Recruting

Page 1

T H E M A

R E C R U I T I N G


EDITORIAL

Alles neu...?

Fachkräftemangel? Nicht mit uns!

A

Einfache und effiziente Talentacquise, Weiterentwicklung, Nachfolgeplannung und Personalmanagement mit Cornerstone

lles neu, macht der Mai, macht die Seele frisch und frei.“ Hermann Adam von Kamp, Dichter dieser Zeilen, beschwor im Jahr 1818 den Frühlingsbeginn und mehr noch: den Beginn eines jeden Neuanfangs. Dies hier ist mein Neuanfang als Leiterin des Human Resources Manager. Ohne die Lust, den Eifer, die Beharrlichkeit und den unbedingten Willen das Heft weiter voranzutreiben, hätte das Magazin nicht seine heutige Qualität. Meinem Vorgänger ist es gelungen, das Magazin mit Alleinstellungsmerkmal in der HR-Publikationslandschaft hervorzuheben. Und manchmal vermag gerade ein frischer Blick diese Dynamik weiterzuführen. Dies also ist mein Versuch. Ein Neuanfang wird stets begleitet von Veränderung, Umgewöhnung, Ab- und Aufbruch. Sie halten das Magazin in Ihren Händen und werden beim Durchblättern hier und da Neuerungen feststellen. Doch soll Sie die Lust am Neuen nicht überfordern und Sie missmutig im Blätterwald stehen lassen. Darum: sanfte Modifikationen nach dem peu-à-peu-Prinzip, maßvoll und wie es allerorten heißt: im Soft Change. Schließlich ist Jegliches, das uns begegnet, unfertig, im Wandel. So auch das Recruiting, unser aktueller Heftschwerpunkt. Personalbeschaffung bleibt ein Dauerthema und ist es deswegen wert, erneut aufgegriffen zu werden. Denn Systeme, gleich ob Unternehmen, Klima oder Politik, verändern sich immerzu. Doch wie mit diesen Umbrüchen umgehen? Ein Blick zurück oder in das Buch „Die Welt aus den Angeln“ von Philipp Blom kann auf die Sprünge helfen: Wie überlebten die Menschen im 17. Jahrhundert

cornerstoneondemand.de

Die Veranstaltung für HR Experten. Erfahren Sie, wo deutsche Unternehmen & HR im europäischen Vergleich stehen & wie Sie den digitalen Wandel meistern können. Jetzt anmelden unter: bit.ly/MakeItTour

den plötzlichen Kälteeinbruch, die „kleine Eiszeit“? Indem sie die Veränderungen annahmen und das Leben mit Vorausschau, Weitsicht und Nachhaltigkeit planten. So konnte sich Europa innerhalb von nur vier Generationen grundlegend verändern: Seitdem dreht sich die Erde um die Sonne, ist die Landwirtschaft ihren antiken Methoden entwachsen, haben sich Gesellschaft und Wirtschaft grundlegend gewandelt. Zu Beginn eines jeden Wandels stehen das Eingeständnis der veränderten Vorzeichen und die besonnene Suche nach neuen Wegen.Doch sollten uns die scheinbar unzähligen Handlungsmöglichkeiten nicht von einem abhalten: Maß zu halten. Neue Trends zu erkennen, ist das eine. Ihnen blind hinterher zu jagen, das andere. Anhaltende Jagd ermüdet; sie erschöpft unsere Reserven bis die Quelle versiegt. Einfache Losungen marktschreierischer Verführer spiegeln die Verunsicherung einer Gesellschaft wider; doch bieten sie kaum Erhellendes. Die Zeichen der Zeit zu erkennen, Simplifizierungen zu widerstehen und maßvoll reflektierend das Neue zu erproben. Darum sollten wir uns bemühen. Und für das Recruiting gilt: Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein, uns auf das, was gelingt, zu verlassen und gleichzeitig mit klarem Blick, bedacht das Neue auszuwählen. Nicht ad hoc, sondern abwägend. Nicht verängstigt, sondern mutig. Ich freue mich auf eine spannende, lehrreiche und interessante Zeit mit Ihnen und dem Magazin und wünsche Ihnen eine famose Lektüre. Das Schlusswort erhält Hermann Hesse, denn treffender als er, lässt es sich einfach nicht sagen: Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt So droht Erschlaffen Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Hannah Petersohn Leitende Redakteurin Human Resources Manager

Am Anfang steht die Neugierde. Uns interessiert, was Sie mögen und missen, schätzen und schassen möchten. Schreiben Sie uns! redaktion@humanresourcesmanager.de

ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

3


INHALT Richtig verhandeln? Jack Nasher erklärt wie.

4

Kriminalpsychologe Thomas Müller über Profiling im Recruiting.

SCHWERPUNKT: RECRUITING 21 Prolog 22 Ich kenn da jemanden... Mitarbeiterempfehlungen gelten als effektivstes Recruiting-Instrument 28 Nehmt euch ein Beispiel! Drei Varianten modernen Recruitings 30 Lernen vom Profiler Im Gespräch mit Kriminalpsychologe Thomas Müller über Spuren, Motive und Entscheidungen 36 Das Team hat die Wahl In schwedischen Firmen entscheiden die Teams über Einstellungen 38 Z-kompatibel Mit der Generation Z kennt er sich aus: Wirtschaftswissenschaftler Christian Scholz im Interview 43 post, pray, lose Ohne digitale Kompetenzen läuft im Recruiting gar nichts mehr

46 Der Algorithmus entscheidet Automatisierte Auswahlprozesse versprechen eine hohe Effektivität. Ganz ohne den Menschen geht es aber doch nicht 48 Grenzübergreifend Für seine Firma ging Karl Breer in Spanien auf Nachwuchssuche. Und bekam Widerstand zu spüren 52 Altersgerechtes Recruiting Wie sich Kandidaten am besten finden lassen, hängt auch davon ab, wie alt sie sind. 56 Digitale Helferlein Welche Technik-Trends bei der Personalsuche helfen können 60 Maschinendialog Chatbots könnten das Recruiting revolutionieren, glaubt unser Bot-Experte. Ein Gespräch 62 Epilog

Ständige Trainerwechsel zehren am Teamspirit.

www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

PRAXIS

64 Loyalität ist alles Mitarbeiter sollen Fans ihrer Unternehmen sein. Ist das zu viel verlangt? 70 Immer up to date Wie Unternehmen lebenslanges Lernen unterstützen können 72 Kreativitätsfabrik Michael Hasenpusch und Mark Schneider über den Open Innovation Space von Ottobock

88 S ieben Gedanken Verhandeln 89 Meine digitale Welt Bei Stefan Scheller läuft vieles digtal. Fitness-Apps sind ihm dennoch ein Graus 90 Bücher Weltengrusel und Personalplanung

64

Fan oder Feind? Über Loyalität von Mitarbeitern.

ANALYSE

Fotos: wikimedia - Adam Lazzarato; Anna McMaster; Privat

16

30

Titelbild: wikimedia – Oscar Wood, public domain

3 Editorial 6 Desktop Ein Tisch sagt mehr als tausend Worte 8 Zahlen & Zitate 12 Gesunde Zukunft Wie die Betriebliche Gesundheitsförderung künftig aussehen könnte 14 Zum Wohle aller Mitarbeiterbeteiligung als Gestaltungsmittel neuer Arbeitswelten 16 Jeden Tag ein neuer Chef Häufige Trainerwechsel schaden nicht nur im Fußball der Teamleistung 18 Umfrage Sollten Personaler die „Facebook-Freundschaft“ mit Mitarbeitern suchen oder annehmen?

Fotos: wikimedia - Nicke L; René Ruis

MEINUNG

IM FOKUS

88

RECHT 92 Aktuelle Urteile 94 Dünnes Eis Welche Fragen Recruiter im Bewerbungsgespräch besser meiden sollten 95 Impressum

VERBAND 98 Rückblick BPM Forum zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie 100 Neues Zeitalter Warum Personaler sich verändern müssen 101 Personalmanagement Award 102 Termine 104 CEB Insights Eine positive Candidate Experience ist im Recruiting entscheidend

78 Kultursorgen Übernehmen chinesische Investoren deutsche Unternehmen, drohen vielfältige Konflikte 82 Zuviel des Guten Warum in Sachen Kompetenzen „mehr“ nicht unbedingt „besser“ ist 84 Sich selbst im Weg stehen Selbst-Sabotage der Mitarbeiter ist in Unternehmen ein noch zu wenig beachtetes Phänomen

ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

106

Fragebogen Juliane Müller, Globalways 5


MEINUNG

IT‘S TIME TO BLOW UP HR!

Desktop Liebe Leserinnen und Leser, an dieser Stelle wird Ihnen ein Einblick in einen, in diesem Fall meinen, Alltag gewährt. Vorweg: Dieser Schreibtisch ist normalerweise leer und aufgeräumt, allerdings wäre das langweilig. Deswegen liegen einige Dinge, die sonst in Schubladen lagern, zur Abwechslung auf dem Tisch.

6

7 8 3 4

5

2

Be bold Be global Be you

1

Es war bis zur Jahrtausendwende das Markenzeichen einer Berufsgattung. Das Sakko von Reporterlegende Günther Wallraff hat es sogar in eine Ausstellung geschafft. Und weil ich sentimental bin und mir sein Anblick ein sicheres Gefühl gibt, hängt mein Jackett stets über der Stuhllehne. Selten glatt, eher zerknittert und ganz wichtig: grober Stoff (hält alles aus) und imponierende Seitentasche (hält alles drin). 2 AUFNAHMEGERÄT

Unerlässlich. Es gibt einen beachtlichen Unterschied zwischen dem Inhalt, der während eines Gesprächs wahrgenommen wird und dem, der sich auf dem Diktiergerät wiederfindet.

Stätte. Deswegen die Postkarte. Es genügt, sie anzusehen, sich zu erinnern und plötzlich fällt das Licht ein wenig anders. 4 SCHWARZES NOTIZBUCH

Angelegt während der Hospitanz bei einem Nachrichtenmagazin folgt es einer dreifaltigen Logik: im ersten Teil, die Fremdwörter: heuristisch, trassieren, axiomatisch. Nie benutzt, trotzdem gut. In der Mitte: die Synonyme! Dartun, skizzieren, entwerfen, erörtern. Das Beste am Ende: schöne Wörter, Wortneuschöpfungen und Versatzstücke. Bionade-Biedermeier, mickrig, Petitesse, baldowern, Mumpitz, konforme Sprachmätzchen (Auswahl). 5 BANANE

3 POSTKARTE

Ich bin, siehe oben, sentimental. Es gibt Erinnerungsorte, Stätten der Adolszenz, die selig und sorglos stimmen. Ab und an sogar mehr Heimat sind als der Wohnort. Die Halbinsel Wittow auf Rügen ist so eine 6

Ich kann ungemütlich werden, wenn der Hunger kommt. Die Banane ist ein Symbol, nur drapiert, extra fürs Foto. Ein Power-Riegel mit irgendwelchen verrückten Eiweißmolekülen liegt in meinem Schubfach. Schmeckt nicht, erfüllt aber seinen Zweck.

6 LAMPE

Machen wir uns nichts vor: Es kann spät werden. Gruseliges, kaltes Decken-Neonlicht ist nicht förderlich fürs Wohlgefühl. Also Lampe mit Retro-Glühfaden.

Wir suchen die HR Natives von Morgen.

7 KRAM

Irgendwo muss er ja hin, der Kram. Ursprünglich wuchsen in dem KeramikTopf Blumen, aber die haben aufgegeben. Notizzettel, Stifte und Notfallkopfschmerztabletten (man weiß nie) gedeihen fort.

Als LEADER IN DIGITAL TRANSFORMATION setzt Capgemini Consulting weltweit innovative HR-Projekte um. Werden Sie Teil unseres HR-Netzwerks und geben Sie Ihre Leidenschaft an unsere Kunden weiter.

8 ROTES BÄNDCHEN

Bisschen kitschig, aber sei‘s drum: Das Brecht-Bändchen habe ich vor Jahren meinen Eltern gemopst. Es begleitet mich bis heute. Und drum zu Abschluss und als Mahnung: Brecht-Gedicht! Was an dir Berg war Haben sie geschleift Und dein Tal Schüttete man zu Über Dich führt Ein bequemer Weg. www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

Foto: Julia Nimke

1 JOURNALISTEN-JACKETT

Capgemini Consulting is the strategy and transformation consulting brand of the Capgemini Group


SCHWERPUNKT RECRUITING

TITEL

TITEL

P R O L O G

EINGANGSBESTÄTIGUNG Sehr geehrter [...], wir bedanken uns für die Übersendung Ihrer Bewerbungsunterlagen und freuen uns über Ihr Interesse an einer Mitarbeit in unserem Unternehmen. Gerne gleichen wir Ihre Qualifikationen mit unserem Anforderungsprofil ab und kommen schnellstmöglich wieder auf Sie zurück. Nach eingehender Prüfung Ihrer Unterlagen werden wir uns wieder mit Ihnen in Verbindung setzen. Unsere Ausschreibung hat eine sehr große Resonanz gefunden, bitte haben Sie daher etwas Geduld. Sollte sich inzwischen etwas an Ihren Bewerbungsunterlagen ändern oder möchten Sie Ihr Profil ergänzen, können sie sich jederzeit in Ihren Bewerber-Bereich einloggen: https:// Eingang_Profil_beiguterFirma.com Mit freundlichen Grüßen Ihr Bewerbungsmanagement-Team

Vielen Dank für Ihre E-Mail, deren Eingang wir hiermit bestätigen. Mit freundlichen Grüßen Ihr Team Personalgewinnung

Unternehmen reagieren sehr unterschiedlich auf Bewerbungen: Von der Eingangsbestätigung bis zur Absage sind die qualitativen Unterschiede groß. Wir stellen Ihnen positive und negative Beispiele vor. Als gelungen gilt: eine persönliche Ansprache, ein Dank für die Mühe des Bewerbers, ein Hinweis auf baldige Rückmeldung und die Möglichkeit das eigene Kandidatenprofil zu ändern und zu ergänzen. Klingt selbstverständlich, ist es leider nicht.

20

www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

A

m Anfang eines jeden Recruitings steht die Reaktion auf den Bewerber. Und der macht so einiges mit: von zugewandten Eingangsbestätigungen über flapsige Empfangsmails, von individuellen Absagen bis hin zum unpersönlichen Standard-Nein oder dem Klassiker: gar keine Antwort. Doch kann es sich heute kein Unternehmen mehr leisten, Bewerber durch gedankenlose Reaktionen zu verprellen. Auf Online-Bewertungsplattformen lassen sie ihrem Frust freien Lauf, und um die Attraktivität des Arbeitgebers ist es im Nu geschehen. Wir zeigen in der Titelstrecke auf drei Seiten empfehlenswerte und weniger gelungene Reaktionen seitens der Unternehmen auf mutige Bewerber. Denn genau das sind sie: mutig! Sie entblößen und bemühen sich und sollten entsprechend wertgeschätzt werden. Das Recruitinggeschäft täte gut daran auf Nachhaltigkeit zu setzen und vorausschauend zu handeln: Der nicht ganz passgenaue Kandidat von heute könnte schon morgen die ideale Besetzung für eine andere Stelle im Unternehmen sein. Es geht also mehr denn je um Beziehungsarbeit. Übrigens: Eine telefonische Absage ist immer die bessere Wahl. Verbunden mit der Aufforderung sich bei einer anderen Gelegenheit wieder zu bewerben, kann eine Abfuhr schnell verdaut und das Unternehmen positiv in Erinnerung behalten werden. Und wer weiß: Vielleicht wird die Firma dann sogar weiterHANNAH PETERSOHN empfohlen, trotz Absage.

ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

21


TITEL

TITEL Festanstellungen, die sich aus einer Empfehlung ergeben, gibt es als Grundprämie einen Warengutschein im Wert von 500 Euro. Für die Einstellung eines Kandidaten mit einem sehr speziellen, ‚spitzen‘ Profil gibt es Bruttoprämien bis zu 5.000 Euro.“ Selbst für die Besetzung einer Praktikantenstelle zahle der Konzern eine 250-Euro-Bruttoprämie.

DAS EMPFEHLUNGSPRINZIP

„ Das ist die wohl beste, mächtigste und erfolgreichste Recruiting-Maßnahme.“ ARMIN TROST, Professor für Human Resource Management, Hochschule Furtwangen

Mittlerweile wird fast jede dritte Stelle über persönliche fehlungen gewinnen lassen, wollte er wissen, ob das bei größeren Unternehmen auch funktioniert. Das Problem bestand darin, dass die Mitarbeiter oft gar nicht wissen, welche Stellen ausgeschrieben sind. „Sie bekamen von den analogen Mitarbeiterempfehlungsprogrammen nichts mit“, erzählt Hoffmann. So entstand die Idee zu einer Software, die jeder Mitarbeiter mobil nutzen kann und mit deren Hilfe eine Empfehlung digital über soziale Medien ermöglicht wird. Die Kosten für die Talentry-Software variierten, abhängig von der Mitarbeiterzahl, zwischen 500 Euro monatlich bis hin zu mehreren tausend Euro bei großen global-agierenden Unternehmen. „Für jedes Unternehmen setzen wir eine individuelle Lösung auf: Es gibt eine Art eigene Webseite mit dem Firmenlogo, im Sinne der Corporate Identity gebrandet“, sagt Talentry-Gründer Hoffmann. Mitarbeiter registrieren sich auf der Seite, geben an, welche Stellen sie interessieren und erhalten einen Newsletter mit den entsprechenden Angeboten. Eine Ausschreibung kann dann als persönliche Nachricht verschickt oder in sozialen Netzwerken gepostet werden. Dabei könnten die Unternehmen selbst entscheiden, welche Art der Belohnung sie für eine Weiterempfehlung ausloben: Sachoder Geldprämie? Auch den Zeitpunkt der Honorierung legen die Firmen fest: direkt nach der Einstellung oder nach Abschluss der Probezeit? Der Handelskonzern Otto nutzt die Empfehlungsplattform seit zwei Jahren. Zuvor wurde mit dem hauseigenen, analogen Programm „Finderlohn“ gearbeitet. Allerdings brauchte man schon bald ein Programm, das bereichsübergreifend im gesamten Unternehmen funktioniert und alle ausgeschriebenen Stellen erfasst. „Talentry liefert die externe Datenbank, auf die wir zurückgreifen. Dort sind alle Stellen verfügbar“, sagt Bennet Schlotfeldt, Referent im Talent & Performance Management des Handelskonzerns. Auch bei Otto wird mit Prämien als Anreiz gearbeitet: „Für

Kontakte besetzt. Unternehmen nutzen immer öfter digitale Empfehlungsprogramme für Neueinstellungen.

Von Hannah Petersohn

A

us unserer Gesellschaft ist eine Empfehlungsgesellschaft geworden: Bevor wir etwas erwerben, schielen wir in einschlägigen Online-Portalen auf den Grad der Empfehlung, prüfen die vergebene Sternchenzahl und das Ranking. Es werden Bewertungen studiert, Erfahrungsberichte analysiert und nicht zuletzt der Freundeskreis kontaktiert. Aus dem Schlagwort Empfehlungsmarketing hat sich gleich ein ganzer Wirtschaftszweig entwickelt. Das Urteil eines Freundes wiegt meist schwerer als eine anonyme Sternchen-Vergabe. Ihm vertrauen wir mehr als anonymen Rankings und Beurteilungen. Das nutzen Personaler: In Deutschland wird mittlerweile fast jede dritte Stelle über persönliche Kontakte, also Empfehlungen, besetzt. 30 Prozent der Neueinstellungen gehen damit auf das Konto des Empfehlungs-Prinzips. Nur 14 Prozent der Einstellungen laufen über den traditionellen Weg der Stellenausschreibung in Printmedien. Zu diesen Ergebnissen kommt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). In Zeiten des Fachkräftemangels könnten damit Programme, die Empfehlungen digitalisieren, vereinfachen und beschleunigen, ein 22

BESTER KANDIDAT

probates Hilfsmittel sein, um das personelle Defizit auszugleichen. „Jedes Unternehmen, das auch nur einen Anflug von Fachkräftemangel spürt, muss Mitarbeiterempfehlungsprogramme nutzen“, sagt Armin Trost, Professor für Human Resource Management an der Hochschule Furtwangen. „Das ist die wohl beste, mächtigste und erfolgreichste Recruiting-Maßnahme.“ Trost ist überzeugt, dass Anreize in Form von Geld- oder Sachprämien die Voraussetzung dafür sind, dass Mitarbeiter ihr Unternehmen weiterempfehlen oder sich eigens auf Kandidatensuche begeben. Wenn der Mitarbeiter zum Headhunter wird, wolle der schließlich für seinen Empfehlungsaufwand belohnt werden. Der Hochschulprofessor kenne kein einziges Unternehmen, das ein solches Programm erfolgreich nutze ohne gewisse Boni in Aussicht zu stellen.

EIGENINITIATIV UMWERBEN Auf dem Markt gibt es verschiedene Anbieter, die die digitale Hardware für solche Mitarbeiterempfehlungsprogramme liefern. Das Münchener Unternehmen Talentry ist eines von ihnen. Carl Hoffmann, einer der drei Geschäftsführer der digitalen Empfehlungsplattform, habe am Anfang noch viel Aufklärungsarbeit leisten müssen, als sie mit dem Programm 2013 an den Start gingen. „Heute ist es in Unternehmen viel gängiger geworden, aktiv und selbstständig Kandidaten anzusprechen“, sagt Hoffmann. Der Markt habe sich stärker in Richtung Active Sourcing entwickelt. Unternehmen könnten nicht mehr einfach nur darauf hoffen, dass sich ein geeigneter Kandidat auf eine Ausschreibung bewirbt. Demografischer Wandel, generationale Unterschiede und der War for Talents zwingen Unternehmen, eigeninitiativ zur Tat zu schreiten. Als einer der heutigen Gründer von Talentry in seinem alten Job bemerkte, wie schnell und einfach sich neue Mitarbeiter über Emp-

Doch wäre es nicht besser, wenn Mitarbeiter einer inneren Motivation folgend ein Unternehmen weiterempfehlen? Die Diplom-Psychologin und Karriereberaterin Madeleine Leitner, jahrelang selbst als Recruiterin tätig, sieht Prämien-Systeme äußerst kritisch: „Alles, was mit Anreizprogrammen zu tun hat, ist doch Rattenpsychologie. Die Leute erhoffen sich einen Vorteil, wenn sie an Prämienprogrammen teilnehmen. Ein Mitarbeiter sollte im eigenen und im Interesse des potentiellen neuen Kollegen eine Stelle und damit ja auch das Unternehmen empfehlen.“ Aus psychologischer Sicht seien diese Versuche zumindest anrüchig. „Die meisten Firmen sind einfach schrecklich. Die Statistiken zeigen, dass nur wenige von sich aus gern zur Arbeit gehen und kaum jemand würde eine Empfehlung aussprechen, wenn es nicht diese Prämien-Programme gäbe“, sagt Leitner. Selbst Arnim Wahls, Geschäftsführer von Firstbird, einem weiteren Anbieter digitaler Empfehlungsprogramme, sieht Prämien bis zu einem gewissen Grad kritisch. Wahls hat festgestellt, dass die Vergabe von Prämien stark von der jeweiligen Unternehmenskultur abhängt: „In einer Anwaltskanzlei erwarten Mitarbeiter eher, dass es hohe Geldprämien gibt, sonst macht da keiner mit. In einer NGO oder Kindernothilfe wiederum werden Geldprämien als unangebracht empfunden.“

TOP TYP

„ Alles, was mit Anreizprogrammen zu tun hat, ist Rattenpsychologie. “ Fotos: Privat; Dorothee Elfring

Wird das Recruiting bald überflüssig?

RATTEN UND RATTENFÄNGER

MADELEINE LEITNER, Psychologin und Karriereberaterin

ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

23


TITEL

Wirtschaftsprofessor Armin Trost rät Unternehmen ohnehin, eher Sachprämien zu vergeben, weil diese stärker im Bewusstsein blieben. Er glaubt allerdings auch, Mitarbeiter würden stets die Geldprämie einer Sachprämie vorziehen. Trost eröffnet noch eine ganz andere Sicht auf monetäre Belohnungen: Ihm zufolge entschärfe eine solche Prämie im positiven Sinne das Gefühl der Verantwortung, das entstehe, wenn ein Mitarbeiter einen Kandidaten empfiehlt. „Man kann dem Ganzen mittels Geldprämien bewusst einen extrinsischen Charakter geben und dadurch zum Weiterempfehlen animieren“, sagt der Professor. Jeder hätte gerne die Prämie, und die Hemmschwelle zur Weiterempfehlung sinke mit der Aussicht auf das Geld. „Dann sage ich mir vielleicht: Gut, die Empfehlung war vielleicht nicht die beste, aber die 2.000 Euro waren es wert.“

*Geld stinkt nicht

24

„ In einer Anwaltskanzlei erwarten Mitarbeiter eher, dass es hohe Geldprämien gibt.“ ARNIM WAHLS, Geschäftsführer, Firstbird

PUNKTE SAMMELN MIT BIG DATA Das Thema Datenschutz ist im Zusammenhang von Mitarbeiterempfehlungsprogrammen nicht nebensächlich, schließlich wird jegliches Handeln, ob nun ein Post auf Facebook oder das Versenden einer Mail, mit dem Stelleninhalt gespeichert, neudeutsch:

AUSVERKAUF IM LEVEL-MODUS Doch leidet darunter nicht die Qualität einer Empfehlung? Nicht ohne Grund geistert bereits ein Raunen über den vermeintlichen „Ausverkauf der Empfehlungsprogramme“ durch die HR-Blogger-Szene. Befeuert wird die Kritik dadurch, dass manche Unternehmen selbst das reine Posten, also das Hochladen einer Stellenanzeige in den sozialen Netzwerken, honoriert. Wahls Firma Firstbird bietet dementsprechend neben dem klassischen Sach- oder Geldprämienmodell auch ein Bonussystem an, basierend auf spielerischen Anreizstrukturen. „Für jede Aktion, wie das Teilen eines Jobs auf Facebook, bekommt man Punkte, die dann zu bestimmten Levels führen. Als Unternehmen könnte ich also sagen: Jeder, der Level zehn erreicht hat, bekommt eine Flasche Wein.“ Wahls glaubt, auf diese Weise die Motivation der Empfehlenden zu steigern, schließlich habe nicht jeder Mitarbeiter sofort den perfekten Kandidaten für einen Job. Aber jeder habe die Möglichkeit, eine Stelle in seinem sozialen Netzwerk zu teilen. „Das sollte man auch honorieren und wenn einer zwanzig Jobs auf Linkedin teilt und fünf tolle Kandidaten an den Interviewtisch bringt, dann hat er seine Leistung erbracht“, sagt Wahls. „Der Mensch ist nur ganz Mensch, wo er spielt“, wusste der Dichter Friedrich Schiller. Gemäß diesen Mottos sieht Arnim Wahls in der Gamification, der Einbettung spielerischer Elemente, hier im Kontext der Personalbeschaffung, die Quelle der Motivation: „Bereits die Punkte sind Zeichen einer Wertschätzung des Empfehlenden.“ Er glaubt, der wichtigste Motivator sei neben der intrinsischen Motivation die Wertschätzung der Empfehlung und deren Kommunikation. Deswegen sind bei Talentry Empfehlungen auch für alle sichtbar. Wahls Konkurrent Carl Hoffmann lehnt ein solches Punktesystem ab. Er wolle den Fokus auf der Bewerberqualität legen: „Es wäre ein falscher Anreiz, schon die Reichweite eines Posts zu belohnen. Die Leute machen sich dann weniger Gedanken, welcher Kandidat wirklich gut passt.“ Der Begriff Empfehlung werde durch die Jagd nach Punkten verfälscht. Auch Professor Trost ist kein Fan des Gamification-Ansatzes. Er glaubt, dass die Differenzierung eines Systems wie hier in Punkwww. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

getrackt: „Immer, wenn jemand eine Stelle weiterempfiehlt, wird ein persönlicher Link generiert, über den sich dann nachvollziehen lässt, über welche Empfehlung jemand gekommen ist“, erklärt Talentry-Chef Hoffman. Arnim Wahls von Firstbird, sieht in dieser Kontrolle einen Vorteil: „Erst durch diese Nachvollziehbarkeit, dadurch, dass ich sehe, wenn ein Mitarbeiter einen Job auf Facebook teilt, kann ich das auch honorieren“, so der Geschäftsführer. Auch im Otto-Konzern nutzt man diese Möglichkeit des Datensammelns. Wenn Mitarbeiter eine Stellenausschreibung via E-Mail, Whatsapp, Xing, Facebook oder Facebook-Messenger verschicken, landen die Daten im Programm. „Wir können prüfen, welche Stellen Mitarbeiter über welche Kanäle posten. Das ist für uns wichtig, um herauszufinden wie wir später die Zielgruppen ansprechen können“, sagt Referent Schlotfeldt.

NEPOTISMUS LIGHT? Doch sollten sich Unternehmen und Nutzer vielleicht nicht nur mit der Frage, was alles gespeichert wird, beschäftigen. Es sollte auch eine Auseinandersetzung darüber stattfinden, wem all diese Informationen zugetragen werden und wem vielleicht gerade nicht. Schließlich ist es ein Unterschied, ob ein Bewerber über eine Empfehlung Eingang in den Vorstellungsprozess findet oder ob eine noch völlig unbekannte Person im Auswahlgespräch sitzt. „Jemand, der empfohlen wird, hat ganz klar einen Vertrauensvorschuss“, sagt die Psychologin Madeleine Leitner, die selbst über 2.000 Kandidaten im Assessment-Center eines Unternehmens erlebt hat. Ein guter Personaler sei sich über seine unbewussten Vorannahmen im Klaren und sollte von einer Empfehlung besser erst einmal nichts wissen. „Bei ordentlichen Medikamententests weiß die Person, die das Medikament verabreicht, auch nicht, ob es sich um einen Placebo handelt. Das ist auch notwendig, weil diese Person sonst unbewusst etwas weitergibt.“ Leitner zählt drei Gründe auf, die oft hinter der Einstellung eines neuen Mitarbeiters stehen: „Jemand stellt eine Person ein nach dem Motto ‚eine Hand wäscht die andere‘. Das ist das, was man heute Netzwerken nennt.“ Dann gebe es noch die Möglichkeit, dass jemand eine Leiche im Keller hat und über den Gefallen einer Einstellung versuche Stillschweigen zu wahren. Und die dritte Möglichkeit ist: „Jemand

„ Es wäre ein falscher Anreiz allein schon die Reichweite eines Posts zu belohnen.“ CARL HOFFMANN, Geschäftsführer, Talentry

Foto: Alex Schelbert

PECUNIA NON OLET*

te und Level immer zu Unstimmigkeiten innerhalb von Gruppen führt. „Dann wird endlos diskutiert, weil sich immer jemand benachteiligt fühlt. Dann sagen die Einen: Das ist unfair, dass ich für das Posten auf Facebook nur drei Punkte erhalte und bei Xing vier Punkte. Müssen wir das nicht von den Likes abhängig machen? Je mehr Likes, desto mehr Punkte? Und wie viel zählt denn ein Like? Und dann diskutiert man sich zu Tode.“ Das sei mit AnreizSystemen schon immer so gewesen: Je gerechter, differenzierter und ausgeklügelter sie sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine ungerechte Behandlung vermutet und beklagt wird. Adrian Podschus von Mitarbeiterwerben.de, ebenfalls einem Anbieter einer Empfehlungsplattform, hat die Erfahrung gemacht, dass viele Personaler auch gar nicht wollen, dass öffentlich wird, wie viel ein Mitarbeiter auf Facebook postet. Er räumt außerdem ein: „Wir erstellen auch aus Datenschutzgründen kein Ranking von Empfehlungen.“

Foto: David Faber

Wichtig sei auch, dass der zeitliche Abstand zwischen Empfehlung und Belohnung derselben nicht zu groß werde. Warte ein Unternehmen, bis die Probezeit des auf Empfehlung vermittelten Kandidaten vorüber ist, könne kaum noch ein Zusammenhang zwischen Empfehlung und Prämie hergestellt werden. Das wiederum mindere den Anreiz, erneut eine Empfehlung auszusprechen. Zumal: „Geldprämien laufen üblicherweise über die Gehaltsabrechnung und unterliegen den entsprechenden steuerlichen Abgaben. Daher gibt es meist große Unterschiede zwischen der ausgeschriebenen Bruttoprämie und der Nettoprämie, die ein Empfehlender tatsächlich erhält“, sagt Wahls. Und in diesem Fall büße auch das Empfehlungsprogramm an Sichtbarkeit innerhalb des Unternehmens ein.

TITEL

HIGH LEVEL ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

25


TITEL

TITEL

AUS DER FALLE ROLLEN Thomas Müller ist Profiler. Er hilft, Verbrechen zu klären und Tätern auf die Spur zu kommen – und coacht Personaler. Wer ein guter Recruiter sein will, muss die Entscheidungen, die ein Bewerber trifft, lesen, sagt der Kriminalpsychologe. Ein Gespräch über Spuren und Motive und über die wichtigste Frage, die jeder Personaler einem Bewerber stellen sollte. Von Hannah Petersohn

Die Kontaktaufnahme mit dem Kriminalpsychologen Thomas Müller ist von ausgesuchter Höflichkeit: Er nutzt Anreden wie „Geschätzte Frau CR Petersohn“, bedankt sich für meine „wertschätzende Mail“ und verwendet ein fast verloren geglaubtes Wort: ersuchen. Er ersucht mich, ihm im Vorfeld die Fragen zukommen zu lassen. Die Sachfragen schicke ich ihm, die weichen, persönlichen Fragen will ich ihm im Interview stellen. Er soll spontan reagieren. Und ich führe das Gespräch. Dachte ich. Der Kriminalpsychologe ist vom Fach, Gesprächsführung seine leichteste Übung. Als Müller zum vereinbarten Interview-Termin anruft, erscheinen auf dem Telefondisplay nur sechs Sternchen. Unterdrückte Rufnummer. Er stellt mir gleich die erste Frage. Als ich nach dem Telefoninterview an den Schreibtisch zurückkehre, fragt eine Kollegin, ob ich ein Gespenst gesehen hätte. „Ja, mich selbst.“ Thomas Müller: Frau Chefredakteurin, ich grüße Sie.

Guten Tag Herr Müller. Müller: Störe ich Sie?

Foto: René Ruis

Nein, ich habe Ihren Anruf erwartet. Müller: Wunderbar. Ich versuche Ihnen alle Fragen, die Sie mir übermittelt haben, zu beantworten, aber vorher habe ich eine Frage: Was wissen Sie über den Bereich der Kriminalpsychologie? Ich möchte wissen, wo ich ansetzen kann.

30

www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

Müller hat mich kalt erwischt. Ich kenne Kriminalpsychologen aus dem Tatort und das auch nicht besonders profund. Für das Gespräch habe ich Interviews gelesen und das Thema „anrecherchiert“, mir aber gedacht: nicht zu viel lesen, offene Fragen stellen. Ich weiche aus und versuche mich aus der Malaise zu ziehen. ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

Ein Kollege hat mir die Ausschreibung zu einem Seminar gegeben, in dem Sie über die Anwendung von Profiling-Methoden im Recruiting sprechen. Mich würde erst einmal zu Beginn interessieren, wie Sie überhaupt zum Profiling gekommen sind. Eine Frage zum Warmlaufen. Müller zögert nicht. Eine Antwort in schönstem österreichischen Dialekt. Ich erwarte jeden Moment das „gnädige Frau“. Müller: In den siebziger Jahren war ich Funkstreifenbeamter und damals gab es die Regelung, dass ledige Beamte an Weihnachten Ihren Dienst versehen sollen, damit Väter bei ihren Familien bleiben können. So kam es, dass ich an drei Weihnachten hintereinander immer zur selben Familie gefahren bin: Da hat der betrunkene Ehemann jedes Mal seine Kinder unter dem Weihnachtbaum verprügelt. Die Frage, warum er das getan hat, konnte mir niemand beantworten. Ich wollte es aber verstehen. Und weil ich von Grund auf ein neugieriger Mensch bin, habe ich angefangen Psychologie zu studieren. Dann bin ich in die Vereinigten Staaten gegangen – beim FBI gab es damals schon eine eigene Einheit für die Verhaltensbeurteilung von Kapitalverbrechen – und habe versucht, so viel wie möglich an Wissen über die Beurteilung und die Verhaltensanalyse bei destruktivem Verhalten mitzunehmen. 1993 bin ich zurück nach Österreich gekehrt und habe unter anderem bei der Aufklärung des Jack-Unterweger-Falls geholfen. Dem Serientäter Jack Unterweger werden über zehn Morde zur Last gelegt. Nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft strangulierte sich Unterweger in seiner Zelle. Thomas Müller hat bei weiteren Fällen an der Aufklärung mitgewirkt, darunter auch der Fall des Briefbombers Franz Fuchs. 31


TITEL

TITEL ihre Arbeitszeit nun wirklich frei einteilen und ihre Work-Life-Balance verbessern kann. Viele Vertreter der Generation Y übersehen dabei allerdings, dass flexible Arbeitszeiten einen eingebauten Mechanismus zur Selbstausbeutung beinhalten. Dagegen stellt sich die Generation Z. Diese Generation ist etwas realistischer. Sie erkennt, dass Maßnahmen, die auf den ersten Blick der Balance dienen, in Wirklichkeit aber das Gegenteil bewirken: So soll das Frühstück und das Abendessen, das im Büro angeboten wird, in erster Linie die Mitarbeiter länger auf der Arbeit halten. Selbst bei so unverfänglich-positiv wirkenden Initiativen wie dem Firmenkindergarten wird die Generation Z misstrauisch, denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass für sie Überstunden kein Problem darstellen, weil der Arbeitgeber ja für die Kinderbetreuung sorgt. Viel attraktiver für die Generation Z wäre ein Zuschuss zur Kita um die Ecke bei der eigenen Wohnung. Das heißt also, dass… …die Unternehmen sich noch nicht darauf eingestellt haben, dass die Generation Z zumacht, wenn sie „flexible Arbeitszeit“ hört. Deswegen ist es für die Unternehmen momentan so schwer junge Auszubildende zu gewinnen. Hier reicht es schon, wenn der Recruiter in allerbester Absicht Ausdrücke wie „flexible Arbeitszeit“ oder „Vertrauensarbeitszeit“ verwendet: In beiden Fällen wittert die Generation Z Gefahr und sucht sich lieber einen anderen Arbeitgeber. Unternehmen müssen im eigenen Interesse lernen, sehr sensibel mit Sprache umzugehen. Bei meiner Recherche zur Vorbereitung auf unser Gespräch bin ich auf ein Programm der BVG gestoßen, das mit der Verlängerung des Mutterschutzes wirbt... So was geht in die richtige Richtung! Denn hier geht es tatsächlich um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nicht aber um eine Vergrößerung des Flexibilisierungsspielraumes des Arbeitgebers. Wie unterscheiden sich diejenigen, die gerade in den Arbeitsmarkt eintreten von anderen Generationen? Die Generation Y, also die um 1990 Geborenen, hat schon ein bisschen von der vorherigen Generation gelernt. Die sind noch so richtig im Hamsterrädchen gelaufen, immer schön karriereorientiert. Diese Generation hat den Unternehmen auch geglaubt, dass sie Karriere machen, wenn sie Leistung bringen. Die Generation Z sieht, dass es sich nicht unbedingt auszahlt, wenn man am Wochenende arbeitet oder immer als Letzter im Büro sitzt. Z-ler gehen sehr realistisch mit der Arbeitswelt um. Deswegen ist es auch so schwierig, sie für das eigene Unternehmen zu gewinnen. Zur Generation Z gehören Leute, die über das Internet gut vernetzt und informiert sind. Sie googeln einfach einen potenziellen Arbeitgeber

DAS Z-SYSTEM

wusst und Mangelware: Wer die Young High Potentials für sich gewinnen möchte, muss die Recruiting-Prozesse an ihre Bedürfnisse anpassen. Für den Wissenschaftler Christian Scholz heißt das Zauberwort „Z-Kompatibilität“. Von Charlotte Schmidt

38

Herr Scholz, vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und des umgreifenden Wertewandels: Was kommt da auf die Personalabteilungen angesichts der nachrückenden, jüngeren Generationen zu? Christian Scholz: Die Personalbeschaffung ist einem grundlegenden Wandel unterworfen. Viele Unternehmen wissen deshalb nicht mehr so recht, was sie jetzt genau tun sollen. Denn das, was noch vor kurzem meist recht gut funktioniert hat, funktioniert jetzt offenbar nicht mehr. Vor welchen Herausforderungen stehen denn die Unternehmen heute? Es gibt rein quantitativ weniger Bewerber, die zudem auch noch oft weniger leistungsorientiert sind. Und unser Ausbildungssystem ist durch die diversen Bildungsreformen auch nicht gerade besser geworden. Die Schwierigkeit, dass es qualitative Defizite gibt, kann ich nur kompensieren, indem ich die eigene betriebliche Qualifizierung ausbaue. Und für die quantitative, demografische Verknappung, gibt es nur eine Antwort: Als Unternehmen muss ich versuchen, ein größeres Stück vom kleineren Kuchen zu bekommen. Das erreiche ich aber nur, indem ich meine Systeme und Strukturen Z-kompatibel ausrichte. Kann man denn überhaupt von einer Generation Z sprechen? Man kann nicht nur, man muss! Und man sollte nicht nur sprechen, man muss auch handeln. Denn die Generation Z ist eine spezifische Gruppe, die eine spezifische Auffassung von der Arbeitswelt hat. Unternehmen handeln grob fahrlässig, wenn sie diese spezifischen Ansichten ignorieren oder sie mit denen anderer Generationen vermischen. Was konkret wollen denn die Z-ler? Mein Lieblingsbeispiel ist das Thema „flexible Arbeitszeit“. Damit kann man die Generation Y so richtig begeistern: Sie glaubt, dass sie www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

„ Z-ler gehen sehr realistisch mit der Arbeitswelt um. Deswegen ist es auch so schwierig, sie für das eigene Unternehmen zu gewinnen.“ Foto: Laurin Schmid

Sie sind jung, gut ausgebildet, selbstbe-

ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

oder tauschen sich über Social Media aus. Dann wissen sie sofort, was tatsächlich hinter den Versprechungen der Firma steckt. Was macht einen Arbeitgeber für die Generation Z attraktiv? Erstens: klare Strukturen. Die Generation Z will genau wissen, was in welcher Form vorgesehen ist und was einfach nicht geht. Zu diesen klaren Strukturen gehört vor allem ein klar definiertes Einarbeitungsprogramm, das exakt auf Arbeitsabläufe und verwendete Systeme vorbereitet. Zweitens: Diese Generation will keine leistungsorientierte Bezahlung. Das Gehalt soll sich aus der Qualität der Ausbildung und dem Aufgabenbereich ergeben. Dass drittens Arbeitgeberattraktivität viel mit geregelten Arbeitszeiten zu tun hat, habe ich ja schon betont, wobei „geregelt“ sich primär auf Kernarbeitszeiten und die Möglichkeit bezieht, manchmal einen Home-Office-Tag einzulegen. Wichtig sind viertens eine gute Qualifizierung und Weiterbildung: Die Z-ler wissen, dass sie nicht ihr Leben lang in nur einem Unternehmen bleiben werden. Deshalb wünschen sie sich abgrenzbare, kommunizierbare und transportierbare Lerninhalte. Der nächste Arbeitgeber soll genau sehen können, welche Qualifikationen sie mitbringen. Das heißt, die Z-ler sehen bereits das Ende der Fahnenstange. Das würde ich nicht sagen. Junge Menschen der Generation Z wissen aber, dass eine Aussage wie „bei uns steht der Mitarbeiter im Mittelpunkt“ nicht mehr ist als eine simple Floskel, die genauso wenig zählt wie „wir führen bei uns auf Augenhöhe“. Die Generation Z weiß, dass Beschäftigungsverhältnisse durchaus ganz schnell beendet sein können. Deswegen ist für sie Qualifizierung wichtig und zusammen mit den festen sowie sicheren Strukturen ein grundlegender Baustein der Arbeitgeberattraktivität. Wie will denn die Generation Z bei der Stellensuche angesprochen werden? Sie will klare Ansagen: So sieht dein Arbeitsplatz aus, das ist dein Aufgabengebiet. Derartige klare Informationen haben für die Generation Z eine viel größere Relevanz als irgendwelche wohlklingende Aussagen zur globalen Vision des Unternehmens. Die Generation Z sehnt sich nach Systemen, die ihnen Sicherheit geben. Es geht also immer um Struktursicherheit. Das kennt die Generation Z durch die Verschulung und auch dadurch, dass sie extrem behütet aufwachsen, Stichwort „Helikoptereltern“. Deshalb braucht die Generation Z immer das Gefühl: Da kümmert sich jemand um mich. Und sie sagen sinngemäß: „So, jetzt nehmen Sie mich mal an die Hand und sagen Sie mir, wo ich hingehen soll.“ Auf welchen Kanälen erreicht man die Generation Z? Unternehmen sollten nicht alle Kanäle auf einmal bespielen, denn das schauen sich die Vertreter der Generation Z gar nicht alles an. Die Webseiten, die ich aktuell sehe, sind viel zu komplex. Wenn ich ein Unternehmen hätte – egal ob groß oder klein – , würde ich auf eine simple, hübsche und gut strukturierte Website setzen. Man sollte sie durch eine entsprechende Search Engine Optimierung im Internet finden und sich dort sofort aufgehoben fühlen. Es geht weiterhin um Content, Usability, Branding und Emotion. Mit dieser „CUBE-Formel“ arbeiten wir schon seit 20 Jahren: Sie hat aber bei der Generation Z ganz eigene Spezifika, wodurch wir zur Candidate-Journey vom Type „CUBE-Z“ kommen. Hier sind Videos wichtig, Snapchat oder Youtube. Ein Video, das eine klare Botschaft transportiert, ungefähr zweieinhalb Minuten dauert und gut auf dem Handy anzuschauen ist, genügt. Ich warne davor, alle Kanäle zu nutzen, weil sie adäquat bespielt werden müssen und die Jugendlichen sich nicht immer auf allen Kanälen tummeln. Was passiert mit der Generation Y, wenn man den gesamten Recruiting-Prozess auf die Generation Z ausrichtet? 39


TITEL

TITEL

ABSAGE

Im Kampf um Talente kann kein Recruiter mehr darauf setzen, dass die richtigen Bewerber sich schon melden werden. Die Grenzen zwischen Recruiting und Headhunting verschwinden. Und ohne digitale Kompe-

Sehr geehrte/r Bewerber,

tenz geht gar nichts mehr. vielen Dank für Ihre Bewerbung auf die Stelle eines/ einer Referent/in bei [...]. Aufgrund der Vielzahl der eingegangen Bewerbungen war eine Vorauswahl not-

Von Thomas Trappe

wendig. Hiernach kann Ihre Bewerbung im weiteren Verfahren leider nicht mehr berücksichtigt werden. Ihre Bewerbungsunterlagen werden hier vertraulich vernichtet. Indem ich mich für Ihre Bewerbung nochmals bedanke, verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

Im Auftrag [...]

Im Vergleich zum mustergültigen Beispiel auf Seite 63 wird der Unterschied deutlich: unpersönliche Ansprache und eine Absage im technokratischen Behördendeutsch. Immerhin wird „vertraulich vernichtet“. Sprache ist wirkmächtig, Worte erzeugen automatisch Emotionen. Das sollten Personaler auch bei Bewerbern, die „nicht mehr berücksichtigt werden“, beachten.

42

www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

M

an muss das vielleicht am Anfang gleich mal klarstellen. Ja, Bewerber sind immer noch jene, die einen Job suchen – und nicht die, die ihn anbieten. Das klingt jetzt selbstverständlicher, als es einem nach Gesprächen mit Personalern und Experten zum Thema erscheinen mag. Denn diese präsentieren mittlerweile ein Bild, das man nur wenig zuspitzen muss, um oben genannte Klarstellung nachzuschieben. Grundsätzlich scheint da was dran zu sein, wenn zum Beispiel Ralph Dannhäuser vom „Personaler 1.0“ spricht, und zwar wenig wertschätzend in Abgrenzung zum „Personaler 2.0“, der die Zeichen der Zeit erkannt habe. Dannhäuser ist Herausgeber des „Praxishandbuchs Social Media Recruiting“ und berät mit seiner Firma Unternehmen zum Thema Recruiting. Und oft frage er sich dabei, „wie manche Recruiter heute überhaupt noch Personal finden“. „Post and pray“, so nennt nicht nur Dannhäuser das aus seiner Sicht auch heute noch in der Personalerwelt weit verbreitete Phänomen, Stellenanzeigen zu schalten und danach förmlich dafür zu beten, dass sich der richtige Bewerber schon melden werde. Der 2.0-Recruiter hingegen habe erkannt, dass er auf diese Weise zwar noch Bewerbungen bekomme, längst aber nicht die richtigen Kandidaten. „Die goldenen Zeiten, in denen es darum ging, welche der 200 eingegangenen Bewerbungen aussortiert werden sollen, sind bei den meisten Unternehmen vorbei“, sagt Dannhäuser. „Der Recruiter 1.0 war verwaltender Administrator, der Recruiter 2.0 ist Berater und Verkäufer.“ Dabei ist dieser Trend nicht unbedingt neu. Vom „war for talents“ und dem Fachkräftemangel habe man schon Ende der 1990er Jahre gesprochen, betont Dannhäuser. Nur hätten längst nicht alle Personaler bis heute verinnerlicht, dass sie diejenigen seien, die überzeugen müssten. Dabei gibt es auch dafür ein Rollenmodell aus der alten Welt: Den Headhunter, der potenzielle Jobkandidaten umwirbt. Die Frage, was Recruiter von Headhuntern lernen könnten, hört Dannhäuser allerdings nicht gerne. „Die Unterscheidung zwischen beiden Professionen ist zutiefst künstlich“, sagt er. Heute gehe es für Recruiter vielmehr darum zu verinnerlichen, dass sie sich in einem auf dem Kopf gestellten Markt bewegten. Und sie sich damit natürlich auch als Headhunter begreifen müssten, auch wenn sie es nach klassischer Definition nicht seien. Mit seiner

WIR MELDEN UNS ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

43


TITEL

TITEL

WER BIST DU – UND WENN JA, WIE ALT?

Einsatzmöglichkeiten im „Haus der 100 Berufe“, wie es heißt. Wenn Youtube-Nutzer fragen „Was brauche ich, um ein Praktikum bei der Allianz zu machen?“, bekommen sie rasch eine aussagekräftige Antwort. Unternehmen, die wie die Allianz auf Multimedia und das Internet setzen, machen aus der Sicht von Jakob Osman alles richtig, vor allem bei der Ansprache unter 30-Jähriger. Der Betriebswirt leitet die Agentur Junges Herz in Dresden. Sie hat sich auf Personalmarketing und Employer Branding für Jugendliche und junge Erwachsene bis 26 Jahre spezialisiert. „Schüler, Azubis, Studenten und Hochschulabsolventen – eine Gemeinsamkeit dieser Zielgruppen ist, dass sie fast ausschließlich über die digitalen Kanäle erreicht werden: etwa über soziale Netzwerke und gute Karrierewebseiten“, sagt Osman, der selbst erst 30 Jahre alt ist.

Junge mögen es digital und verspielt. Ältere lieben nach wie vor

INDIVIDUALISIERTE ANSPRACHE

Stellenanzeigen in Printmedien: Wie Unternehmen bei der

Dass die demographische Entwicklung sich bemerkbar macht, hat sich in der deutschen Wirtschaft fast überall herumgesprochen. Junge Menschen sind als Arbeitskräfte vielerorts begehrt. Wegen der Anti-Diskriminierungs-Richtlinien ist es jedoch heikel, die Altersgruppe in einer Stellenausschreibung direkt anzusprechen. Wer formuliert „Wir suchen dich bis 26 Jahre“, ohne dass es für die Altersbeschränkung einen triftigen Grund gibt, könnte Ärger wegen möglicher Diskriminierung bekommen.

Personalbeschaffung versuchen, verschiedene Altersgruppen anzusprechen. Von Josefine Janert

„Was bevorzugst du? Freiraum oder klare Strukturen?“ – Kennenlernen Light mit dem Elevator-Quiz

www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

Fotos: youtube - allianz versicherungen; Agentur Junges Herz

E

ine wacklige, plötzlich einsetzende Kamerafahrt führt den Zuschauer zum gläsernen Fahrstuhl. Darin steht eine junge Frau. Als sich die Türen öffnen wird sie von der Stimme hinter der Kamera begrüßt. „Hallo“ grüßt sie zurück und lächelt. Der Untertitel verrät: Sie ist Praktikantin bei der Allianz. Unvermittelt fragt die Frauenstimme hinter der Kamera: „Was bevorzugst du – Freiraum oder klare Strukturen?“ „Klare Strukturen“, antwortet die Praktikantin. „Was magst du lieber: Winter oder Sommer?“ – „Winter“, sagt die junge Frau. Während des Gesprächs setzt sich der Fahrstuhl in Gang und fährt nach oben. „Was überwog bei dir zu Praktikumsbeginn: Neugier oder Aufregung?“ So geht es weiter. Als der Fahrstuhl die nächste Etage erreicht, bedankt sich die Stimme aus dem Off und der 52-Sekunden-Film endet abrupt. Der etwas laienhaft anmutende Kurzfilm ist Teil des sogenannten „Elevator Quiz“, einem Format mit dem die Allianz jungen Leuten Lust auf eine Karriere im Versicherungsunternehmen machen will. Im Mittelpunkt des kurzen Online-Spiels stehen unterschiedliche Menschen, die bei der Allianz arbeiten. Ihnen werden jeweils fünf kurze Fragen gestellt. Dabei darf es auch um Persönliches gehen. Zu sehen sind die Filme auf dem Karrierekanal der Allianz bei Youtube. Knapp 70 Videos haben Mitarbeiter des Unternehmens auf dem Karrierekanal der Allianz bei Youtube hochgeladen. Die Filme erklären die Geschäftsfelder der Allianz und informieren über

Daher gehen viele Personaler den indirekten Weg: Stellenausschreibungen sind so gestaltet, dass Sprache und Layout auf die gesuchte Altersgruppe hindeuten. Vor allem aber wählt das Unternehmen einen Kommunikationsweg, der gut bei der Zielgruppe ankommt. „Viele über Vierzigjährigen tummeln sich bei Facebook, nutzen dieses Netzwerk aber nicht für die Karriereplanung und Bewerbungen“, sagt die Diplom-Kauffrau Melanie Schumacher aus Bonn. Schumacher arbeitet als systemischer Coach und berät vor allem Menschen ab 45 Jahren bei der Karriereplanung. „Viele verschweigen wichtige Daten in ihrem Xing-Profil“, benennt sie einen weiteren Unterschied zu jungen Menschen. Während 20-Jährige auf Karriereplattformen wie Xing und LinkedIn ihren Ausbildungs-und Berufsweg veröffentlichen, haben ältere Menschen Bedenken. Laut Schumacher wollen sie vermeiden, dass ihnen Zeitarbeitsfirmen über diese Kanäle Angebote machen. Sie weist auch darauf hin, dass die meisten 50-Jährigen nicht in einer Stellenanzeige geduzt werden wollen – es sei denn, es ist in dem Unternehmen generell üblich, wie etwa bei dem Möbelhersteller IKEA, der die Tradition aus seinem Ursprungsland Schweden übernommen hat.

GESCHLECHTERSPEZIFISCHE UNTERSCHIEDE Viele jüngere Menschen mögen eher das „Du“. Sie gehen auf „Events“, auf denen sie den Arbeitgeber über Computer- und andere Spiele näher kennenlernen. Die Bewerbersuche mittels spielerischer und unterhaltender Elemente wird von Fachleuten „Recrutainment“ genannt. Da leiten Sprachassistenten, sogenannte Chatbots, durch locker gestaltete Webseiten. Der Phantasie sind scheinbar keine Grenzen gesetzt.

„ Schüler, Azubis, Studenten und Hochschulabsolventen – eine Gemeinsamkeit dieser Zielgruppen ist, dass sie fast ausschließlich über die digitalen Kanäle erreicht werden.“ JAKOB OSMAN, Geschäftsführer, Junges Herz

ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

53


TITEL

TITEL

PERSONALBESCHAFFUNG X.0 Kaum ein Recruiter kommt noch ohne digitale Helferlein aus. Wir geben einen Überblick über aktuelle Technik-Trends bei der Kandidatensuche und -auswahl. Von André Schmidt-Carré

56

Der ein oder andere hat sie vielleicht schon selbst in Aktion erlebt: Chat-Bots, also Programme, die über Messenger-Dienste mit Menschen kommunizieren. Bislang gibt es vorwiegend im Kundenservice, wo sie einfache Nachfragen etwa zu Vertragsänderungen beantworten. Neuerdings bieten spezialisierte Dienstleister solche Bots auch für Recruiter an. Klickt ein Interessent auf eine Stellenanzeige in einem Karriere-Netzwerk, öffnet sich ein Messenger-Fenster, in dem ein Recruiting-Roboter einen Chat startet, Fragen an den Interessenten stellt und umgekehrt auch beantwortet. „Die Wahrscheinlichkeit, dass der Interessent nach dem Dialog Kontakt zum Unternehmen aufnimmt, ist höher, als wenn er auf einer herkömmlichen Stellenausschreibung landet“, sagt der auf digitales Recruiting spezialisierte Berater Wolfgang Brickwedde, Chef des Institute for Competetive Recruiting, das Arbeitgeber bei der digitalen Personalbeschaffung berät. Recruiter kommen kaum noch ohne digitale Unterstützung aus. Die Stapel der Bewerbermappen werden angesichts des Fachkräftemangels eher kleiner als größer. Wer sich im Wettbewerb um begehrte Kandidaten durchsetzen will, muss sämtliche Register ziehen, um Erfolg zu haben und vakante Stellen in seinem Unternehmen besetzen zu können. „Zudem ist die Wechselbereitschaft von Mitarbeitern noch nie so hoch gewesen wie heute“, sagt Karriere- und Recruiting-Berater Constantin von Rundstedt. „Für Unternehmen ist es deshalb wichtig, laufend neue Mitarbeiter rekrutieren können.“ Und zwar möglichst effizient. Dabei helfen digitale Werkzeuge. Außerdem erwarten immer mehr potentielle Interessenten, dass sie ihre Bewerbungen digital einreichen können, am besten so einfach wie möglich, schnelle Rückmeldung inklusive. „Die IT hilft nicht nur bei der eigentlichen Suche nach neuen Mitarbeitern, sondern vereinfacht auch die damit verbundenen Prozesse“, sagt von Rundstedt. Entsprechende Systeme können etwa automatisiert Eingangsmeldungen oder Absagen versenden. Kandidaten sind solche Rückmeldungen wichtig, viele bemängeln ausbleibende oder zu späte Informationen über den Status ihrer Bewerbung, belegt die Studie „Recruiting Trends 2017“ des Jobportals Monster. www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

MEHR „MUSS“ ALS TREND: MOBILES RECRUITING Die Ergebnisse der Monster-Studie verdeutlichen die Bedeutung des mobilen Recruitings für den Erfolg einer Stellenbesetzung. Mehr als 70 Prozent der deutschen Unternehmen sehen demnach bereits heute einen starken und künftig weiter wachsenden Einfluss des mobilen Recruitings. „Das ist kein neuer Trend, sondern längst ein absolutes Muss“, sagt Berater Brickwedde. Schließlich durchstöbern viele Menschen unterwegs Jobportale: in der Bahn, von der Arbeit auf dem Weg nach Hause, wenn sie einen weiteren Frust-Tag in ihrem aktuellen Job hinter sich gebracht haben. Auch nutzen immer mehr Menschen zu Hause ihr Smartphone, statt erst einmal den heimischen Rechner hochzufahren. Haben Unternehmen ihre Landingpage nicht mobil optimiert, riskieren sie, mögliche Bewerber zu verprellen, weil die Seite zu lange lädt und wichtige Informationen erst nach umständlichem Hin- und Her-Scrollen sichtbar sind. „Bei der Vielzahl von Smartphone-Nutzern kann sich das kein Unternehmen erlauben“, sagt Brickwedde. Einen Schritt weiter als mobil optimierte Bewerberseiten geht die so genannte One-Klick-Bewerbung: Dabei kann ein Interessent mit einem Mausklick seinen Lebenslauf oder sein Profil von Netzwerken wie Xing oder LinkedIn einem Arbeitgeber schicken. „Viele Kandidaten finden diesen Weg deutlich attraktiver, als jedes Mal aufs Neue ein Formular ausfüllen zu müssen. Allerdings bieten bislang wenige Unternehmen diese Option an“, beobachtet Brickwedde. „Ich halte diesen Weg für sinnvoll, zumal ein solches Verfahren mit überschaubarem technischem Aufwand realisierbar ist.“ Skeptisch ist der Recruiting-Experte hingegen bei Videobewerbungen, die bislang noch die Ausnahme sind. „Ich hoffe das bleibt auch so“, sagt Brickwedde. „Der Zeitaufwand für Recruiter, sich einen Bewerbungsfilm anzuschauen, ist schlicht zu hoch.“ Das Überfliegen einer gewöhnlichen Bewerbung dauert schließlich nur wenige Minuten, bis der Personaler die für ihn wichtigen Kern-Informationen beisammen hat. Beim Video ist eine solche überblicksartige Schnell-Analyse nicht möglich, der Recruiter müsste sich jeden Streifen in voller Länge anschauen – aus Brickweddes Sicht unpraktikabel. Später im Bewerbungsprozess kann sich der Berater ein Video-Format aber durchaus vorstellen, etwa als Zwischenschritt vor dem Einladen zum persönlichen Gespräch. Dann könnten Bewerber in einem Kurz-Video in einem eng vorgegebenen Rahmen einige Fragen beantworten, die die jeweilige Fachabteilung beigesteuert hat. ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

ROBO-RECRUITER UND TALENTSUCHMASCHINEN Active Sourcing ist als solches nicht mehr wirklich neu, das Durchforsten von Karriere-Netzwerken hat aber in der Breite enorm Bedeutung gewonnen: Für viele Recruiter zählt es mittlerweile zum Standard-Repertoire, die großen Plattformen wie Xing und LinkedIn nach potentiellen Kandidaten zu durchsuchen. So genannte Recruiting-Roboter gehen neuerdings einen Schritt weiter: Sie durchleuchten die Netzwerke automatisch nach bestimmten Suchkriterien und zeigen dem Recruiter die Treffer an. Wie umfangreich das Ergebnis ist, hängt maßgeblich von der Güte des Algorithmus ab. So genannte „Talentsuchmaschinen“ können ebenfalls bei der Suche helfen: Sie grasen nicht nur die klassischen Netzwerke ab, sondern auch kleine, weniger bekannte und vor allem auch solche im Ausland. Damit finden Recruiter auch Kandidaten, die international unterwegs sind und sich nicht in jedem Land neu lokal vernetzen. Auch auf klassischen Jobportalen können Recruiter längst mehr machen, als Stellenanzeigen zu schalten. In Bewerberdatenbanken können Jobsuchende ihre Profile hinterlegen, die Personaler ebenso absuchen können wie in Netzwerken wie Linkedin. Insgesamt ist die Zahl der Profile dort zwar geringer als in den Karriere-Netzwerken. Dafür haben Recruiter bei den dort gespeicherten Profilen allerdings die Gewissheit, dass die Kandidaten gerade aktuell einen neuen Job suchen. Bei Profilen auf Karriere-Netzwerken hingegen müssen die Personalsuchenden erst einmal abklopfen, ob aktuell der Wille zum Jobwechsel da ist – es sei denn, jemand hat dort ausdrücklich angegeben, dass er einen neuen Job sucht. 57


IM

FOKUS

IM

FOKUS

Brutal loyal Der zufriedene Mitarbeiter, der gewissenhaft seine Aufgaben erfüllt, ist nicht genug. Auf dem Loyalitätstreppchen geht es noch eine Stufe höher: Der Angestellte soll Fan seines Arbeitgebers und damit auch Markenbotschafter sein. Ist das zu viel verlangt? Eine Typfrage? Oder kommt es einfach auf die richtigen Rahmenbedingungen an? Von Anne Hünninghaus

Foto: wikimedia

S

64

www. hu ma n re so u rces ma n age r. d e

ein Herz ist gebrochen, das ist ihm deutlich anzusehen. Das Gesicht ist zerknautscht, dicke Tränen verfangen sich in den Fältchen unter seinen Augen, tropfen dann in den grauen Schnauzbart. Clóvis Acosta F ­ ernandes sitzt stumm da und umklammert einen selbstgebastelten Goldpokal, als am 8. Juli 2014 der Schlusspfiff ertönt und das Halbfinalergebnis der Fußball-Weltmeisterschaft feststeht: Deutschland gewinnt mit 7:1. Die Bilder des Brasilianers gingen ein ins kollektive Gedächtnis als Inbegriff von Loyalität gegenüber der eigenen Na­ tionalmannschaft. Fansein bedeutet, sich für ein Projekt zu begeistern. Der Anhänger eines Fußballclubs fiebert mit, feuert an, feiert und trauert mit seinen Idolen. Statt von „der Mannschaft“ spricht er von „uns“. Das englische Wort Fan ist dabei ursprünglich eine Abkürzung von Fanatic. Inzwischen hat der Begriff, bekannt aus dem Kontext von Sport und Musik, auch Einzug in die Business-Welt gehalten. Warum sollte sich aber ein Unternehmen ein Kollegium aus hochemotionalen Fanatikern wünschen? Wolfgang Jenewein lächelt über die Fragestellung. Er ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, davor lehrte der Fußballtrainer-Coach Personalführung an der RWTH Aachen. „Es reicht heute nicht

ap r i l   /   m ai 2 0 1 7

mehr, dass Mitarbeiter nur noch abarbeiten, was ihnen von oben vorgegeben wird. Die Identifika­tion mit der Marke wird immer wichtiger“, sagt er. Der Fußballfan gehe sicher noch ein bisschen weiter, und er plädiere auch nicht dafür, dass Angestellte ihr Lebensglück vom Erfolg der Firma abhängig machten. Aber im Kampf um Talente müssen Marken an Strahlkraft gewinnen. Und das gelingt Jenewein zufolge am besten über hochmotivierte „Fan-Mitarbeiter“. Davon überzeugt sind auch Anita Saat­ hoff vom „Forum für beste Beziehungen“, das sich auf die Analyse und Optimierung des Beziehungsmanagements in Unternehmen spezialisiert hat, und Guido A ­ ugustin, der das Marktforschungs- und Beratungsunternehmen als freier Berater unterstützt. „Der Fan, der stets hinter seinem Idol steht, weil er in ihm etwas sieht, das seine eigenen Motive anspricht, wird es gegen Angriffe verteidigen und weiterempfehlen“, sagt Saathoff. Das bedeute nicht, dass alle Arbeiter mit Schals und Tröten ins Opelwerk kommen sollen. Doch beim Fan-Prinzip geht es um mehr als um Zufriedenheit in dem Sinne, dass man ein gutes Gehalt und einen schicken Wagen bekommt. Hier steht der Herzblutfaktor im Mittelpunkt; es geht um die emotionale Bindung des Mitarbeiters, die auf Kollegen und Kunden abfärbt. Um diesen Faktor zu messen, hat die Beratung den Fan-Indikator geschaffen.

Vier Bindungstypen Wie viele Fans in deutschen Unternehmen sitzen, stellte die Beratung im vergangenen Jahr mit der repräsentativen Befragung Mitarbeiterfocus Deutschland 2016 fest. Das Ergebnis: Knapp jeder Fünfte fällt in diese Kategorie (siehe Abbildung S. 68). Die Übrigen verteilen sich auf die Gruppen Sympathisant, Söldner, Gefangener und Gegner. Die größte Gruppe ist mit 30 Prozent die der Sympathisanten. Diese sind ähnlich zufrieden und gebunden wie Fans, allerdings etwas weniger motiviert, sie würden beispielsweise in ihrem privaten Umfeld nicht vom Unternehmen schwärmen. Söldner (19 Prozent) sind mit den Arbeitsbedingungen einverstanden, identifizieren sich aber nicht mit dem Unternehmen und können durchaus wechselbereit sein, wenn ein anderer Job mehr Geld oder Annehmlichkeiten bietet. Außerdem verspüren sie kein Interesse, den Arbeitgeber und seine Produkte weiterzuempfehlen. 14 Prozent der Befragten fallen in die Kategorie der Gefangenen. Sie sind auf der Leistungsebene unzufrieden, aber emotional noch gebunden. „Stellen Sie sich jemanden vor, der seit Jahren im Unternehmen ist und sich früher stark damit identifizieren konnte. Er fühlt sich noch immer zugehörig, 65


29./30. Juni 2017 Berlin Fokusthema 2017

Wie sieht erfolgreiche HR-Arbeit in einem disruptiven Marktumfeld aus? Keynotes

Fortschritt durch Digitalisierung

Fortschritt durch Werte

Wie lässt sich gemeinsam mehr erreichen? Sigmar Gabriel Auswärtiges Amt, Bundesaußenminister

Wie definieren wir Professionalität im digitalen Zeitalter? Prof. Dr. Gunter Dueck ehem. IBM Master Inventor, Querdenker & Philosoph

Fortschritt durch Collaboration

Fortschritt durch Exzellenz

Wie lassen sich Talente und Innovationen optimal aufspüren und nachhaltig fördern? Alisée de Tonnac CEO, Seedstars World

2

Tage

100

Referenten

Wie können wir besser kooperieren, erfolgreicher Entscheidungen treffen und kreativer sein? Prof. Dr. Dirk Helbing Professor of Computational Social Science, ETH Zürich

1500 Teilnehmer

www.personalmanagementkongress.de


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.