Ausgabe 06/15 | September 2015 | Helios Media Gmbh | ISSN 1612-7668 | www.pressesprecher.com
Magazin für Kommunikation
presse sprecher
THEMA STORY T E L L I NG
MARKEN MACHEN OHNE MÄRCHEN
WIR MACHEN NACHHALTIGKEIT ZU EINEM VERSPRECHEN. Nachhaltigkeit ist für uns ein elementarer Teil unseres Werteverständnisses und fester Bestandteil unseres Geschäfts zugleich. So sind wir beispielsweise zentraler Finanzierer der Energiewende, prüfen Kredite systematisch auf Nachhaltigkeit und bauen langfristige Bindungen zu unseren Kunden, Partnern und Mitarbeitern auf. Die Ratingagentur oekom research zeichnet dafür die gesamte DZ BANK Gruppe erneut mit dem oekom Prime Status, der höchsten Auszeichnung für nachhaltiges Engagement, aus. Erfahren Sie mehr unter » www.nachhaltigkeit.dzbank.de
Aus der Redaktion
Sternenstaub, bitte. Jetzt und viel.
Mein Neffe glaubte lange, dass wir alle aus Sternenstaub bestehen. Kurioserweise behauptete er stets, diese exklusive Information aus dem Kindergarten zu haben. Einem kirchlichen, wohlgemerkt. Voller In brunst nutzte er sein Wissen, um zu trösten bei Problemen („Das macht nix, weil Sternenstaub nie vergeht!“), erklärte so die besondere Aus strahlung einer Mitschülern („Der Sternenstaub lässt sie so glänzen!“) oder die dauerhafte Verbindung zu seinem Opa über dessen Tod hinaus („Was glitzert, das kann man immer sehen!“). Der magische Firnis steht für Vieles, das wir alle jeden Tag im Be ruf einsetzen: Magie. Jaja, Ihr Job und meiner bestehen zu 95 Prozent aus Handwerk. Doch den Unterschied zwischen einer guten und einer denkwürdigen Kampagne, zwischen einem interessanten und einem nachhaltigen Heft machen die anderen fünf Prozent aus: Sie zu füllen, ist die Aufgabe von gutem Storytelling. Dabei geht es nicht darum, Märchen zu erzählen, sondern maximal Theater und die Dinge sichtbar zu machen. Es geht um die Einbettung von einer Idee in archaische Geschichten, die Mehrwert bieten – aber vor allem berühren. Es geht darum, den Kunden einzubinden und eine Handlung zu provizieren. Und wenn am Ende noch Sternenstaub dazu kommt, dreht sich dabei nicht die Geschichte um den Helden – sondern der Zuschauer um die Idee hinter der Kampagne.
Wir haben redaktionsintern drei Eskalationsstufen während der Pro duktion. „Das Heft steht“ etwa ab Woche zwei nach dem Druck des vor herigen: Wir haben die interne Themenkonferenz hinter uns, erste Ge spräche geführt, Beiträge anrecherchiert und als Ergebnis gibt es einen Entwurf für den Seitenplan. Wir nennen ihn „Kuchenform“, obwohl niemand weiß, warum. Aber wir bleiben dabei. „Das Heft brennt“ in der Zeit bis zur Großen Heftkonferenz, bei der neben Redaktion auch Kreation, Vertrieb, Verband und Business Mana gerin dabei sind: Etwa zur Halbzeit der Produktion steht der Inhalt fest, die Seiten sind verteilt, Freie und Gastautoren sind gebrieft und rotieren. Und „das Heft fliegt“ – nach halben Tagen, in denen es uns auch mal auf die Nerven ging – , sobald erste Layouts da sind und wenige Tage vor Druckabgabe in der Produktion nur noch das Finetuning stattfindet. Bis dahin waren wir stellvertretend für Sie auf einer Heldenreise, ha ben sechs verschiedene Cover-Ideen entwickelt und fünf wieder ver worfen. Gegen Deadlines gekämpft und unseren ersten Troll, der wü tende, beleidigende, diffamierende Hass-Mails schickte, bis ich ihn ein fach mal anrief ... Wir kämpften mit der kürzesten Heftproduktion aller Zeiten, Schreibblockaden, urlaubsbedingt abgetauchten Gesprächspart nern, spät kommenden Rezensionsexemplaren und der parallel lau fenden Vorbereitungen für den Kommunikationskongress. All das war Teil unserer ganz persönlichen Heldenreise, auf die wir uns alle paar Wochen wieder freuen. Und Sie so? Ich mag gutes Pathos. Darum wünsche ich Ihnen heute statt der sonst üblichen Abschlussformel: Seien Sie selbst eine Inspiration. Werden Sie Teil von (einer) Geschichte, von Etwas, das größer ist als Sie. Gehen Sie da raus und werden Sie zu Sternenstaub. _ Ihre Hilkka Zebothsen Chefredakteurin
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Neu: Offen für alle Mitarbeiter von Medien Unternehmen! Jetzt betrieblich vorsorgen: Hohe Rendite Berufsunfähigkeitsschutz ohne Gesundheitsprüfung möglich
Mehr Rente für die Medienbranche
3
06 20 15
06 Agenda
26
03 Editorial 06 Kommentar und sprecherspitze 08 Sprechender Schreibtisch Carlos Zamorano von RTL2
Es war einmal ... Märchenerzähler Caspar von Loeper über die Zutaten für eine gute Geschichte – und welche Unternehmen lieber nicht erzählen sollten.
10 Neue Serie So steht es um die Profession Pressesprecher 12 Studie Das Spannungsfeld zwischen Medien und PR 16 RCKT Der Agenturableger von Rocket Internet hat losgelegt. Mit Erfolg? 22 Titel: Storytelling 23 Essay Wenn dem Content Inhalt fehlt 26 Verhext Was Kommunikatoren von einem Märchenerzähler lernen können 32 Doppelinterview Mit Corporate Argumentation Krisen bestehen 36 Strategie Darum ist Storytelling erst das Ende eines langen Prozesses 40 Tipps Die wichtigsten Formate für Online-Geschichten
32
44 Sanifair Der neue Image-Spot: Top oder Flop? Eine Analyse
Corporate Argumentation
48 Position Was macht eigentlich ein Corporate Story Architect?
Happy End gesucht? Diese Männer können jede Geschichte drehen. Und glauben fest daran: Immer die richtige Erklärung zu finden, kann man lernen.
4 INHALT
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52 Praxis 52 Der Fall Strunden Der Streit mit dem MDR um ein TV-Statement 56 Na, Logo Die Arbeit am neuen Zeichensystem der Stadt Saarbrücken 60 Interne Kommunikation Federal- Mogul macht in zwei S tunden aus Mitarbeitern Redakteure 62 Bücher Lesetipps 64 Recht Doʹs and donʹts bei Undercover-Recherchen
44
66 Karriere
Das gar nicht stille Örtchen Der Toilettenbetreiber Sanifair erntete mit seinem neuen Image-Spot vor allem eines: Häme. Zu Unrecht, findet der Autor unserer Analyse.
66 Aufstieg, aber richtig Unfallfrei vom Kollegen zum Chef 70 Fragebogen Julia Rasche, AstraZeneca 72 Wechsel 74 Sprecherkarte 75 Daten Impressum, Abo, Credits 76 Verband 76 Inhalt und Informationen zur Mitgliederversammlung 77 Kompetenzprofil Präsident Jörg Schillinger über die Zukunft der Sprecher 78 Goldener Apfel Die Shortlist zur „Pressestelle des Jahres“ 79 Hautnah Der BdP-Fragebogen 80 Willkommen Neumitglieder
56
82 Was kommt Künftige BdP-Veranstaltungen 84 Was war Vergangene BdP-Veranstaltungen
Punkt, Punkt, Komma, Strich?
78 Kein Kommentar
Saarbrücken hat ein neues Logo. Der Weg dort hin führte über steile Berge und einen reißenden Fluss. Ein Kreativer hinter dem Change Branding berichtet von der spannenden Reise.
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INHALT 5
Profession Pressesprecher 2015 Karrierewege, Positionen und Gehälter der Branche im aktuellen Berufsfeldmonitor Text: Günter Bentele, René Seidenglanz
Pressesprecher sind 2015 durchschnittlich 42 Jahre alt, seit zwölf Jahren im Bereich PR tätig, davon seit sechs Jahren auf der jetzigen Stelle. Sie sind vorwiegend weiblich (57 Prozent) und arbeiten in einem größeren Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten. „Die“ Pressesprecher verdienen im Schnitt etwa 80.000 Euro brutto im Jahr („Sie“ allerdings über 20.000 Euro weniger!). Fast alle sind sie hochzufrieden mit dem, was sie beruflich tun. Und vor allem: Sie sind keine reinen Pressesprecher und Pressesprecherinnen mehr, sondern Kommunikationsmanager, die eine Vielzahl von Aufgaben im Management von Informations- und Kommunikationsprozessen zwischen ihren Organisationen und deren Zielgruppen übernehmen – gegenüber Journalisten, Mitarbeitern, Investoren, Kunden, Politik und so weiter. Das Feld hat sich ausgeweitet und spezialisiert. Diese Kommunikationsmanager hat „Profession Pressesprecher 2015“ genauer unter die Lupe genommen. Seit inzwischen zehn Jahren vermisst die Studienreihe das Berufsfeld. In diesem Zeitraum hat sich in der PR-Branche einiges bewegt. Die Digitalisierung ist vorangeschritten und inzwischen zu einem Megatrend herangewachsen, ethische Herausforderungen haben zugenommen und die Wirtschaftskrise 2008/09 hat sich deutlich in Budgets und Gehältern niedergeschlagen. Zunächst aber wollen wir uns mit den deutschen PR-Experten selbst befassen, mit deren Ausbildung, Karrierewegen, Position und Gehältern sowie mit aktuellen Unterschieden zwischen PR-Frauen und -Männern.
Vom Begabungsberuf zur Hochschulausbildung: PR akademisiert sich
Noch vor zehn Jahren wurde in der Branche und sogar in den Verbänden Diskussionen geführt, ob PR ein Begabungsberuf sei, für den vor allem Kontaktfreude wichtig sei und sich notwendiges Spezialwissen auch by doing on the job erwerben ließe. Diese Zeiten sind definitiv vorbei. Eine Profession, die insgesamt ernst genommen werden möchte und die einen Beitrag zum Erfolg ihrer Organisation leisten will, braucht qualifizierten Nachwuchs.
10 AGENDA
Zumindest formal sind deutsche PR-Praktiker heute gut ausgebildet, 91 Prozent von ihnen haben einen Hochschulabschluss, darunter sind sieben Prozent Promovierte. In den vergangen zehn Jahren hat sich gerade der Anteil von PR-Managern mit einschlägigen, publizistischen Abschlüssen auf 32 Prozent verdoppelt. Verantwortlich dafür ist vor allem das stark gewachsene Angebot an einschlägigen PR-Programmen. 15 Prozent der Befragten haben heute ein PR-Studium oder einen PR-Schwerpunkt im Studium absolviert, 15 Prozent haben ein PR-Volontariat, 35 Prozent einschlägige PR-Weiterbildungen abgeschlossen. Andere Zugangswege in den Beruf werden seltener, insbesondere der Umstieg aus dem PR-spezifische Aus- und Weiterbildung Anteil der Befragten; Mehrfachnennungen möglich; n = 2.432
PR-Zusatzausbildung (Weiterbildung)
35 %
PR-Praktikum
25 %
Journalismus verliert an Bedeutung. Heute haben noch 28 Prozent der PR-Praktiker vor ihrer aktuellen Stelle im Mediensektor gearbeitet, 15 Prozent stammen aus dem Marketingbereich (Werbung, Verkaufsförderung, Vertrieb, et cetera), aber 33 Prozent waren schon immer in der PR. Seiteneinsteiger in die PR sind zwar auch 2015 noch typisch unter den Branchenvertretern, aber mit jeder neuen Generation nimmt ihre Zahl ab.
PR-Gehälter erholen sich erst 2015 von der Wirtschaftskrise
Das jährliche (Brutto-) Durchschnitts einkommen von PR-Praktikern beträgt aktuell 67.367 Euro, das ergibt etwa 5.600 Euro im Monat. Dieser Wert wird allerdings auch von sehr hohen Gehältern einzelner Top-Kommunikatoren geprägt. Die meisten Einkommen in der Branche, nämlich 42 Prozent, liegen aber in der Tat im Bereich zwischen 50.000 bis 75.000 Euro. Das ist erstmals wieder das Niveau, das kurz vor Beginn der Wirtschaftskrise 2008/09 schon einmal erreicht war. Zwischenzeitlich waren die Gehälter um bis zu zehn Prozent eingebrochen. Vor allem in der Wirtschaft sind die Einkommen der Kommunikationsexperten konjunkturabhängig. Allerdings wird dort auch am besten verdient. Das Durchschnittsgehalt eines PR-Managers in einem Unternehmen mit über 2.000 Mitarbeitern beträgt etwa 100.000 Euro im Jahr. In der Wirtschaft ist es heute auch mehrheitlich üblich, dass das Gehalt von PR-Praktikern
PR-Volontariat
15 % PR-Studium an der Hochschule
15 % PR-Schwerpunktfach oder PR-Seminare an Hochschule
14 %
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Jahreseinkommen (brutto) Anteil der Befragten mit dem angegebenen Einkommen; n = 1.998
29
%
2
42
12 15
unter 25.000 Euro 25.000 bis unter 50.000 Euro 50.000 bis unter 75.000 Euro 75.000 bis unter 100.000 Euro 100.000 bis unter 250.000 Euro 250.000 Euro und darüber
aus variablen, erfolgsabhängigen Komponenten besteht – bei 59 Prozent der Befragten ist dies der Fall. Im Vergleich der verschiedenen Branchen scheinen erfolgsabhängige Gehaltsmodelle besonders im Kredit- und Versicherungsgewerbe (76 Prozent) und in der chemischen Industrie (74 Prozent) verbreitet zu sein. In den Fällen, in denen variable Gehälter gezahlt werden, beträgt dieser Einkommensanteil 13 Prozent.
Der „kleine Unterschied“ zeigt sich in Position, Branche und Gehalt
Der Unterschied in den Einkommen von insgesamt etwa 20.000 Euro zwischen PR-Frauen und -Männern ist eines der auffälligsten Kennzeichen dafür, dass im Berufsfeld markante Geschlechterdifferenzen bestehen. Zudem hat sich diese Differenz in den vergangenen zehn Jahren so gut wie nicht verändert. Auch hier zeigt sich somit ein Phänomen, das gesamtgesellschaftlich zu beobachten ist. „One Million Dollar Penalty“ hat die amerikanische Forschung den Gehaltsunterschied zwischen PR-Frauen und -Männern in den 90er Jahren benannt, der sich am Ende eines Berufslebens auf etwa eine Million Dollar summiert. Frauen werden in der Branche allerdings nicht schlechter bezahlt, weil sie Frauen sind, gleiche Stellen werden in der Regel auch gleich entlohnt. Die Unterschiede liegen anderswo: Zunächst fällt auf, dass die männlichen Be-
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fragten im Durchschnitt vier bis fünf Jahre älter sind als die weiblichen. Gleichzeitig verfügen Männer im Schnitt über eine um drei Jahre höhere Berufserfahrung. Das hängt vor allem damit zusammen, dass der Anteil der Frauen in den jüngeren Jahrgängen und bei den Berufseinsteigern deutlich höher als der der Männer ist. In der Gruppe der unter 30-Jährigen sind 80 Prozent weiblich, hingegen sind zwei Drittel der über 50-Jährigen männlich. Das erklärt einen Teil der Gehaltsunterschiede und die Tatsache, dass Männer sehr viel häufiger Top-Positionen besetzen. Stellen, die mit sehr hoher Führungs- und Personalverantwortung verbunden sind, die in großen Unternehmen und in PR-Einheiten mit höchster hierarchischer Verortung arbeiten, werden sehr viel häufiger von Männern besetzt. Elf Prozent der in der Studie befragten Männer haben solche Top-Positionen inne, allerdings nur drei Prozent der Frauen. Demgegenüber arbeiten 20 Prozent der männlichen PR-Manager in eher statusniedrigen Positionen, allerdings 45 Prozent der weiblichen. Zudem werden Teilzeitmodelle vorwiegend von Frauen wahrgenommen. Solche Unterschiede werden sich voraussichtlich etwa in dem Maße verringern, wie die heute noch junge und überwiegend weibliche PR-Generation ebenfalls in die Führungsetagen vordringt. In einer früheren Umfrage haben wir allerdings auch andere Gründe identifiziert, die Frauen möglicherweise am beruflichen Aufstieg hindern. Familienplanung wurde von PR-Managern beiderlei Geschlechts dort am häufigsten als Hinderungsgrund genannt. Allerdings vermuteten gerade weibliche Befragte auch „Männerseilschaften“ (52 Prozent). Mögliche Gründe, die direkt auf eventuelle Unterschiede in sozialen Eigenschaften zurückzuführen wären – etwa eine unterschiedlich ausgeprägte Durchsetzungsstärke bei Männern und Frauen – spielten hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Alles in allem aber herrscht in der Branche große Zufriedenheit. 81 Prozent der Befragten zeigten sich mit ihrer beruflichen Tätigkeit zufrieden oder sehr zufrieden. Das Gehalt spielt hierfür im Übrigen nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist, dass sich ein Berufsfeldangehöriger akzeptiert und integriert fühlt, dass er das Gefühl hat, Kommunika- tionspolitik professionell und ganzheitlich umsetzen und so Einfluss auf die Organisationspolitik nehmen zu können. _ (wird fortgesetzt) In der nächsten Folge geht es um Selbstverständnis und ethische Herausforderungen der Branche 2015.
Die Studienreihe „Profession Presse sprecher“ entsteht in Kooperation von Bundesverband deutscher Pressesprecher (BdP), Quadriga Hochschule Berlin und Universität Leipzig. Seit 2005 werden regelmäßig die Strukturen des Felds in Deutschland, Karrierewege, Position, Gehälter und Einstellungen der PR-Praktiker im Rahmen einer Online-Befragung erhoben. 2015 haben insgesamt 2.432 Berufsangehörige teilgenommen. pressesprecher veröffentlicht die wichtigsten Ergebnisse in einer dreiteiligen Serie zwischen September und November 2015. Die vollständige Studie ist zum Preis von 19,90 Euro im Verlag Helios Media erschienen.
Prof. Dr. Günter Bentele ist emeritierter Hochschullehrer und war von 1994 bis 2014 der erste Lehrstuhlinhaber für Öffentlichkeitsarbeit/PR an einer deutschsprachigen Universität. Vorher fünf Jahre lang Professur für Kommunikationswissenschaft, Schwerpunkt Journalistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Bentele ist Vorsitzender des Deutschen Rats für Public Relation (DRPR) und Mitglied der Akademischen Leitung der „Akademischen Gesellschaft für Unternehmensführung und Kommunikation“. Dr. René Seidenglanz ist Vizepräsident der Quadriga Hochschule Berlin. Zuvor war er Studiendirektor der Deutschen Presseakademie, lehrte und arbeite an der Universität Leipzig im Bereich PR/ Kommunikationsmanagement. Als Kommunikationsberater betreute er über lange Jahre große und mittelständische Unternehmen, Institutionen und Verbände.
AGENDA 11
PR-Metamorphosen von: Anne Hünninghaus
AM ANFANG WAR DIE BOTSCHAFT NÜCHTERN PER BRIEF UND FAX UND TELEFON BEKANNTE SICH DER SPRECHER SCHÜCHTERN ZUM UNTERNEHMEN – DEM PHANTOM. ER LIESS SEINE GEDANKEN KREISEN UM DAS FANTASTISCHE PRODUKT IMMER NACHDRÜCKLICHER SEIN PREISEN UND TROTZDEM WURDE WEGGEGUCKT. BESANN SICH DANN AUF ALTE ZEITEN WANN HATTE ER GEBANNT GELAUSCHT? VON MÄRCHEN LIESS ER SICH BEGLEITEN GESCHICHTEN HATTEN IHN BERAUSCHT! ZWAR BRAUCHT’S NICHT IMMER FABELWESEN DOCH AN STORYS WILL ER WEBEN OB IM NEWSROOM, OB AM TRESEN SO HAUCHT ER EIN DER MARKE LEBEN. ERZÄHLT WIE NACHTS AM LAGERFEUER NICHT DAS PRODUKT IM HELLEN SCHEIN DAS WAS IST NIEMALS LIEB UND TEUER NUR DAS WER KANN ES UNS SEIN. SEIN PR-LER-HERZ SCHLÄGT IMMER SCHNELLER MIT FREIEM GEIST UND FANTASIE WIRD ENDLICH ER ZUM STORYTELLER
UND WAS DANN PASSIERT, IST REINE MAGIE…
Storytelling also. Nächster „heißer Scheiß“ oder einfach nur ein fancy Name für ein uraltes Erzählhandwerk? Hinter allem steckt die Erkenntnis, dass Kundeninformationen vor allem dann eine hohe Relevanz haben, wenn sie in emotionale Geschichten verpackt sind. Doch was genau macht gutes Storytelling aus – und was ist es gerade nicht? Eine Annäherung Essay: Hilkka Zebothsen
„MENSCHEN ERINNERN SICH 22-MAL BESSER AN GESCHICHTEN ALS AN FAKTEN.“ Jerome Brunner, Psychologe
MIT G E S C H IC H T E N BEWEGEN
ES WAR EINMAL
(hier Ihren Helden einfügen)
JEDEN TAG
(hier Mangel einfügen)
DOCH EINES TAGES
(hier sein konkretes Problem einfügen)
DARUM
(hier vergeblichen Lösungsversuch einfügen)
UND DESHALB BIS ENDLICH
D
as ist laut den Autoren von fastcocreate.com die vierte der insgesamt 22 Regeln des Storytellings von Pixar. In dem Animationsstudio entstanden Filmklassiker wie „Cars“, „Toy Story“ oder „Findet Nemo“, sie sind preisgekrönt und unfassbar erfolgreich. Die Zeichner und Dramaturgen erschufen weltbekannte Helden und hielten sich stets nicht lange mit Smalltalk auf: Sie wählten lieber gleich die richtig großen Themen für ihre Botschaften: Freundschaft, Elternliebe, Mut, Erwachsenwerden, Gemeinschaft – und immer wieder das Mantra „Sei du selbst!“. Mit Hilfe des oben genannten Prinzips können auch Unternehmen ihre Geschich-
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(hier den zweiten Versuch einfügen) (hier die gewünschte Erkenntnis Ihres Kunden einfügen)
ten erzählen. Sie müssen es sogar. Denn platte Werbebotschaften werden bei einer immer geringeren Aufmerksamkeitsspanne und einer durchschnittlichen Wegzapp-Zeit zum Beispiel bei Youtube von gerade einmal drei Sekunden immer seltener auch nur wahrgenommen. „Marken-Storytelling zielt auf verschiedene Hirnfunktionen, die verantwortlich sind für das Verstehen und die Wahrnehmung“, sagt Christie Barakat, Assistenzprofessorin für Medien und Psychologie an der Uni Florenz. „Unser Gehirn verarbeitet Bilder 60mal schneller als Texte. 92 Prozent aller Kunden wollen, dass Marken Geschichten in ihrer Werbung erzählen.“ Und Botschaften, die sich Leser oder Zu-
schauer selbst erschließen, haben einen doppelt so hohen Wert wie oktroyierte. Die obigen magischen sechs Sätze passen für Prinzessinnen und Ritter genauso wie für Brotaufstrich und Toilettenpapier, Strümpfe oder Luxuslimousinen. Nur wie bekommt man das Blockbuster-Prinzip in einen PR-tauglichen Dreißig-Sekünder gepresst? Wie integriert man die Archetypen Held, Antagonist, Herold, Mentor, Schwellenhüter, Verbündeter, Gestaltwandler, Trickster und Höheres Selbst in die acht beziehungsweise zwölf Schritte der Heldenreise? Durch Abstraktion.
TITEL 23
„WER DAS „ERZÄHLEN VON P R-GESCHICHTEN“ ZUM BERUF HAT, KANN SICH NUR S ELTEN AUSSUCHEN, WORÜBER ER ODER SIE ERZÄHLT. DENN MEIST GEBEN STRATEGIEN, P RODUKTMANAGER ODER KUNDEN DIE THEMEN VOR – UND DIE KÖNNEN SCHON MAL ÄUSSERST SPERRIG SEIN.“ Florian Heinrichs, Account D irector bei Lewis PR Bevor Sie überlegen, welche Geschichte Sie erzählen wollen, brauchen Sie ein Ziel. Schreiben Sie es auf einen Post-it, kleben Sie ihn auf Augenhöhe an die Wand neben Ihrem Schreibtisch. Diese wenigen Zahlen oder Worte wirken fortan wie ein Anker, wie ein Leuchtturm in der Nacht und werden Ihnen den Weg weisen und verhindern, dass Sie sich in der scheinbar unendlichen Wüste im zweiten Akt verlaufen. Auch in meinen Geschichten schreibe ich – als einen Akt der Selbstverteidigung – stets den letzten Satz zuerst. Was also ist Ihr Begehr? Mehr Umsatz? Mehr Klicks? Eine höhere Verweildauer auf Ihrer Homepage, größere Auflage Ihres Mitarbeitermagazins, jede Menge Clippings rund um Ihr neues Produkt, qualitativ höherwertige Kundenkontakte auf der Messe, neue Blogger-Kooperationen, passgenauere Mitarbeiter im Assessment Center, mehr Touchpoints, weitere Spender? „Start with WHY“, rät Petra Sammer, Autorin und Chief Creative Officer bei Ketchum Pleon. Fast jeder ihrer Kunden könne die Frage nach dem WAS, also nach dem eigenen Produkt oder der Dienstleistung, sofort beantworten. Nur wenige haben eine Antwort auf die Frage nach dem WIE: Was sind unsere Ar-
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beitsweisen oder Werte? Und kaum einer ihrer Kunden könne die Frage nach dem WARUM auf Anhieb beantworten: Wieso existiert eigentlich unsere Marke, was sind Vision, Passion, Anspruch und Weltanschauung dahinter? Bevor Sie nicht wissen, wohin die Reise gehen soll, ist es sinnlos, eine Geschichte dazu erschaffen zu wollen.
„DAS GANZE LEBEN IST EINE GESCHICHTE.“ Madeleine L`Engle, Autorin Natürlich werden Sie keine Märchen erzählen. Und Ihr Produkt oder Ihre Marke wird in ihrem Storytelling-Projekt nicht vorkommen, oder maximal nur kurz ganz am Ende. Schließlich machen Sie keine Werbung. 106.404.284 Menschen sahen bis zum Redaktionsschluss den epischen Spot „First Kiss“ von Tatia Pllieva bei Youtube. Ihre Idee: „Wir fragten zwanzig Fremde, sich zum ersten Mal zu küssen.“ Was folgt, sind hübsche Menschen, die sich zu guter Musik mal vorsichtig, mal leidenschaftlich, mal ungelenk und unsexy, mal wild romantisch küssen. Sieht aus wie Filmkunst in Schwarzweiß und wirkt Dank des Kunstgriffs über kurze Dialoge mit den Machern hinter der Kamera authentisch. Nur der aufmerksame Zuschauer bemerkt im Abspann den Hinweis auf einen Onlineshop für Frauenmode und Accessoires. En passant erleben Zuschauer in 3:28 Minuten einen emotional Schleuderwaschgang, sind neugierig, voyeuristisch, angemacht, angeekelt, irritiert, amüsiert, aber auf jeden Fall berührt. Und finden vielleicht heraus, dass sie ebenso viel Leidenschaft für Menschen haben wie für Mode. Mission geglückt. Gute Storyteller geben den Massen, was sie wollen. Die archaischen Bedürfnisse und daraus abgeleiteten Motivationen aller Menschen, wie sie der US-Psychologe Abraham Maslow einst beschrieb, lassen sich hierfür leicht nutzen: Dazu gehören neben physiologischen, sicherheitsrelevanten und sozialen Bedürfnissen auch die nach Individuali-
tät und Selbstverwirklichung. Zu jedem dieser Wünsche können Sie Geschichten rund um Ihre Marke entwickeln wie Autoren Stoffe nach den Sieben Todsünden oder einem Zeigen auf eine beliebigen Seite im Wörterbuch mit geschlossenen Augen.
„JEDER KANN EIN S TORYTELLER SEIN. WENN SIE EIN U NTERNEHMEN ODER GESCHÄFT BETREIBEN, IST DIE WAHRSCHEINLICHKEIT GROSS, DASS SIE BEREITS EINER SIND.“ Susanne Gebauer, G ründerin der Internetplattform e xploreB2B „Ein Produkt kann kein Held sein“, sagt Corporate Story Architect Tobias Dennehy (siehe Interview auf Seite 48). Also lassen Storyteller es doppelt menscheln: Indem sie eine Figur finden, die sie stellvertretend für den Zuschauer auf eine Heldenreise schicken, an deren Ende er ihre Botschaft erkennt, ohne dass sie ihm ungefragt vorgesetzt wird. Sie sagen nicht „Meine Marke ist toll!“, sondern erzählen ihre Geschichte so, dass das der Zuschauer selbst herausfinden kann, weil er sie als besonders innovativ, bereichernd, lustig, sinnvoll, aufregend oder wasauchimmer erlebt. Doch wessen Geschichte wollen Sie erzählen? Wenn es die des Unternehmens sein soll, schicken Sie den CEO ins Rennen.
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Claus Hipp steht mit seinem Namen für seine Babyprodukte und tritt neuerdings passend zum Generationenwechsel an der Unternehmensspitze gemeinsam mit seinem Sohn auf. Ein Mann, der den Zuschauern seit vielen Jahren bekannt ist und dem wir beim Altern zusehen, während seine Botschaft stets dieselbe bleibt – seine Themen sind Vertrauen und Zuverlässigkeit. Oder soll es lieber um die Marke gehen? Dann lässt beispielsweise Swiss Airlines in der Kampagne „Attentive eyes“ den Lichtkünstler Gerry Hofstetter europaweit Augen auf weltbekannte Gebäude projizieren. Schwer zu erraten: Es ging um Achtsamkeit als Markenkern für eine Fluglinie. Tausende Menschen teilten die poetischen Bilder, in die sich nur ab und zu das Logo mischte. Wollen Sie lieber Geschichten über ein Produkt erzählen, machen Sie es wie Kuka: Der Roboterhersteller ließ in einer Kampagne für den asiatischen B2B-Markt Tischtennis-Meister Timo Boll gegen eine Arbeitsmaschine an der Platte antreten. Im Film „The Duel“ (6.856.059 Aufrufe bei Youtube) gewinnt der Mensch in spektakulären Bildern. Inzwischen gibt es den kinoreifen Nachfolger „The Revenge“ (485.856 Clip-Aufrufe in fünf Monaten), dieses Mal treten Boll und der Roboter vor hauchzarten Gläsern an der Wasserharfe an. Mit Humor und einem Augenzwinkern geht es um Präzision und ein friedliches Miteinander von Mensch und Maschine.
„DIE KLASSISCHE PR-ARBEIT IST IMMER NOCH ZU WENIG NARRATIV.“ Florian Krüger, P ressesprecher bei Verivox und Autor Die Macher hinter dem Start-up Einhorn verschickten die Einladung zu ihrer Pressekonferenz in quietschbunten Umschlägen, das Format ungewöhnlich, die Briefmarke mit Katzenbabys, der Stempel von Greenpeace. Bei der Pressekonferenz für ihre Crowdfunding-Kampagne trugen die Gründer passende Masken, Firmenhund Wolfie hatte seinen eigenen Platz auf dem Podium. Philip Siefer und Waldemar Zeiler machten mit ihrer Liebe für jedes noch so kleine Detail auf sich aufmerksam – und
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auf ihre Marke für Öko-Kondome. Sie erzählten in einer Crowdfunding-Kampagne mit authentischen Bildern und launigen Texten im Netz dokumentarische Geschichten über ihren Hersteller in Asien und reagierten auf die Abmahnung durch einen Konkurrenten mit einer Demo für „das Recht auf multiple Orgasmen“ auf dem Pariser Platz in Berlin. Die Helden der typischen Underdog-Geschichte mischen die Etablierten der Branche auf und tausende Follower nehmen online Anteil an diesem humorig geführten epischen Kampf um Lust und Nachhaltigkeit. Die Wahl der Kanäle ist beim Storytelling niemals Zufall: Entscheiden Sie sich, ob Ihre Geschichte traditionell gespielt wird, also vom Autor vorgegeben und nur auf einem Kanal wie Print, Facebook oder Twitter. Oder darf´s crossmedial sein? Dann kommen weitere Kanäle hinzu wie bei einem „Buch zum Film“. Erzählen Sie Ihre Geschichte transmedial, erschaffen Sie ein ganzes Universum, zum Beispiel mit Fortsetzungen oder passenden Spielen. Die Mutigen unter Ihnen erzählen die Geschichte schließlich liquide und geben die Kontrolle ab: Der Rezipient erzählt die Story selbst weiter, es folgen zum Beispiel Content-Wettbewerbe oder Rollenspiele im Netz.
„DAMIT S TORYTELLING WIRKT, DARF ES SICH NICHT WIE WERBUNG A NFÜHLEN. ES IST GIFT FÜR DIE GESCHICHTE, WENN SIE DEN EINDRUCK VERMITTELT, IHRE ZUHÖRER BEEINFLUSSEN ZU WOLLEN. DAS M INDERT SOWOHL IHRE G LAUBWÜRDIGKEIT ALS AUCH DIE GEFÜHLTE R ELEVANZ.“ Julia Grimm, B loggerin
Beim Storytelling geht es vor allem um anschlussfähige Geschichten: Wir wollen, dass unsere Zuschauer etwas tun und vom Konsumieren ins Handeln kommen. Dass das Thema unserer Geschichte ins echte Leben eintaucht und sie verändert. Wenn Interessierte unsere Geschichte liken oder teilen, ist das ein guter Anfang. Schön auch, wenn sie unser Produkt kaufen. Noch besser: Sie werden Teil der Geschichte. Indem sie sie weitererzählen, ändern, uminterpretieren und so zu ihrer eigenen machen. Das ist der Weg vom Storytelling zum Storydoing. Unterscheiden wir sonst zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Geschichten, gehen Meta Storys darüber hinaus: Sie werden über Mitmachaktionen erzählt. Red Bull hat jede Menge Action Events, die „Flügel verleihen“ und egal, ob sich Wagemutige von Klippen oder mit selbstgemachten Vehikeln in Wasserbecken stürzen – die Helden haben abertausende Zuschauer, die ihrerseits posten und twittern. Ein noch mutigeres Beispiel ist die Kampagne „Curators of Sweden“: Statt mit lachenden blonden Menschen vor idyllischen roten Häuschen in den Schären Werbung für ihr Land zu machen, gab das Schwedische Außenministerium den offiziellen Twitter- Account @Sweden an das Volk zurück: Wochenweise wurden Einwohner zur „Stimme des Landes“ und durften – solange es legal blieb – twittern, was sie wollten. In Schweden zwitschert übrigens etwa jeder fünfte (!) Einwohner. Die „Stimmen“ berichteten als Kuratoren aus ihrem Leben jenseits von Köttbullar und Elchen, die meisten von ihnen zu den Themen Natur, Kultur und Gesellschaft. Die Initiatoren wollten nichts zensieren und hielten selbst dann durch, als eine Nutzerin besonders bizarre und judenfeindliche – aber eben nicht illegale – Statements absonderte. Am Ende ernteten die Macher fürs Durchhalten mehr Lob als Häme für einzelne schlimme Tweets, das Projekt ist inzwischen preisgekrönt. „Wir wollten nicht darüber sprechen, dass Schweden offen, tolerant und transparent ist“, erklärt Initiatorin Frida Roberts in einem Beitrag auf absatzwirtschaft.de, „wir wollten es beweisen.“ Apropos Beweis – ein simpler Test ist die beste Erfolgskontrolle für Ihr Storytelling: Wenn Sie in Gedanken „Ende“ in Ihr Konzept tippen, stellen Sie sich eine einzige Frage (und seien Sie bloß ehrlich!): Könnte im e chten oder gedachten Abspann meiner Geschichte auch das Logo der Konkurrenz erscheinen? Wenn ja – fangen Sie von vorne an. _
TITEL 25
Corporate Argumentation Interview: Hilkka Zebothsen Fotos: Laurin Schmid
HA P P Y E N D Z UM SE L B E R M AC H E N
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ommunikation ist Argumentation. Mit dem richtigen Handwerkszeug können Unternehmen starke Entgegnungen aufbauen, unerwünschte wiederlegen und die eigene Reputation strategisch ausbauen. Marcus Ewald und Torsten Rössing gehen die Argumente nie aus. Warnen Sie mich bitte vor: Wer von uns dreien wird dieses Gespräch in Wahrheit leiten – Sie oder ich? (Drei Sekunden Stille, Rössing lacht) Ewald: Sie. Wie würden Sie einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen? Ewald: Ich glaube, wir würden feststellen, dass der Eskimo keinen Kühlschrank braucht. … und den Plan sausen lassen oder ein neues Geschäftsfeld aufmachen? Ewald: Wir verkaufen niemandem etwas ohne einen Bedarf. Wenn der Eskimo wissen möchte, wie man in der Arktis ein Kühlschrankgeschäft aufmacht, könnten wir zwar helfen. Aber vermutlich würden wir ihm abraten. Sie bringen Kunden also auch mal ab von ihren Plänen? Rössing: Ja, das kommt erstaunlich häufig vor. Wir bewahren Menschen davor, Ressourcen für Dinge zu verschwenden, die nicht funktionieren. Für uns ist der erste Schritt immer die Analyse, weil das Verstehen des Sachverhalts essenziell dafür ist, eine strategische Entscheidung zu fällen. Solange wir das Geschäft des
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Kunden nicht verstanden haben und plausibel formulieren können, bringt es aus unserer Sicht nichts, irgendwelche Maßnahmen abzuleiten. Funktioniert Corporate Argumentation (CA) für jede Branche und jedes Produkt vom Gummibärchen bis zum Atomkraftwerk? Ewald: Es geht grundsätzlich um Themen, die komplex sind und schwierig zu verargumentieren scheinen. Um Branchen, in denen das Umfeld viele Stakeholder hat und der Geschäftserfolg davon abhängt. Aber es gibt einige Branchen, bei denen das häufiger der Fall ist … Nämlich welche? Ewald: Aktuell interessant ist das Thema Ernährung, weil es viele Menschen bewegt, und da wird auch noch mindestens die nächsten zehn Jahre mit Herzblut debattiert werden. Gesundheit ist ein anderes großes Thema, von Kliniken und Praxen über Pflege bis zu Abrechnungsformen oder Arzneimittelherstellern. Auch die Energiewende ist ein krasses Thema und bewegt jeden Tag Millionen Menschen, ohne dass die sich alle in dem hochkomplexen Thema auskennen. Wie erklären Sie die in einem Satz? Ewald: Die Energiewende ist ein politischer Prozess, an dessen Ende wir erneuerbare Energien als primäre Quellen nutzen und dabei keine Atomenergie und möglichst keine fossilen Brennstoffe einsetzen wollen. Ganz ohne geht es zwar nicht, denn um die Fluktuation im Energienetz auffangen zu können, braucht man
zum Beispiel Erdgas. Und schwupps haben Sie einen Ihrer Kunden ins Gespräch gebracht … Ewald (lacht): Ja, und es waren zwei Sätze statt einem zur Erklärung der Energiewende. War das schon gelebte Corporate Argumentation? Rössing: Die Grundidee ist dieselbe wie bei einer Corporate Identity und CSR-Maßnahmen. Das Unternehmen ist sich einer Identität bewusst und möchte damit nach außen treten. Bei der CA geht es darum, wie man mit einzelnen Stakeholdern in den Dialog oder eine Debatte tritt. Das setzt voraus, dass ich verstehe, wie diese Stakeholder denken und argumentieren. Die Analyse ist der erste Schritt, der von Unternehmen oft noch so ungenau gemacht wird, dass es zu Reibungen kommt. Ewald: Und die Corporate Argumentation verinnerlicht diese Debatten für ein Unternehmen – ob die nun gesellschaftlich sind oder nur in unseren Köpfen, wo wir ja auch zu Entscheidungen gelangen. Es geht um Empathie und darum, durch einen Perspektivwechsel zu verstehen, warum die Menschen in unserem Dialog denken, wie sie denken. Und daraus Schlüsse zu ziehen. Kann man theoretisch jedes Argument umdrehen? Ewald: Wenn ich Ihnen etwas erzähle, aber Sie sind anderer Meinung, ist das etwas, das sie in ihrem Kopf abgewogen haben. Manchmal ist das unverrückbar, weil Sie bestimmte Erfahrungen gemacht und eine Entscheidung im Le-
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ben getroffen haben. Das kann ich schwer drehen. Aber ich kann versuchen, Ihnen darzulegen, dass es vernünftige Gründe gibt, die Sache anders zu sehen. Das kann man sehr strukturiert tun. Und dabei helfen Empathie und Perspektivwechsel? Ewald: Wir glauben, dass jedes Unternehmen die Berechtigung hat, das zu tun, was es tut. Die meisten Menschen wollen ein gutes Leben haben und gemocht werden, und so verhält es sich mit allen Stakeholdern, die das Unternehmen umgeben. Wichtig ist für die Organisation, zu erkennen, dass sie selbst auch nur einer von vielen Stakeholdern für denjenigen ist, mit dem sie sich unterhält. Es geht darum, demütig und empathisch zu sein und Gemeinsamkeiten zu finden. Rössing: Und manchmal kommen Sie an einen Punkt, an dem die Ziele und gemeinsamen Werte durch eine andere Policy erreicht werden. Eine Debatte hat nicht nur etwas Destruktives. Auch durch einen Konflikt oder eine harte Auseinandersetzung kann eine neue Lösung entstehen. Es ist sinnvoll, sich an einzelnen Themen zu reiben, als Unternehmen in starken Widerspruch zu gehen, daraus Erkenntnisse für die eigene Geschäftspolitik zu ziehen, um als relevanter Akteur in der Gesellschaft zu agieren.
Haben Sie ein Beispiel für einen Worst Case, der mit Coporate Argumentation hätte gerettet werden könnte? Ewald: Wir wissen, es ist heikel, aber der Fall Edathy macht es vielleicht anschaulich: Edathy war nach dem Bekanntwerden seiner pädophilen Neigung politisch nicht zu retten, aber menschlich schon. Er hat andere über sich reden lassen – darunter keine Fürsprecher. Dabei gibt es ja Organisationen, die Pädophilen helfen. Die Schlussregel, Pädophile schädigen Kinder und schaffen lebenslange Traumata, wird durch zahlreiche Erfahrungen gestützt. Er hätte es schaffen können, Einschränkungen zu kommunizieren: Dass ihm seine Neigung bewusst war, er sie sich nicht ausgesucht und versucht hat, ohne Kindern zu schaden, mit ihr zu leben. Der Sturm wäre trotzdem losgebrochen, aber vermutlich auch die Diskussion darüber, wie wir mit unterschiedlichen Tätern und Opfern umgehen wollen und müssen. In Amerika funktioniert öffentliche Reue. Hätte Edathy in Deutschland bleiben können, wenn er sich entschuldigt und Hilfe gesucht hätte? Rössing: Vielleicht. Therapiemöglichkeiten, wie sie zum Beispiel an der Charité
angeboten werden, gehen in diese Richtung: Wir können die Neigung selbst bei den Betroffenen nicht ändern. Aber wir können ihnen Mechanismen beibringen, die sie davon abhalten, Kindern Schaden zuzufügen, wenn sie diese Neigung nicht ausleben. Die differenzierte Auseinandersetzung „Pädophile Neigung versus ausgelebter Pädophilie“ fand nie statt. Edathy ist heute eine persona non grata, weil er mit Kinderschändern über einen Kamm geschoren wird. Dabei hätte die Diskussion über ihn ein Fenster öffnen und eine gesellschaftliche Debatte anstoßen können, an deren Ende Reue glaubwürdig hätte werden können. Ewald: Er hat uns allen gestattet, die rein juristische Schlussregel zu betrachten: Schuldig oder nicht? Das war ein Fehler. Es fehlte, das, was wir als Verbrechen empfinden, als Krankheit zu interpretieren, die behandelbar ist und die Diskussion vom argumentativen Gesetzessystem ins Gesundheitssystem zu verlagern. Das hätte empathische Reaktionen hervorgerufen und sicher auch Medien für einen Dialog gewonnen. Sie schlagen also das Prinzip Hoeneß vor: Vom Steuerhinterzieher zum Spielsüchtigen? Ewald: Das Prinzip ist ähnlich, ja.
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Wonach sollte ein Kommunikationschef seine Influencer kategorisieren? Ewald: Nach ihrer Betroffenheit. Wir haben gerade einen Kunden im Bereich E&P, der normalerweise mit Pressearbeit und Infoveranstaltungen arbeitet. Für ihn prüfen wir im Bereich Fracking, wer wirklich davon betroffen ist. Wenn ein Unternehmen als menschlich und authentisch wahrgenommen werden will, muss man mit den Leuten in der Reihenfolge sprechen, in der sie betroffen sind, damit sie noch mitbestimmen können. Üblicherweise wird ja immer erst dann kommuniziert, wenn alles schon entschieden ist. Rössing: Eine weitere Folge ist die Selektion. Sie finden heraus, wer relevant ist – und wer sich relevant macht, es in Wahrheit aber vielleicht gar nicht ist. Man spricht zuerst mit demjenigen, der eine wirkliche Macht hat und eine messbare Abweichung zur eigenen Position. Es ist nicht sinnvoll, sich mit jemandem auseinanderzusetzen, der fanatisch ist. Ein Unternehmen sollte sich lieber mit denen auseinandersetzen, die zwar anderer Meinung sind,
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schränkt ein
Einschränkung: Es ist nicht der freie Wille des Täters
Entkräftigung: Es gibt Graustufen in der Schuld
1. Stütze (Urteil): Die Pornographie war nur indirekt missbräuchlich. Ein Urteil bestätigt die Legalität
2. Stütze (Betroffene): Pädophilie ist eine Krankheit, mit der man leben lernen muss
schränkt ein
Schluss: Er ist als Mensch Teil der Gesellschaft, dem geholfen werden muss
Einschränkung: Selbst indirekte Pornographie schadet Kindern
widerlegt
stützt
stützt
Schlussregel: Pädophilie ist eine Krankheit Edathy ging verantwortungsvoll mit der Krankheit um
stützt
Das Prinzip der Corporate Argumentation angewandt auf das Beispiel Edathy: Oben die Darstellung des tatsächlichen Hergangs. Unten ein mögliches Szenario mit veränderter Schlussregel, anderen Stützargumenten und am Ende mit anderen Konsequenzen in der Wahrnehmung der Person. Die Methode funktioniert für Menschen und Marken gleichermaßen.
Schluss: Er muss ausgegrenzt werden, um unsere K inder zu schützen
widerlegt
stützt
1. Stütze (Erfahrung): So sind wir immer mit Kinderschändern umgegangen
2. Stütze (Gefühl): Das Verbrechen ist so schlimm, dass wir keine Grautöne zulassen dürfen
Information: Gegen Sebastian Edathy wird wegen Kinderpornographie ermittelt
Welche Frage stellen Sie zuerst? Ewald: Von wem ist dieses Unternehmen abhängig? Von Banken, der Politik, Kunden – und in welcher Reihenfolge? Und was ist der Grund, warum wir kommen sollen? Dann schauen wir, auf Basis welcher Informationen die Stakeholder ihre Schlüsse ziehen. Finden dann ihre Schlussregel und prüfen, ob die sozial, rechtlich, politisch oder sonst wie motiviert ist. Was unterstützt das – Erfahrungen oder inhärente Glaubenssysteme, Meinungen von Freunden? Was könnte die Schlussregel einschränken und was kann sie widerlegen? Rössing: Das ist wichtig, da ein und dieselbe Information für verschiedene Stakeholder völlig unterschiedliche Dinge bedeuten kann: Ein angekündigter Stellenabbau löst bei einem Mitarbeiter etwas anderes aus als bei einem Aktionär, einem Betriebsrat oder Lokalpolitiker. Ewald: Der Politiker an der Macht fürchtet vermutlich um seine Position, aber für den aus der Opposition ist der Stellenabbau vielleicht eine willkommene Information. Also selbst in der gleichen Sphäre wirkt die Information unterschiedlich.
Schlussregel: Kindesmissbrauch ist schlimmer als Mord, die Gesellschaft muss so hart wie möglich reagieren
stützt
Information: Gegen Sebastian Edathy wird wegen Kinderporno graphie ermittelt
aber ihre Werte und Bedürfnisse durch andere Maßnahmen erfüllt bekommen können. Das bekomme ich nur heraus durch gezielte Analysen bis hinunter auf die einzelne Person. Arbeiten Sie da mit den bekannten archetypischen Grundbedürfnissen aller Menschen? Ewald: Wir arbeiten frei nach Niklas Luhmann: Was ist das Kriterium, nach dem jemand urteilt? Eine Unternehmensverlagerung werden viele Mitarbeiter nicht schön finden, weil sie den Wohnort wechseln müssen. Sie denken in Kategorien wie Familie, Freunde, Beständigkeit. Das kann man nicht schönreden: Wenn man umzieht, müssen sich freundschaftliche Beziehungen zwangsläufig ändern. Man kann allerdings die Schlussregel verändern, um die Meinungsbildung nicht entlang der sozialen Bindungen, sondern entlang der Wirtschaftlichkeit zu gestalten. Am neuen Ort ist die Miete vielleicht billiger und der Umzug ist gut für das Unternehmen, von dem du ein Teil bist. Und diese neue Schlussregel kann man relevanter machen als die ursprüngliche. Das ist immer an Grundbedürfnisse gekoppelt.
Entkräftigung: Pädophilie ist keine Krankheit, sondern eine Entscheidung
3. Stütze (Ärzte): Charité hat Programm „kein Täter werden“, um Pädophilen zu helfen
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Was passiert, wenn der Konflikt nicht mehr zwischen zwei Menschen am selben Tisch ausgetragen wird, sondern unkontrolliert im Netz? Rössing: Auch im Netz ist der Konflikt kontrollierbar. Früher gingen wir von der „Öffentlichkeit“ immer als einer grauen Masse aus, die wir nicht richtig erfassen konnten und hatten nur einzelne Mittler wie die klassischen Medien zum Austausch. Die brauchen wir dazu nicht mehr. Heute ist es einfacher, Influencer zu identifizieren, direkt anzuschreiben und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Ich kann in kurzer Zeit erkennen, wer der Vorsitzende einer Bürger initiative ist und wie er sich in der Vergangenheit geäußert hat. Vielleicht hat er ein Blog und öffentliche Profile im Netz, auf denen er freiwillig Informationen über sich bereitstellt. Ist es dem Stakeholder nicht unheimlich, wenn Sie ein Dossier über ihn haben? Ewald: Wir sprechen mit Stakeholdern, aber sagen ihnen nicht, was wir vor dem Gespräch alles gemacht haben. Was wissen Sie über mich? Ewald: Nichts. (lacht) Sie haben uns dazu keinen Auftrag gegeben. Rössing: Bei jeder Verhandlung informieren Sie sich ja auch genau über den anderen, das gibt es ja nicht erst seit heute. Informationen bedeuten immer einen Vorsprung, das war schon in der Steinzeit so. Krisen halten sich an keine Monatsplanung. Hocken Sie immer auf gepackten Koffern? Rössing: Ersatzhemd und Zahnbürste, Laptop, Smartphone, Ladekabel, Zweitakku – die ganze Technik muss mit, um überall sofort einsatzfähig zu sein. Im Krisenfall haben wir eine Rüstzeit von zwei Stunden, das wissen sowohl unser privates Umfeld als auch unsere anderen Kunden. Für die ist es okay, wenn wir mitten im Gespräch aufstehen und gehen, weil sie wissen, dass wir es für sie genauso täten. Wie fanden Sie das Kommunikationsmanagement von Carsten Spohr nach dem Germanwings-Absturz? Ewald: Sehr gut. Wir haben die Pressekonferenz im Büro alle zusammen geguckt, er hat empathisch reagiert, war betroffen und authentisch. Das war eine sehr gut gemanagte akute Krise. Aber kippt das gerade? Ewald: Das Gefühl habe ich leider. Es geht um die Konkurrenz der argumentativen Systeme Moral und Geschäft. Wenn der Eindruck entsteht, ein Unternehmen stellt die Betriebswirtschaft vor die Trauer, kann das nicht gutgehen. Rössing: Dabei geht es nicht um das wirk-
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Auf der Museumsinsel kletterten Marcus Ewald (l.) und Torsten Rössing auf die Statue „Löwenkämpfer“ von Albert Wolff. Die Zitatfreigabe musste schnell gehen: Kurz nach dem Interview flogen beide zum Burning Man Festival in der Wüste Nevadas – zur Visionssuche.
liche Handeln, vielmehr ist die Wahrnehmung entscheidend. Wenn sich die ändert, wird es schwierig. Ein Problem ist niemals das, was ich dafür halte. Sondern eine Krise ist das, was meine Stakeholder dafür halten. Arbeiten Sie auf der dunklen Seite der Macht? Ewald (lacht): Wo soll das sein? Wir sehen das nicht so. Aber klar: Wir haben Kunden, die Gegner haben. Es muss schwer sein, sich mit Ihnen zu streiten, wenn Ihnen die Argumente nie ausgehen… Ewald: Keine Angst, wir debattieren nicht mit Zivilisten. _
Lesen Sie das Interview in ganzer Länge unter pressesprecher.com.
Marcus Ewald und Torsten Rössing sind Managing Partner beim Beratungsunternehmen Media Advice in Mainz und waren gemeinsam 2008 Deutsche Meister im Debattieren. Ewald studierte Betriebs wirtschaftslehre und Unternehmenskommunikation. Der Krisenmanager war Gründungspräsident der PR-Initiative Kommoguntia und Präsident des Europäischen Rats des Debattierens. Er ist Dozent und Autor. Rössing studierte Politikwissenschaften und internationales Wirtschaftsrecht. Ehrenamtlich war der Dozent Krisenmanager der Debattier-Welt meisterschaften 2013 und 2014.
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Red Bull ließ einen Abenteurer vom Rande der Atmosphäre springen und Lego brachte gleich einen Film ins Kino. Keine Panik, liebe Kommunikatoren, es braucht nicht immer so viel, um gute Geschichten zu erzählen. Ein paar Nummern kleiner geht’s auch. Unser Gastautor stellt fünf Formate vor. Text: Jan Tißler
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F Ü N F F OR M AT E F Ü R STORY T E L L I NG IM NETZ
gal welches Format man wählt, das Wichtigste ist, das wesentliche Ziel des Storytellings im Hinterkopf zu behalten: die Aufmerksamkeit der potenziellen Kundschaft zu gewinnen. Das Unternehmen sowie seine Produkte und Angebote bekannter zu machen, rückt dabei ein Stück weit in den Hintergrund. Die folgenden fünf Formate sind nur ein Ausschnitt dessen, was möglich ist. Weiterhin gibt es zahlreiche „klassische“ Darstellungsformen des Journalismus, die online oftmals unterrepräsentiert sind.
F OR M AT 1 : DI E L A NG F OR M
Das Foto links bildet den Auftakt für eine Geschichte über die 15-jährige Präsidentin eines sogenannten Wasserkommitees in Mosambik, das für jedes Wasserprojekt der Organisation charity:water von der Dorfgemeinschaft gewählt werden muss. Eine so junge Frau an der Kommiteespitze, das ist untypisch für diese Aufgabe. Und so wird der Leser hineingezogen in die Lebenswelt von Natalia. Unterstützt wird das zusätzlich durch starke Fotos. Das Ziel von charity:water ist, jedem Menschen den Zugang zu sauberem Trinkwasser zu ermöglichen. Durch lange, reich bebilderte Reportagen versucht die Organisation, auf ihre Projekte aufmerksam zu machen.
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Oftmals heißt es, die Leser hätten im Vergleich zu früher immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen. Dementsprechend müsse man für maximale Reichweite auf kurze, schnell konsumierbare Inhalte setzen. Das stimmt so jedoch nicht ganz, denn es kommt immer auf die Zielstellung an. Mitunter ist es besser, die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen und auf lange Formate zu setzten. Schließlich beweisen Onlinenutzer an vielen Stellen, dass sie dranbleiben, wenn es denn interessant ist: Sie schauen Filme auf Netflix, lesen Bücher auf dem Kindle oder schauen stundenlang „Let’s Play“-Videos auf Youtube. Langform-Audio-Podcasts sind ebenso Beispiele wie tiefgehende Artikel von so unterschiedlichen Magazinen und Angeboten wie „New Yorker“, „The Awl“ oder „Wait But Why“. Die gemeinnützige Organisation charity:water nutzt beispielsweise lange, reich bebilderte Artikel, um auf ihr Thema aufmerksam zu machen. Dabei werden eindrucksvolle und bewegende Geschichten erzählt. Für sie ist die Emotionalisierung schließlich ganz zentral, um Unterstützer zu gewinnen.
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F OR M AT 2 : M U LT I M E DIA- R E P ORTAG E
Ähnlich wie die Langform ist mit dem Begriff Multimedia-Reportage ein Inhalt gemeint, den der Nutzer nicht mal eben zwischendurch konsumiert. Der Schwerpunkt liegt in diesem Fall darauf, eine Geschichte mit vielen verschiedenen Mitteln zu erzählen: Neben dem Text werden beispielsweise Audio und Video eingesetzt oder auch Illustrationen und interaktive Grafiken. Man kann darüber eine Geschichte vielfältig erzählen und stillt die Bedürfnisse unterschiedlicher Nutzertypen. Dafür ist der Aufwand natürlich ungleich hoch. Das beginnt schon bei der Planung. In dieser Phase sollten einige Fragen beantwortet werden: Mit welchen Inhalten soll die Geschichte erzählt werden? Wie werden die verschiedenen Elemente miteinander verbunden? Wer noch keine Erfahrungen damit gesammelt hat, fängt am besten simpel an. Die Frage sollte dann lauten: Kann ich meinen Artikel durch andere Medien ergänzen – beispielsweise durch eine Fotogalerie, ein kurzes Video, eine Illustration, eine Infografik? Für die Bosch World Experience ist das Unternehmen noch einen anderen Weg gegangen und hat sich externe Autoren als Botschafter gesucht. Aus 50.000 Bewerbern hat es sechs sogenannte Explorer ausgewählt. 16 Tage sind diese um die Welt gereist, haben sechs Orte besucht und darüber fleißig via Social Media berichtet. Letztlich wurden ihre Fotos, Videos und Texte auf der Webseite zusammengeführt. An allen Orten ist Bosch natürlich in unterschiedlicher Form mit Projekten präsent. Das bekommt der Leser quasi nebenbei mit, während er durch die lebhaften und sehr echt wirkenden Berichte scrollt.
Hong Khai, Roy, Amy, Luiz, Tolgay und Yanru (von links) hießen die sechs Entdecker, die für die Bosch World Experience ausgewählt wurden. In 16 Tagen besuchten sie sechs Länder, wo sie technische Highlights erkundeten, in denen Technologie von Bosch steckte. Die Explorer schrieben über ihre Erlebnisse auf Social Media, drehten Videos, schossen Fotos und vieles mehr. Am Ende wurden die multimedialen Beiträge auf einer Webseite zusammengeführt.
F OR M AT 3 : T I P P S U N D T R IC K S
Im„HausgeräteBlog“ von Liebherr positioniert sich der Hersteller nicht als Spezialist für Kühlschrank, Waschmaschine und Co., sondern gibt Tipps zur Lagerung von Lebensmitteln, Ernährung und stellt Rezepte aller Art vor. Die LiebherrHausgeräte, also die Produkte selbst, rücken deutlich in den Hintergrund.
pressesprecher 6/15: Storytelling
Anleitungen gehören zu den viel gesuchten Inhalten im Netz. Solche „How-Tos“ erklären dabei nicht nur die Handhabung. Sie können beispielsweise ebenfalls zeigen, wie vielfältig sich ein Produkt einsetzen lässt. Ein Tutorial kann darüber hinaus Kunden und Fans des Unternehmens einbinden, indem man sie von ihren eigenen Erlebnissen erzählen lässt. Eine weitere Möglichkeit ist, Ratschläge aus dem weiteren Umfeld der eigenen Angebote zu liefern. So geht es beispielsweise im Hausgeräte-Blog von Liebherr nicht nur um neue Geräte, sondern unter anderem auch darum, wie man Brot richtig lagert oder welche Temperatur Wein idealerweise haben sollte. Solche Beiträge zu alltäglichen Fragen werden gern via Social Media geteilt und oftmals gut über Suchmaschinen wie Google gefunden. Wer wie in diesem Beispiel sehr allgemeine Fragen behandelt, hat natürlich bereits etliche Konkurrenz im Netz. Dann muss man inhaltlich oder bei der Umsetzung mehr Aufwand betreiben. Nicht selten verfügen Unternehmen und Institutionen aber über Fachwissen, das sich noch nicht so zahlreich online finden lässt.
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F OR M AT 4 : DAT E N JOU R NA L I SM U S
Mit Daten Geschichten zu erzählen ist eine noch recht junge Disziplin des Journalismus. Die Grundidee: Unser Gehirn kommt mit Datenkolonnen nicht besonders gut zurecht. In visualisierter Form aber werden Zusammenhänge auf einen Blick deutlich. Noch einen Schritt weiter gehen interaktive Infografiken. „Die Zeit“ visualisiert in diesem Beispiel eine oft gestellte Frage unter Fans des Euro vision Song Contest: Wer gibt eigentlich wem die meisten Punkte? Sie haben dazu alle Vo-
tings seit 1998 einbezogen. Als Leser bestimmt man per Klick, für welches Land man die Abstimm-Verhältnisse sehen möchte. Unternehmen, Verbände und andere Institutionen haben in der Regel ähnliches Zahlenmaterial parat. Wer die nur in Datenbanken und Excel-Dateien schmoren lässt, vergibt möglicherweise eine große Chance. Selbst Standard-Inhalte wie die Unternehmensgeschichte und -entwicklung können durch eine visuell interessante, interaktive Aufbereitung viel mehr Wirkung entfalten.
Auch Zahlen können – durch eine interaktive Grafik – Geschichten erzählen. In diesem Bespiel wurden Daten zum Abstimmungsverhalten beim Eurovision Songcontest im Zeitraum 1998 bis 2014 ausgewertet und visualisiert. Die Frage lautete: Welche Länder stehen sich bei der Punktevergabe besonders nahe? Jedes Land kann angeklickt werden und man sieht einerseits (wie hier) durch dicke blaue Pfeile, an welche Nationen Land X die meisten Punkte vergeben hat. Wird andererseits auf „Erhaltene Punkte“ geklickt (hier nicht im Bild), lässt sich erkennen, aus welchen Ländern Land X die meisten Punkte erhalten hat.
F OR M AT 5 : L I ST IC L E
Webseiten wie BuzzFeed haben die Liste zur Kunstform erhoben – oder zumindest mit großem Erfolg eingesetzt. Aus „list article“ wurde im Zuge dessen der Modebegriff des „Listicle“. Gemeint ist damit schlicht, Fakten, Aussagen oder Beispiele zu einem Oberthema aufzuführen. Sie sind oftmals mit einer Prise Humor aufbereitet. Ein Listicle kann sich um Kuriositäten drehen, aber auch praktische Tipps und Tricks liefern. Solche Listen lassen sich von den Lesern schnell konsumieren. Sie werden außerdem erfahrungsgemäß sehr gern geteilt. Im „Two for Fashion“-Blog von Otto findet sich ein typisches Beispiel: „10 Flirttipps von echten Frauen“. Dem vorangegangen war ein Artikel des Jugendmagazins „Bravo“, der durchs Netz geisterte und für seine altbackenen Tipps ordentlich Gegenwind bekommen hatte. Im Blog von Otto stellt die Autorin ihre Sicht der Dinge dar – kurz, knapp und auf den Punkt gebracht. _
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Auf dem „Two for Fashion“-Blog von Otto werden „Flirttipps von echten Frauen“ gegeben – ein gutes Beispiel für das Listicle-Format.
Jan Tißler arbeitet seit 20 Jahren als Journalist und ist fast ebenso lange online. Der gebürtige Hamburger ist einer der Herausgeber des Magazins „Upload“. Inzwischen lebt er in San Francisco.
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Bei uns dreht sich alles um Kommunikation.
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Sanifair erntete mit seinem neuen Image-Spot vor allem Spott und Häme. Der ist trotzdem ein Erfolg, findet unser Autor. Text: Björn Eichstädt
DE R K L O G A NG A L S H E L DE N R E I SE
Original und „Fälschung“ auf den Screenshots von Youtube: Im echten Sanifair-Spot nimmt die kleine „Amelie“ uns und ihren Plüschfreund „Rüssel“ mit in das Abenteuerland Autobahntoilette (l.) Eine der Parodien spielt im Schlachthof: „Ich find Billig-Fleisch super!“ von quer-beckstage im BR.
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s gibt Branchen, für die zu kommunizieren erfordert ein extrem gutes Händchen – und den richtigen Dreh beim Storytelling. Das Geschäft mit „dem Geschäft“ gehört mit Sicherheit dazu. Ein Themenkomplex, der einerseits ein schönes Setting hergibt, weil sich jeder lebhaft hineindenken kann. Andererseits ist der Schritt nach dem Denken – das Aussprechen – gerade in hiesigen Gefilden schon ein deutlich schwierigerer, denn Ausscheidungen sind hierzulande doch eher ein tabubesetztes Thema, wie man schön in dem Klo-Klassiker „Dunkle Materie: Geschichte der Scheiße“ von Florian Werner nachlesen kann.
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Also dürften sich auch die Mitarbeiter der federführenden Agentur Pie Five erst einmal den Hinterkopf gekratzt haben, als ihnen das Briefing des Autoraststättentoiletten-Brands Sanifair zu einem Imagespot für die Bezahlbedürfnisanstalten auf den Tisch flatterte. Es gibt ja wenige gelungene Beispiele für das positive Verpacken des Stuhl-Gangs. Das japanische Unternehmen Toto mit seiner 1982er Einführungskampagne für die Hightech-Toilette „Washlet“ gehört vielleicht dazu. Damals wurde das Problem des „Verschmierens“ mit Toilettenpapier elegant mit Schuhcreme auf der Hand demon striert – diskret und offensichtlich zugleich. Das
funktionierte. Doch wie an die verpönte Autobahntoilette herangehen? „Hier macht das Kacken Spaß“, hat die Agentur als Tagline ganz sicher schnell wieder verworfen. Aber gleichzeitig doch als immanente Storyline im Hinterkopf behalten. Und das Ergebnis geisterte dann irgendwann durch das Netz.
GRIFF INS KLO?
„Oh, ist das schön hier!“ Und dazu dieser süße Fratz. Der fertige Sanifair-Imagefilm fand seinen Weg von der Homepage der ausführenden Agentur schnell auf Youtube, von dort in die sozialen Netzwerke. Und wurde dann von
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Gute Statementfilme gehen anders!
dasprogramm ist eine Berliner Bewegtbildagentur, die von der ersten Idee bis zum fertigen Film konzipiert und produziert. Als multimediale Geschichtenerzähler bieten wir maßgeschneiderte Filme, die mit Sachverstand und einer Liebe fürs Detail zuverlässig umgesetzt werden. Mit ganzheitlichen Strategien entwickeln wir Ihre Visual Identity. Mehr Informationen finden Sie unter: www.dasprogramm.de
den Nutzern und im nächsten Schritt post Shitstorm in den klassischen Medien verrissen. Headlines wie „Schöner Pipi machen mit Sanifair“ (n-tv.de), „Griff ins Klo“ („Handelsblatt“) oder „Über diesen Sanifair-Imagefilm lacht das Netz“ (Bild.de) ergossen sich über das Resultat der Kreativarbeit, die ein kleines Mädchen bei ihrer Entdeckungsreise – zum Topf am Ende des Regenbogens – durch ein Sanifair-Bezahlklo begleitet. Eine klassische Heldenreise mit Knuddelfaktor (der Stoffelefant „Rüssel“ ist auch dabei) ist das geworden, in der Amélie die Autobahnraststättenwelt mit ganz eigenen Augen betrachtet. Wie im vermutlich inspirierenden Kinoklassiker „Die fabelhafte Welt der Amélie“ übertüncht sie dabei alles S chlechte, Schmutzige und Übelriechende mit einer kindlichen Fröhlichkeit, die anstecken könnte. Die aber gleichzeitig als komplett absurd abgetan werden kann. Denn auch der französische Kinoerfolg hatte ja ein bis zwei Kritiker. Was im Kino Liebe säte, ging hier komplett nach hinten los. Oder nicht? Zumindest erntete das Video erst einmal Hohn und Spott.
T I E F E V E R N E IG U NG E N VOR DE M OR IG I NA L
Jedoch: Unter Aufmerksamkeitsgesichtspunkten hätte Sanifair wohl kaum etwas Besseres passieren können als dieses Video und seine leicht (okay: ziemlich) absurde Story. Fast alle großen Leitmedien diskutierten es, brachten den Namen Sanifair ins Gespräch (ich selbst wäre nicht auf den Namen gekommen, hätte mich jemand vor ein paar Wochen nach dem Branding der Autobahnraststättenklos gefragt) – und was folgte, das war noch viel besser: Parodien, bekanntlich die tiefste Verneigung vor dem Original, an allen Ecken, Diskussionen und Shitstorms (hier mal wirklich wörtlich zu nehmen). Also so ziemlich alles, was man heutzutage benötigt, um Aufmerksamkeit in unserer schnelllebigen Medienwelt zu erreichen. Und eine Geschichte, die hängenbleibt, das ist der eigentliche Clou. Denn jede Station des heldenhaften Klogangs ist so absurd inszeniert, dass sie im Gedächtnis bleibt. Es gibt ein Herrenklo (Uppps!), einen Wickelraum, alles ist schön sauber, mit Kreditkarte kann man zahlen (wusste ich gar nicht!) und auch mit dem Smartphone (Echt? Muss ich beim nächsten Mal probieren), und am Ende gibt es sogar noch einen Bonus auf das Eis. Die Erzählweise ist dabei vielleicht absurd, aber sie erfüllt ihren Zweck. Und bei allem Gemotze: An dem Produkt wurde auch in den Medien kaum ein schlechtes Haar gelassen. Die Erzählweise wurde sogar geehrt. Der Bayerische Rundfunk beispielsweise übertrug
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das Prinzip auf eine noch tabuisiertere Szenerie: den Schlachthof. „Oh, ist das schön hier!“, ist dann nur noch makaber, aber es adressiert einerseits ein wichtiges Thema und andererseits macht es das ursprüngliche Video noch mehr zu einem Klassiker der Bewegtbildkommunikation. Vorbild von vielen Hommagen zu sein, das macht aus einem schlechten Film eine Trash-Ikone, die irgendetwas sehr richtig gemacht hat.
HO C H P R E I SIG E S B R AU C H T E I N E STORY
Warum überhaupt Storytelling für ein Produkt, das man sowieso mangels Alternative benutzen muss? Diese Frage stellten sich viele Kommentatoren. Die Antwort ist vermutlich recht einfach: Wir alle wollen gemocht werden und wir wollen, dass das, was wir tun, Anerkennung findet und mit positiven Gefühlen besetzt ist. Ob wir für eine tolle Lifestyle-Marke arbeiten oder eben die Raststättenklomarke. Außerdem geisterte kurz nach Auftauchen des Spots eine geplante Preiserhöhung von Sanifair durch die Medien. Von 70 Cent auf einen Euro. Und damit eben auch der Aufstieg ins Luxussegment der öffentlichen Bedürfnisanstalten. Und Hochpreisiges verkauft sich bekanntlich über Stories. Irgendwo auf dem Weg ist Sanifair und der Agentur dann die Courage ausgegangen. Den stolzen Facebook-Post zum neuen Video für Sanifair findet man inzwischen nicht mehr auf der Facebook-Page von Pie Five. Auch von der Agentur-Webseite ist der Imagefilm verschwunden. Und Sanifair erklärte gegenüber
der „Bild“-Zeitung: „Wir müssen allerdings auch zugestehen, dass wir bei der Emotionalisierung vielleicht etwas über unser Ziel hinausgeschossen sind.“ Schade eigentlich, dass sich die Macher und ihre Auftraggeber hier so haben einschüchtern lassen. Die Meta-Story erzählt die Reise mit dem etwas angestrengten Ziel der „Akzeptanz in der Gesellschaft“. Dabei hätte man sich ge-
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Links: Zweimal OOOPS: Im Sanifair-Spot verläuft sich die kleine Protagonistin in die Herrentoilette. In der Parodie „Dojo, ist das schön hier“ der gleichnamigen Werbeagentur fällt der Hauptdarstellerin im Vorbeihüpfen ein vergoldetes primäres Geschlechtsteil vom Schreibtisch ...
Unten: Uschuldig, süß, neugierig wie auf diesen Youtube-Screenshots – so soll die Protagonistin im SanifairSpot sein. Die Darstellerin in der quer-beckstage-Parodie kommt auch in Rosa und mit Zuckerstimme daher – ein knallharter Gegensatz zu den krassen Bildern toter Tiere, die sie trotz allem mit Strahlelächeln und „ist das schön hier“ kommentiert.
nau dort entspannt niederlassen können, wo man auf Basis der Produkt-Story und auch der Umsetzung des Films hingehört: in die inzwischen weithin akzeptierte Ecke der Schmuddelkinder. Denn ja, man hat einen Klassiker des Genres Imagevideo geschaffen. Vielleicht keinen Kubrick seiner Gattung, aber durchaus einen respektablen Ed Wood. Der nächste Schritt – sollte es einen geben – wird sicher-
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lich spannend und in der Branche vielbeachtet sein. Denn wie heißt es so schön in der „Fabelhaften Welt der Amélie“: „Das Leben ist nichts anderes, als die endlose Probe einer Vorstellung, die niemals stattfindet.“ _
Björn Eichstädt ist Geschäftsführender Gesellschafter bei Storymaker, einer auf die Betreuung von technologiegetriebenen Unternehmen fokussierte PR- und Digitalkommunikationsagentur mit Standorten in Tübingen, München, Berlin und Peking. Er verantwortet geschäftsführungsseitig unter anderem die Bereiche Digitalkommunikation, IT-PR und Videoproduktion in der Agentur sowie den Aufbau neuer Bereiche im Inund Ausland. Er lebt in München, ist verheiratet und hat einen Sohn sowie einen getigerten Kater.
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Wenn die Chemie nicht stimmt Egal, was der MDR-Reporter fragte, der Pressesprecher des Sächsischen Innenministeriums Martin Strunden antwortete jeweils mit denselben Sätzen. Auf Twitter höhnten die User über sein gebetsmühlenartig vorgetragenes Statement. Wie kam es zu diesem Vorfall und wie hätte man ihn verhindern können? Interviews: Jeanne Wellnitz
Für das Nachrichtenformat „Sachsenspiegel“ recherchierte der Mitarbeiter des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) Tobias Wilke Anfang Juli für einen Fernsehbeitrag zum Thema Volksverhetzung im Internet und Maßnahmen der Polizei. Tobias Wilke erfragte nach eigenen Angaben am 9. Juli zunächst telefonisch bei der Pressestelle einen Interviewtemin mit dem Minister des sächsischen Staatsministeriums des Innern (SMI) Markus Ulbig. Tobias Wilke wurde um eine schriftliche Anfrage gebeten, die er per Mail an den Pressesprecher Martin Strunden schickte. In dieser Anfrage, die diesem Magazin vorliegt, wird um ein Interview mit Markus Ulbig für den „Sachsenspiegel“ gebeten; für einen Beitrag, der eine Woche später gesendet werden soll. Tobias Wilke bezieht sich auf einen Bericht des Europarats über die drastisch zunehmende Nutzung des Internets für die Verbreitung rassistischer Äußerungen. Wilke wolle in seinem Beitrag untersuchen, schreibt er, inwiefern öffentliche Postings im Zusammenhang mit der
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Asylbewerberunterkunft in Freital strafrechtlich relevant sein könnten. Er schickt vier Fragen mit, unter anderem, ob die Urheber rassistischer Äußerungen strafrechtlich verfolgt würden und wie man plane, auf die Internetkriminalität zu reagieren. Martin Strunden ruft daraufhin Tobias Wilke an und erklärt, dass ein Interview mit Markus Ulbig wegen Terminen und seiner Urlaubszeit nur schwer möglich sei. Strunden hat ihn zudem, laut Tobias Wilke, an das Landes kriminalamt (LKA) verwiesen, welches ihn wiederum an das „Operative Abwehrzentrum“ verwies, das ein Interview mit dem Polizeipräsidenten in Aussicht stellte, jedoch sagte, dass das SMI für diese Fragen zuständig sei. Später erklärte sich Martin Strunden für einen Termin am 15. Juli bereit. Martin Strunden sagte in einem Gespräch, er habe in diesem Telefonat bereits klar gemacht, dass er nur ein Statement geben werde, die Fragen nicht detailliert beantworten könne. Bei dem Termin stellte Tobias Wilke als erstes die Frage, warum die Sächsische Polizei nicht von sich aus gegen Hass-Postings in sozialen Netzwerken vorgehe. Martin Strundens Antwort lautet: „Es ist besorgniserregend, wie teilweise in den Netzen sich in Blogs und mit Posts völlig enthemmt geäußert wird. Wichtig ist für die Sicherheitsbehörden, wenn die Grenzen zur Strafbarkeit überschritten werden. Wir sind an dieser Stelle angewiesen auf Meldungen der Bürger. (…) Aber natürlich ermittelt die Polizei auch in Zusammenhang mit sonstigen Ermittlungsverfahren (…).“ Da die Antwort nur den Fakt bestätigt, aber nicht die Frage beantwortet, formuliert der Reporter die Frage insgesamt vier Mal um. Martin Strunden antwortet jedes Mal dasselbe. Am 16. Juli wurde der Fernsehbeitrag „Hasspostings im Internet“ mit einem Statement ausgestrahlt. Tobias Wilke verfasste zusätzlich einen Onlinebeitrag, in dem er sämtliche Interviews, die er für den Beitrag gedreht hatte, vollständig veröffentlichte; also auch die 2.15-minütige Sequenz von Martin Strundens identischen Antworten auf die vier Fragen. Dieser beschwerte sich daraufhin bei Tobias Wilke und beim MDR, bat darum, den Videoclip zu löschen. Die Juristische Direktion lehnte dies laut Tobias Wilke ab, da belegt werden konnte, dass ein Interview angefragt worden war. Es bleibt damit ein Jahr online. Was kann man tun, um solche Situationen zu vermeiden? Und wie sehen Sprecher und Reporter unabhängig voneinander die Sachlage? Wir haben nachgefragt: Bei Martin Strunden, Tobias Wilke und der Medientrainerin Elisabeth Ramelsberger.
Herr Strunden, wie kam es dazu, dass Sie von einem Statement ausgingen, obwohl ein Interview angefragt war? Martin Strunden: Es entspricht der Übung des MDR für „Sachsenspiegel“ unter der Begrifflichkeit „Interview“ anzufragen, obwohl der „Sachsenspiegel“ eigentlich nur das Format „Statement“ kennt. Das heißt für uns als Sprecher, es gibt ein Statement. Und da gilt die alte Regel: Sage nur, was du auch gesendet haben möchtest. Herrn Wilke habe ich gesagt, dass er ein Statement bekommen wird. Wir hatten auch eine Woche zuvor mit dem MDR eine große Runde über die Frage der Zusammenarbeit mit allen Sprechern der sächsischen Regierungshäuser. Auch dort war Thema, dass Anfragen für die Nachrichten als Interviews deklariert sind, faktisch aber nichts anderes sein können als Statements. Wie hat der MDR darauf reagiert? „Zur Kenntnis genommen.“ Warum, glauben Sie, fragt der MDR derart an? Das weiß ich nicht, das müssen Sie den MDR fragen. Es ist Übung des MDR zu verfahren, wie Herr Wilke das gemacht hat, wiederkehrende Fragen zu stellen und aus den Takes kommt am Ende ein Satz für die Nachrichten heraus. So weit, so gut. Nicht angekündigt war, dass die vollständige Produktion des Statements, vom MDR als Interview tituliert, ins Internet gestellt wird. Das war nicht abgesprochen und von mir in keiner Weise vorhersehbar. Tobias Wilke meinte, das sei in der informellen Runde angekündigt worden. Aber nicht in Bezug auf dieses konkrete Interview. In der informellen Runde wurde darüber gesprochen, dass der MDR als trimediales Medium seine Inhalte auf verschiedenen Ausspielwegen fährt, das ist klar. Ich denke aber, dass es im Umgang zwischen Journalist und Sprecher ein Gebot der Fairness ist, zu sagen, wofür produziert wird und wo nachher ausgespielt wird.
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Tobias Wilke wollte ursprünglich mit Markus Ulbig sprechen, was nicht zustande kam, weil er im Urlaub war … …und weil auch klar in den telefonischen Vorabsprachen von mir artikuliert worden ist, dass ich seine Fragen nicht in der Detailschärfe authentisch beantworten konnte, dafür braucht er den Verfassungsschutz oder das LKA. Er wusste, es gibt von mir ein Statement. Hat er eingewilligt, dass ein Statement gedreht wird? Er hat dem nicht widersprochen. Herr Wilke kam als Ein-Mann-Produzent. Die ganze Situation ergab kein Interview, weil Herr Wilke gar nicht neben mir stand. Das ist auch nicht ungewöhnlich, weil im „Sachsenspiegel“ nie die Frage, sondern immer nur ein Teil der Aussage des Interviewten gesendet wird. Deshalb ist eigentlich für alle Sprecher unserer Häuser klar, dass es sich bei Anfragen um kein Interview handelt, sondern um ein Statement. Hätten Sie Tobias Wilke ein Interview gegeben, wenn er nicht für den „Sachsenspiegel“ angefragt hätte? Zu den Fragen, die er geschickt hatte, habe ich ihm gesagt, dass wir sie nicht authentisch beantworten können, weil wir dieses operative Geschäft, was ihn in Bezug auf die Internetüberwachung interessiert hatte, nicht machen. Ich sagte: Wundern Sie sich nicht, es kann eintönig werden. Für weitergehende Informationen muss er sich an den Sprecher des LKA wenden. Das hat er ja auch getan. Aber dann wurde er an Sie verwiesen. Für die allgemeinen Fragen, ja. Für andere nicht. Als Sie das Statement gegeben haben, war es ja eigentlich im Kasten. Warum haben Sie immer wieder auf dieselbe Frage geantwortet? Aus meiner Sprechererfahrung sage ich, beenden Sie niemals vor laufender Kamera ein Gespräch. Sie sagen nur das, was Sie gesendet haben möchten. Wenn Sie vor laufender Kamera sagen: „Das beantworte ich nicht“, dann geben Sie Material, das Sie nicht gesendet haben möchten. Das ist ein Dilemma, weil die… …das ist kein Dilemma. Es ist relativ einfach: Gegen Böswilligkeit können Sie sich nur schwer schützen. Wenn der Journalist nicht fair darüber informiert, wofür er das Material verwendet, können Sie nichts tun. Wie viele Presseanfragen
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ekommen Sie eigentlich am Tag? b Statements für „Sachsenspiegel“ mehrmals in der Woche; Presseanfragen allgemein mehr als 20 täglich. Ist es öfter derart problematisch? Noch nie habe ich so etwas erlebt. Ich erlebe die Zusammenarbeit mit den Journalisten als ausgesprochen fair, konstruktiv, offen und transparent. Wie sind sie beide danach auseinander gegangen? Offensichtlich in unterschiedlicher innerer Haltung. Ich dachte, ich habe ein Statement gegeben, das ja in den Nachrichten auch so gesendet wurde. Am nächsten Tag war das gesamte Ding im Internet und der Shitstorm ging los. Ich habe mich bei Herrn Wilke und der Sendeleitung beschwert. Warum geben Sie Herrn Wilke im Statement keine Antwort auf seine Frage? Herr Wilke bekommt eine Antwort auf seine Frage, aber vielleicht nicht die, die er gerne gehabt hätte. Am Telefon hatte ich ihm zuvor gesagt, dass wir seine spezifischen technischen Fragen nicht detailliert beantworten können. Wie haben Sie das Statement dann vorbereitet? Ich habe mir dem zuständigen Referatsleiter telefoniert und mich über die Sachlage informiert. Haben Sie es auswendig gelernt? Nein. Ich lerne nichts auswendig, ich sage vor der Kamera, was ich im Kopf habe. Es wirkt so roboterhaft, weil mir ein Aspekt wichtig war. In diesem Fall kam es darauf an, dass der Satz, das Innenministerium betrachtet die Entwicklung des Internets mit Sorge, auch beim Schnitt nicht herausgenommen werden konnte. Deshalb gebe ich nicht fünf verschiedene Formulierungen. Deshalb gebe ich nicht fünf verschiedene Formulierungen und überlasse damit den Journalisten nichtdie Auswahl, dafür ist das Geschäft zu heiß. Martin Strunden ist seit 2012 Leiter des Leitungsstabs Innenministerium und Pressesprecher. Am 27. August 2015 gab das SMI bekannt, dass die Pressestelle aus dem Leitungsstab im Sächsischen Staatsministerium des Innern herausgelöst werde. Leiter der Zentralstelle bleibe vorerst Martin Strunden. Neuer Pressesprecher soll Andreas Kunze-Gubsch werden, Sprecher der CDU-Fraktion des Sächsischen Landtags.
Herr Wilke, warum haben Sie ein Interview angefragt und kein Statement? Tobias Wilke: Ich habe in 15 Jahren als Fernsehredakteur noch nie ein Statement angefragt. Das hieße ja, dass ich bereits im Vorfeld mein Einverständnis geben würde, mich mit einer vorbereiteten Verlautbarung nach Gusto des Gesprächspartners zufrieden zu geben und auf jegliche Nachfragen gänzlich zu verzichten. Das hätte nichts mit Journalismus zu tun, das wäre kostenlose PR. Als Sie das Interview mit Herrn Ulbig angefragt haben, in welcher Länge hätten Sie es für den „Sachsenspiegel“ eingeplant? Der Fernsehbeitrag war wegen des komplexen Themas mit einer Länge von 3:30 Minuten eingeplant, bei dieser Länge kann und muss man davon ausgehen, dass man rund fünf bis sechs O-Töne à rund 20 Sekunden verwendet. Üblich sind Beitragslängen von 1:45 bis 2:30 Minuten mit drei bis vier O-Tönen. In welcher Länge ich jeweils einzelne O-Töne im Beitrag verwende, kann ich erst nach dem Interview beurteilen. Für diesen Beitrag hatte ich drei Interviewpartner. Hätte Herr Strunden meine Frage beantwortet und ich die Chance gehabt, Nachfragen zu stellen, hätte ich zwei oder drei O-Töne von ihm verwendet. Wussten Sie von Anfang an, dass Sie eine ausführliche Version für den Onlinebeitrag verwenden werden? Nein. Ich wusste nicht einmal von Anfang an, dass ich einen Online-Artikel schreiben würde. Das übernehmen sonst unsere Online-Redakteure, die dafür auf Material der Hörfunk- oder Fernsehkollegen zurückgreifen. Angesichts des komplexen Themas und meiner ausgiebigen Recherche, bat mich die Redaktion, den Artikel selbst zu schreiben. Es lag nah, das ausführliche Interview mit dem Rechtswissenschaftler der TU Dresden und jenes mit dem Fraktionsvorsitzenden der Sächsischen Linken einzubetten. Warum hätte ich ausgerechnet Herrn Strunden auf einen kleinen Ausschnitt reduzieren und damit quasi vertuschen sollen, dass er die Antwort auf meine wichtigste Frage an ihn konsequent verweigert hat?
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Eine weitere Nutzung – auch verschiedener O-Töne aus demselben Interview – durch andere MDR-Redaktionen ist seit vielen Jahren Praxis und wird von beiden Seiten ausdrücklich begrüßt: der MDR kann personelle Ressourcen verantwortungsvoll einsetzen, und den Pressesprechern der Sächsischen Ministerien und Landtagsfraktionen wird erspart, mehreren MDR-Reportern verschiedener Redaktionen zum selben Thema Interviews zu geben. In einem Informationsgespräch mit den Pressesprechern, bei dem auch Herr Strunden anwesend war, hatte der Leiter der Online-Redaktion zudem erst eine Woche zuvor darauf hingewiesen, dass künftig noch häufiger von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden solle, ausführliche Fassungen eines Fernsehinterviews in Online-Artikel einzubetten. Warum haben Sie Herrn Strunden nicht darauf angesprochen, dass er die Frage nicht beantwortet? Ich war nicht verwundert über sein vorbereitetes Statement. Erst einen Monat zuvor hatte ich – ebenfalls zum Thema Asyl – ein Interview mit ihm geführt und wurde auf die gleiche Art und Weise abgefertigt. Bei jenem Interview hatte ich ihn noch mehrfach darauf hingewiesen, dass er meine Fragen ignoriert. Zahlreiche Kollegen haben mir danach von ähnlichen Erfahrungen mit ihm berichtet. Ich war beim Interview zum Thema „Virtuelle Streifenfahrten“ also durchaus darauf vorbereitet. Warum haben Sie nicht mehrere Fragen gestellt, wie es für ein Interview üblich ist? Ich hatte eine wichtige Frage: Warum nämlich die Sächsische Polizei – im Gegensatz zu fast allen anderen Landeskriminalämtern und trotz der äußerst aggressiven Stimmung gerade in Sachsen – keine „Virtuellen Streifenfahrten“ durchführt. Hätte er diese Frage inhaltlich beantwortet, also einen Grund genannt, statt den bloßen Umstand zu bestätigen, hätte ich sehr gern – auf dieser Antwort aufbauend – weitere Fragen formuliert. Was sind Ihre unangenehmsten Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Pressesprechern? Mit mehr als 15 Jahren Erfahrung als Fernsehjournalist in verschiedenen Redaktionen, für die ich als Autor und Kameramann im Inund Ausland insgesamt fast 50 Filme und rund 750 Fernsehbeiträge produziert habe, kann ich ganz klar sagen: Das hier besprochene Interview war meine bislang unangenehmste Erfahrung mit einem Pressesprecher – angefangen vom Hin- und Herschieben der Zuständigkeiten bei einem offenbar unangenehmen Thema bis zur nachweislichen Verweigerung der Antwort auf eine klare Frage.
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Was wünschen Sie sich als Journalist von Pressesprechern? Hier muss ich unterscheiden zwischen Unternehmenssprechern und Pressesprechern von Behörden, die einer presserechtlich garantierten Auskunftspflicht unterliegen. Von ersteren wünsche ich mir natürlich die wahrheitsgemäße Beantwortung meiner Fragen, von letzteren aber kann und muss ich diese auch erwarten können. Bei Erfolgsmeldungen ist das selten ein Problem, auch die Terminfindung gestaltet sich dann deutlich einfacher – der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk ist allerdings keine PR-Veranstaltung und hat das verbriefte Recht, auch auf unbequeme Fragen Antworten zu bekommen. Tobias Wilke ist seit 2000 freier Autor und Kameramann für mehrere Redaktionen des MDR und hat unter anderem aus Neuseeland, Japan, Russland und aus Israel berichtet. Er studierte Wirtschaftsinformatik an der TU Dresden und Philosophie an der Fernuniversität Hagen. Seit Beginn der asylfeindlichen Pegida-Demonstrationen liegen seine Schwerpunkte auf den Themen Migration, Integration und Asylpolitik.
Frau Ramelsberger, was haben Sie gedacht, als Sie das Video das erste Mal gesehen haben? Elisabeth Ramelsberger: Ich habe Verständnis für beide Seiten. Aus journalistischer Perspektive macht der Reporter nur seinen Job. Obwohl ein Statement vereinbart ist, fragt er weiter. Damit muss man rechnen. Wenn der Gesprächspartner das nicht will, muss er klare Grenzen setzen. Auf der anderen Seite: Jeder Pressesprecher hat Angst, etwas Falsches zu sagen. Ich erinnere nur an eine unbedachte Äußerung der Deutschen Bank in Zusammenhang mit Leo Kirch und die anschließende Insolvenz der Medien-Gruppe. Ich kann diesen Druck sehr gut nachvollziehen, weil ich selbst bei Siemens Pressesprecherin war. Da fragt man sich schon: „Was macht der Journalist aus unserem Gespräch?“ Martin Strunden wählte den Weg, das Statement immer wieder aufzusagen. War das richtig? Angeblich war ja zunächst nur ein State-
ment ausgemacht. Aber wenn man sich vor der Kamera auf weitere Fragen einlässt, dann gibt man kein Statement mehr, sondern ein Interview. Der Interviewte akzeptiert dann, dass die Spielregeln geändert werden. Darüber hinaus sollte jedem klar sein: Ein Reporter muss in kürzester Zeit einen O-Ton bringen, der zu einem vorbereiteten Bericht passt. Wenn der Journalist weitere Fragen nach einem Statement stellt, wie sollte ein Sprecher reagieren? Üblicherweise besprechen beide Seiten vorher, was geplant ist. Normalerweise sagt man dann sein Statement, wartet kurz vor der laufenden Kamera, damit ordentlich geschnitten werden kann und verabschiedet sich. Wenn es technische Probleme gibt, Hintergrundgeräusche oder Versprecher, dann wird es nochmal aufgenommen. Auch Profis müssen manchmal fünf- oder zehnmal denselben Inhalt erzählen, bis ein Statement perfekt ist. Wenn Martin Strunden nicht mehr sagen will, dann hätte er zum Beispiel freundlich in die Kamera sprechen können: „Es tut mir leid, aber wir haben ein Statement ausgemacht. Das haben Sie gerade bekommen. Ich bitte um Verständnis, aber mehr kann ich Ihnen dazu jetzt nicht sagen.“ Und dann muss er auch aus dem Bild gehen. Haben Sie ein Lieblingsbeispiel? Peer Steinbrück wurde einmal von einem Reporter innerhalb eines Interviews achtmal zum Thema Linksruck der SPD gefragt. Steinbrück wollte dazu nichts sagen und antwortete damals: „Dazu habe ich alles gesagt.“‚ „Ich muss nicht jeden Tag Interviews dazu geben.“‚ „Es ist ein nice try, was Sie hier machen.“‚ „Sie versuchen es jetzt zum fünften Mal. Sehen Sie, in einer solchen Lage muss ich nicht täglich auf dem Sender sein.“‚ „Gelegentlich ist es ganz gut, sich selbst zu disziplinieren. Insofern: Ich beantworte Ihre Fragen nicht.“ Das nennt man die Ebene wechseln. Der Interviewpartner sagt, was gerade mit ihm geschieht oder in ihm vorgeht. Doch Martin Strunden hat die Frage nicht beantwortet durch das Statement. Es ist schwer, die Situation von außen zu beurteilen. Aber: Ein in komplizierter Behördensprache abgefasstes Statement taugt nicht für das Fernsehpublikum. Als TV-Journalist wäre ich an diesem Statement auch verzweifelt. Aber der Journalist hat ja ein Recht auf Auskunft. Der Journalist hat das Recht, jede Frage zu stellen. Der Sprecher ist in einer schwierigeren Situation. Er kann manchmal einfach nicht alles vollständig beantworten. Das wissen beide Seiten und man sollte offen darüber reden.
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Wenn die Gründe nachvollziehbar sind, kann ein Journalist das eher akzeptieren. Martin Strunden twitterte, ein zehnsekündiges Statement sei ausgemacht gewesen. Ich möchte Herrn Strunden nicht zu nahe treten, aber sein Statement ist eine Kette von Sätzen, die viel zu lang ist. Normalerweise hat ein O-Ton 15 bis 30 Sekunden. Man muss ein Statement sofort erfassen können. Wie beispielsweise vom CDU-Politiker Friedrich Merz, der vor die Berliner Presse trat und sagte: „Wir machen Pfusch nicht mit.“ Er lächelte einmal für den Schnitt und ging. Martin Strundens Statement ist 27 Sekunden lang. Die Sätze sind viel zu komplex, phrasenhaft und nicht einprägsam. Er arbeitet nicht mit Bildern. Es scheint so, als hätte er alles aufgeschrieben und auswendig gelernt. Er memoriert – deswegen sieht er so versteinert aus und betont auch falsch, beispielsweise bei Hinweise, wo seine Stimme hoch geht. Er benutzt umständliche Formulierungen wie „im Rahmen von“, „in Bezug auf “ – das ist viel zu behördlich. Versteht das ein normaler Mensch auf Anhieb? Was sagen Sie zur Körpersprache? Seine Körpersprache ist nicht im Einklang mit dem, was er sagt. Seine Aussage „Es
ist besorgniserregend“ klingt bei ihm nicht nach echter Sorge, sie klingt wie eine heruntergeleierte Pflichtübung. Wahrscheinlich ist er aufgeregt, atmet flach durch den Mund, nicht durch die Nase, und bekommt dadurch zu wenig Luft. Spätestens dann wird jeder nervös. Er schaut außerdem nach rechts oben. Normalerweise richtet man es so ein, dass man sich auf Augenhöhe anblicken kann. Was kann ein Sprecher da tun? Er kann fragen: Bin ich ordentlich ausgeleuchtet, spiegelt sich meine Brille? Der Hintergrund wirkt, als wäre Herr Strunden wahllos irgendwo hingestellt worden. Auch hier gilt: Sprechen Sie alles offen an. Übrigens: Unsere Kameramänner waren irritiert, dass der Ton von Herrn Strunden über ein akustisch besseres Mikrofon läuft und der des Reporters vom internen Kameramikrofon kommt. Wenn man ein Interview plant, hat man für beide Seiten ein gutes Mikro. Eine Erklärung könnte sein, dass die Technik nicht funktionierte oder auch, dass ursprünglich kein Interview vorgesehen war. Was macht man, wenn die Chemie einfach nicht stimmt? Man sollte sich zusammensetzen und alles ansprechen, es klären. Der Reporter hat erklärt, dass er mit einer Interviewanfrage lange vertröstet und hin- und hergeschoben wurde. Das frustriert natürlich. Wenn ein Interview nicht gege-
ben werden kann, sollte man den Grund d afür offen ansprechen. Was gehört zu einem richtig guten Statement? Man spricht ab, wie lang es werden soll. Die Aussage muss in den Zusammenhang passen. Dann erarbeite ich den Inhalt und das möglichst plakativ. Jeder muss es verstehen und es sich merken können. Beispiel: Bei einer Übernahmeschlacht sagten zwei Betriebsräte den gleichen Inhalt folgendermaßen: Auf die Frage, „Ist es wichtig, dass Angela Merkel kommt?“, meinte der erste: „Ja, das wäre gut, wenn die Frau Merkel käme, aber der Herr Gabriel war ja da.“ Das Statement wurde nicht gesendet. Der zweite schlug auf den Tisch und sagte: „Angela Merkel sind fünfzig Banker in Nadelstreifen wichtiger als 50.000 Arbeiter in Blaumann.“ Ein Bild muss hängenbleiben. Auch die Stimmung muss zum Inhalt passen. Wenn das Statement im Kasten ist, dann muss ich auch nichts mehr sagen. _ Elisabeth Ramelsberger ist Geschäftsführerin von Ramelsberger Medientrainerin.com. Sie studierte Journalismus an der Deutschen Journalistenschule in München, arbeitete beim Bayerischen Rundfunk und moderierte Nachrichtensendungen. Anschließend berichtete sie als Korrespondentin für Reuters und leitete im Anschluss die Siemens-Pressestelle. Seit mehr als zehn Jahren trainiert sie mit einem Experten-Team CEOs, CFOs und Führungskräfte.
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Die Welt am Ende des Fadens Die Stadt Saarbrücken bekam ein neues Logo. Markenprofi Sebastian Kirmse über das Zeichen als System, das Konzept des Change Brandings, anstrengende Dialoge und das Ende der Agentur als Black Box. Interview: Hilkka Zebothsen Fotos: Laurin Schmid
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Herr Kirmse, was macht generell ein gutes Logo aus? Sebastian Kirmse: Ich dachte früher – und das haben wir auch so gelernt –, dass das Logo die Essenz der Marke ist. Inzwischen ist das anders: Für mich ist ein Logo auch eine Absenderkennzeichnung, die modular in allen Kanälen funktioniert. Wenn ich zum Beispiel als Icon im Web-Browser eine Größe von 32 mal 32 Pixel habe, dann relativiert das den Anspruch, darin die Essenz der Marke packen zu wollen. Das ist aber wichtig zu bedenken, weil ich glaube, dass Marken in der jetzigen Medienlandschaft häufig zerfasern, einfach weil sie gar nicht die formalen Mittel haben, um auf diesen Kanälen zu kommunizieren. Ein Logo ist ein System: Es kann sich responsiv durch alle Medien skalieren. Vom kleinen Zeichen zur großen Kennzeichnung auf Gebäuden – das muss ein Logo heutzutage leisten. Sind heute Social-Media- Kanäle auch Treiber dafür, dass Marken ab und zu ein Make-over brauchen? Für ein Make-over kann es verschiedene Motivationen und Impulse geben. Darunter sind auch formale Gegebenheiten wie SocialMedia-Kanäle – davon kann man sich treiben lassen oder auch nicht. Zum anderen haben wir bei Kunden häufig die Situation, dass sich Geschäftsmodelle radikal ändern: Unternehmen bekommen Konkurrenz von anderen, die ihr Geschäft nur im Internet verankern, und das Produkt selbst ist die Applikation, die ich im Netz erreichen kann. Da steht gar kein real produziertes Produkt dahinter. In solchen Märkten positionieren sich die Unternehmen dann neu. Und um das nach außen tragen und klar und authentisch kommunizieren zu können, macht es Sinn, auch am Markenzeichen zu arbeiten.
Ich finde es schwierig, einem bestimmten Zeitgeist oder Trend im Markenzeichen hinterherzurennen. Das ist das Gegenteil von authentischer Kommunikation. Haben Sie ein Beispiel? Es gibt den Trend in den vergangenen fünf Jahren, möglichst emotional, empathisch und menschlich nah zu wirken. Das kommt aus einer gesamtwirtschaftlichen Tendenz, aus einem Servicegedanken heraus. Der schlug sich nieder in Markenzeichen, die sehr rund, sehr organisch und sehr farbig funktioniert haben. Aber wenn wir immer wieder solche Zeichen in die Welt hinausschicken, werden sie verwechselbar. Nach Diskussionen um die neuen Logos von Mini, Real Madrid oder LG – gibt es ein Logo, das sich Ihnen nicht erschließt? Da fällt mir keines ein. Als Gestalter sieht man ja häufig auch die Motivation hinter dem, was geschaffen wurde. Das hindert mich daran, konkret zu urteilen, weil ich immer die Prozesse sehe, die die Kollegen durchgemacht haben, um auf dieses Ergebnis zu kommen. Ich kenne die Abstimmungsrunden mit Kunden und weiß, dass das, was am Ende den Markt erreicht, nur selten das ist, was die Designer vorgeschlagen haben. Wahrscheinlich muss man den Abstand nehmen und sich denken: „Jetzt guck da doch mal nur als Grafiker drauf!“ Aber das gelingt mir kaum. Ich habe vor dem Interview eine kleine Umfrage in der Redaktion darüber gemacht, was
Die Berliner Agenturräume waren früher die Privatwohnung eines Filmproduzenten, im imposanten Fahrstuhl feierte schon Brad Pitt. Kirmse nahm lieber die Treppe.
meinen Kollegen ganz spontan zu Saarbrücken einfiel. Die Antworten reichten von „die Saar“ über „liegt das bei Saarlouis?“, eine bekannte Gesundheitshochschule und den Max-Ophüls-Preis bis zu „soll ziemlich hässlich sein“. Wie finden Sie es denn? Ich finde Saarbrücken überhaupt nicht hässlich! Die Zeit, die ich dort verbracht habe, war sehr angenehm, ruhig und mit einer ho-
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hen Lebensqualität. Man nimmt sich die Zeit, gut zu essen und den Mittag zu genießen. Ich habe Saarbrücken als sehr nahbare, menschliche und emotionale Stadt empfunden und finde sie auch architektonisch nicht hässlich. Sie hat zwar das Problem vieler deutscher Innenstädte, dass dort in den 70er Jahren Dinge gebaut wurden, die uns heute merkwürdig erscheinen, aber es gibt einen wunderschönen Altstadtkern. Nur die Saaarbrücker leiden unter mangelndem Selbstbewusstsein, weil sie so am Rand von Deutschland stehen.
Kunden haben, unterscheidet sich der Prozess von dem für eine Unternehmensmarke. Man könnte auch in Saarbrücken Entscheidungen top down fällen, aber ich glaube, dass das Ergebnis dann gefährdet ist. Was haben Sie dagegen getan? Wir haben angefangen, die ersten Ideen in Workshop-Modulen immer wieder vor allen Beteiligten, in der Stadtverwaltung und vor ausgewählten Stakeholdern, zu zeigen und deren Rückmeldung in den nächsten Schritt zu integrieren. Ich bin davon überzeugt, dass das
An welchen Dingen orientieren Sie sich bei der Logoentwicklung für etwas so Abstraktes wie eine Stadt? Das ist ein Prozess, der sich am Anfang gar nicht so sehr davon unterscheidet, für eine Unternehmensmarke zu arbeiten. Wir versuchen, ihn so aufzusetzen, dass er fast wellenförmig funktioniert. Zu Beginn laden sich die Designer erst einmal mit ganz vielem auf, fragen und sprechen mit Menschen vor Ort, was die Stadt ausmacht. Die Zeit geben wir ihnen auch: Sie lesen, hören Musik, sehen Bilder. Wir waren vor Ort und haben eine Fotodoku für alle beteiligten Kreativen gemacht. Nach diesem Aufladeprozess hoffe ich immer, dass das Team viele kleine Fäden findet, an denen man ziehen kann und an denen entlang Neues entsteht. Nach dem ersten Schritt, in dem wir viel sortieren und erste Ideen auch wieder verwerfen, folgt der zweite, in dem wir uns auf bestimmte Punkte fokussieren. Erst ab dem Moment, in dem wir den ersten Kontakt mit dem
klassische Modell der Agentur als Black Box – steck ein Briefing rein und am Ende kommen drei Entwürfe raus – nicht mehr funktioniert. Welche Stakeholder waren noch beteiligt? Der gesamte Stadtrat, dazu Vertreter von jedem der städtischen Betriebe – die sollten auch integriert werden, weil deren Branding auf dem der Stadt basiert. Dazu gab es Beteiligte von verschiedenen Interessengemeinschaften und jemandem vom Behindertenverband, der Impulse zur Lesbarkeit und Integration einbrachte. Das war spannend und wichtig. Das klingt nach viel Abstimmungsaufwand. Ja. Man stellt sich einer Diskussion, und das mag nicht jede Agentur, denn Dialog kann auch anstrengend sein. Man kann nicht immer damit rechnen, dass alle „Juhu“ schreien, aber ich glaube, dass man nur durch den Dialog wichtige Dinge erfährt, die einem entgehen, wenn man in Berlin in der Agentur sitzt und beim formalen Designerdenken bleibt.
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Was steckt hinter dem Konzept Change Branding? Das ist ein Konzept, das wir entwickelt haben. Wir nutzen Fragen aus dem Change Management wie zum Beispiel: „Wie schaffen wir es, im Unternehmen Veränderungen in die Belegschaft zu tragen?“ und integrieren möglichst viele Stakeholder vor Ort so früh wie möglich in den Prozess, um sie für die Veränderung zu sensibilisieren und damit aus Betroffenen Beteiligte zu machen. Wir schauen, wie wir die Ergebnisse ehrlich und klar nach außen kommunizieren. Und das verbunden mit dem, was wir jeden Tag machen, nämlich Branding. Wenn man eine Marke anfasst, gibt es unterschiedliche Impulse: Einige Menschen möchten keine Veränderung, weil die zwar mit dem, was sie machen, gar nichts zu tun hat, aber die Ängste sind trotzdem da: Mein Arbeitsplatz verändert sich, mein Unternehmen verändert sich. Wir haben den nützlichen Blick von außen, aber können den Blick von innen nur abholen, indem wir möglichst viele Menschen integrieren. Change Branding soll auch bewirken, dass durch einen integrativen Prozess unsere Arbeit möglichst schnell ins Unternehmen getragen wird. Wird der vermehrte Dialog als Zeichen der Wertschätzung gesehen? Arbeit bedeutet auch Überzeugungsarbeit beim Kunden, weil das Modell neu ist und im klassischen Marketing nur selten so gemacht wird. Wir sind davon überzeugt, dass das einen finanziellen Mehrwert hat, weil wir in der Implementierung viel weniger praktische und emotionale Widerstände erfahren. Wenn in der Runde auch die städtischen Betriebe s aßen, kamen die Anschlussauf träge für deren R e-Branding automatisch? Nee (lacht). Es hat eher sogar den Prozess der Identitätsfindung für Saarbrücken schwieriger gemacht, weil es genau die Vorgabe für diese Integration gab. Das Briefing war: ein Branding-System zu entwickeln, das diese Unternehmen mittragen. Die Kombination aus Stadtmarke und städtischem Unternehmen sollte möglich sein. Es gab also keinen Folgeauftrag, sondern ein komplexeres System. Gerade bei einer Stadt sind die Widerstände relativ hoch, aber auch extravagante Designentwürfe müssen ja irgendwann mal auf die Straße. Bekommen die städtischen Unternehmen dann alle zwei Logos? Am Ende gab es leichte Modifikationen in ihren eigenen Zeichen, um sie harmonisch ans neue Saarbrücken-Logo anzupassen. Es war wichtig, alle Beteiligten mitzunehmen. Stake-
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Vorher – nachher: Das alte (l.) und das neue Logo von Saarbrücken (Mitte). Auch Hannover wirbt mit einer typologischen Lösung in der Absenderkennung.
holder sehen selten den Punkt, dass wir mit einem einheitlichen Designsystem auch monetäre Ersparnisse haben, denn wir schaffen Standards. Wie ist ein Briefpapier aufgebaut? Wie sieht ein Formular aus? Wir haben nicht mehr hundert verschiedene davon in der Stadt, sondern nur noch ein System, aus dem sich alles ableitet. Das erleichtert die tägliche Arbeit. Wir haben genau erklärt, warum wir das machen und was die Vorteile sind. Es geht nicht immer nur darum, bis ins letzte Detail den Markenwert zu kommunizieren, sondern Branding hat immer auch eine ganz praktische Komponente. Die Lösung ist sehr typografisch. Wie entstand sie? Aus dem Briefing ergab sich die eher niedrigkomplexe typografische Lösung, die es uns erlaubt, in die städtischen Unternehmen hinein Marke zu machen. Die kompakte Form im Quadrat kam aus dem Designteam heraus, in dem ein Kollege sagte: „Mein Bild zu Saarbrücken ist die Saar, die sich durch die Berge schlängelt.“ Das war der kleine Faden, an dem gezogen wurde, und dahinter öffnete sich eine ganze Welt. Und auch die Buchstaben trennen sich entsprechend der Stadt, die im kleinen Tal zwischen zwei Bergen steht. Die Saar fließt zwischen den Bergen, sie macht genau in Saarbrücken eine Kurve. Es erinnert ein wenig an das Logo von Hannover. Am Ende des Prozesses ist uns die Nähe zu Hannover auch begegnet und wir haben sie intensiv mit dem Kunden diskutiert. Aber hier geht es nicht darum, innerhalb einer Designszene als besonders einzigartig oder kreativ dazustehen, sondern eine gute Lösung zu finden, mit der sich die Menschen identifizieren können, die eine typografische Einfachheit hat und dass wir es gut ausrollen können. Unabhängig von der Hannover-Trennung waren wir inhaltlich total überzeugt von der Berg-Fluss-Komponente. Die Diskussion um die Ähnlichkeit tauchte erst auf, als die Öffentlichkeit aufmerksam und ein Design-Tagebuch veröffentlicht wurde. Gab es den Claim „Hautpstadt. Ganz nah“ schon?
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Der wurde von einer Partneragentur in Saarbrücken neu entwickelt. Wir sind selten diejenigen, die direkt in den Medien agieren, sondern entwickeln eher die Systeme, auf deren Grundlage Kollegen in anderen Agenturen arbeiten können. Die machen dann die konkrete Kommunikation und die Kampagnen. Wir haben mit der Agentur telefoniert, Vorschläge geschickt und ein System entwickelt, in dem man neben das Logo verschiedene Dinge setzen kann wie zum Beispiel ein zweites, ein Co-Branding oder einen Inhalt. Und die Saarbrücker Kollegen haben das dann für ihre Kampagne „Hauptstadt. Ganz nah“ verwendet. Wo muss das neue Logo jetzt überall hin? Ich kann mir vorstellen, dass man diesen Punkt gerne unterschätzt. (Lacht) Ja. Das ist wieder ein Thema, das wir über den Change-Branding-Prozess abholen. Uns gibt es als Agentur schon seit 30 Jahren. Aber zu sagen, wir könnten bei aller Erfahrung abschätzen, an welcher Stelle dieses Markenzeichen auftauchen wird, in welchem Formular es in welcher Größe programmiert sein muss – das wäre vermessen. Bei einer kleinen Unternehmensmarke oder einem Mittelständler kann ich das wissen – aber nicht bei einer ganzen Stadt. Aber das ist das Schöne an den Workshop-Modulen: Da wird all das abgefragt, inklusive der Designgrößen. Was hat Sie in dem Prozess am meisten überrascht? Mich beeindrucken immer wieder die verschiedenen Arten, in denen Formularköpfe angelegt sind. Und welche Diskussionen wir dann führen. Wenn ich zum Beispiel mit der IT-Abteilung eines städtischen Betriebs über Acht- versus Zwölf-Punkt-Schriftgröße spreche, nachdem mir der Integrationsbeauftragte der Stadt gesagt hat, dass 8,5 Punkt für bestimmte Altersgruppen einfach nicht lesbar ist, und mir die IT dann zurückspiegelt, was die Umstellung an Manntagen beziehungsweise -wochen bedeutet, dann bin ich beeindruckt von der Tiefe der Veränderung, die wir auslösen können. (lacht)
Wie waren die ersten Reaktionen auf das neue Logo? Durchweg positiv. (zögert) Für ein Stadt-Branding aus meiner Erfahrung fast schon zu positiv. Warum so skeptisch? Wir haben in den vergangenen Jahren über „be Berlin“, das Rebranding von Riga bis zu dem von Stuttgart viel erlebt. Das visuelle Rebranding einer Stadt erzeugt immer Debatten, weil natürlich viele Interessengruppen mitreden und sich verwirklichen möchten. Ich habe bisher kein Rebranding einer Stadt erlebt, das durchweg positiv besprochen wurde. Das war in Saarbrücken auch nicht so, aber der Rückhalt ist sehr groß. Das freut mich für die Marketing-Verantwortlichen der Stadt, die in den kommenden Jahren damit arbeiten. Reden hilft also? Unbedingt. Dialog hilft. Sich seiner eigenen Position bewusst zu werden, hilft auch immer. Das Prinzip der Agentur als Black Box ist tot. Agenturen müssen mal runterkommen vom Elfenbeinturm und von der Denke, alles zu wissen und alles schon gemacht zu haben. Sich auf neue Kunden komplett einzulassen und genau hinzuhören – das hilft. Was würden Sie gerne mal gestalten? Ich würde gerne die Bundesliga rebranden. Am liebsten die zweite oder dritte Liga. Das ist hochemotional und bestimmt vieler Menschen Leben und Freizeit. Da gibt es noch einiges zu tun. _
Sebastian Kirmse ist Creative Director bei wirDesign, einer Agentur für Kreation und Markeninszenierung mit Sitz in Berlin und Braunschweig. Zuvor war er Senior Art Director bei den Taikonauten und Design Director bei Kleiner und Bold. Kirmse studierte Kommunikationsdesign an der Bauhaus University of Appllied Sciences, liebt Landschaftsarchitektur und zeitgenössische Fotografie.
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