4 minute read

Total digital

Digitale Spätstarter

In der Coronakrise setzen Regierungen, Parteien und Politiker in ihrer Kommunikation verstärkt auf Online-Tools. Zoom, Jodel, TikTok, Telegram, Streaming – plötzlich ist vieles möglich.

Von MARTIN FUCHS

Immer noch reibe ich mir jeden Tag erstaunt die Augen, wenn ich sehe, wie massiv sich Politik und Verwaltung in der Krise digitalisieren. Ähnlich verwundert waren viele der rund 40.000 Teilnehmer*innen des WirVsVirus-Hackathons der Bundesregierung, die sich noch vor wenigen Wochen nicht vorstellen konnten, für und mit der Bundesregierung zu hacken und in 48 Stunden mehr als 1.500 zivilgesellschaftliche Tools zu programmieren. Diese sollen Staat, Gesellschaft und Bürger*innen in der Krise unterstützen. Viele dieser Projekte wird es auch nach der Coronakrise geben. Nicht zuletzt diese vielfältigen Impulse werden Deutschland auf ein neues Digitalisierungsniveau heben.

Durch Kontaktverbote, Homeoffice und die Abkehr von ausschließlich analogen Politikformaten merken nun erstmals viele Verantwortliche in Ämtern und Parteistrukturen, dass das Internet eben nicht nur Spielwiese für einige Digital Natives ist, sondern zur „Selbstverständlichkeit“ geworden ist, wie es Dirk von Gehlen in der „Süddeutschen Zeitung“ richtig beschrieb. Ohne Internet und digitale Plattformen, Videokonferenzsysteme und Kollaborations-Tools wären vielerorts die politische Kommunikation und das Verwaltungshandeln zum Erliegen gekommen.

Neue Wege

Selbstverständlich ist vieles davon nicht komplett neu, einige Formate und Tools werden seit Jahren angewendet. Aber bisher eben nur in der Nische. In der Breite konnten sich aufgrund von Datenschutzbedenken, fehlenden Kompetenzen und dem Ver

Beim WirVsVirus-Hackathon der Bundesregierung entwickelten rund 40.000 Teilnehmer mehr als 1.500 Lösungen zur Bewältigung der Coronakrise.

weis auf Geschäftsordnungen und Gesetze digitale Formate, Prozesse und Workflows noch nicht zum Standard entwickeln. Nun werden sie täglich angewendet. Nutzer sammeln positive Erfahrungen. Sie sehen, welche Vorteile die Digitalisierung für den eigenen Alltag haben kann. Dieser kulturelle Erfahrungsschatz und die Lernkurve werden nachhaltig auf Politik und Verwaltung wirken.

Im Bundestag vollzog sich am 25. März 2020 eine dieser disruptiven Veränderungen, ich würde sogar sagen, eine Revolution. Die Geschäftsordnung wurde dahingehend geändert, dass vorerst bis zum 30. September 2020 temporär Ausschusssitzungen auch über „elektronische Kommunikationsmittel“ zulässig sind. Das hohe Haus und auch einige Landesparlamente

erlauben nun also auch ohne Vor-Ort-Präsenz die aktive Gesetzesgestaltung. Ein fast undenkbarer Kulturwandel, betrachtet man die seit Jahren zelebrierte extreme Abneigung des Bundestags gegenüber einer Präsenz auf digitalen Plattformen zur Bürger*innenKommunikation. Endlich ist es somit unter anderem Abgeordneten mit Kindern möglich, Parlament und Familie besser zu vereinbaren.

Gesundheitlich und mobil eingeschränkten Politiker*innen ermöglicht diese Regelung, sich weiter zu beteiligen. Es besteht grundsätzlich die Chance, die wichtige Präsenz im Wahlkreis auszubauen, ohne die Arbeit in Berlin zu vernachlässigen. Der Reichstag wird weiterhin der wichtigste Ort für die deutsche Legislative bleiben, ein Arbeitsparlament lebt davon, dass Menschen physisch aufeinandertreffen. Die neuen Möglichkeiten erweitern das Arbeitsspektrum enorm und katapultieren die wichtigste demokratische Institution in die Arbeitsrealität des Jahres 2020.

Parteiübergreifend digitaler

Einige Beispiele aus der Coronakrise zeigen, dass auf vielen Ebenen erhebliche Schritte in Sachen digitaler Politik gemacht werden:

• Bündnis 90/Die Grünen haben ihre schon digital organisierte Partei weiter durchdigitalisiert. Nun gibt es Webinare für Parteimitglieder, eine eigene Datencloud, eine mobile Mitglieder-App, einen parteiinternen Messenger, Onlineversammlun gen und Neumitgliedertreffen via Video. Auch die Arbeit am Grundsatzprogramm geht ganz normal digital weiter. • Am 2. Mai wird es den ersten „digitalen Bundesparteitag“ der Grünen geben, der ausschließlich im

Netz vorbereitet und veranstaltet wird. • In Düsseldorf fand der erste Online-Video-Stammtisch des CDU-Kreisverbandes mit Hilfe des Videokonferenzsystems Zoom statt. • Die LINKE Essen organisiert nun ihre komplette

Vorstandskommunikation über einen Discord-Server. Die Treffen der Arbeitskreise und Ortsgruppen werden über Nextcloud und Zoom ermöglicht. • In Augustusburg (Sachsen) informiert der Bürgermeister nun täglich über Youtube und eine eigene Stadt-App in kurzen Live-Videos über den Stand von Corona. Ähnliche Angebote gibt es in weiteren Städten wie Trier, Steinburg, Moers, Otterbach-Otterberg und dem Landkreis Ludwigslust-Parchim.

Nutzer sammeln positive Erfahrungen. Sie sehen, welche Vorteile die Digitalisierung für den eigenen Alltag haben kann.

• Der Hamburger Senat startete bei der hyperlokalen Jodel-App als erste Regierungsinstitution ein kontinuierliches Informationsangebot zu Corona. Die Bundesregierung stellte sich auf der Plattform in Person von Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) erstmals einem „Ask me anything“. • Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mit Minister Jens Spahn (CDU) informieren nun auch über die Video-App TikTok. Allein das BMG erzielte innerhalb der ersten 24 Stunden rund 1,2 Millionen Aufrufe für ihr erstes Video. Das Informationsbedürfnis in der Gruppe der 14- bis 20-Jährigen scheint enorm. • Der Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs (SPD) bot eine digitale Berlinfahrt in Echtzeit an – inklusive Busfahrt, Berlinrundfahrt und Bundestagsführung. • Das Saarland startete als erstes Bundesland automatisierte Chatbot-Systeme auf Facebook, Notify und Telegram für Corona-Fragen von Bürger*innen. • Die Länder Berlin, Baden-Württemberg, Hamburg und Sachsen-Anhalt streamen nun ihre Landespressekonferenzen auf verschiedenen Portalen live inklusive Gebärdendolmetschern.

Die Krise als Chance ist ein zuletzt arg strapazierter Terminus. In den kommenden Wochen werden noch viele Herausforderungen auf uns zukommen. Nicht nur in den Bereichen Datenschutz, Bürger*innen- und Freiheitsrechte, sondern ganz konkret in dem gesundheitspolitischen Management der Krise. Trotzdem werden viele kulturelle Erfahrungen, Instrumente, digitale Ideen und Lösungen das Land weit über die Virusbekämpfung hinaus prägen. ×

Martin Fuchs

berät Regierungen, Parlamente, Parteien und Verwaltungen in digitaler Kommunikation. Zudem ist er Gründer der SocialMedia-Analyse-Plattform Pluragraph. de und bloggt unter www. hamburgerwahlbeobachter. de.

This article is from: