HRM Neuro 06/2019 Vorschau

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NEURO


Cover: Wikimedia

Die bizarre Meduse Cassiopea andromeda treibt im Gegensatz zu anderen Quallen nicht durch die Strömung im Meer umher, sondern setzt sich kopfüber am Grund fest. Dort wendet sie ihre blauen Tentakeln zum Sonnenlicht, um Energie zu tanken. Wenn es dunkel wird, fällt sie in einen schlafähnlichen Zustand, gleichwohl sie über kein zentrales Nervensystem verfügt. Für ein Nickerchen ist also kein Gehirn von Nöten. Vielleicht kommt die Qualle dadurch ja sogar besser zur Ruhe als der Mensch: Unser Gehirn schläft nämlich nie.


EDITORIAL

Neurotopie

A

n einem trüben Novembertag, Ost-Berlin roch kollektiv nach Kohleöfen und die kalte Nässe kroch uns unter den Anorak, schrieb unsere Klassenlehrerin Frau K. folgende Zeilen an die Tafel: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen, es bleibet dabei, die Gedanken sind frei.“ Frau K. hob ihre kräftigen Arme, dann stimmten wir gemeinsam das Lied an. Die Töne trafen wir nicht besonders gut. Jeder sang im eigenen Takt. Ich fragte mich, ob Frau K. am nächsten Morgen wiederkommen würde. Es war 1989. Wenige Tage später wurden wir während der ersten Stunde wieder nach Hause geschickt, weil jetzt niemand mehr an den Unterricht dachte. Die Grenzen waren offen und die Gedanken frei. Glücklicherweise konnte sie in den Jahren zuvor niemand erraten. Doch das könnte sich in Zukunft ändern. Es ist ein alter Menschheitstraum, in die Köpfe anderer hineinzusehen, herauszufinden, was sie wirklich denken und fühlen. Zu ergründen, was sie heimlich bewegt und auch, ob sie die Wahrheit sagen. Diese Sehnsucht hat zugenommen. Liegt das daran, dass es an allgemein verbindlichen Gesellschaftsregeln fehlt? Dass unsere Gegenwart rasant von einer Innovation in die nächste stolpert? In Zeiten gefühlter oder tatsächlicher Oriend ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

tierungslosigkeit, wenn weder Politik noch Religion Halt geben, sollen es die „harten“ Naturwissenschaften richten. Ein Jahr, nachdem Frau K. mit uns gesungen hatte, rief der damalige amerikanische Präsident George W. Bush „Die Dekade des Gehirns“ aus. Die neurowissenschaftliche Forschung boomte. Das Interesse ist seither ungebrochen. In Anbetracht der zunehmenden Messung von Gehirnströmen, diesen zu Bild gewordenen Spannungsschwankungen, kann man sich fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, alles zu wissen. Was geschieht, wenn jedes noch so kleine Geheimnis unseres Denkens und Fühlens offenbar wird? Ist eine Gesellschaft besser dran, wenn ein jeder der Lüge überführt werden kann? Wäre einem Chef immer geholfen, wenn er stets und ständig um die ungefilterte Meinung eines Mitarbeiters oder Bewerbers wüsste? Nein. Wir brauchen kleine Unwahrheiten, um das soziale Gefüge aufrechtzuhalten. Und wir müssen gedanklich aus der Reihe tanzen dürfen, um kreativ zu sein. Wird auch noch unsere hinterste Gehirnwindung durchleuchtet, ist es mit der Entspanntheit vorbei. Dann dreht sich alles um die Beobachtung von Reiz und Reaktion. Eine andere Frage ist, ob wir uns noch besser gegen die Verheißungen des Konsums schützen müssten, wenn der Kapitalismus den sechsten Gang einlegt und Marketing nur noch mit dem Präfix „Neuro“ existiert. Bereits heute nimmt die Überschuldung von

Privathaushalten absurde Ausmaße an, in dem Glauben, das große Glück liege in bestimmten Gütern. Der gegenwärtige Ruf nach Umweltschutz und Nachhaltigkeit würde verstummen mittels geschickter, weil auf die Funktionsweise unseres Gehirns abgestimmter Marketingkniffe. Demokratiefeindliche Regime könnten zukünftige Technologien zur Überprüfung neuronaler Tätigkeiten zum Machterhalt missbrauchen. In China wurden bereits die Gehirnaktivitäten von Schülern gemessen, um herauszufinden, wie konzentriert sie bei der Sache sind. Doch was zeigen solche Gehirnströme wirklich, und was bedeutet eine geringe Aufmerksamkeit? Handelt es sich um fehlendes Interesse oder ist sie ein Indiz dafür, dass jemand schnell begreift und nicht besonders aufmerksam sein muss? Unsere Lehrerin Frau K. wäre verzweifelt angesichts unseres mäßigen Interesses am vermeintlich provokanten Liedgut. Das System hingegen wäre, wenn Frau K.s Gehirnströme in Reaktion auf gewisse Umstände messbar gewesen wären, wohl nicht an ihr verzweifelt. Es hätte sie mundtot gemacht.

Hannah Petersohn, Chefredakteurin Human Resources Manager

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06/19 MEINUNG 5

Editorial

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Meine Arbeitswelt Ottobock-CDO Güngör Kara pendelt innerhalb der Woche zwischen vier Städten

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10 Debatte aktuell Die Gigafactory kommt nach Brandenburg. Aber wollen hiesige Ingenieure überhaupt für Tesla arbeiten?

Jüngst ist es Wissenschaftlern gelungen, Krankheiten noch vor ihrem Ausbruch zu diagnostizieren. Selbst das Alter und einige Charaktermerkmale von Probanden ließen sich durch Gehirnscans nachweisen. Ein Interview über das Human Brain Project

14 Schnappschuss Das Paketboten-Schutz-Gesetz tritt in Kraft. Arbeitsminister Hubertus Heil hilft einem DHLBoten beim Ausliefern 16

exismus im Arbeitsalltag S Eine Bestandsaufnahme von der Feminismus-Expertin Julia Korbik

SCHWERPUNKT: NEURO 28 Gehirnmythen Die Leiterin des Ressorts Hirnforschung beim Magazin Gehirn & Geist entlarvt fünf Irrtümer über unser Gehirn

50 Gedächtniskünstler Boris Konrad ist Weltmeister im Gedächtnissport und stellt seine Top drei Gedächtnistechniken vor 51 Der Meditationsguru Ulrich G. Strunz, Sohn des bekannten Fitnesspapstes, war deprimiert und antriebslos, bis er begann, Körper und Gehirn zu trainieren

20 Selbstkritik Sieben Regeln, wie man sich selbst klug infrage stellt

32 Die Illusionisten Wie gerechtfertigt ist der Hype um die Neurowissenschaften?

24 Mit Liebe Führen Warum sich die Mitarbeiter des Unternehmers Mike Fischer schon am Sonntag auf die Arbeit freuen

36 Der Gehirnatlas Der Neurowissenschaftler Simon Eickhoff im Gespräch über 54 Der Trigger Gehirnscans und das europaweite Wie können StellenausschreiHuman Brain Project bungen einen Impuls im neuronalen Netz von 42 Neurorecruiting Bewerbern auslösen? Künstliche neuronale Netze können die Mimik von 58 Geniales Gemüse Bewerbern lesen und deren Welchen Einfluss auf das Denken Anschreiben analysieren hat unsere Ernährung wirklich?

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Sexismus ist im Arbeitsalltag allgegenwärtig. Er ist das Grundrauschen, das gerade Frauen nur allzu gut kennen

46 Der Kampf in unserem Kopf Neuroleadership ist en vogue. Doch was taugt die Methode? Ein Interview

62 D ie Bällebad-Beauftragten Warum HRler und Chefs aufhören sollten, den Job des Feelgood Managers zu unterschätzen

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INHALT

Big Data verrät, ob ein Mitarbeiter kündigen möchte. Die Interpretation der Daten benötigt jedoch

VER B AN D

Fingerspitzengefühl

96 Editorial 97 Bundesarbeitsgericht Der BPM zu Besuch 98 Fortschrittsindex I Familienministerin Franziska Giffey über eine familien freundliche Arbeitswelt 99 Fortschrittsindex II So wird Familienfreundlichkeit messbar 100 Gesundheitsmanagement Die gesunde Arbeitswelt von morgen

IM FOKUS: BIG DATA 66 Lesen Sie die Packungsbeilage! Über Risiken und Nebenwirkungen der Heilsversprechen von Big Data

101 Fachgruppentag 2019 Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Beruf und Familie P RAXI S

70 Hiergeblieben Wie Daten der Fluktuation von Mitarbeitern vorbeugen können

86 Sieben Gedanken Geld, Macht oder Liebe. Eine Machtkonflikt-Expertin über Intrigenkompetenz

102 Studie über Fachkräftemangel Die Versäumnisse der Personaler 105 Neue BPM-Publikation Elf Thesen über Führung

Foto: Forschungszentrum Jürich, picture alliance, Illu: Johannes Urban, Stephan Brendgen

ANALYSE 74 Zurück zur Selbstbestimmung Ein absoluter Digital Detox ist unrealistisch. Aber es gibt Tipps für digitale Pausen

88 Rezension Der italienische Philosoph Alessandro Baricco hat einen beeindruckenden Essay über die Genese der digitalen Revolution geschrieben

78 R oboter des Vertrauens Mitarbeiter vertrauen eher einer KI als ihren Chefs, lautet das pikante Ergebnis einer aktuellen Studie

RE CHT

82 Zwo, Eins, Risiko! Die Harvard-Professorin Amy C. Edmondson hat ein Buch über die angstfreie Organisation geschrieben. Ein Einblick d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

90 Aktuelle Urteile 92 Essay Risiken einer neuro optimierten Arbeitswelt 93 Impressum

LETZ TE SEITE 106 Fragebogen Die Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius verrät, wie der optimale NeurotransmitterCocktail für Höchstleistungen aussieht


MEINUNG

Tesla-Chef Elon Musk plant den Bau einer Gigafactory in Brandenburg. Die deutsche Autonation ist in heller Aufregung. Stefan Reindl, Direktor des Instituts für Automobilwirtschaft, bremst die Erwartungen. Ob die Fabrik kommt, sei ungewiss, genauso wie die Frage, ob hiesige Ingenieure überhaupt für Tesla arbeiten wollen.

Ein Interview von Hannah Petersohn

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In der Nähe des künftigen BERFlughafens will Tesla-Chef Elon Musk auf einer Fläche von rund 300 Hektar 150.000 Elektrofahrzeuge produzieren lassen und dabei bis zu 10.000 Arbeitsplätze schaffen. Giga oder gaga? Das Wort bezieht sich auf die Batteriekapazität, die Musk produzieren möchte. Gigawatt statt Megawatt. Aber er nennt alle seine Produktionsstätten Gigafactory, selbst die, in denen gar keine Batterien hergestellt werden. Eine PR-Wortneuschöpfung … … aus Marketingzwecken. Ein PRStunt, ein Tesla-Musk-Begriff. Wie beurteilen Sie denn Musks Pläne? Er verfolgt eine Globalisierungsstrategie. Musk will in Europa und in Asien Fuß fassen. Es hat mich überrascht, dass er eine Fabrik erstens in Deutschland und zweitens in Brandenburg bauen will. Brandenburg zählt nicht www. hu ma n re so u rce s ma n age r. d e

Foto: picture alliance MIKE BLAKE

Giga oder gaga?


MEINUNG

zwangsläufig zu den Automobilregionen innerhalb Deutschlands. Was steckt hinter der Wahl Brandenburgs? Es dürfte sich schon ein wenig um Symbolpolitik handeln: Er hat zum einen das Land der Erfinder des Automobils gewählt. Er will zeigen, dass er es mit Volkswagen, Daimler und BMW aufnehmen kann. Zum anderen sucht er die Nähe zu Berlin, der Hauptstadt Deutschlands. 2021 soll die Fabrik stehen, per Stellenausschreibungen werden bereits Ingenieure gesucht. Dabei hat Brandenburg keine guten Erfahrungen mit wirtschaftlichen Großprojekten. Der Cargolifter oder die Chipfabrik wurden nie realisiert. Vom BER ganz abgesehen. Kommt die Gigafactory in Brandenburg wirklich? Das ist schon alles sehr sportlich. Brandenburg wird alles daransetzen, dass es vorangeht. Brandenburger Politiker haben sogar eine Taskforce gegründet, um das Projekt voranzutreiben. Mit Tesla sollte man aber immer unter Vorbehalt planen: Die Gigafactory in den USA beispielsweise ist noch nicht so weit ausgebaut wie ursprünglich geplant, denn Tesla stehen aktuell die nötigen finanziellen Mittel nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Das könnte auch

in Brandenburg zum Problem werden. Was genau soll in Brandenburg eigentlich produziert werden? Batterien, Antriebsstränge und das neue SUV Model Y. Musk plant wohl auch, das Tesla-Fahrzeug Model 3 in Brandenburg bauen zu lassen. In welchem Größenverhältnis steht eine Tesla-Gigafactory im Vergleich zu hiesigen Produktionsstandorten der Autoindustrie? Insgesamt will Musk etwa 10.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Die Gigafactory fällt hinsichtlich der geplanten Personalkapazitäten relativ klein aus im Vergleich zu den etablierten Automobilherstellern. Allerdings bremsen der Brexit und Trumps Handelskrieg die einheimische Automobilindustrie. Zulieferer und Hersteller stehen derzeit auf der Kostenbremse, Arbeitsplätze werden abgebaut. Das könnte eine Brandenburger TeslaFabrik etwas kompensieren. Aber man sollte das nicht überbewerten. Zumal für die Produktion von E-Autos weniger Beschäftigte benötigt werden als für die Fertigung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor. Wie kann es deutschen Autobauern gelingen, ihre Belegschaft zu halten, wenn Musk Ingenieure abwirbt? Musk hat berechtigte Hoffnung, geeignete Mitarbeiter zu finden, in An-

Foto: picture alliance Patrick Pleul, IfA Institut

Grünheide in Brandenburg: Auf märkischem Sand soll die Tesla-Gigafactory entstehen

d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

Stefan Reindl ist Professor für Automobilwirtschaft und Studiendekan an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen. Er leitet außerdem das Institut für Automobilwirtschaft (IfA) und ist Beiratsvorsitzender sowie Leiter des „Porsche Automotive Campus“ (PAC). Daneben ist Reindl im Rahmen von Beratungs- und Beiratsmandaten für Unternehmen der Automobilbranche tätig.

betracht des derzeitigen Abbaus von Arbeitsplätzen in der Autoindustrie. Dennoch wird der eine oder andere Ingenieur angesichts Teslas Personalpolitik vorsichtig sein. Elon Musk prahlt gerne damit, dass er 120 Stunden arbeite – pro Woche. Einen ähnlichen Einsatz erwartet er auch von seinen Angestellten. Ja, das ist nicht gerade German-like. Ich würde es mir gut überlegen, ob ich von BMW zu Tesla wechsle. Arbeitsschutzgesetzgebung und Tarifverträge wird ein Elon Musk nicht sehr schätzen. Mit welchen Problemen wird Musk in Deutschland konfrontiert sein? Der Satiriker Jan Böhmermann warnt schon einmal vorab per Twitter: „Do you know the meaning of the German words ‚Baugenehmigung‘ and ‚Naturschutzgebiet‘?“ 11


MEINUNG

„ Was Hübsches zum Angucken“ Sexismus im Arbeitsalltag ist allgegenwärtig. Er ist das Grundrauschen, das gerade Frauen nur allzu gut kennen. Eine Bestandsaufnahme

Foto: Picture Alliance Austrian Archives

Ein Gastbeitrag von Julia Korbik

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MEINUNG

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a ist die Übersetzerin, die auf einer beruflichen Veranstaltung von einem Kollegen nur mit ihrem Vornamen vorgestellt wird. Oder die zwei Mitarbeiterinnen auf einer Konferenz, bei denen sich ein Gesprächspartner mit den Worten entschuldigt: „Wie unhöflich von mir, hübsche Damen wie Sie sollte man doch nicht einfach stehen lassen.“ Oder die Assistentin, die vom Chef vor einer wichtigen Präsentation aufgefordert wird, einen Rock zu tragen. Sexismus am Arbeitsplatz ist gang und gäbe. Allerdings werden solche Beispiele meist als Ausnahmen abgetan, als Einzelfälle, die nicht repräsentativ seien. Und das, obwohl durch die #MeToo-Bewegung zum ersten Mal seit Jahren öffentlich und grundlegend über Sexismus und sexualisierte Gewalt gesprochen wird. Oft wird die reine Präsenz des Themas mit tatsächlicher Gleichberechtigung verwechselt: Als seien Reden und Handeln ein und dasselbe. Mittlerweile fürchtet manch einer gar eine angebliche „Gleichschaltung“ und moniert, dass es nun aber auch mal wieder gut sei. In beiden Fällen ist das Problem plötzlich keines mehr – entweder weil es angeblich schon längst gelöst oder weil es schlicht herbeigeredet worden sei. Dass sich das Problem nicht mit dem Verweis auf Einzelfälle wegwischen lässt, zeigt eine aktuelle europaweite Studie der Fondation Jean Jaurès, für die Frauen aus Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und Großbritannien zu ihren Erfahrungen mit Sexismus am Arbeitsplatz befragt worden sind: Über die Hälfte der deutschen Frauen gaben an, bereits anzügliche Blicke, Gesten oder Bemerkungen am Arbeitsplatz erlebt zu haben, bei 39 Prozent wurden die Kleidung oder der Körper kommentiert, 15 Prozent erhielten obszöne Vorschläge oder Nachrichten mit sexualisiertem Inhalt und 13 Prozent wurden gezwungen, sich Nachrichten, Fotos und Videos mit sexuellem Inhalt anzusehen.

Sexismus weniger eindeutig geregelt. Was nicht nur daran liegt, dass Sexismus oft auf vermeintlich harmlose Vorfälle reduziert wird. Sondern auch daran, dass Sexismus heute subtiler ist: Er zeigt sich häufig in wohlwollender oder paternalistischer Form. Im Berufsalltag klingt das dann beispielsweise so: „Toll, dass Sie als Frau das Projekt geschafft haben! Hätte ich gar nicht gedacht.“ Sexismus wird heute außerdem oft ironisiert – statt auf Stumpfsinn à la „Setz dich zu uns, damit wir etwas Hübsches zum Angucken haben“ wird auf Spott, Sarkasmus und Ironie gesetzt: „Du weißt doch, dass ich Frauen weniger ernst nehme“, begleitet von einem konspirativen Zwinkern. Diese Art von Sexismus gilt als reflektiert und gesellschaftlich akzeptiert. Vor allem, weil dahinter die Annahme steckt, es sei bereits ein gewisses Niveau an Gleichberechtigung erreicht. Als sei die offensichtliche Herabsetzung und Beleidigung von Frauen ein Relikt der Vergangenheit – was sexistische Witze oder Bemerkungen akzeptabel mache. Man weiß es schließlich besser, und überhaupt sei es doch gar nicht so gemeint.

Guter Rat ist teuer Sexismus erleben Frauen in vielen Alltagssituationen. Am Arbeitsplatz aber können sie sich ihm nicht entziehen, indem sie einfach weggehen. Hinzu kommt die Machtdimension: Es ist leichter, in einer Kneipe auf einen sexistischen Spruch zu reagieren, als in einem Meeting. Zumal wenn es der Vorgesetzte ist, der sich sexistisch verhält. „Wehr dich doch!“ lautet in solchen Fällen oft der gute Rat an Frauen – der jedoch ausklammert, dass betroffene Frauen manchmal einfach zu perplex und geschockt sind, um direkt zu reagieren. Außerdem kann ein Protest soziale und wirtschaftliche Kosten haben, gerade im beruflichen Kontext. Kosten, die

An Sexismus gewöhnt Sexismus ist mehr als nur eine Anhäufung von Einzelfällen und dummen Sprüchen. Es ist ein Grundrauschen, immer da, immer präsent – und so allgegenwärtig, dass viele Frauen es gar nicht mehr wahrnehmen. Sie haben sich daran gewöhnt, aufgrund ihres Geschlechts beurteilt und benachteiligt zu werden. Natürlich, auch Männer können von Sexismus betroffen sein. Doch weil bei Sexismus immer auch der Faktor Macht mitgedacht werden muss, betrifft er Frauen in der Regel häufiger: Einfach weil sie oft weniger gesellschaftliche Macht besitzen als Männer. Das gilt auch für die Arbeitswelt, in der nach wie vor viele Schlüssel- und Führungspositionen männlich besetzt sind. Während Unternehmen verpflichtet sind, gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorzugehen, ist der Umgang mit d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

„ Wie unhöflich von mir, hübsche Damen wie Sie sollte man doch nicht einfach stehen lassen.“

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MEINUNG

Die sieben Regeln der Selbstkritik

Illustration: Johannes Urban

Ein Gastbeitrag von Matthias Nöllke Kaum eine Fähigkeit wird so sehr unterschätzt wie Selbstkritik. Dabei profitieren Unternehmen von selbstkritischen Mitarbeitern und Führungskräften. Denn wer bereit ist, sich infrage zu stellen und Fehler anzuerkennen, lernt schneller und verbessert seine Leistung. 20

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MEINUNG

S

elbstkritik gilt vielleicht als ganz sympathisch, aber sollten Spitzenkräfte nicht gerade darauf verzichten? Schwächt der innere Kritiker nicht das Selbstbewusstsein, lässt am eigenen Erfolg zweifeln und hindert einen daran, die Dinge beherzt anzugehen? Ein strahlender Erfolgsmensch lässt sich schließlich nicht von Bedenken bremsen und macht immer alles richtig. Vor allem in seiner eigenen Wahrnehmung. Eine solche Vorstellung ist nicht nur irreführend, sie ist verheerend. Großmäuligkeit und Selbstüberschätzung fördern keineswegs die Kompetenz, vielmehr stehen sie ihr im Weg. Tatsächlich verfügen Spitzenkräfte über ein sehr hohes Maß an Selbstkritik, auch wenn sie das nicht immer offen zeigen. Es kann auch gar nicht anders sein, denn Kompetenz muss sich erst bilden. Und da spielt Selbstkritik eine entscheidende Rolle. Wir müssen in der Lage sein, unser Verhalten, unsere Leistung zutreffend zu beurteilen. Genau das meint Selbstkritik. Sie besteht eben nicht darin, die eigenen Leistungen kleinzureden oder gar schlechtzumachen. Im Gegenteil, Selbstkritik meint es immer gut mit uns. Sie will uns helfen, unsere Ziele zu erreichen. Das erfordert, dass wir ehrlich mit uns umgehen, Fehler nicht kleinreden, Schwächen nicht ignorieren, aber eben auch nicht dramatisieren. Und es bedeutet natürlich auch: das anzuerkennen, was gut gelaufen ist und wo unsere Stärken liegen. Selbstkritik ist weit wirksamer als alle Mut-mach-Rezepte und Anleitungen zum sozialverträglichen Größenwahn. Tatsächlich zeichnen sich diejenigen, die über einen längeren Zeitraum Ungewöhnliches leisten, dadurch aus, dass sie eher streng mit sich umgehen. Wohlmeinend, selbstbewusst, aber streng. Der Weg zur Meisterschaft führt immer über die Selbstkritik. Allerdings ist Selbstkritik eine Fähigkeit, die man selbst erst einmal entwickeln und kultivieren muss. Mit bloßer Mäkelei und dem Zugeben von Fehlern ist es nicht getan. Deshalb folgen hier in aller Kürze die sieben wichtigsten Regeln der Selbstkritik. Sie gelten für jeden Einzelnen, aber haben auch Bedeutung für das Unternehmen, in dem man arbeitet. Denn eine Organisation wird durch Selbstkritik nicht nur lernfähiger, sondern auch vertrauenswürdiger.

gewinnen muss, ehe der Baumschnitt beginnt. Vielleicht müssen Sie in einem geschützten Raum beginnen. Oder auch in einem Randbereich, der wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht. Entscheidend ist, dass Sie erst einmal unbehelligt bleiben.

Gewinnen Sie erst an Höhe

Selbstkritik ist keine Selbstoptimierung

Selbstkritik darf nicht zu früh einsetzen. Zunächst einmal sollten Sie unbeschwert loslegen können, Dinge ausprobieren, Fehler machen, Erfahrungen sammeln. Ihre Fähigkeiten müssen sich erst einmal entwickeln. So wie bei einem Obstbaum, der auch erst einmal wachsen und an Höhe d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

Selbstkritik erfordert Distanz Solange wir handeln, sind wir nicht in der Lage, uns selbst zutreffend zu beurteilen. Wir brauchen Abstand. Zeitlich, emotional, aber auch perspektivisch. Wir täuschen uns weit weniger über uns selbst, wenn wir versuchen, unser Handeln aus Sicht der anderen zu bewerten: Wie empfinden sie das? Was bedeutet das für sie? Wie nehmen uns diejenigen wahr, die uns nicht mögen? Auch kann es helfen, die anderen nach ihrem Eindruck zu fragen. Am besten diejenigen, die nicht selbst direkt beteiligt sind. Allerdings brauchen sie ausreichend Sachverstand, um uns zu beurteilen. Dann kann ihre Einschätzung wichtige Anhaltspunkte liefern. Doch urteilen müssen Sie am Ende selbst.

Je besser Sie werden, desto härter dürfen Sie sich kritisieren Solange Sie noch am Anfang stehen, seien Sie nachsichtig, wohlwollend und geduldig. Mit steigendem Niveau dürfen Sie strenger mit sich werden. Ihre Leistungen steigen, wenn Sie mehr von sich erwarten. Haben Sie die entsprechende Höhe erreicht, urteilen Sie härter über sich als jeder andere. Es gibt immer etwas zu verbessern. Nur nicht zu viel auf einmal. Und selbstverständlich geht es nicht darum, die eigenen Erfolge schlechtzumachen. Vielmehr gilt es, sie zu würdigen und zu genießen. Aber Sie wollen sich natürlich weiterentwickeln und stoßen irgendwann an eine Grenze. Oder Sie stellen fest, dass Ihre Leistungen in bestimmten Feldern nachlassen. Auch das gehört zur Selbstkritik: dass Sie das anerkennen und wohlwollend damit umgehen. Darin zeigt sich Ihre Reife.

Das Streben nach dem „besten Ich“, die Selbstoptimierung, steht derzeit hoch im Kurs. Doch Selbstkritik ist etwas völlig anderes. Sie ist sehr viel grundsätzlicher und persönlicher. Selbstoptimierung gibt das Ziel vor, womöglich auch den 21


TITEL

NEURO

Falsch gedacht! Ein Beitrag von Anna von Hopffgarten

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einahe täglich erfahren wir in den Medien von neuen Durchbrüchen in den Neurowissenschaften: „Forscher können Gedanken lesen“, heißt es da etwa oder: „Der freie Wille ist eine Illusion!“. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren viel getan. Mussten Neurologen noch vor hundert Jahren ihren Patienten in einer schmerzhaften Prozedur das Nervenwasser aus dem Schädel ziehen, um das Denkorgan im Röntgenlicht abzubilden, sind die heutigen Bildgebungsmethoden bequem und präzise zugleich. Moderne Kernspintomografen vermögen die Schwankungen der Hirnaktivität inzwischen punktgenau aufzuzeichnen und erlauben es, mit einer speziellen Technik den Verlauf von Nervenfaserbündeln detailliert nachzuverfolgen. Die vielen Rätsel und die wachsende Popularität der neurowissenschaftlichen Forschung bieten jedoch einen optimalen Nährboden für allerlei Halbwahrheiten. Auch Coaches und Jobtrainer nutzen die Hirnforschung zunehmend für Heilsversprechen verschiedenster Art. So soll sie helfen, Angst und Panik zu besiegen, und uns einen stressfreien Job bescheren. Viele dieser Behauptungen fußen nur auf vermeintlichen Erkenntnissen und entbehren jeglicher wissenschaftlichen Grundlage. Es ist an der Zeit, mit den größten Irrtümern über das Gehirn aufzuräumen. 28

1. Wenn wir nichts tun, ruht das Gehirn Kennen Sie das? Sie liegen abends im Bett und grübeln, was Sie am nächsten Tag alles erledigen müssen. Wie schön es in einer solchen Situation doch wäre, das Gehirn für eine gewisse Zeit auf Stand-by zu stellen. Doch so sehr Sie sich auch bemühen, an nichts zu denken – es wird Ihnen nicht gelingen. Denn das Gehirn ruht nie. Auch beim Nichtstun feuert ein großer Verband von Nervenzellen, das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk. Das kann lästig sein, hat aber auch gewisse Vorteile. Denn ihm verdanken wir so manchen kreativen Einfall. Wie Forscher herausfanden, lässt sich die Kreativität von Probanden steigern, wenn diese nur genügend Zeit zum Tagträumen haben. Selbst im Schlaf kommt das Gehirn nicht zur Ruhe. Es verarbeitet die Eindrücke, die wir am Tag zuvor erlebt haben und baut sie ins Langzeitgedächtnis ein. Wäre eine Hirnregion tatsächlich ungenutzt, etwa weil sie von einem Sinnesorgan nicht mehr versorgt wird, würde sie rasch andere Aufgaben übernehmen. So verarbeitet beispielsweise die Sehrinde von blinden Menschen häufig Tast- oder Hörsignale. Illustration: Johannes Urban

Hirnforschung ist angesagt. Kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin weckt so viele Hoffnungen und gilt gleichzeitig als so geheimnisvoll. Die vielen Rätsel provozieren jedoch allerlei Mythen. Anna von Hopffgarten, Leiterin des Ressorts Hirnforschung beim Magazin Gehirn & Geist, räumt mit fünf gängigen Irrtümern über unser Gehirn auf.

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TITEL

2. Intelligenz kann man trainieren Wer regelmäßig an Kreuzworträtseln, Sudokus oder Hirnjogging-Aufgaben tüftelt, soll angeblich in Intelligenztests besser abschneiden. Doch die Knobelfans werden enttäuscht sein: Den IQ langfristig zu steigern, ist im Erwachsenenalter kaum noch möglich. Mit etwa 20 Jahren haben wir unser individuelles Intelligenzpotenzial in der Regel ausgeschöpft, zumindest was die sogenannte fluide Intelligenz angeht. Darunter verstehen Psychologen, wie gut wir Gelerntes auf neue Situationen übertragen können. Erwachsene können sich zwar durch Übung in bestimmten Aufgaben verbessern, etwa im Umgang mit neuen Computerprogrammen. Doch der für die fluide Intelligenz so wichtige Transfer auf andere Denkbereiche lässt sich meistens nicht weiter optimieren. Haben wir uns beispielsweise in die neue Datenbanksoftware eingearbeitet, heißt das noch lange nicht, dass wir nun das Programm für die Steuererklärung mit links bedienen können. Es gibt aber auch eine gute Nachricht: Eine zweite Intelligenzkomponente, die kristalline Intelligenz, lässt sich im Lauf des Lebens weiter steigern. Dabei handelt es sich laut Psychologen um den Erwerb von Wissen und neuen Kompetenzen. Daher lohnt es sich auch im hohen Alter noch, eine neue Sprache, ein Instrument oder eben den Umgang mit einer Software zu erlernen – auch wenn es mühsamer ist als in jungen Jahren.

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3. Linkshänder sind kreativer Es gibt Anekdoten, nach denen Künstler und Musiker besonders häufig Linkshänder sind. Als Begründung dient oft die stark vereinfachte Vorstellung, dass die rechte Hirnhälfte, welche bekanntlich die linke Hand steuert, der Sitz der Kreativität sei. Doch dieses Argument entbehrt jeder Grundlage. Denn Kreativität lässt sich nicht so klar im Gehirn verorten. Es handelt sich um eine vielschichtige Eigenschaft, die auf einer ganzen Reihe von Hirnfunktionen und der Aktivität riesiger neuronaler Netzwerke beruht. Und diese erstrecken sich über beide Hirnhälften. Zudem haben Forscher nie beweisen können, dass Linkshänder im Schnitt tatsächlich kreativer sind als Rechtshänder. Auch einen Zusammenhang zur Persönlichkeit oder zur Intelligenz konnten sie nicht feststellen. Ein möglicher Grund, warum sich dieser Mythos so hartnäckig hält, ist ein Phänomen, das Psychologen Bestätigungsfehler nennen: Wir neigen dazu, Informationen so auszuwählen, dass sie die eigenen Erwartungen erfüllen. Wir glauben, Linkshänder seien besonders kreativ, und finden plötzlich etliche Beispiele dafür. Und diese bleiben besser im Gedächtnis haften als die unzähligen Gegenbeispiele von verkopften Linkshändern und künstlerisch begabten Rechtshändern.

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Zwischen Illusion und Wirklichkeit

Ein Beitrag von Sarah Sommer Wer im Personalmanagement mit Erkenntnissen aus der Hirnforschung argumentiert, hat vermeintlich die Wissenschaft auf seiner Seite. Aber wie seriös und hilfreich sind die Empfehlungen aus der Neurowissenschaft wirklich für den Arbeitsalltag?

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TITEL

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anin Schwartau erinnert sich noch gut an die Reaktionen, als sie das erste Mal ein Neuro-Seminar für Top-Führungskräfte vorschlug: hochgezogene Augenbrauen, skeptische Blicke, offene Kritik an einem esoterisch anmutendem Ansatz. „Es gab sehr viel Gegenwind“, sagt Schwartau, die beim Industriekonzern ThyssenKrupp den Geschäftsbereich Learning and Transformation verantwortet und die unternehmenseigene Weiterbildungsakademie leitet. Kein Wunder: In dem neurowissenschaftlichen Führungskräftetraining, das Schwartau vor zehn Jahren gemeinsam mit einer Neurowissenschaftlerin konzipierte, sollte es nicht nur um Themen wie Performancesteigerung und Stressbewältigung gehen. Über einen Zeitraum von einem Jahr waren dreimal drei Tage mit neurowissenschaftlichen Workshops eingeplant und zwischen den Einheiten ein weiteres, persönliches Coaching. „Wir haben dazu eine Fachreferentin eingeladen, die Führungskräfte über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns aufklärt und einen Koch, der leistungssteigerndes Brainfood zubereitet“, sagt Schwartau. Weitere Tagesordnungspunkte: Emotionsregulierung, Stressbewältigung mittels Meditation, Achtsamkeitsübungen und ein gemeinsames Sportprogramm. „Heute gibt es ja einen regelrechten Hype um solche Themen, und gerade Meditation ist als leistungssteigernde Maßnahme absolut akzeptiert. Damals wirkte das aber auf viele Entscheider noch irgendwie esoterisch oder wie unnötiger Luxus“, sagt Schwartau. Sie habe viel Aufklärungsarbeit leisten müssen und dafür mit konkreten, belegbaren Ergebnisse der Hirnforschung argumentiert. Schließlich setzte die Akademieleiterin ihr Experiment durch. Mit Erfolg: „Heute finden sich neurowissenschaftliche Elemente in fast allen unseren Seminaren wieder. Viele Führungskräfte setzen die Erkenntnisse aus dem Neuro-Seminar in ihren Teams um.“

Von der Esoterik in den Mainstream Ergebnisse aus der Hirnforschung interessieren längst nicht mehr nur hoch spezialisierte Wissenschaftler. Seit einigen Jahren schon haben Coaches, Weiterbildungsexperten, Führungskräfte und Personalmanager das Thema Neurowissenschaften für sich entdeckt und arbeiten daran, neurobiologische Erkenntnisse auf aktuelle Herausforderungen in Unternehmen zu übertragen. NeuroLeadership, Neuro-Marketing, Neuro-Recruiting, Neurod ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

„Der Blick auf die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns soll helfen, Leistungsund Anpassungsfähigkeit von Führungskräften und Mitarbeitern besser zu steuern und zu optimieren.“

Personalentwicklung: Der Blick auf die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns soll dabei helfen, in einer immer komplexeren und schnelleren Wirtschaftswelt Führungskräfte und ihre Mitarbeiter besser zu steuern, ihre Leistungs- und Anpassungsfähigkeit zu optimieren und nicht zuletzt ihre Widerstandsfähigkeit gegen die Stressfaktoren des permanenten Wandels zu stärken. Gestützt durch neurowissenschaftliche Studien haben Themen wie Meditation, Achtsamkeit und die leistungssteigernden Effekte von gesunder Ernährung und Bewegung den Sprung aus der Esoterik- und Selbsthilfe-Ecke in den Business-Mainstream geschafft. Prominente und erfolgreiche Unternehmer und Manager berichten heute stolz von ihren Achtsamkeitsroutinen, von morgendlichen Meditationen und leistungssteigernder Ernährung. Und wer heute Büroräume oder Werkshallen neu gestaltet, wird dabei eher früher als später auf Erkenntnisse aus der Gehirnforschung stoßen, die eine für die psychische Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter optimale Arbeitsumgebung einfordern. In der Vielzahl der 33


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NEURO

Im Kopfkino Jüngst ist es Wissenschaftlern am Forschungszentrum Jülich gelungen, bestimmte Krankheiten noch vor ihrem Ausbruch zu diagnostizieren. Selbst das Alter und bestimmte Charaktermerkmale von Probanden lassen sich durch die Gehirnscans nachweisen. Die Jülicher Wissenschaftler forschen im Rahmen des europaweit angelegten Human Brain Projects (HBP). Der am Projekt beteiligte Neurowissenschaftler Simon Eickhoff über Vor- und Nachteile der Frühdiagnostik, den Nutzen eines 3-D-Gehirnatlas und den Einsatz von Gehirnscans in Bewerbungsgesprächen 36

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Foto: Forschungszentrum Jülich

Ein Interview von Hannah Petersohn


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Die Verläufe von Nervenfasern werden mittels einer speziellen Technologie am Forschungszentrum Jülich sichtbar gemacht (links). Damit lassen sich Konnektivität und Faserbahnarchitektur in Post-mortem-Gehirnen in mikroskopischer Auflösung untersuchen. Simon Eickhoff (rechts) leitet das in Jülich ansässige Institut

Foto: Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau

für Neurowissenschaften und Medizin.

Herr Professor Eickhoff, wieso lässt sich das Gehirn eines Menschen besser verstehen, wenn man es in seine Einzelteile zerlegt? Man geht davon aus, dass das menschliche Gehirn topografisch aufgebaut ist, also in verschiedene Bereiche, in denen unterschiedliche Dinge passieren. Durch die Kartierung lässt sich die Funktionsweise des Gehirns nachvollziehen. Dafür muss man seine Zellkörperarchitektur sichtbar machen. Deswegen schneiden wir das zuvor fixierte Gehirn eines Verstorbenen in sehr dünne Scheiben. Diese werden dann mit speziellen Substanzen gefärbt, die sich nur in den Zellkörpern anreichern. Wie genau das Gehirn unterteilt ist, welche Bereiche relevant und wie sie miteinander verbunden sind, wissen wir aber noch nicht. Das soll der 3-D-Atlas zeigen. Das Gehirn muss erst fixiert werden? Ist es nicht schon fest, wenn es entnommen wird? Nein, es besteht aus weichem Gewebe. Wenn Sie es entnehmen und auf den Tisch legen, wabbelt es erst und d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

sackt dann in sich zusammen. Nach zwei Stunden hätten sie einen Pfannkuchen. Das Gehirn hat keine innere Stützstruktur, kein festes Gewebe. Fest wird es erst nach der Fixierung. Dafür muss es mehrere Monate in einer Lösung liegen. Viele Daten erheben wir aber auch mithilfe lebender Probanden, deren Gehirne im MRT-Scanner untersucht werden. Man könnte sagen, dass Sie versuchen, den menschlichen Geist dingfest zu machen. Sind denn allein die neuronalen Netzwerke Basis dafür, wie wir denken, fühlen und handeln? Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist der Sitz aller höheren kognitiven Leistungen das Gehirn. Das heißt aber nicht, dass das enterische Nervensystem, also zum Beispiel der Darm, keinen Einfluss nimmt. Das ist sogar sehr wahrscheinlich der Fall. Von einem Darmhirn würden Sie aber nicht sprechen? Nein. Es handelt sich um ein Darmnervensystem, das wiederum das Gehirn beeinflusst. Das Gehirn ist eine Denkfabrik, der Ort, an dem unser

Denken, Fühlen und Handeln seinen Ausgang nimmt. Das sind alles Leistungen der Großhirnrinde. Die werden durch einen Darm nicht ersetzt. Dem Darm eines Menschen, der ein schweres Schädel-Hirn-Trauma oder einen Schlaganfall hatte, geht es schließlich weiterhin prima. Nun gibt es die Fälle von Personen, die ein Spenderherz bekommen haben und sich danach anders verhalten. Das hat psychische Gründe. Es handelt sich um eine Ausnahmesituation: Wer auf ein neues Herz wartet, ist verunsichert und muss auch noch lange warten. Dann kommt die große Erleichterung, wenn das Spenderherz zur Verfügung steht. Der todgeweihte Patient bekommt eine neue Chance auf das Leben durch ein fremdes Organ, mit dem er nicht geboren wurde, das ihn jetzt aber am Leben hält. Ein Mensch, bei dem das keine Spuren hinterlässt, wäre ein ziemlich eindrucksvolles Wesen. Also manifestieren sich neue Erfahrungen in unserem Denken? Alle Erfahrungen hinterlassen Spuren 37


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oder die Korrelation mit einem Wert sagt natürlich noch nicht zwangsläufig etwas über einen Krankheitsprozess aus. Ein Blick in die Geschichte der Astronomie ist an dieser Stelle interessant: Die Sumerer verfolgten einen stark datengetriebenen Ansatz, während die Griechen über Jahrhunderte nach kausalen Zusammenhängen gesucht haben. Die Sumerer waren den Griechen am Ende weit überlegen. Dennoch sollte man Quantität und Qualität nicht gegeneinanderstellen. Beides hat seine Berechtigung. Ein anderer Neurowissenschaftler sagte im Interview mit dem Human Resources Manager, dass sich weibliche und männliche Gehirne eindeutig sichtbar unterscheiden. Das weibliche Gehirn sei kompakter, das männliche ausgebeult. Stimmen Sie dem zu? Mit Verlaub, das ist Blödsinn. Ein Geschlechterunterschied ist nicht sichtbar, wenn man ein Gehirn entnimmt. Definitiv nicht. Auch in der MRT ist kein Unterschied zu erkennen. Nur wenn Sie sehr große Datenmengen haben, also Zehntausende Bilder, 40

Der Scan eines hauchdünnen feingeweblichen Schnitts des Gehirns soll dessen Faserstrukturen offenlegen.

lassen sich gewisse Unterschiede ableiten, um welches Geschlecht es sich handeln könnte. Diese Muster kann dann aber auch nur ein Algorithmus erkennen. Sie sagen, dass sich selbst individuelle Persönlichkeitsmerkmale durch MRT-Messungen vorhersagen ließen. Wie sieht es bei einem Charaktermerkmal wie Offenheit aus? Das Prinzip ist immer dasselbe: Für jeden Probanden muss vorher ermittelt werden, wie offen er auf einer Skala von eins bis zehn jeweils ist. Dann werden die Gehirnstrukturen aufgenommen und es wird ein Algorithmus trainiert, der einen Zusammenhang zwischen den Hirnströmen und dem Merkmal Offenheit generiert. Danach testet man den Algorithmus an den Gehirnen

neuer Probanden und vergleicht im Anschluss deren Offenheitswerte, die zuvor durch Fragen ermittelt wurden. Durch den Vergleich lässt sich herausfinden, ob der Algorithmus recht hat. Und so können Sie auch das Gehirn eines depressiven von dem eines gesunden Menschen unterscheiden? Ja. Man benötigt immer einen großen Trainingsdatensatz und der Algorithmus ermittelt am Ende nach dem Prinzip: So wie das Gehirn aussieht, müsste der Mensch über diese oder jene Eigenschaft verfügen. Sie versuchen auf diese Weise auch Krankheiten, noch bevor sie ausbrechen, zu diagnostizieren. Wie kann das funktionieren? Es sieht so aus, als wäre zum Beispiel eine postnatale Depression bereits vor www. hu ma n re so u rce s ma n age r. d e

Foto: Forschungszentrum Jülich / Sascha Kreklau (2)

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ihrem Ausbruch im Gehirn angelegt. Für unsere Untersuchungen scannen wir die Gehirne von Frauen, die zuvor entbunden haben. Wir bitten sie im Anschluss, via Smartphone alle zwei Tage Stimmung und Stress einzuschätzen. Mit diesen Datensätzen konnten wir schon vorher die Wahrscheinlichkeit einer Depression ermitteln, als es klinisch der Fall war. Wenn bereits Krankheiten und Persönlichkeitsmerkmale über Gehirnscans ermittelt werden können, ist die Frage, ob in Zukunft auch die Gehirne von Bewerbern gescannt werden, um einen Blick hinter die Fassade werfen zu können. Das ist natürlich noch Zukunftsmusik. Ich kann mir schon vorstellen, dass es Anwendungsbereiche gibt, in denen es sinnvoll und wichtig ist, sich nicht nur auf das Gesagte zu verlassen, sondern etwas objektiv zum Beispiel durch einen Gehirnscan über die inneren Eigenschaften zu lernen. Es gibt die berechtigte Hoffnung, dass solche Technologien entstehen werden, aber das wird noch eine ganze Weile dauern. Haben Sie da keine ethischen Bedenken? Es wird bereits eine unglaubliche Menge an Daten über Menschen gesammelt. Besteht nicht die Gefahr einer Datendiktatur? Natürlich gibt es ethische Bedenken, aber die sind nicht neu. Möglicherweise lassen sich in Zukunft aus einem Gehirnscan Informationen rauslesen, an die wir heute noch nicht einmal denken. Und vielleicht ist es dann so, dass Sie zu deren Erfassung nicht einmal zustimmen können. Es müssen die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, um zu regeln, wer auf welche Daten zugreifen darf. In China soll der Citizen Score, also die umfassende Überwachung des sozialen Verhaltens und daraus folgend ein Sozialkreditsystem, Ende 2020 eingeführt werden. Dabei geht es noch nicht um die Erhebung von Gehirndaten ... d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

... aber wie lange dauert das noch? Wenn sich die chinesische Regierung viel davon verspricht, wird sie es irgendwann auch machen. Die Technik wird kommen und sie wird auch eingesetzt werden, lange bevor sie reif ist. Je mehr wir über das Gehirn und seine Funktionsweisen wissen, desto stärker wächst auch der Markt für sogenannte Neurogadgets. Diese Geräte sollen zeigen, was in unserem Gehirn gerade vorgeht, und uns helfen, leistungsfähiger zu werden. Sind wir nun endgültig auf dem Weg zum gläsernen Menschen unter Optimierungszwang? Das ist alles Spielerei. Allein die Tatsache, dass diese Geräte keine Geneh-

migungsverfahren durchlaufen, ist ein Hinweis darauf, dass man sich nicht zu viel davon versprechen darf. Die größte Gefahr, zum gläsernen Menschen zu werden, lauert in ihrer Jackentasche: das Smartphone. Es sammelt viel mehr Daten als jedes Neurogadget. Da haben Sie Datensätze in Millionenhöhe. Und es werden alle möglichen Daten gesammelt, bis hin zur Geschwindigkeit, in der Sie Texte in Ihr Telefon tippen. Also wenn wir in Panik geraten wollen, dann sollten wir das nicht wegen MRT-Scans oder Neurogadgets tun. •

Human Brain Project (HBP) Das Forschungsprojekt wurde 2013 von der Europäischen Kommission ins Leben gerufen mit dem Ziel, das Gehirn auf der Grundlage von computerbasierten Modellen und Simulationen nachzubilden. Mehr als 500 Forscher und über einhundert Institutionen aus 19 Ländern sind unmittelbar daran beteiligt. Durch die Schaffung eines multimodalen Gehirnatlas erhoffen sich die Wissenschaftler, das Gehirn und seine Arbeitsweise besser zu verstehen, um Erkrankungen des Gehirns beziehungsweise des zentralen Nervensystems nachvollziehen und früher diagnostizieren zu können. Mithilfe des Projekts soll außerdem eine kollaborative Forschungsinfrastruktur für Wissenschaftler aufgebaut werden. „Das Projekt soll Forscher stärker vernetzen und deren Ergebnisse zusammenführen“, sagt der Neuropsychologe und Arzt Professor Simon Eickhoff. 2014 kritisierten insgesamt knapp 800 Wissenschaftler in einem offenen Brief an die Europäische Kommission das Management des Projekts. Die Führungsstrukturen hätten sich seitdem deutlich verändert, so Eickhoff. Es sei wesentlich transparenter und demokratischer geworden.

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Künstliche neuronale Netze können die Mimik von Bewerbern lesen und deren Anschreiben analysieren. Doch ihr Einsatz ist noch wenig verbreitet. Der menschenfreie Recruiting-Prozess liegt in weiter Ferne.

Foto: picture alliance Kiyoshi Takahase Segundo

Ein Beitrag von Sven Lechtleitner

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aum eine Woche vergeht, in der keine Meldung zu künstlicher Intelligenz (KI) in der Personalarbeit erscheint. Die einen preisen sie an als die Zukunft des Recruitings, die anderen verteufeln sie, weil Ethik und Datenschutz auf der Strecke bleiben. Schließlich könnte zukünftig ein künstlich intelligenter Computer menschliche Entscheidungen übernehmen, Bewerbern absagen oder sie einstellen – so weit die Theorie. Zwar kommen Algorithmen in der Personalauswahl bereits zum Einsatz, aber von KI mit eigener Entscheidungsmacht ist man noch weit entfernt. Zum Glück, möchte man fast sagen. Denn die heutige Qualität und Aussagekraft mancher vermeintlich intelligenter Lösungenüberzeugt noch nicht. Seien es Online-Anzeigen für ein Produkt, das man längst, natürlich online, gekauft hat, oder Jobvorschläge von Business-Netzwerken, die nicht einmal in die Nähe eigener Präferenzen kommen: Sollte eine KI das nicht besser können? Wo sind die automatisierten Stellenangebote, die perfekt zum Lebenslauf passen? Ganz zu schweigen von dem finalen Match nach einem Auswahlverfahren zwischen Mitarbeiter und Unternehmen. Um in der Personalauswahl valide Aussagen zu treffen, braucht es etwas mehr als nur große Datenmengen. Es bedarf einer Brücke zwischen Ergebnisanalyse und dem Treffen einer Entscheidung. d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

Im Rahmen der Vorauswahl kommen häufiger Algorithmen zum Einsatz, vor allem bei Jobprofilen mit hohem Bewerberaufkommen. Anhand definierter Kriterien übernehmen sie im ersten Schritt die Auswahl von Kandidatenprofilen. Künstliche neuronale Netze – ein Teilbereich der KI und Unterbereich des maschinellen Lernens – könnten hingegen weitaus mehr leisten. Sie kommen unter anderem in der Sprach- und Bilderkennung zum Einsatz und können Mimik oder Mikroausdrücke ablesen und Texte analysieren. Künstliche neuronale Netze versuchen also die Funktionsweise des menschlichen Gehirns nachzubilden und auf Basis dessen Entscheidungen zu treffen. Dabei nehmen sie mithilfe sogenannter Input-Neuronen Informationen von außen auf, nachgelagerte Ebenen an Neuronen verarbeiten diese und geben am Ende ein Ergebnis aus. Das Netzwerk kann aus großen Datenmengen Erkenntnisse ziehen und sich selbst weiterentwickeln. Bezogen auf die Personalauswahl benötigt ein künstliches neuronales Netzwerk aber etwa 1.000 Datenpunkte pro Berufsfeld. Beim maschinellen Lernen sind es nur rund 100, sagt Katharina Zweig, Professorin am Fachbereich Informatik der Technischen Universität Kaiserslautern. Besonders kleine und mittlere Unternehmen verfügen in der Regel nicht über diese Datenmengen. Warum sollte HR überhaupt künstlich intelligente Lösungen einsetzen wollen? „Eine KI 43


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Ein Interview von Jeanne Wellnitz

Der promovierte Neurobiologe Markus Ramming hat lange Zeit als Führungskraft in einem Pharmaunternehmen gearbeitet. Heute erklärt er gestressten Führungskräften, wie sie durch Neuroleadership ihre Mitarbeiter motivieren können. Ein Interview über eine populäre, aber auch umstrittene Methode

Herr Ramming, mit welchen Problemen ringen Führungsverantwortliche? Meine Erfahrung ist, dass sich Firmen und auch die Führungskräfte gegen den Wandel wehren. Sie halten an der Überzeugung fest, dass sie Stabilität bräuchten. Diese Menschen wollen nicht vorangehen, sondern tun alles dafür, das bestehende Fundament zu erhalten. Das ist das Grundproblem, das wir derzeit in Unternehmen

haben. Sie streben eine Stabilität an, die es eigentlich nicht gibt. Längst wissen wir, dass unser Gehirn sich ständig verändert. Neurowissenschaftler nennen diese Veränderbarkeit Neuroplastizität. Eigentlich ist unser Gehirn ideal dafür, mit dem immerwährenden Wandel umgehen zu können. Das Gehirn kann sich bis ins hohe Alter entwickeln. Auf dieser Erkenntnis fußt das Neurolea-

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dership-Konzept. Wir müssen nur den Wandel als Normalzustand zu begreifen. Er ist die Stabilität von heute. Weshalb streben wir nach Stabilität, obwohl unser Gehirn Lust auf Wandel hat? Es herrschen zwei widersprüchliche Kräfte in unserem Gehirn: Einerseits haben wir das Potenzial uns weiterzuentwickeln, denn Entwicklung macht uns zufrieden und glücklich. Andewww. hu ma n re so u rce s ma n age r. d e

Foto: picture alliance – Michael Weber

Der Kampf in unserem Kopf


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rerseits löst alles Ängste in uns aus, was den Anschein hat, gegen unsere Bedürfnisse wie Autonomie, Selbstverwirklichung oder Sicherheit zu arbeiten. Dann gehen wir sofort in den Widerstand und versuchen die Veränderung zu verhindern. Hinzu kommt, dass unser Gehirn danach strebt, den Energieverbrauch zu minimieren. Deshalb ist Nichtstun für uns oft so attraktiv. Wir sind jedoch der Situation nicht hilflos ausgeliefert, wir können zwischen den Zuständen wählen. Wie können Führungskräfte mit diesen beiden Kräften, mit denen ihre Mitarbeiter kämpfen, umgehen? Das ist die aktuelle Frage, mit der sich Führung auseinandersetzen muss: Wie können wir es schaffen, dass wir die Kräfte der Entwicklung forcieren? Die Entwicklung der Mitarbeiter muss also zu unserem wichtigsten Anliegen werden. Mitarbeiter haben jedoch alle unterschiedliche Voraussetzungen. Denn je nachdem, welches Mindset der Mensch in seiner Kindheit entwickelt hat, ist der eine eher ängstlich, während der andere lernen und sich entwickeln möchte. Unter Mindset verstehen Sie Mentalität? Ja, es geht darum, was wir tief in unserem Herzen für wahr halten. Die Psychologin Carol Dweck unterscheidet zwischen Fixed und Growth Mindset. Je nachdem, welche Mentalität man in sich trägt, fällt auch die jeweilige Leistung aus. Das ist das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung. Ist das Ziel von Neuroleadership, die Freude am Neuen zu reaktivieren? Ich glaube, wir müssen dem Gehirn die Möglichkeit geben, genau diese Erfahrungen zu machen. Dazu muss man auf die Grundbedürfnisse wie Kontrolle, Humor oder Selbstverwirklichung der Mitarbeiter achten und diese befriedigen. Ein ganz wichtiges Grundbedürfnis in der heutigen Zeit ist übrigens jenes nach Beziehungen. In guten Beziehungen schütten wir alle das d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

Bindungshormon Oxytocin aus. Es macht uns glücklich und mindert Ängste. Das ist auch auf der Arbeit so: Wenn Chefs dort eine gute Beziehung zu ihren Mitarbeitern pflegen, können sie eher mit Fehlern leben. Sie konzentrieren sich dann darauf, wie es das nächste Mal besser gemacht werden kann. Und das ist wichtig für die Entwicklung unseres Gehirns. Sind jedoch keine motivierenden Beziehungen da, aktiviert Angst den Kampf- oder Fluchtmodus im Gehirn und mindert die kognitive Leistungsfähigkeit. Was also sollten Führungskräfte und Personaler tun? Sie sollten mehr die intrinsischen Motivationsfaktoren stimulieren, anstatt sich um Geld und Boni zu kümmern. Sie sollten mehr Gefühl zulassen! Führung ist derzeit oft unpersönlich und dissoziiert. Beziehungen im Arbeitskontext müssen nicht sachlich-rational behandelt und strukturiert werden. Menschen haben den Wunsch nach Weiterentwicklung, einem sinnvollen Engagement, Autonomie und Spaß. Sie brauchen Herausforderungen, die sie meistern können. Bewältigen Mitarbeiter eine neue Aufgabe, werden Dopamin und Endorphine ausgeschüttet. Sie machen uns zufrieden und glücklich. Man muss eine Umgebung schaffen, in der diese Faktoren stimuliert und entwickelt werden können. Die Realität jedoch … ... sieht anders aus. Alle scheinen immer nur gestresst zu sein. Der Gegenspieler von Zufriedenheit ist das Stresshormon Cortisol. Im Normalzustand macht uns dieses Hormon leistungsbereit, doch im konstanten Stresszustand wird es im Übermaß ausgeschüttet und es werden sogar Nervenzellen abgebaut. Stresszustände werden immer dann ausgelöst, wenn wir uns bedroht fühlen – wenn also die Bedürfnisse nach Beziehungen, Selbstverwirklichung und Kontrolle über unser Leben nicht gegeben sind. Wir können eine bestimmte

Menge an Stress gut vertragen. Das Problem ist, wenn wir unaufhörlich gestresst sind, steuern wir auf einen Burn-out zu, ohne dass wir es realisieren. Die Tragik daran ist, dass wir auch den Leistungsabfall, den wir in dem gestressten Zustand haben, häufig gar nicht bemerken. Seit jeher wird versucht das Wesen der Motivation zu entschlüsseln. Was kann Neuroleadership dazu beitragen? Wir wissen schon seit zehn bis 20 Jahren, dass Geld kein großer Motivator ist. Trotzdem haben wir in Deutschland ein ausgeklügeltes Belohnungssystem. Geld ist natürlich dazu da, dass sich Mitarbeiter fair behandelt fühlen, und es stellt einigermaßen zufrieden. Neuroleadership zeigt, dass es bei der Motivation jedoch um intrinsische Faktoren wie das Autonomiebedürfnis, Sicherheit, Beziehungen oder Selbstwerterhöhung geht. Dazu brauchen wir einen neuen Managementstil, der diesen Bedürfnissen Raum gibt. Mit welchem Anliegen kommen Führungskräfte zu Ihnen?

Markus Ramming ist promovierter Neurobiologe und arbeitet seit 2008 als Leadership-Coach in Bayern. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt hatte er verschiedene Führungspositionen in der pharmazeutischen Industrie inne.

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Wandeln Sie Namen und Fachwörter in Bilder um

Boris Konrad ist Weltmeister im Gedächtnissport. Er sagt, ein gutes Gedächtnis kann sich jeder antrainieren. Hier stellt er seine Top drei Techniken vor. Ein Beitrag von Boris Nikolai Konrad

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ie vergessen bestimmt nie etwas!“, sagte einmal eine Fernsehredakteurin zu mir. „Doch, natürlich“, war meine Antwort. „Zum Glück!“ Natürlich vergesse ich, und das ist auch gut so. Ungünstig ist es nur, wenn das in den falschen Momenten passiert. Als Gedächtnissportler habe ich mein Gedächtnis bis zur Höchstleistung trainiert, um Turniere zu gewinnen und Weltrekorde aufzustellen. Viele überrascht es, dass wir unser Gedächtnis mithilfe von Gedächtnistechniken enorm verbessern können. Wir kriegen von der Natur unser Gehirn, aber warum dann nicht auch die Anleitung? Fakt ist: Wir haben ein sehr gutes Gedächtnis für Bilder, Erlebnisse, Emotionen oder Orte. Aber nicht für Namen, Fakten oder Meeting-Inhalte. Wenn Sie Letztere aber mit Bildern verbinden und bewusst Verknüpfungen herstellen, erinnern Sie sich auch daran! Ihr Bildgedächtnis will trainiert werden und das geht am besten mithilfe von Gedächtnistechniken. Normalerweise braucht man mindestens einen Tag Zeit, um diese Gedächtnistechniken intensiv zu erlernen. Meine drei besten möchte ich hier dennoch mit Ihnen teilen. Versuchen Sie, die Techniken mehrmals anzuwenden. Etwas Training ist nötig, dann aber sind großartige Verbesserungen der Gedächtnisleistung für jeden möglich. 50

Benutzen Sie die Routenmethode Diese Technik, auch als Loci-Technik nach dem lateinischen Wort „Locus“ für „Ort“ bekannt, ist so alt wie nützlich und Grundlage fast aller Gedächtnisrekorde. Mit ihrer Hilfe werden Lerninhalte in eine fiktive Struktur gebracht und miteinander verknüpft. So eine Route beinhaltet vertraute Orte wie den Arbeitsweg oder den eigenen Flur. Darauf lege ich dann im Geist Bilder von den Dingen, an die ich mich erinnern möchte. Wichtig ist, dass die Wege gut vorbereitet sind. Wenn Sie diese verwenden wollen, etwa um auch eine längere Präsentation frei zu halten oder auf der Messe die Details der Neuheiten im Kopf zu haben, darf der Weg keine Mühe kosten. Der Lohn: Neue Inhalte werden im Langzeitgedächtnis gespeichert, wie Untersuchungen mit Kernspintomografen gezeigt haben.

Testen Sie sich selbst, oft und früh Wenn Sie einen Artikel im Human Resources Manager lesen, fragen Sie sich nach dem Artikel kurz: „Was habe ich gerade gelesen?“, und beantworten Sie sich diese Frage auch, bevor Sie zum nächsten Beitrag blättern. Oder Sie versuchen sich nach einem Meeting an die Namen der Personen zu erinnern, die Sie gerade getroffen haben.

Boris Nikolai Konrad ist Gedächtnisweltrekordhalter. Der promovierte Neurologe erforscht am Donders Institute im niederländischen Nijmegen außergewöhnliche Gedächtnisleistungen. Er studierte Physik und Angewandte Informatik und ist Autor von „Alles nur in meinem Kopf“. Der 35-Jährige war achtmal Team-Weltmeister im Gedächtnissport und hält vier Guinness-Weltrekorde.

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Foto: Bart van Dieken, picture alliance – NIBIB

Das Supergedächtnis

Diese Methode heißt: Schlüsselwortmethode. Um sich zum Beispiel an Namen von neuen Kollegen zu erinnern, empfehle ich Ihnen, sich ein Bild für den Namen zu suchen und sich dieses Bild vorzustellen. Herrn Fischer sehe ich beim Angeln, Frau Balinkoff einen Ball in einen Koffer legen. Auch beim Lernen von Fremdsprachen oder Fachinhalten bewirken Bilder beinahe Wunder: „Assessment“ heißt Beurteilung? Dann stelle ich mir vor, wie ich mich mit dem Beurteilungsbogen auf einen Sessel setze und beim Ausfüllen Mentos lutsche.


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Der 32-jährige Wirtschaftsinformatiker Ulrich G. Strunz promoviert derzeit über Unsicherheit in Entscheidungssituationen. Sein aktuelles Buch heißt „Arsch hoch beginnt im Kopf“. Er ist der Sohn des bekannten ehemaligen Triathleten und Bestseller-Autors Ulrich Strunz.

Dem Ego auf der Spur Ein Gastbeitrag von Ulrich G. Strunz Ulrich G. Strunz, Sohn eines bekannten Fitnesspapstes, war antriebslos und übergewichtig. Ein Satz seines Vaters rüttelte ihn wach. Er änderte sein Leben radikal und begann nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Gehirn zu trainieren. Ein Erfahrungsbericht

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or sechs Jahren war ich der klassische Millennial: verantwortungsscheu, konfrontationsängstlich, ohne inneren Antrieb, aber irgendwie zufrieden mit dem Leben. Jedoch definitiv nicht glücklich! Ich bin der Sohn des Fitnesspapstes Ulrich Strunz und brachte 2012 kurz vor Weihnachten 94,5 kg auf die Waage, bei 180 cm Körpergröße. Obwohl ich unter Asthma litt, rauchte ich Zigaretten und trank regelmäßig zuckerhaltige Alkoholcocktails. Ich war Single, hatte ein kleines IT-Unternehmen gegründet und studierte vor mich hin. Am 2. Januar 2013 änderte ich mein Leben radikal. Ich joggte durchschnittlich sechsmal die Woche mindestens dreißig Minuten. Ich machte Körpereigengewichtstraining und ernährte mich ohne Kohlenhydrate, kein Low-Carb, sondern hartes No-Carb. Zwei Monate später hatte ich 16 Kilo abgenommen, mein Körperfett lag bei zwölf Prozent. Das sind die harten Fakten, doch sie erklären nicht, warum ich mich änderte und wie ich das geschafft habe. d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

Mein rigoroser Wandel nahm seinen Anfang Weihnachten 2012. Mein Vater sagte etwas, das meine größte innere Angst berührte: „Nichts, was du bislang erreicht hast, hast du selbstständig erreicht.“ Dieser Satz traf mich direkt ins Herz. Das nächste, was ich fühlte, war jedoch das Vertrauen, dass mein Vater mich nicht verletzen, sondern einen negativen inneren Glaubenssatz berühren wollte. Ich begann wieder Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Ich erinnerte mich an Meditationstechniken, die ich als Kind gelernt hatte. Ich stellte mir vor, wie es sich anfühlen würde, so zu sein, wie ich sein will. Ich kreierte meine Vision nicht als Bild, sondern als Gefühl, mit jeder kleinsten dazugehörigen Facette. Ich stellte mir vor, wie sich mein Körper, in dem ich mich wohlfühle, während des Alltags anfühlt. Ich versuchte das Gefühl ausfindig zu machen, welches im normalen Alltag in mir schlummert, wenn ich zufrieden mit mir und meiner Umgebung bin. Ich habe damit mein Ich programmiert, meine somatische In51


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Ein Beitrag von Sven Lechtleitner

Menschen entscheiden oft aus einem emotionalen Impuls heraus, sich auf eine Stelle zu bewerben. Doch bei der Flut an EindrĂźcken ist es schwierig, das neuronale Netz eines potenziellen Kandidaten zu triggern.

Foto: getty images

Der Trigger 54

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äglich prasselt eine Masse an Informationen und Werbebotschaften auf Jobinteressierte ein, seien es Newsletter von Stellenportalen oder die Imagekampagnen von Arbeitgebern. Wer sich im Kampf um die besten Talente ins Gedächtnis potenzieller Bewerber einprägen will, der muss sich etwas einfallen lassen. Es braucht eine Ansprache, die emotional berührt – die also einen Impuls im neuronalen Netz des Menschen auslöst. Schließlich trifft das menschliche Gehirn viele Entscheidungen nahezu automatisch. Und was könnte es für Unternehmen Besseres geben, als Jobinteressierte, die sich aus dem Bauch heraus für sie entscheiden? Was in der Theorie vielleicht simpel klingt, weist in der Praxis schnell Optimierungsbedarf auf. Denn wer kennt sie nicht, die klassische – langweilige – Ansprache von Bewerbern auf Karriereseiten und in Stellenanzeigen? Die immer wieder adaptierte Textvorlage, bei der Unternehmen Anforderungsprofil und Tätigkeitsbeschreibung nur minimal anpassen. Oder die Fotos aus gängigen Bilddatenbanken, die jedes Mal dieselben lächelnden Personen zeigen, die dann auch noch bei diversen anderen Arbeitgebern gleichzeitig auftauchen. Authentizität vermitteln und Emotionen auslösen? Fehlanzeige. Dabei bietet die Bildsprache viele Möglichkeiten, um mit Stereotypen in Berufszweigen aufzubrechen und neue Bewerbergruppen anzusprechen. Getreu dem Motto „Bilder sagen mehr als tausend Worte“ können sie – genau wie Videos – schneller Emotionen hervorrufen.

Emotionen wecken Neue Wege im Recruiting geht seit einiger Zeit der Bayerwaldhof. Der Hotelbetrieb liegt im Bayerischen Wald und beschäftigt rund 200 Mitarbeiter. Die Berufsgruppen sind vielfältig: Es arbeiten Mitarbeiter an der Rezeption, im Restaurant, in der Küche und Reinigung sowie im Spa, ebenso d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

angestellt sind Hausmeister und Gärtner sowie Personal für das Pferdegestüt. Teil der Belegschaft sind auch 25 Auszubildende in fünf unterschiedlichen Ausbildungsberufen. Doch das Unternehmen liegt in ländlicher Gegend. Zudem sind die Arbeitsbedingungen in der Hotellerie und Gastronomie für Bewerber alles andere als attraktiv. Kurzum: Der Bayerwaldhof war konfrontiert mit einem Fachkräftemangel und musste darauf reagieren. „Wir erhielten zwar noch Bewerbungen, aber die Resonanz auf Stellenanzeigen zeigte sich rückläufig“, sagt Sonja Schmelmer, Personalleiterin beim Bayerwaldhof. „Mit unserer neuen Kampagne wollten wir daher ein Statement setzen und zeigen, dass es tolle Hotelbetriebe gibt.“ Die Kampagne basiert auf Bildern und Videos. Sie zielt auf Herz und Emotion potenzieller Bewerber ab. Die Bildsprache ist authentisch, hat einen eigenen Stil. An Arbeit erinnern die ausgefallenen Motive im ersten Moment kaum. Die Mitarbeiter vermitteln Spaß und Freude auf den Fotos, sei es das Housekeeping bei der Kissenschlacht oder die Barkeeper in James-Bond-Manier. Kombiniert wird das Ganze mit Informationen zum Beruf. Dafür gibt es eigens eine Website unter dem Motto „Mideinand“. Und genau das Miteinander hebt Schmelmer hervor: „Wir sind eine große Familie und das möchten wir in Bildern ausdrücken.“ Die Idee zur Kampagne stammt von ihr selbst und dem Hoteldirektor Alfons Weiß. Vor allem die junge Zielgruppe für Ausbildungsberufe möchte das Unternehmen damit erreichen. Die Personalleiterin besucht regelmäßig Schulen in der Region. Dort verteilt sie Flyer, seit 2018 die der neuen Kampagne. Die Erfolge haben sich zeitversetzt dieses Jahr eingestellt. Die Anfragen für Praktika seien deutlich gestiegen, die Ausbildungsplätze nun fast alle besetzt. Aber auch aus überregionalen Gegenden und aus dem Ausland erhalte sie Bewerbungen. Darüber hinaus hat der Bayerwaldhof im vergangenen Jahr den 55


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Der italienische Maler der Spätrenaissance Giuseppe Arcimboldo ist berühmt für seine Porträts aus Früchten. Über seine Ernährungsweise ist hingegen nichts bekannt.

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Foto: getty images

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Geniales Gemüse Ein Beitrag von Kira Pieper

Was wir essen, hat Auswirkungen auf Körper und Geist. Kein Wunder also, dass das Interesse an gesundem Essen wächst. In Kantinen jedoch ist die Currywurst mit Pommes weiterhin das Lieblingsessen vieler Mitarbeiter. Was kann man dagegen tun und welchen Einfluss auf das Denken hat unsere Ernährung tatsächlich?

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n Zeiten von veganer, vegetarischer, lactosefreier und fettreduzierter Ernährung ist das Thema Nahrungsaufnahme für den modernen Menschen längst identitätsstiftend. Doch was ist dran an dem Sprichwort: Du bist, was du isst? Inwiefern hat die Ernährung tatsächlich Einfluss auf die Psyche, unser Verhalten, gar unsere Persönlichkeit? Dass eine Verbindung zwischen körperlichem Empfinden, Psyche und Ernährung besteht, wird schon seit Jahrtausenden angenommen. Auch die Psychologin und Hirnforscherin Soyoung Q Park vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke bestätigt: „Ernähren wir uns schlecht, spüren wir Auswirkungen auf unseren Körper, unsere Gesundheit und auch auf unsere Psyche.“

Vorsicht vor vermeintlichen Kausalitäten Studien zu dem Thema finden sich zuhauf. Im Rahmen einer britischen Studie beispielsweise verfolgen Forscher seit den Neunzigerjahren die Entwicklung von Kindern aus 14.500 Familien. Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass Kinder, die nicht gestillt wurden oder als Kleinkinder viel Fettiges und Süßes aßen, im Alter von acht Jahren etwas weniger intelligent waren als Kinder, die gestillt und insgesamt gesünder ernährt wurden. 2012 zeigte eine Untersuchung von 245 Grundschülern im Iran, dass Kinder, d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

die viel industriell hergestellten Weißzucker, Weißbrot oder Nudeln konsumierten, ebenfalls schlechtere Ergebnisse in Intelligenztests erzielten. Das zeigt: Wer viel Zucker und stark verarbeitete Getreide- und Kartoffelprodukte isst, dem fällt das Denken offenbar schwerer. Beide Studien haben allerdings Schwächen: Sie belegen lediglich, dass ein Zusammenhang zwischen Ernährung und Intelligenz besteht, konkretisieren aber nicht, worin dieser besteht. Weniger ausgewogene Ernährung muss nicht zwingend auch die Ursache für eine geringere Intelligenz sein. Es könnte auch sein, dass weniger schlaue Kinder einfach eher zu Fast Food greifen. Oder dass Eltern gleichzeitig weniger Wert auf eine gesunde Ernährung und auf die geistige Entwicklung ihres Nachwuchses legen. Neben dem Einfluss der Nahrung auf die Intelligenz rückt auch der Einfluss von Darmbakterien auf die Psyche immer mehr in den Fokus der Wissenschaft. Forscher trauen den Billionen Bakterien im menschlichen Darm, die auch als Mikrobiom bezeichnet werden, viel zu: So soll das Mikrobiom maßgeblich an Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer-Demenz und Schizophrenie beteiligt sein. Bei Patienten mit diesen Krankheitsbildern stellten die Wissenschaftler zumindest fest, dass das Mikrobiom spezifisch verändert ist. Die Hoffnung ist nun, jene Krankheiten irgendwann mit einem Eingriff in die Darmflora heilen zu können. Doch auch hier gilt: Es ist unklar, ob die Veränderungen der Darmbakterien Ursache oder Folge der jeweiligen Erkran59


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Die Happiness-Beauftragten Sind wir glücklich, lernen wir besser, denn eine positive Stimmung lässt unsere Nervenzellen wachsen. Feelgood Manager sollen dafür sorgen, dass sich Kollegen im Unternehmen wohlfühlen. So mancher Chef und Personaler belächelt sie noch dafür. Ein Fehler

Foto: picture alliance – Niko Tavernise

Ein Beitrag von Martin Lechtape

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„ Forscher haben herausgefunden, dass die Produktivität von Mitarbeitern um zwölf Prozent steigt, wenn sie glücklich sind. Andere Wissenschaftler sprechen sogar von einer Leistungssteigerung von 40 Prozent.“

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enjamin Keller sieht häufig ein mildes Lächeln in den Gesichtern seiner Gesprächspartner, wenn er sich Geschäftsführern und Abteilungsleitern als selbstständiger Feelgood Manager und Unternehmenskulturgestalter vorstellt. Die Blicke seiner Zuhörer sprechen Bände: Sie denken an jemanden, der den Mitarbeitern Obstkörbe bereitstellt und ihnen ein Bällebad baut, weiter nichts. Keller reagiert gelassen auf solche Vorbehalte: „Ich zähle einfach die Fakten auf.“ Ein Fakt ist, dass die Produktivität von Mitarbeitern um zwölf Prozent steigt, wenn sie glücklich sind, wie Forscher der Universität Warwick (Großbritannien) herausgefunden haben. Andere Studien kamen sogar auf eine Produktivitätssteigerung von bis zu 40 Prozent. Neben der Produktivität steige bei glücklichen Mitarbeitern auch die Loyalität gegenüber dem Unternehmen, sagt Anne-Katrin Sträßer, Glücksökonomin und Geschäftsführerin des Happiness Management Instituts in München. „Auch Integritätsaspekte spielen eine Rolle: Die Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeiter ihr Unternehmen betrügen, ist wesentlich geringer, wenn sie gerne zur Arbeit gehen.“ Gerade junge Menschen wollen einen Job, der ihnen Spaß macht, ihnen einen Sinn gibt. Gehalt, Urlaub und Freizeit seien den Millennials hingegen nicht so wichtig, so das Ergebnis des Instituts für Angewandte Arbeitswissenschaft (Ifaa). Geschäftsführer und Personaler, die junge Fachkräfte d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

suchen, sollten sich ihr mildes Lächeln also lieber verkneifen, denn ein Feelgood Manager kann tatsächlich helfen, die Produktivität des Unternehmens zu steigern und durch eine verbesserte Unternehmenskultur gute Nachwuchskräfte anzuziehen.

Reden ist Gold Das Aufgabenfeld eines Feelgood Managers ist nämlich in Wahrheit wesentlich komplexer, als viele meinen. Keller und seine Berufskollegen kümmern sich in Unternehmen nicht nur um Kleinigkeiten wie die Beschaffung von Obstkörben und Kickertischen, sondern gewinnen auch tiefe Einblicke in die Unternehmen. Dort können sie strukturelle Veränderungen anstoßen, die Kommunikation unter den Mitarbeitern verbessern und kritisch hinterfragen, ob ein Mitarbeiter auf einer anderen Position vielleicht besser aufgehoben wäre. Wenn Feelgood Manager Keller zum ersten Mal ein Unternehmen besucht, stellt er jedem Mitarbeiter zunächst dieselben Fragen: Was läuft gut? Wo ist Luft nach oben? Wie kommuniziert die Belegschaft untereinander? „Die Mitarbeiter fühlen sich wertgeschätzt, wenn ihre Probleme ernst genommen werden“, sagt der 36-Jährige. Manchmal genüge es bereits, Angestellte zu fragen, was sie brauchen, um einen guten Job machen zu können. Nach den persönlichen 63


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Zurück zur Selbstbestimmung

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Futterzufur

Futterschale Möglicher Aufbau einer Skinner-Box: Dieser reizarme Testkäfig wurde nach dem US-amerikanischen Psychologe Burrhus Frederic Skinner benannt, dem prominentesten Vertreter des Behaviorismus in den USA. Er prägte die Bezeichnung „operante Konditionierung“, bei der spontanes Verhalten durch eine Konsezwei Milliarden Menschen ständig solch eine Skinner-Box bei sich: ihr Smartphone.

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Illustration: Johannes Urban

quenz gefördert wird. Heutzutage haben über


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Ohne Technologie ist Arbeiten undenkbar geworden. Doch digitale Geräte können abhängig machen, lösen Stress aus und mindern unsere Produktivität. Zwar ist ein absoluter Digital Detox unrealistisch. Doch es gibt Möglichkeiten, sich zu mehr Selbstbestimmung zu disziplinieren. Ein Gastbeitrag von Christian Schmidkonz, Patricia Kraft und Viktoria Welledits

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tellen Sie sich vor, Sie haben viele Stunden und Gedanken in die Vorbereitung einer Präsentation gesteckt, sie blicken ins Publikum und die eine Hälfte der Zuhörer sitzt tippend hinter einem Laptop und die andere Hälfte beschäftigt sich mit dem Smartphone. Als Sie nach dem Meeting Ihren Chef darauf ansprechen, versteht er nicht so recht, was Sie meinen. Dabei schaut er Ihnen nicht in die Augen, sondern liest Nachrichten auf seinem Smartphone. Sie gehen zurück in Ihr Büro – und checken erst einmal Ihre E-Mails. Vielleicht ist ja etwas dabei, das diesen miesen Tag noch retten könnte. Digitale Abhängigkeit ist eine Sucht, die rauschähnliche Zustände vergleichbar mit anderen Süchten wie der Spielsucht oder Substanzmittelabhängigkeit auslösen kann. Bei digitaler Abhängigkeit besteht jedoch keine körperliche, sondern eine psychische Abhängigkeit, die den Alltag und das soziale Miteinander erheblich beeinträchtigt. Letztendlich handelt es sich dabei um eine Konditionierung. Der US-amerikanische Psychologe Burrhus Frederic Skinner, ein prominenter Vertreter des Behaviorismus, hat bereits in den 1930er Jahren dazu geforscht. Dafür hat er Tauben in einer Box beobachtet. Wenn die Vögel eine runde Metallscheibe, die in der Box angebracht d ezem ber 20 1 9 / j a n ua r 2 0 2 0

worden war, anpickten, erhielten sie Futter. Die Tauben lernten also, dass ihr Verhalten eine positive Konsequenz zur Folge hatte. Ihr Gehirn schüttete Dopamin aus, ein Neurotransmitter, der den Antrieb steigert. Die Box, in der die Tauben saßen, nannte man Skinner-Box. Heutzutage haben über zwei Milliarden Menschen immer solch eine Skinner-Box dabei: ihr Smartphone.

Unterbrechungen sind schädlich Diese Skinner-Box kann sich im Arbeitsalltag als großer Störenfried herausstellen. Denn sie unterbricht immer wieder produktive Arbeitsphasen. Und selbst kleinste Unterbrechungen, wie das Lesen einer kurzen Textnachricht, haben einen signifikanten Einfluss auf die Fehlerquote beim Bearbeiten darauffolgender Aufgaben. Das Phänomen des Flows, also ein besonders fokussierter und produktiver Zustand, ist mit einer Skinner-Box auf dem Schreibtisch nicht zu erreichen. Das Smartphone verleitet nicht zuletzt aufgrund seiner Handlichkeit zum Cyberloafing, also zu kleinen Internetspaziergängen während der Arbeitszeit. Auch Cyberloafing kann durch Suchtverhalten ausgelöst sein und den konzentrierten Arbeitsfluss stören. 75


Foto: picture alliance – United Archives/IFTN

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Von der Killermaschine zum Freund: Arnold Schwarzenegger als Terminator. Zuschauer konnten stets darauf vertrauen, dass der Androide immer wieder auf die Kinoleinwand zurĂźckkehrt.

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Roboter des Vertrauens Mitarbeiter vertrauen eher einer künstlichen Intelligenz als ihren Vorgesetzten, so das pikante Ergebnis einer aktuellen Studie. Wie Führungskräfte darauf reagieren sollten und was das für die Rolle der Personaler bedeutet Ein Gastbeitrag von Joachim Skura

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ünstliche Intelligenz (KI) prägt immer häufiger den Büroalltag. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Studie „AI at Work“ des Softwareherstellers Oracle und des HR-Beratungsunternehmens Future Workplace, für die über 8.000 Mitarbeiter, Führungskräfte und Personalverantwortliche aus zehn Ländern befragt wurden. Rund die Hälfte der Arbeitnehmer nutzt demnach derzeit eine Form von künstlicher Intelligenz, verglichen mit nur 32 Prozent im vergangenen Jahr. Diese Entwicklung hat einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise, wie Mitarbeiter mit ihren Vorgesetzten interagieren. Und das spielt gerade beim Thema Vertrauen eine große Rolle, denn Vertrauen zwischen Angestellten und Führungskräften ist Dreh- und Angelpunkt einer gelingenden Zusammenarbeit. Dabei erstaunt es, dass ein Großteil der Arbeitnehmer, insgesamt 64 Prozent der Befragten, eher einer künstlichen Intelligenz vertraut als dem eigenen Chef. Fast genauso viele Angestellte seien begeistert, optimistisch und dankbar Roboter als Kollegen zu haben. Und rund die Hälfte der Studienteilnehmer hat schon einmal lieber einen Roboter befragt, statt sich an den zuständigen Manager zu wenden. 82 Prozent glauben sogar, dass Roboter einige Dinge besser können als ihre Vorgesetzten. Wie sollten HR-Führungskräfte nun bestmöglich auf diese Veränderungen reagieren? d ezem ber 20 1 9 / j a n ua r 2 0 2 0

Aussagen von einer künstlichen Intelligenz werden also zum Teil als vertrauenswürdiger empfunden als Informationen von Menschen. Insbesondere bei der Weitergabe wertfreier Informationen, der Einhaltung von Arbeitszeiten, Problemlösungskompetenz und Budgetverwaltung ist das der Fall. Geht es hingegen eher um Einfühlungsvermögen oder emotionale Beratungskompetenz, können menschliche Kollegen und Vorgesetzte punkten.

Routineaufgaben digitalisieren Um die neuesten Fortschritte künstlicher Intelligenz bestmöglich nutzen zu können, müssen sich Unternehmen auf die Vereinfachung und Sicherung von KI-basierten Anwendungen im Büro konzentrieren. Denn KI-Tools steigern die Produktivität, helfen die Unternehmensregeln einzuhalten und Unternehmensziele strategischer zu verfolgen. Sinnvoll sind dabei immer Funktionen, die Routineaufgaben digitalisieren, die Compliance automatisch sicherstellen, Anomalien erkennen und geeignete Maßnahmen vorschlagen. Auch können Genehmigungen zur Kosten- und Zeiterfassung schneller erfolgen und das passende Gehalt für Neustarter besser ermittelt werden. KI- und datengesteuerte personalisierte OnboardingProzesse fördern die Effizienz, verkürzen die Einstellungs79


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Zwo, Eins, Risiko! Ein zusammenfassender Beitrag basierend auf einem Buch von Amy C. Edmondson

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Wenn sich Mitarbeiter nicht trauen aus Angst ihre Meinung oder auch mal eine verrückte Idee zu äußern, sind Unternehmen auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt. Die amerikanische HarvardProfessorin Amy C. Edmondson hat darüber ein Buch geschrieben. Darin beantwortet sie die Fragen, die ihr als Coach zum Thema psychologische Sicherheit am häufigsten gestellt wurden.

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A N A LY S E Mit seinem Motto „Zwo, Eins, Risiko!“ verteidigt Superheld Darkwing Duck, besser bekannt als Schrecken der Bösewichte, seine Heimatstadt vor Verbrechern. Angst ist ihm dabei fremd. Dadurch neigt er gelegentlich zu ausufernder Geschwätzigkeit, die ihm ihm dann im Wege steht.

Foto: https://youtu.be/OwWuV4B4VIM (2)

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n einer Welt, in der Innovationen über Erfolg und Scheitern entscheiden, genügt es nicht, talentierte Mitarbeiter einzustellen. Sie müssen auch gut zusammenarbeiten können. Doch manchmal sind sie nicht in der Lage, ihr vorhandenes Wissen bei der Arbeit einzubringen. Und oft liegt das daran, dass sie nicht auffallen möchten und nichts Unfertiges sagen oder den Chef nicht verärgern wollen. Damit Wissensarbeit erfolgreich sein kann, muss die Arbeitsumgebung so gestaltet sein, dass die Menschen ihr Wissen auch teilen. Dazu gehört der Mut, Sorgen, Fragen, Fehler und selbst halb ausformulierte Ideen auszusprechen. Damit Angestellte das tun, ist psychologische Sicherheit nötig. Psychologische Sicherheit heißt nicht, dass wir die Konsequenzen unseres eigenen Handelns nicht mehr tragen müssten. Und das Gefühl soll auch nicht zur Selbstgenügsamkeit führen. In psychologisch sicheren Arbeitsumgebungen wissen die Mitarbeiter, dass sie scheitern könnten. Sie wissen, dass sie möglicherweise negatives Feedback bekommen. Ihnen ist klar, dass sie ihren Job verlieren könnten, weil sich die Branche verändert oder weil ihnen möglicherweise die Kompetenz für ihre Rolle fehlt. d ezem ber 20 1 9 / j a n ua r 2 0 2 0

In einer psychologisch sicheren Arbeitsumgebung werden die Mitarbeiter jedoch nicht durch zwischenmenschliche Angst behindert. Sie fühlen sich bereit und fähig, die unvermeidlichen zwischenmenschlichen Risiken der Aufrichtigkeit einzugehen. Sie fürchten eher, sich nicht genug einzubringen, als dass sie Angst davor hätten, sensible, bedrohliche oder vielleicht sogar falsche Ideen zu äußern. In meiner Tätigkeit als Coach werden mir folgende Fragen immer wieder gestellt, die ich an dieser Stelle ausführlich beantworte.

Gibt es ein Zuviel an psychologischer Sicherheit? Nein, ich denke nicht. Es gibt natürlich auch den Fall, dass unnütze oder unangemessene Äußerungen zu viel Raum bekommen, wenngleich das seltener der Fall ist, als man annehmen würde. Das Risiko des übertriebenen Äußerns der eigenen Meinung wird nicht dadurch gelöst, dass man die psychologische Sicherheit verringert, sondern durch Rückmeldungen, durch die der Sprechende die Wirkung seiner Aussagen erkennt. 83


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Neuro-optimierte Arbeitswelt Die Individualisierung des Lebens schreitet immer weiter voran. Also warum nicht auch das Arbeitsumfeld auf individuelle Bedürfnisse und kognitive Fähigkeiten des Arbeitnehmers abstimmen? Als Anhaltspunkt könnten neurologische Daten fungieren. Doch die Gefahr eines Missbrauchs ist hoch.

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ollow your instinct“, „Create your coffee“, „Play it your way“ oder „Do your thing“ – Marketing-Slogans, die den Empfänger in den Mittelpunkt rücken. Persönlichkeit und Individualität gewinnen in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Mit dem allgemeinen Wohlstandszuwachs eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten. Ein jeder kann sein Leben noch stärker nach seinen persönlichen Wünschen und Vorstellungen gestalten. Dabei ist das individualisierte Marketing durch die Nutzung von Cookies und Trackern längst gängige Praxis. Weshalb also nicht auch den eigenen Arbeitsplatz individualisieren und auf Wünsche und Bedürfnisse sowie kognitive Fähigkeiten des jeweiligen Arbeitnehmers abstimmen? Als Anhaltspunkt könnten neurologische Daten fungieren.

Ausgangspunkt: das Individuum Das menschliche Gehirn ist mit seinen Milliarden von Neuronen und Synapsen an Komplexität kaum zu überbieten. Dabei steigt unser Verständnis mit dem technischen und medizinischen Fortschritt in den Neurowissenschaften ständig an. Damit gehen auch für das Arbeitsumfeld juristisch interessante Chancen und Risiken einher. In Zukunft wäre es zum Beispiel denkbar, aufgrund neurologischer 92

Daten Zusatzleistungen individuell anzupassen, um die extrinsische wie intrinsische Motivation eines Arbeitnehmers zu steigern. Auch eine Ausrichtung der konkreten Tätigkeitsfelder nach stärker oder schwächer ausgeprägten Teilen des Gehirns wären vorstellbar. Zudem könnten gesundheitliche Risiken frühzeitig erkannt und behandelt, könnte Krankheiten gar vorgebeugt werden. Mit der Förderung der Gesundheit wäre der Arbeitgeber in der Lage, seiner Fürsorgepflicht noch besser nachzukommen. Und der Arbeitnehmer wiederum könnte sich durch eine zunehmende Individualisierung des Arbeitsumfeldes wertgeschätzt fühlen und wäre dadurch produktiver. Doch lässt sich neurologisch überhaupt schon erfassen, ob man mit einem Firmenwagen effektiver arbeitet als mit täglichem kostenlosem Mittagessen? Und dürften Arbeitgeber diese Informationen überhaupt verwenden?

Stand der Forschung Die Wissenschaft kommt in dieser Hinsicht zu immer bahnbrechenderen Erkenntnissen und Resultaten. So haben Wissenschaftler der Kyoto Universität im Januar 2018 eine künstliche Intelligenz vorgestellt, die gedankliche Formen und Farben visualisieren kann. Durch die Digitalisierung von neuronalen Signalen wird auch die futuristisch anmutende Vorstellung, dass Gedanken durch den Einsatz von Neurotransmittern in Worte umgewandelt und auf Bildschirmen schließlich lesbar gemacht werden können, immer mehr zur Realität. Aussagekräftige neurologische Daten werden gegenwärtig oft über das sogenannte Functional Magnetic Resonance Imaging (kurz fMRI) gewonnen. Hierbei handelt es sich um ein bildgebendes Verfahren, mit dem insbesondere die Hirnaktivität anhand der Methoden der Magnetresonanztomographie (MRT) dargestellt werden können. Mithilfe dieser Methode ist es in nicht allzu ferner Zukunft sicher auch möglich, Erkenntnisse zu gewinnen, die für eine Individualisierung des Arbeitsumfeldes nützlich sind. Derzeit erfordert das fMRI jedoch noch erheblichen Aufwand. Die zu untersuchende Person muss sich für einige Zeit in eine Magnetröhre begeben und darin ausharren, www. hu ma n re so u rce s ma n age r. d e

Foto: getty images

Ein Gastbeitrag von Jan Axtmann und Max Zimmer


IMPRESSUM

bis entsprechende anatomische Bilder angefertigt wurden. In Kombination mit Daten eines „durchschnittlichen“ Gehirns können anschließend Aktivierungskarten erstellt werden. So wird visualisiert, wo und wann im Gehirn wie viel Sauerstoff verbraucht wird. Diese Informationen lassen unter Umständen Rückschlüsse auf eine besonders stark ausgeprägte Gehirnzone zu. Entsprechend könnte das Arbeitsumfeld an die kognitiven Stärken und Schwächen eines jeden Arbeitnehmers angepasst werden. Ebenso könnte die Arbeitszeit je nach Belastungsfähigkeit variieren. Sogar eine individualisierte Anpassung der Anreize für jeden Arbeitnehmer wäre vorstellbar. Aufgrund der (noch) begrenzten Aussagekraft der Ergebnisse und der derzeitigen Impraktikabilität der fMRI-Methode ist eine entsprechende Verwendung in der Personaldiagnostik zwar Zukunftsmusik. Allerdings haben die Entwicklungen der vergangenen Jahre gelehrt, dass heute noch Fernliegendes morgen schon alltäglich nutzbar sein kann. Doch ist nicht alles, was technisch möglich ist, auch rechtlich erlaubt.

Datenschutzrechtliche Probleme Ein Einsatz der genannten Mittel wäre auf dem europäischen Arbeitsmarkt nicht zuletzt wegen der 2018 in Kraft getretenen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) kaum denkbar. Die Vorschrift untersagt nämlich grundsätzlich die Verarbeitung von Gesundheitsdaten. Denn sie stehen unter einem besonderen Schutz, da bei ihrer Verarbeitung Probleme mit Grundrechten und Grundfreiheiten naheliegen. Gesundheitsdaten sind gemäß der DSGVO „personenbezogene Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen.“ Da sich neurowissenschaftliche Informationen auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person beziehen, fallen sie unter dieses Gesetz. Das Verbot zur Verarbeitung von Gesundheitsdaten kann durch eine Einwilligung des Betroffenen in die Verarbeitung der konkreten Daten aufgehoben werden (Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO). Dabei muss die Einwilligung für einen konkreten Fall freiwillig, nach ausreichender Information des Betroffenen, und unmissverständlich abgegeben werden. Doch ist die Einwilligung in eine vom Arbeitgeber vorgeschriebene Eignungsuntersuchung noch als freiwillig zu werten? In bestimmten Fällen, so zum Beispiel für die Fahrerlaubnis für Taxen oder Krankenwagen, wird durch das Gesetz beziehungsweise die Rechtsverordnung eine Eignungsuntersuchung vorgeschrieben. Die Rechtsfolge der Untersuchung muss sich aus der Rechtsgrundlage ergeben. In solchen Sonderfällen sieht die DSGVO Ausnahmen vor. Liegt hingegen keine Rechtsgrundlage vor, kann der Arbeitgeber während des laufenden Beschäftigungsverhältnisses eine Eignungsuntersuchung nur in sehr engen Grenzen verlangen (§§ 611, 242, 241 Abs. 2 BGB), sofern begründete Zweifel an der Tauglichkeit bestehen. Eignungsuntersuchungen mit dem Ziel einer Individualisierung des Arbeitsplatzes können daher d ezem ber 20 1 9 / janua r 2020

Herausgeber Rudolf Hetzel Torben Werner (V. i. S. d. P.) Redaktion Hannah Petersohn (hp) Chefredakteurin hannah.petersohn@quadriga.eu Jeanne Wellnitz (jew) Redakteurin jeanne.wellnitz@quadriga.eu Autoren der Ausgabe Jan Axtmann, Amy C. Edmondson Sabrina Erben, Friederike Fabritius Mike Fischer, Anna von Hopffgarten Güngör Kara, Boris Nikolai Konrad Julia Korbik, Patricia Kraft Martin Lechtape, Sven Lechtleitner Regina Michalik, Matthias Nöllke Kira Pieper, Christoph Seidler Christian Schmidkonz, Joachim Skura Sarah Sommer, Ulrich G. Strunz Viktoria Welledits, Max Zimmer Lektorat Christa Melli www.literatur-und-film.de Gestaltung Farbe. Designbüro www.buero-farbe.de Fotoredaktion Jana Legler Anzeigen Norman Wittig norman.wittig@quadriga.eu Abonnement Stefanie Weimann aboservice@quadriga.eu Druck Piereg Druckcenter Berlin GmbH Benzstraße 12 12277 Berlin Im Internet www.humanresourcesmanager.de/ magazin Verlags- / Redaktionsanschrift Quadriga Media Berlin GmbH Werderscher Markt 13 10117 Berlin Telefon: 030 / 84 85 90 ­ Fax: 030 / 84 85 92 00 redaktion@humanresourcesmanager.de


VERBAND

Achtsamkeit Ein Beitrag von Moritz Mihm

INHALT 96 Editorial 97

Ausflug der Fachgruppe Arbeitsrecht des BPM

98 So wird Familienfreundlichkeit messbar 99 Wer Fachkräfte will, muss für Vereinbarkeit sorgen 100 Wir gestalten eine gesunde Arbeitswelt von morgen 101

Fachgruppentag 2019

102 Studie zeigt Versäumnisse der Personaler auf 105

Neue BPM-Publikation

konnte man gerade erst wieder auf dem Fachgruppentag in München erleben, wo Vertreter aller Gruppen engagiert über das Thema Vereinbarkeit diskutiert haben. Auch im kommenden Jahr wollen wir uns weiterentwickeln und an die Erfahrungen der Vergangenheit anknüpfen. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung! Welche Themen liegen Ihnen am Herzen? Wo können Sie Erfahrungen teilen oder Rat gebrauchen? Bringen Sie sich mit Ihren Ideen und Vorschlägen ein – egal ob am Stammtisch, in Ihrer Region oder bei einem Treffen Ihrer Fachgruppe. Für die kommenden Tage und Wochen wünsche ich Ihnen von Herzen, dass Sie Momente der Achtsamkeit finden, in denen Sie sich aus dem hektischen Alltag herausziehen, selbst zurückblicken und zur Ruhe kommen können, um dann mit frischer Energie ins neue Jahr zu starten.

Moritz Mihm Leiter der Bundesgeschäftsstelle

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Fotos: Quadriga Media, gettyimages

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urz vor Weihnachten geht der Stress erst richtig los. Die Jahresplanung und das Budget müssen final unter Dach und Fach gebracht werden, die Zahl der abendlichen Weihnachtsfeiern scheint sich wieder verdoppelt zu haben – und dann kommen natürlich noch die Vorbereitungen für die Feiertage: die Koordination mit der Familie, das Entdecken und Besorgen von Geschenken, das Schmücken, Kochen und Backen. Von Besinnlichkeit, Innehalten und Rückschau kann eigentlich keine Rede sein – dabei wäre es gerade jetzt umso wichtiger: Was ist dieses Jahr gut gelaufen? Was vielleicht weniger gut und wo haben wir im kommenden Jahr Potenziale für Weiterentwicklung? Der BPM kann auf ein erfolgreiches von Übergangen geprägtes Jahr zurückblicken. Unser Präsidium hat mit den Lighthouses eine neue Veranstaltungsreihe umgesetzt. Die Fachgruppen waren mit Formaten wie dem Change Day, dem Arbeitsrechtstag, den Fachgruppentagen Gesundheit und HR in Non-Profit-Organisationen erfolgreich. Die Regionalgruppen haben mit neuen Formaten die regionalen Netzwerke gestärkt. Wie stark unser Verband und wie engagiert unsere Mitglieder sind,


LETZTE

SEITE

Ich bin ein DopaminJunkie

Der die erste Job, lle des o R e zukünftig e rs oder ein Personale : re tü k e L de inspirieren und r re h fü s ft chä HRler, Ges orten eben Antw g r e g g Blo gen o b e m Frag in unsere n te tz e auf der „L Seite“.

Friederike Fabritius ist Neurowissenschaftlerin und LeadershipExpertin. Hier verrät sie, auf welche Weise Vertrauen im Team entsteht und wie der optimale NeurotransmitterCocktail für Höchstleistungen aussieht.

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Tag allein im Labor mit zwei Affen verbringe. Ich liebe die Wissenschaft, aber mein Leben ist jetzt aufregender. Durch meine fünf Kinder habe ich gelernt, dass … man nie zu viele Kinder haben kann. Wichtig wäre eine neurochemische Diversität in der Arbeitswelt, weil … diverse Teams bessere Ergebnisse erzielen und innovativer sind. Momentan konzentrieren sich Unternehmen auf „Gender Diversity“, aber viel wichtiger wäre „Diversity of Thought“. Menschen unterscheiden sich in ihren Stärken und Denkprozessen. Ein gehirnfreundliches Arbeitsumfeld umfasst: Fun, Fear and Focus. Menschen brauchen den optimalen Cocktail aus drei Neurotransmittern, um produktiv zu sein. Wenn wir Spaß haben, schüttet unser Gehirn Dopamin aus. Sind wir leicht überfordert, bekommen wir einen Noradrenalin-Kick, und wenn wir uns fokussieren, bekommen wir einen Schub Acetylcholin. Multitasking ist eine Mär, weil … der präfrontale Kortex nicht zwei Aufgaben gleichzeitig bearbeiten kann. Menschen, die Multitasking

machen, brauchen 50 Prozent länger, um die Aufgabe zu bearbeiten, und sie machen 50 Prozent mehr Fehler. Vertrauen im Team ist abhängig von … Oxytocin. Dieser Botenstoff wird ausgeschüttet, wenn man zum Beispiel gemeinsam eine schwierige Situation meistert oder ein Abenteuer erlebt. Ein Rat, der mir oft weitergeholfen hat, war: Die Gedanken sind frei. Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen und vor der Wende ausgereist. Ich bin jeden Tag dankbar für das Leben, das ich führen darf. Mein nächstes Buch schreibe ich über … Women in the Workplace. Wenn wir mehr Frauen in Führungspositionen haben wollen, müssen wir das Arbeitsumfeld ändern, nicht die Frauen. Die Fragen stellten Jeanne Wellnitz und Hannah Petersohn Friederike Fabritius hat beim Max-Planck-Institut für Hirnforschung gearbeitet und war bei McKinsey im Management Consulting tätig. Die 38-jährige Speakerin ist Lead-Autorin des preisgekrönten Buchs „The Leading Brain – Neuroscience Hacks to Work Smarter, Better, Happier“.

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Foto: Stephan Brendgen Fotodesign

Ich spreche sechs Sprachen, weil … ich ein „Sensation Seeker“ bin. So nennen Neurowissenschaftler Menschen, die ein sehr aktives Dopaminsystem haben und ständig etwas Neues lernen und tun müssen. Man nennt uns auch Dopamin-Junkies. Am liebsten spreche ich Englisch, weil ... ich seit über zwei Jahrzehnten international arbeite. Außerdem ist es viel einfacher, auf Englisch lustig zu sein. Unternehmen sollten die Erkenntnisse der Hirnforschung viel stärker einbeziehen, weil … viele Prozesse auf völlig falschen Annahmen beruhen, wie der, dass Menschen in erster Linie ihren Gewinn maximieren möchten. Dabei ist ihnen Fairness viel wichtiger. Ich höre auf mein Herz, wenn … ich wichtige Entscheidungen treffe. Wir alle entscheiden hauptsächlich, indem wir das limbische System – den Sitz unserer Emotionen – aktivieren. Den präfrontalen Kortex für das rationale Denken verwenden wir nur, um bereits getroffene Entscheidungen hinterher zu rechtfertigen. Der größte Unterschied zwischen Wissenschaft und Management ist ... dass ich jetzt nicht mehr den ganzen


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