HRM 6/2020 Neue Normalität Issuu

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NEUE NORMALITÄT


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EDITORIAL

Neuanfang

Sven Lechtleitner, Leitender Redakteur Human Resources Manager

Coverfoto: ismagilov / Getty Images; diese Seite: privat

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ie auch immer wir es nennen: New Normal, Neue Normalität oder auch Neue Realität – die Art, wie wir arbeiten, hat sich massiv verändert. Führung auf Distanz funktio­ niert entgegen aller Vorbehalte, Teams organisieren sich selbst ohne Hierarchien und meistern ihre Zusammen­ arbeit online. Den digitalen Wandel in der Arbeitswelt erleben wir seit Jahren. Technologie und Flexibilisierung halten in vielen Bereichen Einzug. Doch erst die Auswirkungen der Corona-­ Pandemie haben der Arbeitswelt einen Digitalisierungs­ schub versetzt und viele zum Umdenken angeregt. Unter­ nehmen setzten in kürzester Zeit das um, was lange Zeit ganz unten auf der Agenda rangierte. Es wurden Prozesse digitalisiert, eine virtuelle Arbeitsumgebung geschaffen und starre Strukturen gelockert. Im Vergleich zu den ersten Monaten der Pandemie ist in der Arbeitswelt mittlerweile ein Stück weit Routine zurückgekehrt. Neue Arbeitsweisen sind in der Zwischen­ zeit erprobt und wir haben uns an sie gewöhnt. Wir wissen mittlerweile, was uns morgen im Job erwartet. Es ist zu einer Art Normalität geworden, sich im Homeoffice zu organisie­ ren oder am Arbeitsplatz vor Ort Schutzvorkehrungen zu treffen. Und diese Normalität gibt uns gerade in unsiche­ ren Zeiten ein Gefühl von Stabilität. Was die Krise jedoch auch verdeutlicht hat: Nicht allen Beschäftigten nutzen die modernen Arbeitsmodelle etwas. d ezem ber 20 20

Während sich Bürojobs recht reibungslos ins Homeoffice verlagern lassen, sind Mitarbeitende in den meisten system­ relevanten Berufen Tag für Tag draußen im Einsatz. Wie las­ sen sich demzufolge für die gesamte Belegschaft moderne Arbeitsmodelle realisieren? Wie gestaltet sich Zusammenar­ beit, wenn die Ausnahmesituation vorüber ist? Und welche Rolle spielen Büroräume in Zukunft noch? Sich diesen Fra­ gen zu stellen, ist ebenfalls Teil der Neuen Normalität. Wenn wir eines in dieser Krisenzeit gelernt haben, ist es, Bestehen­ des zu hinterfragen. Dazu gehört es auch, Erfahrungen der vergangenen Monate zu analysieren und die Arbeitsorgani­ sation zu optimieren. Ob das Homeoffice wirklich gekom­ men ist, um zu bleiben, wird sich zeigen. Ein Blick in die nahe Zukunft lässt vermuten, dass wir künftig eher hybrid arbeiten – also das Büro und mobile Arbeit kombinieren. Mit der Neuen Normalität befasst sich die Redaktion des Magazins nicht nur im Schwerpunkt dieser Ausgabe, son­ dern auch ganz persönlich. Denn als normal empfinde ich es, seit mehr als sechs Jahren als freier Journalist für das Magazin zu schreiben. Neu ist es hingegen für mich, als lei­ tender Redakteur die Nachfolge von Chefredakteurin Han­ nah Petersohn anzutreten. Viele spannende Themen habe ich unter ihrer Regie verwirklichen können. Eine inspirie­ rende Zusammenarbeit, für die ich mich herzlich bedan­ ken möchte. Es sind große Fußstapfen, in die ich trete. Mir ist es eine Freude, diese und zukünftige Ausgaben für Sie zu konzipieren. Kommen Sie gut ins neue Jahr. 3


12 Sind wir noch im Alarmzustand oder ist das die Neue Normalität? Ein Gedankenspaziergang durch die Gegebenheiten, die uns die CoronaPandemie aktuell beschert

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SCHWERPUNKT: Neue Normalität

Editorial

6 Manifest zum New Learning Die digitale Transformation re­ volutioniert die Arbeitswelt und unser Leben. Unser Bildungs­ system hinkt dieser Entwicklung jedoch hinterher 11 Schnappschuss

12 Wo stehen wir eigentlich? Ein Essay des Soziologen Falk Eckert über die Arbeitswelt zwi­ schen Erleben und Realität 18 Die neue Freiheit? Durch Homeoffice stehen Bürogebäude leer und die Prä­ senz von Beschäftigten verliert an Bedeutung. Ein Anlass, um neue Arbeitsräume zu schaffen und Anwesenheitspflicht zu überdenken. Bettina Karsch, Geschäftsführerin HR bei Vodafone, im Interview 24 Wer bei New Work den Kürzeren zieht Die Corona-Krise zeigt, wer un­ ser Land eigentlich am Laufen hält: Beschäftigte in systemre­ levanten Berufen wie auch im Bereich Blue Collar. Doch in den Genuss moderner Arbeitsmodel­ le kommen sie nur selten

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Bettina Karsch, Geschäftsführerin für HR bei Vodafone, im Interview über mobiles Arbeiten, Leerstand im Büro und warum es in Zukunft ­hybride Modelle braucht

28 Neue Normalität – neue Werte? Auf welche Unternehmenswerte kommt es in der Neuen Normalität an? 32 Hierarchielos durch den Tag Eine Arbeitsorganisation ohne viele Hierarchieebenen ver­ spricht gerade in Zeiten des Wandels Erfolg. Wie HR Struktu­ ren auflösen und sich selbst neu formen kann 36 Das Prinzip Selbstführung Acht Schlüsselfaktoren für Füh­ rung in Eigenregie 40 Mit Rhythmus in den Flow Wie lassen sich die Erkenntnisse des Intervalltrainings auf die moderne Arbeitswelt übertragen? 44 Wie geht es HR im New Normal? Die Pandemie fordert Unterneh­ men viel ab. Langsam bewegen wir uns in der sogenannten Neuen Normalität. Doch welche Konsequenzen hat das für HR? 48 Unsere Psyche in Zeiten von Corona Wie Unternehmen die Beleg­ schaft sicher durch die Krise bringen können

Fotos: commons.wikimedia.org; www.peterrigaud.com / Vodafone; Qvasimodo / Getty Images; shih-wei / Getty Images; Stefan Maria Rother / DIN

MEINUNG


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50 Der Sinneswandel Kommunikationschef Oliver Santen ist durch ein Tal ge­ schritten, um mobiles Arbeiten dann doch lieben zu lernen. Ein Erfahrungsbericht

Welche Rolle spielt Angst beim Change­? Fakt ist: Sie muss nicht immer schlecht sein. In einer sicheren Lernumgebung kann die Lern-

IM FOKUS: ­ CHANGE MANAGEMENT

angst schwinden, so dass Menschen offen sind für Veränderungen

54 Die Facetten von Angst Welcher Art muss die Angst sein, damit Menschen in Unternehmen im Change nicht stehen bleiben?

ANALYSE 58 Coaching als HR-Instrument Wie wirksam sind die Methoden zur Selbstreflexion? Und soll­ ten Führungskräfte auch selbst ­coachen?

64 Nicht nur überleben, sondern gedeihen Wieso melden manche Unter­ nehmen in der Krise Insolvenz an, während die Konkurrenz mit innovativen Lösungen in Serie geht? Neun Schlüssel organisati­ onaler Resilienz

RECHT

79 Sicherheit und Gesundheit Neugestaltung der Arbeitswelten 80 Thesenpapier 2021 Digitalisierung, Gesundheit und Transformation: HR steht auch 2021 vor großen Herausforde­ rungen 84 Digitale Transformation Digitalisierung ist mehr als 0 und 1

68 Aktuelle Urteile PRAXIS 62 Sieben Gedanken Der Sozialpsychologe ­Hans-Peter Erb über virtuelle Empathie

85 HR Business Design 70 Essay Mitbestimmung im digitalen Zeitalter: Was gilt es zu bedenken?

VERBAND 74 Editorial 75 Preisträger und Preis trägerinnen 2020 Der Personalmanagement Award und der Nachwuchsför­ derpreis

24 Aktuell sprechen alle von der Zukunft der Arbeit, alles scheint sich ums Homeoffice und Co. zu drehen. Meistens wird dabei aber nur an die Beschäftigten aus den White-Collar-Bereichen gedacht. Doch wie sieht die HR-Arbeit für Basic Worker aus?

LETZTE SEITE 86 Fragebogen Normen gestalten unsere Nor­ malität. Karsten Bich verant­ wortet den Bereich HR und Transformation beim Deutschen Institut für Normung und hat eine HR-Lieblingsnorm


MEINUNG

Digital ist noch ­lange nicht ­normal!

Ein Gastbeitrag von Ada Pellert

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Foto: picture alliance / ullstein bild

Die digitale Transformation revolutioniert die Arbeitswelt und unser Leben mit hohem Tempo. Unser Bildungssystem hinkt dieser Entwicklung hinterher. Dabei stehen notwendige Veränderungsprozesse an.


MEINUNG

Alle sprechen von New Work, dabei brauchen wir vor allem ein New Learning. Unser hiesiges Bildungssystem steckt in puncto Digitalisierung noch in der Vergangenheit fest.

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eutschland liegt im internationalen Vergleich weit hinter Ländern wie Dänemark, Korea oder Singapur, was die Digitalisierung im Bildungs­ bereich betrifft – allen voran in den Schulen, gefolgt von den Hochschulen und weiteren Bildungseinrich­ tungen. Das war schon vor der Pandemie so, aber Corona hat es für alle in diesem Jahr einmal mehr deutlich gemacht. Seit dem Frühjahr wurde viel experimentiert, als Schu­ len und Hochschulen über Nacht von Präsenz auf Distanz umsteigen mussten. Einiges ist gelungen, anderes hingegen nicht. Das liegt nicht nur an fehlender Technik, die Lücken offenbaren sich auch beim Wissen: Wie können wir in dieser ungewohnten Situation gut lernen? Wie im Homeoffice mo­ tiviert arbeiten? Smartphones, Videoanwendungen, Tools für kollaboratives Arbeiten, Lern-Apps – plötzlich waren sie notwendig, damit Unterricht und Arbeiten überhaupt stattfinden können. Fest steht, diese Entwicklungen werden d ezem ber 20 20

sich nicht mehr zurückdrehen lassen. Allerdings sollten wir über den sinnvollen Einsatz digita­ ler Medien und über die Themen Bildung und Lernen reden. Wir müssen uns mit neuen Formen des Lernens auf allen Ebenen vertraut machen. Auch Arbeiten und Lernen sind untrennbar miteinander verwoben. Neue Unternehmens­ kulturen und neue Arbeitskonzepte sind auf neue Lernkon­ zepte angewiesen: Agiles, kooperatives und vernetztes Ar­ beiten braucht agiles, kooperatives und vernetztes Lernen. Als beispielsweise die Fernuniversität in Hagen vor mehr als 40 Jahren gegründet wurde, ist sie für ein neues Studi­ enmodell eingetreten. Lehren und Lernen auf Distanz ist unsere Kernaufgabe. Wir haben rund 80.000 Studierende, für die wir andersartige Bildungskonzepte erproben und erforschen. Wie wollen, wie können, wie müssen wir künftig lernen? In einem Positionspapier, dem Hagener Manifest zu New Learning, haben einschlägige Forscherinnen und 7


N E U E N O R M A L I TÄT

Foto: commons.wikimedia.org

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Edvard Munch war ein norwegischer Maler, der in seinen berühmten

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vier Gemälden Der Schrei eine eigene Angstattacke verarbeitete.


Sind wir noch im Alarm­ zustand oder ist das die Neue ­Normalität? Manche sehen im Wandel eine Ausnahmesituation, andere sprechen schon von der Neuen Normalität. Die Arbeitswelt zwischen Erleben und Realität Ein Essay von Falk Eckert

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er Virologe Christian Drosten nannte die ­Corona-Pandemie einmal eine Naturkatast­ rophe in Zeitlupe. Eine Naturgewalt, die selbst durch unsere hoch technologisierte und nun­ mehr auch digitalisierte Gesellschaft nicht gestoppt werden kann. Doch während vormoderne Gesellschaften Naturka­ tastrophen als Gefahr und Ereignis mit Zerstörung, Krank­ heit und Tod ausgeliefert waren, betrachtet die moderne Gesellschaft diese als Risiko, das nicht vermeidbar, doch aber gesellschaftlich regulierbar ist. So tätigte der Soziolo­ ge Ulrich Beck im Jahr 1986 eine Zeitdiagnose, mit der er berühmt wurde: Unsere moderne Gesellschaft werde durch die technisch bedingten Selbstbedrohungspotenziale eine Risikogesellschaft.

Das Leben mit dem Risiko Das Produzieren und Regulieren von Risiken wie Reaktor­ katastrophen oder Umweltverschmutzung ist der Preis und die Notwendigkeit des technischen Fortschritts und Wohlstandsstrebens. Zugleich droht laut Beck in einer Risi­ kogesellschaft, dass der Ausnahmezustand zum Normalzu­ stand wird. Während ein gesellschaftliches und politisches Risikomanagement durchaus möglich ist, ist dieses jedoch zugleich auch immer mit dem Paradox der Risikokonkur­ renz konfrontiert. Ein Begriff, den der Soziologe Andreas Reckwitz prägte: Die systematische Minimierung eines Risikos – zum Beispiel des Ansteckungsrisikos – generiert zugleich unerwünschte Folgekosten wie die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten oder den Rückgang des Brutto­ inlandprodukts. Die Ausnahmesituation, von der man anfangs glaubte, in ein paar Wochen oder Monaten werde alles wieder wie früher sein, diese Ausnahmesituation hält an und fördert zugleich eine Art von neuer Normalität zutage, die viele For­ men annimmt: von der AHA-Regel über das Homeoffice und den Verzicht auf Kulturveranstaltungen bis hin zum Reisen. Die Pandemie ist ein andauernder Stresstest für die Gesellschaft und für den einzelnen Menschen, da die Unge­ wissheit über die Entwicklung und die globalen sozialen, 13


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Die neue Freiheit Durch Homeoffice stehen Bürogebäude leer und die Präsenz von Beschäftigten verliert an Bedeutung. Ein Anlass, um neue Arbeitsräume zu schaffen und Anwesenheitspflicht zu überdenken. Bettina Karsch, Geschäftsführerin für Human Resources bei Vodafone, über mobiles Arbeiten, Leerstand im Büro und warum es in Zukunft hybride Modelle braucht

Foto: Carol Hamilton / Getty Images

Ein Interview von Sven Lechtleitner

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Frau Karsch, in der Fernsehreportage Leerstand durch Homeoffice im Juli 2020 sagten Sie, dass Ihre Belegschaft fast komplett mobil arbeitet und Büroräume leer stehen. Wie viele Ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen befinden sich derzeit noch im Homeoffice? Aktuell arbeitet mehr als 90 Prozent der Belegschaft mobil – also nicht im Büro vor Ort. Mit Beginn der Pande­ mie haben wir den Schalter komplett umgelegt und fast die gesamte Beleg­ schaft ins Homeoffice geschickt. Das war Anfang März, nach dem ersten Corona-Fall bei uns im Unternehmen. Was ist mit den anderen zehn Prozent? Wir verfügen über eine große Handels­ kette, wo unsere Shop-Agenten vor Ort arbeiten. Darüber hinaus gibt es die Techniker, die draußen im Einsatz sind. Alle anderen können auf freiwilli­

ger Basis von zu Hause aus ihrer Tätig­ keit nachgehen. Unsere Firmenstand­ orte sind aber weiterhin offen. Die Ausnahmesituation kam sehr plötzlich. Wie hat die Umstellung auf das Homeoffice funktioniert? Die Umsetzung verlief ohne Probleme. Bei Vodafone Deutschland setzen wir tatsächlich schon seit gut acht Jahren auf ein flexibles und selbstbestimm­ tes Arbeiten. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten bislang bis zu 50 Prozent ihrer Arbeitszeit mobil arbeiten und haben das auch genutzt. Unser Grundsatz lautet: Wir schaffen die Möglichkeiten, stellen die Nut­ zung aber frei. Die Homeoffice-Situa­ tion war für uns daher nicht neu und unsere Führungskräfte wussten, dass man von zu Hause aus auch gut pro­ duktiv arbeiten kann. Wenn plötzlich 90 Prozent im Homeoffice arbeiten, ist das eine große Belastung für Infrastruktur 19


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und Technik. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Die Infrastruktur bestand zu Beginn der Pandemie bereits. Viele von uns waren größtenteils mit Laptops aus­ gestattet. Alle anderen haben direkt welche bekommen – auch diejenigen, die in den Callcentern oder im Vertrieb in den Shops arbeiten. Mit dieser Aus­ rüstung und unseren Cloud-Diensten sind wir gut aufgestellt. Das Span­ nendste war im Frühjahr vielmehr, ob die Netze der Betreiber den massiven Bedarf an Uploads und Downloads gleichermaßen aushalten. Schließlich waren alle plötzlich von zu Hause aus im Netz. Aber das funktionierte insge­ samt hervorragend. Trotz stabiler Technik und guter Erfahrungen ist das Homeoffice für Vorgesetzte auch ein Schritt ins Ungewisse. Wie werden die Führungskräfte darauf vorbereitet? Das eigene Team tagtäglich um sich zu haben, wurde fast allen Vorgesetz­ ten von einem auf den anderen Tagen genommen. Deshalb haben wir viele Schulungen gestartet beziehungs­ weise unser vorhandenes Angebot stärker genutzt. Die Schulungen waren jedoch freiwillig. Aber ich bin froh, dass über 50 Prozent das Angebot genutzt haben. Was jedoch viel mehr geholfen hat als diese Schulungen, waren die Leadership-Calls, die wir mit jeder unserer 1.000 Führungskräfte monat­ lich geführt haben. Bei dem Austausch profitiert man von den Erfahrungen der anderen. Wie gehen Sie mit dem Leerstand von Bürofläche aktuell um? Die Situation hat sich kaum verän­ dert im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Die Wahl des Arbeitsortes ist den Beschäftigten freigestellt. Alle Standorte sind geöffnet. Falls jemand dorthin gehen möchte, ist das erlaubt. 20

Bettina Karsch Allerdings braucht es dafür aktuell eine betriebsbedingte Notwendigkeit. Das wissen alle. Leerstand gibt es natürlich, ganz klar. Aber im Moment machen wir nichts anderes mit den Immobilien, als vielleicht auf der ein oder anderen Etage die Heizung herunterzudrehen. Künftig werden wir vermutlich mit geringerem Raumbedarf planen. Wir wollen jedoch komplett ändern, wie diese Bürofläche zukünftig genutzt wird. Sie sprechen von offenen Arbeitsräumen? Genau. Es geht um Räume, die Aus­ tausch ermöglichen und fördern. Heute befinden sich auf 70 Prozent unserer Fläche am Campus typische Büros. Nur 30 Prozent der Fläche sind durch Meeting-Räume, Kantine und Bibliothek belegt. Ziel ist es, dieses Ver­ hältnis umzudrehen – also 30 Prozent für Arbeitsplätze und 70 Prozent als Event- und Meeting-Fläche zu nutzen. Warum liegt der Fokus auf Eventund Meeting-Fläche? Alle zwei Monate führen wir Pulsbefra­ gungen in der Belegschaft durch. Wir fragen beispielsweise, wie produk­ tiv oder wertgeschätzt sie sich fühlt.

ist seit über vier Jahren Geschäftsführerin Human Resources bei Vodafone Deutschland. Die Personal- und Strategieexpertin begann ihre Karriere im Investment Banking als Analystin bei Boltendahl International Partners in Buenos Aires. Ende 2005 wechselte sie zur Penna PLC Consulting Group, wo sie bis 2010 als Direktorin für Talent Acquisition und HR Consulting verantwortlich war. Anschließend verantwortete sie bei Vestas Wind Systems als Direktorin den Bereich Human Resources des gesamten Mittelmeerraumes, Zentral Europa und Lateinamerika. 2013 wechselte sie zur spanischen Vodafone-Gesellschaft in Madrid und übernahm die Leitung des Bereichs Personal und Gebäudemanagement.

Foto: Vodafone; KHUNASPIX

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Eine Frage während der Corona-Zeit war: Was vermisst ihr am meisten? Die Antworten zeigen: Den meisten fehlen Momente der Innovation, der Kollaboration und der Inspiration. Also Momente, in denen der Mensch einen anderen Menschen sieht und sich mit ihm austauscht. Inspiratio­ nen für Produktentwicklungen oder -launches können im Video-Call kaum entstehen. Dafür braucht es Raum für persönlichen Austausch. Wie sieht also der Arbeitsraum von morgen aus? Fläche bedeutet nicht mehr, Büros oder Meeting-Räume für zehn Perso­ nen anzubieten. Vielmehr planen wir größere Räume, wo sich Führungs­ kräfte mit ihren Teams treffen können. Dass es das Analoge braucht, zeigt sich auch an agilen Teams. Sie brauchen Papierkarten, machen Stand-ups, diskutieren Themen in der Runde. Es braucht daher einen Raum – ohne typi­ sche Schreibtische –, in dem kreative Momente durcheinandergehen kön­ nen, sich die Ideen anderer aufgreifen lassen und man sich auch mal unter­ brechen darf. Das funktioniert in der Zoom-Welt nicht. Für Kreativität und Austausch trifft man sich vor Ort. Der

„ Für kreative Momente braucht es einen Raum ohne typische Schreibtische.“

klassische Büroarbeitsplatz hätte demnach ausgedient. Arbeiten nach der Pandemie alle dauerhaft mobil? In der ersten Jahreshälfte 2020 stand das Homeoffice und dessen Organisa­ tion im Vordergrund, wenngleich wir darin schon viel Erfahrung hatten. Jetzt sind wir einen Schritt weiter und befas­ sen uns damit, welchen Anteil mobiles Arbeiten in Zukunft einnehmen kann. Ein Gedanke ist, vollständig auf eine prozentuale Regelung zu verzichten. Wenn wir die letzten acht Jahre eine Fünfzig-Prozent-Regelung hatten und während der Pandemie quasi vollstän­ dig im Homeoffice arbeiten, dann wäre es kaum vorstellbar, danach wieder einen Homeoffice-Anteil festzulegen. Sondern? Wir halten unsere Mitarbeiter und Mit­

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arbeiterinnen sowie Führungskräfte für mündig. Vorgesetzte steuern schon heute über Ziele. Der Output steht im Vordergrund. Wenn wir bereits Prä­ senzpflicht durch Flexibilität ersetzt haben, sind wir auch stark genug, um zu sagen: „Es gibt keine Prozent­ sätze mehr!“ Jeder und jede Einzelne könnte so selbst über den Anteil mobi­ len Arbeitens entscheiden. Diesen Ansatz diskutieren wir auch mit den Arbeitnehmervertretungen. Wir stre­ ben ein Konzept an, das ohne prozen­ tuale Angaben funktionieren soll – also selbstbestimmtes Arbeiten. Welche Befugnisse über den Arbeitsort haben Führungskräfte, wenn alle selbst über das Homeoffice entscheiden? Darüber haben wir uns natürlich Gedanken gemacht, wie das mit dem Direktionsrecht einer Führungskraft einhergeht. Aber es passt aus unserer Sicht alles. Eine Führungskraft soll das Recht behalten, zu sagen, dass jemand beispielsweise für ein Kick-off oder Brainstorming reinkommen sollen. Wie reagieren die Betriebsräte und die Beschäftigten auf das Vorhaben? Zuerst einmal haben wir natürlich einen Vorteil, weil wir schon viele Jahre flexibel arbeiten. Die Coro­ na-Situation hat dies noch verstärkt. Wir fragen unsere Beschäftigten in den Umfragen auch, ob sie sich vorstellen können, zu 100 Prozent im Homeoffice zu arbeiten. Bei 16.000 Angestellten sprechen sich manche dagegen aus, andere sind wiederum dafür. Somit ist klar: Wir werden nie ein hundertpro­ 21


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Wer verliert bei New Work? 24


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Die Corona-Krise zeigt, wer unser Land eigentlich am Laufen hält: Beschäftigte in systemrelevanten Berufen wie auch im Bereich Blue Collar. Doch in den Genuss moderner Arbeitsmodelle kommen sie nur selten. Ein Gastbeitrag von Guido Zander

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n Pflegeheimen, Supermärkten, Logistikzentren und Fabriken arbeiten die Menschen auf Hochtouren – trotz Lockdown und Ausgangsbeschränkungen. Sie setzen sich dabei tagtäglich einem hohen Infektionsri­ siko aus. In Produktionshallen ist es laut, im Sommer warm und im Winter kalt. Wer acht Stunden am Fließband steht, kann keinen Kaffeeplausch mit anderen halten oder eine kurze Pause einlegen, wie sie jenen vorbehalten ist, die am Schreibtisch arbeiten, die White Collar Worker. Blue-­CollarArbeitskräfte arbeiten häufig in Drei-Schicht-Systemen, was wiederum auf die Gesundheit schlagen kann, also beispiels­ weise zu einem erhöhten Risiko von Herz-Kreislauf-Er­ krankungen führt. Im Einzelhandel stemmen Angestellte Sonderschichten, um die leer gekauften Regale wieder zu füllen. Danach folgen oftmals kurzfristige Schichtabsagen, weil nach dem Ansturm die Nachfrage für die nächsten Monate vorerst wieder sinkt. Die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung für alle, die in systemrelevanten Berufen arbeiten, sind eine Belastungsprobe. Viele fragen sich, wie sie das bis zur Rente durchhalten sollen. Aktuell sprechen alle von Future of Work, alles scheint sich nur noch um Ho­ meoffice und Co. zu drehen. Meistens wird dabei aber nur an die Beschäftigten aus den White-Collar-Bereichen gedacht. Doch wie sieht die HR-Arbeit für Basic Worker aus? Gibt es für sie moderne Arbeitsbedingungen, Wertschätzung und Beteiligung? Fehlanzeige.

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Interessant dabei ist: Wahres New Work gehen Unter­ nehmen auch in den White-Collar-Bereichen nur selten an. Erzwungenes Homeoffice ist übrigens so ziemlich das Gegenteil von wahrer New Work. Frithjof Bergmann, der Urvater von New Work, hatte sicherlich keinen Obstkorb oder Kickertisch im Sinn, als er davon sprach, dass Men­ schen das tun sollten, was sie „wirklich wirklich wollen“. Während sich eine Art Fake-New-Work einfach initiieren lässt, braucht es für echtes New Work einen Strukturwandel. Dabei ist eine Veränderung von Führungskonzepten und der Organisation von Arbeit und Arbeitszeit gefragt – und das ist anstrengend und aufwendig. Solche Fake-New-Work-Aktivitäten hinterlassen beson­ ders bei Beschäftigten in Produktion und Logistik einen faden Beigeschmack. Es entsteht Unmut, wenn auf der einen Seite bunte Bürowelten mit Chill-Lounges und Baris­ ta-Ecken entstehen, für die Klimaanlage der Produktions­ halle aber kein Budget mehr zur Verfügung steht, obwohl sich diese im Sommer auf über 30 Grad aufheizt. Oder wenn Pflegekräfte täglich acht Stunden Patienten und Patientin­ nen betreuen, während der Angestelltenbereich darüber philosophiert, wie er seine Arbeit künftig in weniger Stun­ den schafft, weil er entdeckt hat, dass viel Zeit in unproduk­ tiven Meetings verschwendet wird. Es ist durchaus eine Diskussion wert, was die von Frithjof Bergmann entwickelte New-Work-Vision konkret für Unter­ nehmen bedeutet. Im Kern geht es um Selbstbestimmung, Eigenverantwortung und Freiraum. Darüber hinaus geht es auch um ein positives Menschenbild, das auf Vertrauen basiert. Wer diese Prinzipien seinen Planungen zugrunde legt, findet auch Lösungen jenseits der White-Collar-Be­ reiche. Klar ist: Bei kaufmännischen Angestellten bestehen mehr Möglichkeiten als in den Basic-Worker-Bereichen. Denn eine Regelung für hybrides Arbeiten kann Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglichen, eigenverantwortlich inner­ halb betrieblicher Rahmenbedingungen über Dauer und Lage der Arbeitszeit selbst zu entscheiden. Dabei können sie frei wählen, ob sie eine Aufgabe zu Hause, im Café oder am Arbeitsplatz erledigen möchten. Das ist extrem attraktiv, aber eben nur für Tätigkeiten möglich, die entsprechend digitalisierbar und aus der Ferne auszuführen sind.

Entscheidungsfreiraum bei Blue Collar Doch diese Prinzipien sind ebenso auf Blue-Collar-­Bereiche anwendbar. Ein Beispiel ist das Kundenprojekt der Bera­ tungsgesellschaft SSZ Neues Arbeitszeitsystem Reinigung bei der Berliner Stadtreinigung (BSR). Durch die konsequente 25


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• Zufriedenere Arbeitnehmer sind produktiver und bleiben ihrem Arbeitgeber länger erhalten.

Eine starke Unternehmenskultur fördert den Zusammenhalt und bindet Beschäftigte – vor allem in unsicheren Zeiten. Aber auf welche Unternehmenswerte kommt es in der Neuen Normalität an?

Ein Gastbeitrag von Sven Hennige

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wei Fragen prägten über Jahrzehnte die Entschei­ dung für oder gegen einen neuen Job: „Was sind die täglichen Aufgaben?“ und „Wie hoch ist das Gehalt?“. Die letzten Jahre zeigen, dass für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zunehmend auch weiche Faktoren in den Vordergrund rücken. Besonders die Corona-Pandemie hat dafür gesorgt, dass die Kultur eines Unternehmens eine größere Rolle spielt. Die eigene Ent­ faltung sowie eine positive Work-Life-Balance gewinnen an Bedeutung. Wenn Beschäftigte sich mit den Werten und der im Unternehmen üblichen Art der Zusammenarbeit identifizieren, ergeben sich daraus in der Regel Vorteile: • Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gelten als zufriedener in ihrem Job. • In Teams herrscht aufgrund der Zufriedenheit eine gute Arbeitsatmosphäre. 28

Stresstest für die Unternehmenskultur Die Corona-Pandemie stellt das gesellschaftliche Leben seit dem Frühjahr des Jahres 2020 auf den Kopf. Insbeson­ dere auch die Arbeitswelt ist von Veränderungen betroffen. Die Krisensituation beeinflusst das Werteverständnis. Auf Arbeitnehmerseite herrscht Verunsicherung. Viele sorgen sich um ihren Arbeitsplatz. Einige erfahren durch das dau­ erhafte Arbeiten im Homeoffice ein Gefühl der sozialen Isolation und Vereinsamung. Gerade dabei ist es wichtig, dass sich Beschäftigte mit ihrem Arbeitgeber identifizieren. Es geht darum, dass sie den Aussagen der Führungskräfte vertrauen und wissen, dass diese Entscheidungen auf der Grundlage gemeinsamer Werte treffen. Das stellt Führungskräfte vor Herausforderungen. Sie dürfen ihre Teams auch auf Distanz nicht aus den Augen verlieren. Gleichzeitig müssen sie als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Viele Personalverantwortliche mussten in den vergangenen Monaten lernen, ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen mehr zu vertrauen. Sie mussten bereit sein, Verantwortung abzugeben. Wenn man nicht gemein­ sam an einem Ort ist, kann ein Gefühl von Kontrollver­ lust aufkommen. Daher ist das Homeoffice – zumindest vor der Pandemie – bei einigen Personalverantwortlichen mit Vorurteilen behaftet gewesen. Das zeigt eine Arbeits­ marktstudie von Robert Half. Die Annahme: Beschäftigte seien zu Hause deutlich unproduktiver, da sie mit ande­ ren Dingen beschäftigt seien und sich leichter ablenken ließen. Dennoch belegen die Ergebnisse, dass 41 Prozent der Führungskräfte die Produktivität ihrer Team-Mitglieder im Homeoffice positiv bewerten. Das entgegengebrachte Vertrauen hat sich also ausgezahlt.

Neuausrichtung als Antwort Jedes Unternehmen hat eine eigene Vision und Philoso­ phie. Wie es diese lebt, bestimmt die Kultur. Die Unter­ nehmenskultur steht für die Überzeugungen und Werte, mit denen geschäftliche Ziele verfolgt werden und die Zusammenarbeit gestaltet wird. Das betrifft auch die Verhaltensweisen, Arbeitspraktiken und Prozesse, die als Leitbild für das gesamte Unternehmen und alle Ange­ stellten dienen.

Foto: picture alliance / Photoshot

Neue ­Normalität – neue Werte?

Die passende Unternehmenskultur stellt die Weichen für eine erfolgreiche und langfristige Arbeitsbeziehung. Aber was zeichnet eine gute Unternehmenskultur genau aus?


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Weltweit sind die Menschen mit Ängsten, Nöten, aber auch Erkenntnissen über das eigene Selbst angesichts der Pandemie konfrontiert, alle sitzen im selben Boot und hoffen auf ein Ende des Sturms.

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Kompetenzen statt Hierarchien Eine Arbeitsorganisation ohne viele Hierarchieebenen verspricht gerade in Zeiten des Wandels Erfolg. Wie HR Strukturen auflösen und sich selbst neu formen kann, zeigt ein Unternehmensbeispiel. Ein Gastbeitrag von Matthias Blatz und Lars Bohlmann

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lobalisierung, Digitalisierung und der gesell­ schaftliche Wandel stellen wichtige Themen­ felder dar, um sich in Zukunft erfolgreich weiterzuentwickeln. Zudem verdeutlicht die ­Corona-Krise, wie wichtig es ist, sich als Organisation fle­ xibel auf neue Rahmenbedingungen einzustellen. Das gilt auch für die Hettich Gruppe, die Kernprodukte wie Schub­ kasten- und Führungssysteme, Scharniere sowie Falt- und Schiebetürbeschläge entwickelt, produziert und vertreibt. 32

Um diesen Veränderungen und den individuellen Gege­ benheiten auf Seiten von Kundschaft und Markt Rechnung zu tragen, hat das Unternehmen mit weltweit 6.700 Mitar­ beiterinnen und Mitarbeitern bereits in den letzten Jahren regionale Headquarter gegründet. Jedes Headquarter ist verantwortlich für seine regionalen Märkte und entwickelt auch eigene Produkte und Vermarktungsideen. Dadurch sollen die spezifischen Anforderungen der Kundschaft und Märkte schnell, agil und zielgerichtet abgebildet werden


TITEL

Ebenso komplex wie das Zusammenspiel eines Uhrwerks, gestaltet sich die agile Zusammenarbeit von Fachgruppen, bei denen Kompetenzen

Foto: SectoR_2010 / Getty Images

ineinandergreifen.

können. Aufgrund dieser neuen Ausrichtung entwickelt sich Hettich von einer hierarchiegeprägten Struktur mit vielen verschiedenen Gesellschaftsperspektiven zu einer vernetz­ ten, kundenzentrierten Organisation. Auf diese Weise hat die Unternehmensgruppe unter­ schiedliche strukturelle Wege und Herangehensweisen erprobt und umgesetzt. Die Beschäftigten erhalten dabei viel Freiraum, um den jeweils für die Situation und die Gege­ benheiten passenden Ansatz zu finden. In den letzten Jahren d ezem ber 20 20

sind vor diesem Hintergrund verschiedene neue Ansätze wie selbstorganisierte Teams oder funktions- und unter­ nehmensübergreifende Netzwerkstrukturen entstanden. Diese sich verändernden Rahmenbedingungen bringen auch eine neue Erwartungshaltung an den HR-Bereich mit sich. Neben den äußeren Einflüssen ist so ein hoher eigener Veränderungsantrieb im HR-Bereich entstanden. Ziel ist es, einen bedeutenden Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten. Bei der Neuausrichtung des HR-Bereiches lag der 33


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N E U E N O R M A L I TÄT

Foto: Lisa Vlasenko / Getty Images

Das Prinzip Selbstführung

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Selbstführung ist gefragt, vor allem bei virtueller Zusammenarbeit. Disziplin, Motivation und Organisation liegen vor allem in der eigenen Verantwortung. Acht Schlüsselfaktoren für Führung in Eigenregie

Ein Gastbeitrag von Antje Heimsoeth

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b Homeoffice oder globale Teams: Zusammen­ arbeit auf Distanz ist für viele zum Alltag gewor­ den. Dennoch. So geben 86 Prozent der Füh­ rungskräfte einer Stepstone-Umfrage zufolge an, inzwischen digitale Tools einzusetzen. Fast ebenso viele haben eine feste Meeting-Struktur aus dem Homeoffice he­ raus etabliert. Offensichtlich mit Erfolg: Die Stimmung in den Teams ist überwiegend gut, zeigen die Umfrageergeb­ nisse. Gleichwohl ist die Situation für alle herausfordernd: Bei arbeitenden Eltern gilt es, pandemiebedingtes Home­ schooling und Homeoffice erfolgreich unter einen Hut zu bringen. Vielen fehlt eine klare Struktur des Arbeitstages, sie machen seltener Pause, arbeiten länger. Gut jeder Zweite fühlt sich deshalb müde und gestresst. Jetzt ist vor allem mentale Stärke gefragt. Wenn persönliche Begegnungen auf ein Minimum zu reduzieren sind, um Ansteckungsrisiken zu vermeiden, dann drückt das aufs Gemüt. In diesen Zeiten ist also aus der Selbstführung Hoffnung, Zuversicht und Optimismus zu schöpfen, um das Wohlbefinden zu erhalten. Gleichzeitig gilt es, weiterhin gute Leistung zu erbringen, gemeinsame Ziele auch aus der Distanz zu erreichen, sich als Team zu empfinden oder Mitarbeitende zu motivieren. Acht Tipps, wie das gelingen kann:

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N E U E N O R M A L I TÄT

Mit Rhythmus in den Flow 40

Foto: Vadim Sazhniev / Getty Images

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Für Höchstleistungen braucht es Belastungs- und Erholungsphasen. Im Leistungssport hat Intervalltraining daher seinen festen Platz. Wie sich dies auf die moderne Arbeitswelt übertragen lässt

Ein Gastbeitrag von Benjamin Rolff

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öher, schneller, weiter“, so in etwa könnte das Credo unserer bisherigen Leistungsge­ sellschaft lauten. „Wenn Sie mehr erreichen wollen, dann müssen Sie einfach mehr leis­ ten“, heißt es oft. Was nach einem logischen Weg zu mehr Erfolg klingt, ist in Wirklichkeit ein Irrglaube. Die Leistung als Superlativ rückt zunehmend in das Sichtfeld unserer Ar­ beitswelt. Die Gesellschaft erscheint übermüdet, zu erkran­ ken und auszubrennen. Mit steigender Arbeitsverdichtung steigt der Druck auf Erwerbstätige. Fehltage aufgrund von mentalen Erkrankungen haben sich laut Studien der Kran­ kenkassen in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt.

Die Suche nach gesunder Leistung Wer immer mehr leisten will, erreicht in Wirklichkeit immer weniger. Dieses Phänomen haben bereits die Psychologen Robert Yerkes und John D. Dodson im Jahre 1908 beschrie­ ben. In ihren Studien erkennen sie, dass zwar durch wach­ senden Einsatz und Stress zunächst unsere Produktivität steigt. Doch diese Entwicklung hält nur bis zu einem indivi­ duellen Scheitelpunkt stand – nämlich unserem Leistungs­ optimum. Wenn Personen diesen Scheitelpunkt überstei­ gen, dann können sie nahezu in einen freien Fall geraten. Sie werden unkonzentrierter, unproduktiver und brennen im schlimmsten Fall aus. Die These der beiden Wissenschaftler: Nicht die einge­ setzten Mittel bringen den Erfolg, sondern deren effiziente Nutzung. Entscheidend ist demnach nicht, wie viel Men­ d ezem ber 20 20

schen leisten, sondern wann und wie sie unsere Leistung bringen. Diese Erkenntnis macht sich vor allem auch der Leistungssport zu eigen. Bei Sportlern und Sportlerinnen im Leistungs- oder Profisport scheint das Mantra „höher, schneller, weiter“ nahezuliegen. Schließlich geht es ihnen genau darum: mög­ lichst neue Rekorde aufzustellen, um die eigene Position zu manifestieren. Doch was Zuschauer und Zuschauerin­ nen des Leistungssports häufig übersehen, ist der Weg, der von einem Rekord zum nächsten führt. Denn der Alltag im Leistungssport besteht nicht ausschließlich im Leisten. Tat­ sächlich nehmen intensive Belastungen in der Regel selten mehr als fünf bis zehn Prozent des Trainingsumfangs ein. Lockere Trainingseinheiten sind also ebenso elementarer Bestandteil der täglichen Leistung, genauso wie bewusste Zeit zur Regeneration. Es geht um eine aktiven Wechsel von Anspannung und Entspannung. Erfolg ist daher nicht ausschließlich das Resultat harter Arbeit. Vielmehr steht die strategische Erholung im Zent­ rum einer erfolgreichen Sportlerkarriere. Und genau darin liegt der Schlüssel für nachhaltigen Leistungsaufbau und Wettkampferfolg.

Leistung entsteht im Intervall Trainingsmethoden des Leistungssports haben sich längst zu einem Mainstream entwickelt. Intervalltraining ist angesagt. Ein bewusster Einsatz von hochintensiven Trai­ ningsreizen lockt mit schnellen Erfolgen. Auch im Kontext der Ernährung erfreut sich das Intervallfasten steigender Beliebtheit. Zahlreiche Menschen praktizieren es täglich. Doch worin liegt die Magie des Intervalls? Der Erfolg von Intervallmethoden findet sich auch in der menschlichen Natur. Der Mensch folgt biologischen Rhyth­ men, die seinem Leben eine Struktur geben. Sie erleben Schlaf- und Wachrhythmen, aktive und passive Rhythmen genauso wie kreative und unkreative Phasen. Verankert sind diese Intervalle in der Biologie. Die Wissenschaft der Chronobiologie konzentriert sich darauf, diese Rhythmen zu entschlüsseln und kommt zu beeindruckenden Ergeb­ nissen, wie eine Studie des Fraunhofer Instituts zur chro­ nobiologischen Arbeitsgestaltung zeigt. Ein Ergebnis: Wer sich an natürlichen Intervallen orientiert, lebt gesünder, kann seine Lebenserwartung steigern und den Wohlstand positiv beeinflussen. Vor allem ist damit gemeint, seinem biologischen Rhythmus zu folgen, sich nicht von außen takten zu lassen. Denn arbeitet man gegen seinen biologi­ schen Rhythmus an, kann Überlastung oder Übermüdung die Folge sein. 41


T I T E L

N E U E N O R M A L I TÄT

Die Pandemie fordert Unternehmen viel ab. Langsam bewegen wir uns in der sogenannten Neuen Normalität. Doch welche Konsequenzen hat das für HR?

Zwischen ­Anspruch und R ­ ealität

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TITEL

Tangram ist ein altes chinesisches Legespiel, bei dem mit einem Set aus geometrischen Formen individuelle Figuren gelegt werden. Es geht darum, mit einer bestimmten Anzahl der geometrischen Formen zu einer Lösung zu kommen. Das lässt sich auch auf die HRArbeit übertragen, nur sind die Formen dabei die Tools, die zur Verfügung stehen.

Ein Gastbeitrag von André Häusling

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ie Corona-Pandemie beschleunigt viele Ver­ änderungsprozesse in Unternehmen. Dabei steigen die Ansprüche an HR-Organisationen: Statt langfristiger Planbarkeit ist schnelle An­ passungsfähigkeit gefragt und die Arbeitswerkzeuge sind wesentlich digitaler als zuvor. Viele Beschäftigte müssen sich in kurzer Zeit neue Kompetenzen aneignen, sie müssen virtuell zusammenarbeiten. Ebenso muss das IT-System funktionieren und entsprechende Betriebsvereinbarungen verhandelt werden. In Summe bedeutet das: Die Welt von HR ist komplexer geworden.

Illustrationen: bankrx / Getty Images

Die Zukunft des Unternehmens ­mitgestalten

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In dynamischen und komplexen Zeiten sollte HR die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens mitgestalten. Aktuell ist eine hohe Agilität der Unternehmen notwendig. So kön­ nen sie auf die vielen und auch kurzfristigen Veränderungen reagieren oder sie in Teilen sogar antizipieren. Dabei sollte HR zwei Dimensionen im Blick haben. Eine Dimension ist die Konsequenz, wie sich eine veränderte Unternehmens­ strategie auf das Modell der Zusammenarbeit innerhalb der Organisation auswirkt. Es stellt sich die Frage, wie HR eine verbesserte Kundenzentrierung durch ein verändertes Zusammenarbeitsmodell mitgestalten kann. In diesem Fall ist eine hohe Kompetenz hinsichtlich Organisationsent­ wicklung gefordert. Denn die Unternehmensentwicklung, also das Außen, sollte mit der Organisationsentwicklung, dem Innen, kongruent laufen. Wenn sich das Modell der 45


FOKUS

Angst muss nicht immer schlecht sein: In einer sicheren Lernumgebung kann die Lernangst schwinden, so dass Menschen offen sind fĂźr

Illustration: Qvasimodo / Getty Images

Veränderungen.

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FOKUS

Welche Rolle spielt Angst beim Change? Ein Gastbeitrag von Olaf Hinz

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Für Veränderungen braucht es Leidensdruck. Welcher Art muss die Angst sein, damit Menschen in Unternehmen im Change nicht stehen bleiben? Change-Berater Olaf Hinz stellt drei Maßnahmen vor, die Teams zum Lernen anregen.

ie Lektüre einiger Change-Management-Klas­ siker zeigt: Damit Veränderungen geschehen, braucht es Handlungsdruck oder, wie es der Change-Management-Vordenker John Kotter nannte, ein Bewusstsein für Dringlichkeit (A Sense of Urgency). Der Organisationspsychologe Edgar Schein sagte bereits vor 18 Jahren in einem Interview mit dem „Harvard Business Manager“: „Wenn Führungskräfte wirklich Interesse daran haben, dass ihre Mitarbeiter Neues lernen, dann müssen sie ihnen die wirtschaftlichen Notwendigkeiten glaubwürdig vermitteln. Schafft das Management dies, dann kann es die Art von Angst erzeugen, die eine sichere Lernumgebung ermöglicht.“ Aber führt eine starke Emotion wie Angst nicht eher zu Blockaden, zum Ausweichen oder gar zur Flucht? Also genau zum Gegenteil von dem, was bei einer erfolgreichen Transformation eigentlich erreicht werden soll: nämlich der Einbindung von Teams und einer erfolgreichen Umsetzung der Veränderungen.

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Die These lautet: Damit Menschen in einem Unterneh­ men einen Anlass für eine Veränderung sehen, bedarf es einer Störung, die in der Organisation ein Gefühl der Bedro­ hung oder hohe Unzufriedenheit auslöst – zum Beispiel ein Wechsel in der Führung, eine neue Konkurrenz auf dem Markt, eine Strategieänderung oder eine Pandemie. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen spüren, dass sie, wenn sie sich nicht ändern, ihren Job verlieren könnten.

Angst als Energiequelle Veränderung beginnt mit einer Störung der Komfortzone, die die Veränderungsnotwendigkeit deutlich macht. Wenn Beteiligte die Notwendigkeit erkannt haben, also verstanden haben, dass sie die Transformation nicht mehr abwehren können, entsteht nach Edgar Schein die sogenannte Überlebensangst. Also das Schuldgefühl, das aus der Frage resul­ tiert, warum man sich nicht schon viel früher aktiv verändert hat. In dem Augenblick des Einsehens, dass alte Denkmuster 55


A N A LY S E

Studien zeigen, dass Coaching zu einem der Lieblingsinstrumente von HR geworden ist. Wie wirksam sind die Methoden zur Selbstreflexion? Und sollten Fßhrungskräfte auch selbst coachen? Ein Gastbeitrag von Wolfhart Pentz und Leonie von Wittgenstein 58

Foto: Robert Daly / Getty Images

Im Rollenkonflikt


A N A LY S E

Im Januar 2020 befragte die Quadriga Hochschule gemeinsam mit der Beratung Egon Zehnder rund 2.000 Personalerinnen, Personaler und Führungskräfte. Die Umfrage mittels eines Fragebogens soll Transparenz darüber schaffen, warum und in welcher Form

Laut der Studie Coaching in Unternehmen der Akade­ mie für Coaching und Leadership der Quadriga Hochschule Berlin steht Coaching innerhalb eines standardisierten Entwicklungsprogramms auf Platz zwei der Lieblingsmaß­ nahmen von HR, nach Trainings. Was ist der Unterschied? Beim Training geht es um die Vermittlung von Wissen oder Fähigkeiten an Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Coaching dagegen ist eine Prozessbegleitung. Die Klienten und Kli­ entinnen werden darin begleitet, ihre eigene Lösung für ihr Anliegen zu finden. Fast ein Drittel der 2.000 befragten Personalverantwort­ lichen und Führungskräfte gaben an, Coaching als Entwick­ lungsinstrument sehr häufig zu nutzen. Variationen ent­ stehen je nach Größe des Unternehmens und der Branche – während die Telekommunikations- und die Versicherungs­ branche sowie Banken, Finanzdienstleister und Professional Services zu den Spitzenreitern gehören, reihen sich Verkehr, Transport und Logistik sowie das Handwerk im hinteren Spektrum ein. Coaching scheint als positive Entwicklungs­ methode in den oberen Führungsetagen angekommen – nur zwölf Prozent stimmten der Aussage voll und ganz zu, dass Coaching ein Eingeständnis von Schwäche sei.

Unternehmen auf Coaching

Wie wirksam ist Coaching?

zurückgreifen. Die Studie Coaching in Unternehmen wird Anfang des Jahres 2021 veröffentlicht.

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oaching ist en vogue bei Personalverantwort­ lichen, besonders häufig wird es für die Top-­ Führungskräfte und High Potentials eingesetzt. Der Wunsch nach Leistungssteigerung als Anlass wird überraschenderweise kaum genannt. Es geht vielmehr um Unterstützung bei Veränderungsprozessen, wie dem Antritt einer neuen Rolle, oder darum, Konflikte zu lösen oder persönliche Fragen zu klären.

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Nur was heißt das konkret? Verändert sich dadurch der Füh­ rungsstil? Wird Führen über Fragen gar das neue Normal? Und: Lohnt sich der Aufwand überhaupt? Kurz gesagt, Coaching wirkt – das haben nicht zuletzt Studien in den letzten Jahren immer wieder gezeigt. Aller­ dings sind Wirkmodelle komplex und selbst gängige Ansätze kommen an ihre Grenzen. Auch ist jede Coaching-Sitzung aufgrund der individuellen, intimen Beziehung zwischen jenen, die coachen, und jenen, die gecoacht werden, ein­ zigartig. Kritisch sollte man zudem einer Fokussierung auf mögliche Leistungsindikatoren gegenüberstehen. Zu viel Fokus kann den Blick einengen, so dass nicht intendierte Wirkungsketten wie Langzeiteffekte oder positive Einflüsse aufs Umfeld übersehen werden können. Die Konsequenz darf aber nicht sein, dass die Effekte von Coaching nicht gemessen werden, was in der Praxis leider immer noch oft der Fall ist. Laut Studie halten mehr als 70 Prozent Ergebnis und Nutzen von Coaching nicht systematisch fest. Dies gleicht einem Blindflug. Es lohnt sich daher, die Anpassungsfähigkeit bestimmter Evaluationsme­ thoden zu prüfen, etwa durch den vierstufigen Ansatz des Wirtschaftswissenschaftlers Donald Kirkpatrick. Das Modell misst die Wirkung auf der Reaktions-, Lern-, Verhaltens- und 59


P R A X I S

7 GEDANKEN

Die Emotion des Gegenübers Jede Veränderung beginnt mit einem Gedanken. Hier sind sieben zu virtueller Empathie.

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Andere verstehen Alle Menschen besitzen die Fähig­ keit, andere zu verstehen. Die großen Leistungen der Menschheit beruhen genau auf dieser Gabe. Der Flug zum Mond oder andere Errungenschaf­ ten sind nur Beispiele dafür, die ein isoliertes Individuum niemals hätte zustande bringen können. Wir schaf­ fen solche Leistungen, weil wir uns auf vielfältige Weise in andere hinein­ versetzen können.

Lage, das Denken, Fühlen und Han­ deln unserer Mitmenschen zu ver­ stehen. Sondern wir gehen umge­ kehrt auch davon aus, dass sie uns selbst richtig interpretieren.

Gefühlsregungen ­interpretieren

Fehleinschätzungen ­berücksichtigen

Etwa ab dem zweiten Lebensjahr sind Menschen in der Lage nachzuemp­ finden, wie sich das Gegenüber fühlt. Im Alter von vier bis fünf Jahren ler­ nen wir, dass andere Personen nicht immer über das gleiche Wissen ver­ fügen wie wir selbst. Beobachtete Gefühlsregungen lösen über emo­ tionale Ansteckung gleichsinnige Emotionen und Stimmungen aus. Tatsächlich sind wir nicht nur in der

Das Problem: Das Verstehen der anderen ist nicht immer ganz ein­ fach. Menschen schöpfen regel­ mäßig ihre Potenziale zu Empathie und Perspektivenübernahme nicht aus. Zum einen unterscheiden sich Menschen in diesen Fähigkeiten. Das belegen Befunde zur emoti­ onalen Intelligenz. Zum anderen unterliegen wir systematischen Fehleinschätzungen, wenn wir zum


PRAXIS

hoher gegenseitiger Empathie arbei­ tet reibungslos und zeigt bessere Leis­ tungen. Auch virtuell erlebte Empa­ thie führt zu mehr Hilfeverhalten und Verzeihen von Fehlern, die anderen unterlaufen sind. Schließlich werden empathische Menschen auch als sym­ pathisch wahrgenommen. Die dunkle Seite der Empathie zeigt sich hingegen nur dann, wenn andere sie zu manipu­ lativen Zwecken nutzen.

Situationen nachempfinden großer Wahrscheinlichkeit in einer anderen Umgebung. Gute Führungs­ kräfte verstehen dies ebenso wie ihre Beschäftigten.

Ähnlichkeit verbindet

Beispiel anderen unsere eigenen Absichten unterstellen. Schließlich wirken auch situative Bedingungen. Dazu gehören Hindernisse, wie sie sich bei virtueller Kommunikation ergeben.

Fotos: ktsimage / Getty Images; privat

Wahrnehmung schärfen Virtuelle Empathie stellt besonders hohe Anforderungen an alle Betei­ ligten. Über digitale Wege lassen sich Mimik und Gestik nur rudi­ mentär übermitteln. Die Stimme ist verzerrt. Das erlaubt nur einge­ schränkt, über Intonation und Klang emotionale Anteile zu transportie­ ren. Bei Ironie und Witz kommt es leicht zu Missverständnissen. Und wer nur virtuell im selben Raum sitzt, befindet sich in der Realität mit d ezem ber 20 20

Virtuelle Empathie gelingt am besten, wenn die Beteiligten schon real eine Beziehung zueinander aufgebaut haben. Ähnlichkeit und Enge der Beziehungen spielen eine besondere Rolle. Ähnlichkeit ergibt sich häufig aus geteilten Zielen und gemeinsa­ mer Arbeit. Sich ähnliche Menschen finden sich häufig in derselben Bran­ che und verwandten Berufen. Enge Beziehungen entstehen über die Zeit durch gemeinsame Arbeit, geteilte Erfolge und gemeinschaftlich über­ standene Rückschläge. Ein homoge­ nes Team meistert die Umstellung von realer zu virtueller Kommunika­ tion folglich leichter als ein heteroge­ nes. Gleiches gilt für zwei Menschen, die sich einander gut kennen.

Um virtuell empathisch zu sein, müs­ sen wir uns bewusst werden, dass die eigene Realität nicht unbedingt auch dieselbe der Mitmenschen ist. Dazu kann man sich selbst bewusst die Auf­ gabe stellen, sich in die anderen hin­ einzuversetzen: Was sind deren Wün­ sche, Ziele und Gefühle? Was wissen sie bereits und welche Information benötigen sie noch? Nicht jede der spontanen Reaktionen darauf ist gut begründet. Übermittelt das technische Hilfsmittel vielleicht die falschen Sig­ nale? Ist das Verhalten meines Gegen­ übers einer Situation geschuldet, die sich von meiner eigenen unterschei­ det? All das verlangt Aufmerksamkeit und Innehalten zur Neubewertung.

Der Sozialpsychologe Hans-Peter Erb, geboren 1958, ist Professor an der Hel-

Fallstricke kennen

mut-Schmidt-Universität Hamburg. Auf seinem Youtube-Kanal Sozialpsychologie

Wer digital erfolgreich kommuni­ zieren will, weiß um die Fallstricke der virtuellen Realität. Ein Team mit

mit Prof. Erb befasst er sich seit November 2017 mit Fachbegriffen seines Forschungsgebiets.

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Foto: Tyler Tomasek / Getty Images

PRAXIS

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PRAXIS

Nicht nur überleben, sondern gedeihen Ein Gastbeitrag von Jutta Heller

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Unvorhersehbares passiert immer wieder. Wieso aber melden manche Unternehmen in der Krise Insolvenz an, während die Konkurrenz mit innovativen Lösungen in Serie geht? Neun Schlüssel organisationaler Resilienz

in kleiner Brand in einer Produktionsanlage für Halbleiterfertigung führte im Jahr 2000 dazu, dass die Reinraumanlage durch Rauchpartikel verschmutzt wurde. Erst einige Wochen spä­ ter stellte sich heraus, dass der Brand innerhalb weniger Minuten Chips für Millionen von Handys unbrauchbar gemacht hatte. Betroffen waren davon vor allem die bei­ den Unternehmen Nokia und Ericsson, die zu der Zeit die Hauptabnehmer dieser Chips waren. Die beiden Unterneh­ men reagierten sehr unterschiedlich: Bereits bei der ersten Nachricht über eine zu erwartende kurze Verzögerung bei der Chips-Lieferung hakte ein Mitarbeiter von Nokia nach, setzte den Zulieferer auf eine Liste zur besonderen Beobach­ tung und informierte Kolleginnen und Kollegen, dass unter Umständen mit Problemen zu rechnen sei. Als das Ausmaß d ezem ber 20 20

der Schäden erkennbar wurde, hatte Nokia bereits Verträge mit alternativen Lieferanten in petto. Der Mitarbeiter dagegen, der bei Ericsson die Informa­ tion über den Brand entgegennahm, gab sich mit der Aus­ kunft zufrieden, dass die Chips wohl einfach etwas später eintreffen würden. Er informierte niemanden, und als der Ernst der Lage klar war, war es für Ericsson zu spät, um noch von anderer Stelle Chips geliefert zu bekommen.

Was ist organisationale Resilienz? Dass ein Kleinbrand solche weitreichenden Folgen hat, ist ein unwahrscheinliches und nicht vorhersehbares Szenario. Genau so unwahrscheinlich und nicht vorhersehbar wie das Szenario, dass ein Virus innerhalb von Wochen ganze Wirt­ 65


RECHT

Mitbestimmung im digitalen Zeitalter

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it der Corona-Pandemie hat der Gesetzge­ ber das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) ergänzt. Demnach gelten gemäß § 129 Be­ trVG bestimmte Sonderregelungen – vorerst befristet für den Zeitraum vom 1. März 2020 bis zum 31. Dezember 2020. Eine Verlängerung dieser Regelung bis zum 30. Juni 2021 ist parlamentarisch auf den Weg gebracht.

Regelungsinhalt im Überblick Ein Essay von Bernd Weller

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Zusammengefasst können der Neuerung zufolge Sitzungen und Beschlussfassungen von • Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat, Konzernbetriebsrat, • Jugend- und Auszubildendenvertretung, Gesamtjugend-

Grafik: Viktor Morozuk / Getty Images

Ob Management oder Regierungen: Verhandlungen finden in Anbetracht der aktuellen Situation häufig per OnlineMeeting statt. Auch Sitzungen oder Beschlüsse des Betriebsrates dürfen virtuell erfolgen.


IMPRESSUM

und Auszubildendenvertretung, Konzernjugend- und Auszubilden­ denvertretung, • Einigungsstelle sowie Wirtschaftsausschuss, • Sprecherausschuss, Unternehmenssprecherausschuss, Gesamts­ precherausschuss und Konzernsprecherausschuss, • besonderen Verhandlungsgremien des europäischen Betriebsrates oder einer Arbeitnehmervertretung im Sinne des § 19 Gesetz über Europäische Betriebsräte (EBRG), • Betriebsrat oder Arbeitnehmervertretung einer Europäischen Gesell­ schaft (SE) nach § 21 Abs. 2 SE-Beteiligungsgesetz, • Betriebsrat oder Arbeitnehmervertretung einer Europäischen Genos­ senschaft (SCE) nach § 21 Abs. 2 SCE-Beteiligungsgesetz, • Betriebsversammlungen, Betriebsräteversammlungen und die Versammlungen der Jugendlichen und Auszubildenden nach § 71 BetrVG und • Versammlungen der leitenden Angestellten nach § 15 Sprecheraus­ schussgesetz (SprAuG) mittels Video- und Telefonkonferenz durchgeführt werden. Vor­ aussetzung: Es ist sichergestellt, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. Ebenso müssen Teilnehmende der Sitzungen gegenüber dem jeweiligen Gremiumsvorsitz in Textform ihre Teilnahme an der Sitzung bestätigen. Darüber hinaus gilt ein striktes Verbot der Aufzeichnung der Versammlung beziehungsweise Sitzung. Die Regelungen des § 129 BetrVG klammern die Ausschussarbeit wie betriebsverfassungsrechtliche Wahlen und die mit Wahlen beschäf­ tigten Gremien aus. Es ist nicht erklärbar, warum für Ausschüsse und Wahlvorstände keine Möglichkeit für virtuelle Tagungen besteht. Auch bleiben virtuelle Wahlen von Betriebsrat, Jugend- und Auszubildenden­ vertretung und Schwerbehindertenvertretung unzulässig. Der Gesetz­ geber hätte aber wenigstens in § 129 BetrVG – für die Dauer der Pan­ demiesituation – die Briefwahl als Grundform der Betriebsratswahlen festschreiben können. So bleibt es dabei, dass Wahlvorstände nur unter besonderen Voraussetzungen Briefwahlunterlagen versenden dürfen, um das Risiko einer Wahlanfechtung zu minimieren.

Befugnisse der Sitzungsleitung Um Streitigkeiten zu vermeiden, sind die Befugnisse der Person zu klären, die eine Sitzung leitet. Zwar sieht das BetrVG eine Reihe von Vor­ aussetzungen für die Zulässigkeit der virtuellen Sitzungen vor. Aber wie ist mit Verstößen umzugehen – zum Beispiel, wenn Teilnehmerinnen oder Teilnehmer die Videokonferenz aufzeichnen oder Unbeteiligten Zugang ermöglichen? Kann die Sitzungsleitung betreffende Personen aus der Videokonferenz ausschließen? Bedarf es dazu eines Betriebs­ ratsbeschlusses? Gemäß § 29 BetrVG obliegt den Betriebsratsvorsitzenden die Einbe­ rufung und Leitung der Betriebsratssitzungen. Dies schließt auch das Ordnungsrecht ein. Insbesondere ist die Erteilung beziehungsweise der Entzug des Wortes Teil der Aufgaben. Umstritten ist allerdings, ob Vorsitzende ein Mitglied von der Sitzung ganz ausschließen kön­ d ezem ber 20 20

Herausgeber Rudolf Hetzel Torben Werner (V. i. S. d. P.) Redaktion Sven Lechtleitner (sl) Leitender Redakteur sven.lechtleitner@quadriga.eu Jeanne Wellnitz (jew) Redakteurin jeanne.wellnitz@quadriga.eu Autoren der Ausgabe Karsten Bich, Matthias Blatz, Lars Bohlmann, Falk Eckert, Hans-Peter Erb, André Häusling, Antje Heimsoeth, Jutta Heller, Sven Hennige, Olaf Hinz, Cornelia Martens, Ada Pellert, Wolfhart Pentz, Benjamin Rolff, Oliver Santen, Bernd Weller, Leonie von Wittgenstein, Pascal Verma, Guido Zander Lektorat Christa Melli www.literatur-und-film.de Gestaltung Marcel Franke Anzeigen Norman Wittig norman.wittig@quadriga.eu Abonnement Stefanie Weimann aboservice@quadriga.eu Druck PIEREG Druckcenter Berlin GmbH Benzstraße 12 12277 Berlin Im Internet www.humanresourcesmanager.de/ magazin Verlags- / Redaktionsanschrift Quadriga Media Berlin GmbH Werderscher Markt 13 10117 Berlin Telefon: 030 / 84 85 90 ­ Fax: 030 / 84 85 92 00 redaktion@humanresourcesmanager.de

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LETZTE SEITE

Der Normentreue Normen gestalten unsere Normalität. Am bekanntesten ist wohl die Norm, die Papierformate wie DIN A4 festlegt. Karsten Bich verantwortet den Bereich HR und Transformation beim Deutschen Institut für Normung und hat eine HR-Lieblingsnorm.

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Eine meiner Lieblingsnormen unter den 34.359 existierenden Normen ist die … DIN SPEC 91426. Sie heißt „Qualitäts­ anforderungen für videogestützte Me­ thoden der Personalauswahl“. Sie ist so besonders, weil sie … HR-Verantwortlichen auf Basis von künstlicher Intelligenz hilft, Menschen unvoreingenommen auszuwählen und damit Diversität zu fördern. Normen im Unternehmen sind wichtig, weil … sie als eine Art gemeinsame Sprache auf der ganzen Welt Märkte öffnen und den Handel erleichtern. Sie sichern Qualität und Effizienz und fördern das Vertrauen in neue Technologien. Die deutsche Wirtschaft spart rund 17 Milliarden Euro durch die Normung, weil … die Normen Fachwissen verbreiten, das für alle zugänglich ist. Das Wirt­ schaftswachstum wird durch sie üb­ rigens stärker beeinflusst als durch Patente oder Lizenzen. HR, Menschen und Normen passen für mich zusammen, weil … Menschen als Kunden des Personal­ managements durch die Anwendung von HR-Normen eine Sicherheit über die Qualität der HR-Dienstleistung erhalten. Die wichtigste Erkenntnis während meiner Ausbildung zum systemischen Coach war …

dass der Mensch durch bestimmte Fragetechniken oder Bilder die per­ sönliche Situation reflektieren und Handlungsoptionen besser erkennen kann, um auszuwählen, welche davon in Angriff genommen werden sollten. Geholfen hat mir diese Kompetenz zuletzt, als ich … Menschen in einem Veränderungs­ prozess begleitet habe. Veränderungs­ prozesse gelingen am schnellsten und nachhaltigsten, wenn die Betroffenen das Warum für sich erkennen und ak­ zeptieren. Das ist wirksamer als jede noch so gute Erklärung durch Dritte. Ein Buch, das alle, die im HRBereich arbeiten, gelesen haben sollten, heißt … „Elite ohne Ethik? Die Macht von Werten und Selbstrespekt“ des Ma­ nagement-Trainers Daniel F. Pinnow. Ehrliche Wertschätzung ist innerste Triebfeder meines beruflichen Han­ delns. Die Fragen stellten Sven Lechtleitner und Jeanne Wellnitz

Karsten Bich ist seit Januar 2020 Mitglied der Geschäftsleitung für HR und Transformation beim Deutschen Institut für Normung (DIN). Der 57-jährige Volljurist verantwortet die strategische Transformation und leitet ein 17-köpfiges HR-Team. Zudem ist er ausgebildeter systemischer Coach.

Foto: Stefan Maria Rother / DIN

Standards konstituieren die Normalität, weil sie … dafür sorgen, dass unser Alltag sicher und einfach verläuft – und das quasi im Verborgenen. Wir spüren immer am deutlichsten, dass Normen wichtig sind, wenn sie fehlen: Wer stand nicht schon einmal ohne Strom im Ausland da, weil der Adapter für die Steckdose fehlte? Die Neue Normalität bedeutet für mich persönlich … mich auf höhere Veränderungsge­ schwindigkeiten vorzubereiten. Das betrifft neue Recruitingansätze, er­ weiterte Führungsfähigkeiten sowie schnellere Überprüfungen aller sons­ tigen Arbeitsrahmenbedingungen. Ich bin Jurist geworden, weil … die Juristerei viel mit dem Bewerten von Menschen, deren Motiven und Handlungen zu tun hat. Ich konnte mir dadurch eine Arbeitsweise aneig­ nen, in der durch eine sehr neutrale Herangehensweise und Haltung – fachsprachlich Subsumtion und Iteration – schnell Lösungen erarbei­ tet werden können und immer auch in Alternativen gedacht wird. Als Kind wollte ich jedoch auch … Kinderarzt werden. Nachdem ich je­ doch als Soldat für zwei Jahre im Bun­ deswehrkrankenhaus ausgebildet und später auch im Rettungsdienst einge­ setzt worden war, habe ich meine Be­ lastungsgrenzen für das Leid anderer kennengelernt.


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