eigene Marke darf Täuschung nicht vorkommen. Seien es der Plagiatsverdacht bei Doktortiteln, die Unstimmigkeit in der Vita oder fragwürdige Methoden wie Charakter-Profiling von Bewerbern: Es gibt einige Dienstleister, denen Hochstapelei vorgeworfen wird. Als Journalist von ihnen eine Auskunft zu bekommen, ist eine schwierige Aufgabe. Ob an den Vorwürfen immer etwas dran ist? Darüber lässt sich natürlich streiten. So oder so: Ein gewisser Ruf bleibt haften. Das stellt eine Zusammenarbeit zwischen Beratern und Unternehmen vor Herausforderungen. Wie also herausfinden, ob die Selbstdarstellung von Experten mit der Wirklichkeit übereinstimmt? 53


HOCHSTAPLER

„ Professionelle Lügner können sehr gut auf emotionaler, aber weniger auf sachlicher Ebene täuschen.“ Lydia Benecke, Kriminalpsychologin und Autorin

Das Selbst als Marke „Selbstmarketing ist für jeden Selbstständigen von großer Bedeutung“, sagt Stephan Raif, Berater und Coach für Personal Branding. Die Meisten sind in übersättigten Märkten tätig. Um dort aufzufallen, brauche es eine eigene Marke. Für ihn kommt es auf die zielgerichtete Positionierung beispielsweise in einer Nische an. Auf diese Weise lässt sich Bekanntheit aufbauen, mit der wiederum ein Vorstoßen in andere Bereiche möglich ist. Raif bringt über 25 Jahre Marketingerfahrung aus Werbeagenturen mit. Seit knapp zehn Jahren hat er sich mit Personal Brands auf die Markenarbeit von Einzelpersonen spezialisiert. Zu seinen Kunden zählen Selbstständige wie Coaches, ebenso Geschäftsführer oder leitende Führungskräfte, die innerhalb eines Unternehmens an ihrer Fremdwahrnehmung arbeiten möchten. Als Möglichkeiten der Selbstvermarktung führt er einerseits Offline-Formate wie Keynotes und Auftritte an, andererseits die Online-Präsenz auf Social-Media-Kanälen oder durch eine Experten-Website. Es komme auf einen guten Mix an, der zur Zielgruppe der jeweiligen Persönlichkeit passen müsse. Für Raif unterscheidet sich Personal Branding von einer klassischen Vermarktung, indem die Werte der Persönlichkeit zusammen mit ihrer Fachexpertise im Fokus stehen. Manchmal sei die angebotene Leistung als solche spannend genug, dass sie vollkommen ausreiche. Meistens zähle für den Konsumenten jedoch, mit wem er eigentlich arbeite. Demnach geht es um Werte wie Sympathie, Vertrauen oder Zuverlässigkeit. Ebenso darum, die Persönlichkeit seines 54

Gegenübers einschätzen zu können. Aus Sicht des Marketing-Experten sollte das Bild einer Person stimmig sein. „Wer ein Produkt oder eine Leistung verkaufen möchte, muss erst mal sich selbst als Person verkaufen“, sagt Raif. Verkaufen funktioniere über Inhalte, Meinung und Persönlichkeit. Für wichtig erachtet er auch Authentizität. Diejenigen, die es mit der Darstellung ihres Know-hows und ihrer Erfahrungen übertreiben, nimmt er als eine Minderheit wahr. Allerdings seien diese Wenigen sehr laut, würden sich aggressiv vermarkten und gekonnt in Szene setzen.

Zwischen Übertreibung und Lüge „Jeder Mensch stellt sich positiv dar und versucht, seine beste Seite zu präsentieren“, sagt Psychologin Lydia Benecke. Sie ist unter anderem als kriminalpsychologische Beraterin tätig. Die Frage dabei: Inwieweit entspricht diese Darstellung der Wirklichkeit? Die Grenze sei überschritten, wenn Sachverhalte nicht mit der Realität übereinstimmen und sich daraus negative Konsequenzen für die Beteiligten ergeben. Je größer die Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Tatsachen, desto mehr Probleme zeigen sich in der späteren Performance, sagt sie. Das komme vor allem dann vor, wenn jemand bei seiner Darstellung stark übertreibe. Benecke erklärt, dass Hochstapelei kein juristischer Begriff ist, Betrug hingegen strafrechtlich geahndet werden kann. Übertreibungen in gewissem Rahmen sind somit – zumindest juristisch – schwer greifbar. Hochstapler arbeiten oftmals mit Andeutungen, die bei ihrem Gegenüber missverständliche Assoziationen hervorrufen. Dies hätte zwar mit der Realität wenig zu tun, sei aber faktisch keine Lüge. Was bewegt Menschen dazu, bei ihrer Selbstdarstellung zu übertreiben oder gar zu täuschen? Schließlich könnten sie auch durch ihr Wissen und die Arbeitsleistung überzeugen. Manche nutzen Unwahrheiten, um ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln. Diesen Menschen schreibt Benecke narzisstische Eigenschaften zu: „Was eine Person im echten Leben nicht erfährt, versucht sie durch Lügen zu erreichen – sie will mehr sein, als sie tatsächlich ist.“ Und wer einmal in einem Lügenkonstrukt steckt, kommt nur schwer wieder heraus. Die Kriminalpsychologin beobachtet, dass es am Anfang oftmals ein Ausprobieren ist – also welche Lügen das Umfeld aus sozialer Höflichkeit nicht hinterfragt, sondern akzeptiert. Nach und nach traue sich ein Hochstapler dann mehr zu. Oftmals ziehe sich das auch durch andere Lebensbereiche, nicht nur den Beruf. Ein Grund, warum diese Persönlichkeiten damit oftmals weit kommen: Sie treten dominant und selbstsicher auf, sodass andere deren Kompetenz gar nicht erst hinterfragen. Der Lügenforschung zufolge, berichtet Benecke, seien dafür nur zwei Charaktereigenschaften nötig: Größenwahn

Illustration: Nikola Trajkovic

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Der große Bluff

Die rote Färbung des Stichlings kann Indiz guter Gene sein und soll Weibchen anlocken. Allerdings können auch jene Fische ohne

Foto: A. Hartl Picture Alliance

formidables Erbgut den Farbstoff produzieren.

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Schaumschläger in Unternehmen sind so etwas wie die Hochstapler des Alltags: Sie geben vor, mehr zu sein, als sie sind. Wie Unternehmen versuchen, jenen Mitarbeitern auf die Schliche zu kommen

Ein Beitrag von Mirjam Stegherr

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er männliche Stichling weiß, wie er Weibchen von sich überzeugt: Hals, Brust und Bauch des Fischs färben sich in der Paarungszeit rot, damit die Weibchen die richtige Auswahl treffen. Zumindest passiert das bei jenen Stichlingen mit guten Genen. Die Blender unter ihnen haben diese vorteilhaften Gene nicht, können den Farbstoff aber dennoch produzieren und vorgeben, besser zu sein, als sie sind – zumindest für kurze Zeit. Blender gibt es nicht nur bei Tieren. Auch Menschen beherrschen die Kunst der falschen Fassade: Ob Schwindler wie der Hauptmann von Köpenick, Betrüger wie der Finanzmakler Bernard Madoff oder Mitarbeiter, die sich einfach so gut inszenieren, dass sie Anerkennung für etwas bekommen, das sie gar nicht leisten. „Bildungsblender“, „Luftpumpen“ und „Pöstchenjäger“ nennt sie der Unternehmer und Autor Roman Maria Koidl in seinem Buch „Blender. Warum immer die Falschen Karriere machen“. Auf Kosten hart arbeitender Kollegen würden sie sich durchmogeln, um aufzusteigen und wichtig zu sein. Denn Blender, schreibt Koidl, leisten nicht viel, streben aber nach Ruhm und Macht. Das hält er für ein typisch männliches Problem. Den Preis dafür würden Frauen bezahlen, die hart arbeiten, sich aber nicht in Szene setzen, um der

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Foto: Columbia Pictures/courtesy Everett Collection Picture Alliance


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Kompetente Tiefstapler Ein Beitrag von Mirjam Stegherr

Das Hochstapler-Syndrom bezeichnet erfolgreiche Menschen, die daran zweifeln, gut zu sein. Sie haben große Angst zu versagen und am Ende als Hochstapler enttarnt zu werden, obwohl sie es nicht sind. Es ist ein weit verbreitetes Phänomen – mit zum Teil gravierenden Folgen.

E Ein Superheld, der mit den Hürden des Alltags kämpft und sich dabei oft kleiner macht, als er ist: Peter Parker, hier verkörpert von Schauspieler Tobey Maguire, ist The Amazing Spider-Man. Im normalen Leben ein schmaler, blasser Junge, doch droht Ungemach, wird er zum Spinnenmensch mit Superpower.

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s gibt etwas, das Albert Einstein, Penélope Cruz und Jodie Foster gemeinsam haben: Sie sind alle sehr erfolgreich. Und sie alle litten oder leiden unter Selbstzweifeln. Wie ein Schwindler habe sich Einstein wegen der aus seiner Sicht übertriebenen Wertschätzung für ihn gefühlt. Jeder Dreh beginne für sie mit der Angst rauszufliegen, sagte Cruz. Und Foster fürchtete, ihren Oscar zurückgeben zu müssen, weil er doch nicht für sie gedacht gewesen sei. Die Angst, man sei nicht so gut, wie ein anderer glaubt, hat einen Namen: „Hochstapler-Syndrom“ oder auch „Impostor-Phänomen“. Eigentlich meint es das Gegenteil: ein Tiefstapeln, das so weit gehen kann, dass es die Gesundheit ruiniert. Entdeckt wurde das Phänomen 1978. Die Psychologinnen Pauline Clance und Suzanne Imes hatten beobachtet, dass viele Frauen trotz großer Erfolge nicht an ihre Kompetenz glaubten. Clance und Imes hielten das für ein überwiegend weibliches Problem. Doch viele Studien zeigen: Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen. „Männer reden nur weniger darüber und machen es mit sich selbst aus“, sagt Sonja Rohrmann, Dekanin und Professorin für Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist Autorin des Buchs „Wenn große Leistungen zu großen Selbstzweifeln führen“ und berät Unternehmen zum Impostor-Phänomen. Erst beim Coaching würden viele Arbeitskräfte merken, dass sie die Angst antreibt, ein 61


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Foto: jachan-devol / unsplash

Als der große Zweifel kam

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Ein Interview von Anna Kröning

Der Vater von Arno Frank war ein Hochstapler und krimineller Betrüger. Als Frank 13 Jahre alt war, floh die Familie über Nacht vor der Polizei aus Deutschland nach Frankreich. Ein Gespräch über die Entzauberung des Vaters als Heldenfigur

Herr Frank, Sie sagen, Ihr Vater sei eigentlich kein Hochstapler gewesen, sondern ein Gauner. Was ist der Unterschied? Ein Hochstapler ist für mich immer auch von Glamour umgeben. Ich glaube, dass die Geschäftswelt voll von erfolgreichen Hochstaplern ist. Ich fürchte aber, dass mein Vater einfach nur ein Gauner war. Im Umkehrschluss ist der Hochstapler natürlich auch ein Gauner, wenn auch ein eleganter. Der Unterschied liegt für mich darin, dass er erfolgreich ist. Das war mein Vater letztlich nicht. Die Leute sahen allerdings zu ihm auf. Er war eloquent, hatte gepflegte Umgangsformen und eine gewisse Bildung. Ich glaube nicht, dass jeder so tun könnte, als wäre er Arzt, Aktienhändler oder Immobilien-Tycoon. Dafür bedarf es schon einer gewissen einfühlenden Fantasie. Ihr Vater war Autoverkäufer, machte nebenbei kriminelle Geschäfte und unterschlug Geld. Wie trat er beruflich auf? Er war der Typ, der einem Eskimo einen Kühlschrank hätte verkaufen können. Wenn jemand in seinen Laden kam, dann wusste mein Vater direkt, was er wollte, noch besser als der Kunde selbst. Er konnte einem Kunden das perfekte Produkt andrehen.

Sie haben Ihren Vater mit Mitte 20 das letzte Mal gesehen. Sie vermuten, dass er inzwischen verstorben ist. Wie sehen Sie ihn heute? Er war ein Vater, der mir vieles erklären konnte. Es gibt Dinge in der Welt, die für ein Kind verwirrend sind. In den Achtzigerjahren war das für mich Nelson Mandelas Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Mein Vater war jemand, der konnte das alles mit einer Hand in der Hosentasche erklären. Er stellte keine Fragen an die Welt, denn er wusste einfach, wie es läuft. So eine Vermittlung von Allwissenheit kann einem Kind auch viel Stabilität geben. Ich glaube, eine solche Bewunderung ist immer auch Kennzeichen eines kindlichen Verhältnisses zu Autoritätsfiguren. Ich dachte: Toll, er hat eine starke Meinung, endlich blicke ich durch. Manchmal wurde mein Vater aber auch aggressiv und wütend. Dann rutschte ihm die Hand aus, wie man so sagt. Doch ich habe mir als Kind keinen anderen Vater gewünscht. Ich hätte nicht den Notar- oder Chirurgenvater meiner Freunde haben wollen. Mein Vater war der Coolste. Auch wenn er „nur“ Autos verkauft hat. Was hat Ihnen an Ihrem Vater gefallen? Wenn mein Vater merkte, dass mich etwas beschäftigte, dann kam er zu

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mir und erklärte mir, wie die Dinge so laufen. Ich hatte mit etwa sieben Jahren Angst vor den RAF-Terroristen. Da sagte mein Vater: „Jetzt erkläre ich dir mal, wer diese Leute sind.“ Dann folgte ein Vortrag von einer halben Stunde. Anschließend glühte ich vor Liebe und Dankbarkeit für diesen Mann, der mir alles so gut erklären konnte. Nach solchen Vorträgen sagte er immer: „So, und jetzt kommst du“. So lautet auch der Titel Ihres autobiografischen Romans. Wussten Sie eigentlich, dass Ihr Vater Geld unterschlug und es auch sonst nicht so genau nahm mit dem Gesetz? Es hat lange gedauert, bis ich gemerkt habe, dass nichts hinter seiner Selbstdarstellung steckt, dass er keinen Erfolg hat und auch nicht haben wird. Selbst nach all den Abenteuern wie zum Beispiel der Flucht nach Frankreich dachte ich immer: Es ist ein Missverständnis, dass die Polizei ihn festnehmen will. So denken Kinder. Die Eltern haben einfach immer recht. Es ist die feindliche Außenwelt, die ihnen entgegensteht. Wann bekam das Bild, dass Sie von Ihrem Vater hatten, erste Risse? Die ersten Zweifel kamen mir, als ich bemerkte, wie er sich schlecht über andere äußerte, über die Eltern von Freunden oder Verwandten. Egal ob 65


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Jenseits der Komfortzone

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Ein Beitrag von Sarah Sommer

Die Führungsmethode Objectives and Key Results (OKR) soll Mitarbeiter zu Höchstleistungen motivieren. Tatsächlich kann das Managementsystem Unternehmen auch durch die derzeitige Corona-Krise helfen – jedoch nur, wenn realistische Ziele gesteckt werden.

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enn Felix Berghöfer in ein Unternehmen kommt, geht es ans Eingemachte: Die Spezialität des HR-Managers ist es, in unübersichtlichen und sehr schnell wachsenden Organisationen wieder für mehr Durchblick zu sorgen. Der Arbeits- und Organisationspsychologe hat in den vergangenen Jahren zunächst beim Online-Vertrieb Zalando als Head of HR Customer Care die HR-Strategie im Kundenservice neu aufgestellt und dann bei der Axel-Springer-Tochter Visual Meta in Berlin neue Personal- und Performance-Management-Strukturen aufgebaut. Dasselbe hat er nun als Vice President People beim digitalen Fitnessanbieter Urban Sports Club vor. In seinem Werkzeugkasten stets dabei: die Management-Methode Objectives and Key Results (OKR).

US-Techkonzerne machten OKR populär OKR ist eine gar nicht so neue Managementmethode auf Basis eines ausgefeilten Systems von Zielvereinbarungen, die von vielen prominenten und erfolgreichen Tech-Konzernen im Silicon Valley eingesetzt wird. Google, Twitter, Intel, Linkedin, Facebook, Microsoft: Sie alle nutzen Performance-Management und Zielvereinbarungen auf Basis der OKR-Methode, teils schon seit ihrer Gründung. „Tatsächlich kann das OKR-Prinzip dabei helfen, Organisationen nach vorn zu bringen und sie stärker und widerstandsfähiger zu machen“, sagt Berghöfer. Im Kern ist OKR eine Weiterentwicklung des klassischen Management by Objectives (MbO). Man arbeitet also mit einem strategischen Unternehmensziel, das dann auf die Ebene einzelner Abteilungen, Teams und Personen heruna p r il 20 20

FOKUS

tergebrochen wird. Ein solches Ziel im MbO-System könnte lauten: „Wir wollen dieses Jahr den Marktanteil unserer Produkte bei einer relevanten Zielgruppe erhöhen.“ Die Mitarbeiter im Personalwesen verfolgen dann, abgeleitet aus dem Unternehmensziel, das Erreichen eines entsprechenden „Key Performance Indicators“. Zum Beispiel: die Produktivität der Mitarbeiter abteilungsübergreifend so zu erhöhen, dass das Unternehmen den höheren Marktanteil realisieren kann. An die Erreichung dieser Ziele ist oft ein variabler Gehaltsbestandteil geknüpft.

OKR will das Unmögliche möglich machen Soweit nichts Neues – HR-Manager nutzen ausgefeilte MbO-Kennzahlensysteme mit Tools wie etwa dem HR-Cockpit seit Langem. Der große Unterschied: Die in den US-amerikanischen Tech-Konzernen entwickelte OKR-Variante arbeitet mit gewollt unrealistischen Zielen. Unternehmen setzen sich im OKR-System zunächst visionäre, gerne auch recht abstrakt formulierte strategische Ziele (Objectives). Google etwa will nicht einfach nur den Umsatz erhöhen, die Produktivität verbessern oder Marktführer in einem bestimmten Segment werden, sondern vielmehr ganz unbescheiden „das Wissen der Welt organisieren“. Auch die einzelnen Abteilungen oder Projektteams setzen sich gleich mehrere, am Gesamtziel orientierte und sehr ehrgeizige „Objectives“. Um auf diese hinzuarbeiten, legen die Teams eigenverantwortlich konkrete „Key Results“ fest, also messbare Erfolgsparameter, die einzelne Teams und Mitarbeiter erreichen sollen. Die Ziele werden unternehmensweit veröffentlicht – Mitarbeiter sollen sie im Laufe eines Quartals erreichen. 69


Foto: getty images

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Im Trauerfall Ein Gastbeitrag von Petra Sutor

Aktuell erarbeiten zahlreiche Unternehmen vor dem Hintergrund der Corona-Krise Pläne, wie sie mit trauernden Mitarbeitern, aber auch mit möglicherweise deutlich höheren Todesfällen innerhalb der Belegschaft umgehen sollten. Wie lässt sich Trauerbegleitung als Teil der Unternehmenskultur etablieren? Sieben Ratschläge einer Expertin

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er Gedanke an den Tod macht uns Angst, schnell verscheuchen wir ihn. Doch er ist Realität, auch im Arbeitsalltag. Ein Mitarbeiter kommt morgens nicht mehr ins Büro, weil er auf dem Arbeitsweg tödlich verunglückt ist. Die Kollegin, die in den Mutterschutz verabschiedet wurde, kommt Wochen später als trauernde Mitarbeiterin an den Arbeitsplatz zurück. Ihr Kind ist verstorben. Ein ganzes Team ist im Schockzustand, weil ein Kollege sich auf einer gemeinsamen Geschäftsreise am Abend im Hotel das Leben genommen hat. Zu solchen tragischen Schicksalen kommen derzeit die Herausforderungen hinzu, die die Corona-Krise uns abverlangt. Wir können noch nicht ermessen, welche Situation uns die nächsten Monate erwartet. Führungskräfte und Personaler sind demzufolge gut beraten, sich schon jetzt mit dem Thema Trauer am Arbeitsplatz zu beschäftigen und nicht erst abzuwarten, bis der erste Todesfall eintritt. Denn nicht nur die Folgen des Coronavirus könnten zu höheren Sterbezahlen und damit zu emotional schwer belasteten Mitarbeitern führen. Auch die massive psychische Belastung aufgrund der Isolation sowie der eingeschränkten Abschiedsrituale bei Sterbenden und bei Bestattungen könnten eine große emotionale Probe für viele Mitarbeiter werden. Es wäre für Arbeitgeber und Vorgesetzte fatal, das Thema Trauer am Arbeitsplatz zu ignorieren, denn langfristige Ausfälle sind nicht nur eine physische Belastung für alle Beteiligten, sondern können auch negative wirtschaftliche Folgen haben.

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PRAXIS

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GEDANKEN

Auf und Ab Jede Veränderung beginnt mit einem Gedanken. Hier sind sieben zum Stimmungsmanagement

Steuern Sie Affekte

Nehmen Sie Affekte wahr und erkennen Sie sie an Heute ist längst klar, dass Affekte (also Emotionen, Gefühle und Stimmungen) unser Verhalten steuern. Der Glaube an den rein rational handelnden Homo oeconomicus bröckelt. Viele Studien haben bereits gezeigt: Wer die eigenen Affekte und die anderer Personen versteht, sorgt für mehr Dynamik, Agilität und Vertrauen in seinem Team. Negative Affekte können zu einer unbequemen, weil kritischen Haltung führen und sind auch immer wieder der Grund, aus dem heraus sich Menschen gegen Veränderungen sträuben. Positive Affekte hingegen können dazu motivieren, die Initiative zu ergreifen. Es lohnt sich also, das Bewusstsein und die Wahrnehmung für die eigenen Affekte und die Affekte anderer zu schulen.

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Stimmungsmanagement bedeutet, Affekte bei sich und anderen zu regulieren. Unsere eigenen Affekte und die unserer Kollegen haben entscheidenden Einfluss auf unsere Wahrnehmung: Negative Affekte wie Wut oder Angst machen uns wach, aufmerksam, aber auch misstrauisch. Wer anderen gegenüber misstrauisch ist, wird sich kaum für gemeinsame Innovationen einsetzen und wird angestrebten Veränderungen von vorneherein skeptisch gegenüberstehen. Als Gegenmittel in schwierigen Zeiten wirkt immer Souveränität. Gelingt es der Führungskraft souverän zu bleiben, werden auch die Mitarbeiter gelassener. Verschaffen Sie sich also immer einen Überblick über die Stimmungen im Team und verschwenden Sie keine Zeit mit Mikromanagement – ständige Kontrollen suggerieren den Mitarbeitern, Sie würden ihnen nicht vertrauen.

Schaffen Sie eine positive Affektsituation Viele Projekte, die mithilfe von Strategien, Konzepten und Plänen entwickelt werden, versanden, weil sie schlecht organisiert sind. Es handelt sich dabei aber nicht etwa um ein methodisches Problem, sondern um ein psychologisches. Die umfassenden Strategien müssen greifbar gemacht werden, indem zu Beginn kleine Schritte definiert werden. Wird außerdem, ohne Druck aufzubauen, der Weg zu den gesteckten Zielen besprochen, sodass jedes Teammitglied seine Aufgaben genau kennt, sorgt das automatisch dafür, dass die Unternehmensziele zu den Zielen der Mitarbeiter werden. Wichtig ist eine positive Affektsituation: Das heißt, jeder sollte sich involviert und wertgeschätzt fühlen. Dann arbeiten Mitarbeiter auch gerne. Euphorie hingegen ist nicht nötig.


LETZTE

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Die Rekordstapler Hochstapeln gehört für sie zum Geschäft: Nina Künzel ist Personalerin und Business Partnerin beim Gabelstapler-Hersteller Kalmar.

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Ich bin dennoch nach Niedersachsen zurückgekommen, weil ... ich sehr heimat- und familiengebunden bin. Die beste Entscheidung in meiner Karriere war ... immer auf mein Bauchgefühl zu hören. Mein Arbeitstag beginnt in der Regel mit ... Aktuell hält uns das Coronavirus extrem auf Trab, weil wir unsere Mitarbeiter über Maßnahmen und Guidelines aufklären und sie vor allem schützen müssen. Eine unliebsame HR-Aufgaben ist für mich ... auch mal Entscheidungen treffen zu müssen, die unangenehme Auswirkungen auf die Mitarbeiter haben. Das Wichtigste dabei ist, die Gründe klar zu benennen. Leicht von der Hand gehen mir dafür ... Gespräche, bei denen ich Vorgesetzte von Entscheidungen überzeugen muss, aber auch Konfliktgespräche mit Mitarbeitern. Dank meiner Zusatzausbildung zur psychologischen Beraterin, in der ich auch Supervision, Coaching und Gesprächsführung gelernt habe, fühle ich mich dafür gut gerüstet.

Ein Hochstapler, der mich beeindruckt hat, war … Frank Abagnale, dessen Leben in „Catch me if you can“ 2002 verfilmt wurde. Er ergaunerte mit Fantasie, Willenskraft und Akribie gut bezahlte Jobs, ohne überhaupt die Qualifikationen zu haben. Nachdem er dafür seine Strafe abgesessen hatte, gründete er ein Unternehmen, das Scheckbetrug und Dokumentenfälscher entlarvt. Seine clevere Art, aus den Fehlern seiner Vergangenheit etwas Nützliches zu gestalten, beeindruckt mich. Im HR-Bereich gibt es meiner Meinung nach die größten Hochstapeleien ... in Bewerbungsgesprächen. Das ist natürlich nachvollziehbar, denn jeder möchte sich von der besten Seite zeigen und den Recruiter überzeugen. Die Fragen stellte Jeanne Wellnitz

Nina Künzel ist HR Director North & East Europe beim Gabelstaplerhersteller Kalmar. Das Unternehmen steht mit dem stärksten Gabelstapler der Welt, mit dem sich 90 Tonnen stemmen lassen, im Guinness-Buch der Rekorde. Das entspricht einem Gewicht von etwa 15 männlichen afrikanischen Elefanten.

Fotos: Twelve Photographic Service

Die größte Herausforderung in meiner HR-Arbeit ist für mich ... der stetige Fachkräftemangel, insbesondere im Bereich der Service-Techniker. Der Bedarf steigt, doch es rücken nicht genug Azubis nach. Dafür ist es bei Kalmar leicht, sich als Personaler ... den permanenten Veränderungen, Marktsituationen und Megatrends zu stellen, weil unser Netzwerk aus acht HR-Business-Partnern global gut funktioniert. Die wichtigste Erkenntnis, die ich in meiner Ausbildung zur psychologischen Beraterin gemacht habe, war ... dass wir als Führungskräfte auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter eingehen müssen, damit ein Team zu einer Einheit werden kann. Eine kollaborative Führung ist dafür wichtig. An meine Zeit in den USA erinnere ich mich gern, weil ... ich dort gesehen habe, wie wichtig definierte HR-Prozesse sind. Ich kam für drei Jahre in ein fremdes Land und konnte dennoch meine Erfahrungen einbringen, denn in den USA waren die People-Prozesse, Routinen und Abläufe identisch mit denen im deutschen Headquarter.


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