Johanna Dettwiler-Minder Herbert Blaser
Schluuch-Geschichten
Spalentor VerlaG
Anekdoten und Erinnerungen aus dem ber端hmten Kleinbasler Lokal
Impressum Schluuch-Geschichten Anekdoten und Erinnerungen aus dem berßhmten Kleinbasler Lokal Johanna Dettwiler-Minder, Herbert Blaser ISBN: 978-3-908142-49-2 Š 2011 by Spalentor Verlag AG, Basel Gestaltung, Realisation und Produktion: Spalentor Verlag AG.
Johanna Dettwiler-Minder Herbert Blaser
Schluuch-Geschichten Anekdoten und Erinnerungen aus dem ber端hmten Kleinbasler Lokal
SPALENTOR VERLAG DER BASLER VERLAG
Inhalt Zur Geschichte des ‹Alten Schluuch›
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Beziehungen: Am Anfang stand die Hochzeit
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Dieter und Imbi, in memoriam
13
Schicksalsgemeinschaft: Die Beziehung und das Geschäft
17
‹The old pipe›
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Fricker, in memoriam
23
Milieu: Freude und Leid ‹uff dr Gass›
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Jean-Paul ‹Bebbele›
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Das Abstrakte und das Reale
34
Die Tränen der Gasse für Abbi, in memoriam
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Drogen: Die Mutter der Gasse
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Im Fegefeuer der Eitelkeiten
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«Ich sah die besten Köpfe»: Albi – in memoriam
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Bohème / Kunst und Kultur: Wandel eines Quartiers 53 Vier Elemente und...
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Eiskompressen und Bremsspuren
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Blondie, in memoriam
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Schicksalswege: Die Stühle
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Abschied
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Die Geschichte des ‹alten Schluuch› erzählt Johanna Dettwiler-Minder. Die Geschichten aus dem ‹alten Schluuch› erzählt Herbert Blaser.
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Zur Geschichte des ‹zem alte Schluuch› «Geschichte im allgemeinen Sinn bezeichnet alles, was geschehen ist. Im engeren Sinne bezeichnet Geschichte die Entwicklung der Menschheit. So wird auch von der Menschheitsgeschichte gesprochen. Dabei wird Geschichte immer synonym mit Vergangenheit gebraucht. Daneben bedeutet Geschichte aber auch die Betrachtung der Vergangenheit im Gedenken, im Erzählen und in der Geschichtsschreibung.» So lautet die Definition des Wortes ‹Geschichte› im Duden, deshalb entstand dieses Buch. Alle Episoden des Buches sind der Vergangenheit und dem Vergessen entrissen, zusammen geben sie ein Bild über Menschen und ihre Zeit, ein Mosaikfluss des Lebens und der Vergangenheit, der schlussendlich in unsere Gegenwart und in unsere Identität mündet. Diese Streiflichter aus Kleinbasel sollen die Worte Dürrenmatts bekräftigen, dass das Grosse und Allgemeingültige im Kleinen und Lokalen entdeckt werden muss. Die geschichtlichen Daten zum ‹alte Schluuch› stammen aus dem Staatsarchiv. Sie sollen dieses Buch einleiten: Greifengasse 6 (aus den akten des Staatsarchivs) Das Haus ist ab 1417 mit den Namen ‹Blotzheim›, ‹Zum Blotzen› oder ‹Zum Blotzheim› in den Schriftquellen erwähnt; 1417 verkaufte ein Cunrat Tschan zusammen mit seiner Familie das Haus an einen Verwandten namens Ulli Schan (Tschan), von Beruf Kübler. Aus der Erwähnung 11417 darf abgeleitet werden, dass schon vor diesem Jahr ein Gebäude bestand. Der ursprüngliche Besitz, der 1284 in den Akten ein erstes Mal auftaucht, umfasst die Parzellen der heutigen Häuser Greifengasse 4–14 und Rheingasse 1–3. Diese Grossparzelle gehörte einem Heinrich Emerach. 1308 ging ein ‹Haus Emerach bi dem Sode› durch Schenkung in den Besitz des Klosters Klingental über. Je ein Sod befand sich bei Greifengasse 4 und 14. 1311 schenkte das Kloster das ‹Ortshaus›, d.h. das damalige Eckhaus an Bürger und Rat Kleinbasels. Wie gross die Häuser waren, ist unbekannt. Bis 1858 war das Haus ‹zum Blotzheim› im Besitz von Handwerkern. Erwähnt sind Schlosser, Schuhmacher, Hosenstricker, Zinngiesser, Schneider, Gerber, Uhrmacher, Ferger (Schiffs- oder Fuhrleute), auch ein Schneider und ein ehrenamtlicher Bläser auf dem Martinsturm. 1858 wurde das Haus vom Wirt Friederich Madöry erworben. Er richtete im Erdgeschoss eine Gastwirtschaft ein. Im Brandlagerbuch, das seit 1807 geführt wird, ist das Haus nur 7
summarisch charakterisiert, so z.B. 1809: «Wohnbehausung und Hofstatt samt Höflein dahinter». Die erste mehr detaillierte Beschreibung von 1830 lautet: «Behausung in Mauern mit 3 Stockwerken und getrömtem (balkengedecktem) Keller, Angebäude mit Kammer, worunter Waschofen, in Riegel». In einer Neuschatzung von 1858 – dem Jahr, als Madöry das Haus übernahm – wird ein Umbau festgehalten: «Erhöhung um ein Stockwerk, Errichtung von Zimmern, Küchen, Kammern und neuer Treppe». – In der baugeschichtlichen Untersuchung konnte bestätigt werden, dass Teile der Inneneinrichtung und der Dachstuhl aus jener Zeit stammen. Die ältesten erhaltenen Baupläne des Hauses stammen von 1884 und 1888. 1884 erfolgte die Einrichtung einer Drechslerwerkstatt im Hof. Zugleich wurde zugunsten der Fläche in der Wirtschaft erstmals eine Mauer im Erdgeschoss ausgebrochen. Die letzten Planunterlagen des Staatsarchivs belegen den Abort- und Pissoirumbau von 1939, sie zeigen den 1991 angetroffenen Zustand dieser Anlagen. 1945 wurde das Haus durch den Technischen Arbeitsdienst zeichnerisch vollständig neu aufgenommen. Die Küche im 1. Stock wurde erst in jüngerer Zeit, nach dem ersten Weltkrieg eingerichtet. Greifengasse 6 ... aus der Datierung: Für sieben der entnommenen Holzproben konnte einheitlich das Jahr 1421 als Fälldatum bestimmt werden. Daraus folgt, dass dieses spätgotische Haus 1422 oder im Jahr darauf erstellt wurde – eine längere Lagerung des Bauholzes war nicht üblich. Durch diese Datierung wird auch das Alter der oben beschriebenen Mauer 1 zumindest auf die Zeit vor 1422 eingegrenzt. Im 2. Obergeschoss wird die vordere Decke im 17. oder frühen 18. Jahrhundert mit einer Rankenbemalung versehen. Die schöne Decke, mit schuppenartig abgeordneten, alternierenden grauen und ocker- rosafarbigen Blättern an den Balkenseiten, wurde beim Umbau des vergangenen Jahrhunderts nicht geschont, so dass heute nur noch etwa ein Viertel der bemalten Deckenbretter vorhanden ist. Der Text entstammt der baugeschichtlichen Untersuchung zur Abklärung über den Status einer Schon- oder Schutzzone der Denkmalpflege.
Beziehungen: Am Anfang stand die Hochzeit Wenn das Wort ‹Geschichte› im engeren Sinn die Entwicklung der Menschheit bezeichnet, so wird diese Entwicklung immer von Beziehungen geprägt. Zwingend. Die Beziehung im Allgemeinen ist in jedem Fall der Angelpunkt für eine veränderte Geschichte – um nicht zu sagen, der Grund für die Geschichte überhaupt. So auch im ‹alte Schluuch›, aber lassen wir Johanna Dettwiler-Minder zu Worte kommen: «Mein Mann Ernst Dettwiler hat das kleine Restaurant an der Greifengasse 1947 übernommen. Das waren fünf Jahre vor dem Datum, als wir geheiratet haben. Zu dieser Zeit kannte er mich noch nicht. Er lebte als Junggeselle, als ich ihn zum ersten Mal getroffen habe. Für die Gäste des ‹alte Schluuch› war unsere Beziehung geheimnisvoll. Die Gerüchteküche brodelte sofort. Grundsätzlich gab es zwei Meinungen zu meiner Person: Die einen sagten, ich sei eine Pfarrerstochter; für die anderen war ich eine junge Prostituierte aus Bern. Man muss verstehen, dass unser Kleinbasel wie ein Dorf funktionierte. Schon damals hiess es: «Jawohl, der Aschi übernimmt die Baiz», oder «Jawohl, der tut dies und das.» Alle redeten über jeden. Kein grosser Unterschied zu heute, trotzdem war die Beachtung des Einzelnen noch ausgeprägter, noch intensiver, speziell wenn er mit ‹g’schäften› anfing.» In Tat und Wahrheit stammt Johanna Minder aus einer gutbürgerlichen Kaufmannsfamilie aus Gsteigwiler bei Interlaken. Ihr Vater handelte mit Textilien und besass zwei, drei Liegenschaften, vor allem aber auch das Hotel ‹Schönfels› in Gsteigwiler. Gleich vis à vis steht heute noch das prächtige Haus ‹Sunnegg› der Familie Minder. Das Hotel wurde inzwischen zu einem Internat umgebaut.Der zweite Weltkrieg brachte allen Menschen harte Zeiten. Wegen dem Krieg kam die Textilindustrie ganz zum Erliegen. Das traf auch die Familie Minder. Selbst das Hotel konnte nicht von der Anwesenheit des Militärs im Reduit in den Schweizer Bergen profitieren, die Holzbrücke in Gsteig war zu schmal und zu schwach für die schweren Militärfahrzeuge. So wurde der Gürtel enger geschnallt, trotzdem blieb für die Familie der bürgerliche Status erhalten. Der Mann der Schwester war seines Zeichens Arzt in Oberdorf in Baselland. So möge man sich vorstellen: die Tochter eines Kaufmannes und die Schwägerin eines Arztes sollte von einem Kleinbasler Kneipenwirt geehelicht werden. Von einem Kneipenwirt, dessen Gäste die junge Frau im horizontalen Gewerbe vermuteten. Oder nahe bei Gott – auf jeden Fall war die Geschichte viel versprechend. 9
Die Eltern von Johanna Minder vor deren Hotel, 1949
«Ich erinnere mich genau an die erste Begegnung mit Ernst. Wir waren mit meinem Schwager Hans Minder-Minder im Hotel ‹Drei Könige› nachtessen, als dieser eröffnete, ein Cousin von ihm hätte in Kleinbasel eine Baiz, wir sollten ihn besuchen. Wir überquerten die Mittlere Brücke und gleich nach der Kreuzung war der Eingang zum Restaurant. Bis auf einen Gast war das Restaurant leer, da standen aber schwere, schöne Eichentische. Der Wirt empfing uns, er war eine robuste Erscheinung mit kräftigen Hosenträgern. Hätte mir zu diesem Zeitpunkt jemand gesagt, ich würde seine Frau und die Wirtin in diesem Haus, ich wäre in Ohnmacht gefallen.» Nicht so der Wirt und Junggeselle Ernst Dettwiler. Er machte sich auf und in Zukunft sah man ihn öfters als Gast im Hotel ‹Schönfels› in Gsteigwiler. Als die Häufigkeit der Besuche auffiel, dachten die Eltern von Johanna, Ernst würde wegen der jungen Serviertochter Bruni die lange Fahrt auf sich nehmen. Aber weit gefehlt: «Er hat mich zum Nachtessen eingeladen, er war sehr charmant, er brachte mir Blumen und er war ein sehr interessanter Mann. Ich 10
habe mich verliebt», so Johanna Dettwiler-Minder. «So kam, was kommen musste – wir heirateten 1952, obwohl mein Mann 22 Jahre älter war als ich. Hätte mein Schwager meinen Eltern nicht zugesprochen, die Hochzeit wäre nie zustande gekommen. Er tat es, die Eltern haben ja gesagt, wir haben geheiratet. Aber zuerst musste mich Ernst der Brauerei vorstellen. Was heute wie ein schlechter Witz klingt, war damals Pächterpflicht. Der Wirt musste im Wirtshaus wohnen, wenn er heiratete, durfte das nicht ohne Genehmigung der Liegenschaftsverwaltung geschehen. Wenn der Partner nicht überzeugend war, dann konnte je nachdem gekündigt werden. Gott und der Verwalter mussten die neue Verbindung segnen. Im Fall ‹alte Schluuch› war die Liegenschaftsverwaltung eine Actienbrauerei im Gundeli. Wir erhielten die Einladung zu einem Nachtessen im ‹goldige Stärne› in der Aeschenvorstadt. Herr Hauser, der Liegenschaftsverwalter, kam mit seiner Frau. Wir verbrachten einen angeregten und angenehmen Abend. Am Schluss sagte mir Herr Hauser: «Fräulein Minder, sie passen überhaupt nicht in den ‹Schluuch›. Aber wenn ich Euch sehe, dann bin ich überzeugt, dass Ihr es schaffen werdet. Die Zukunft sollte zeigen, dass er Recht behielt. Aber ich hatte bestimmt keine Ahnung, was da auf mich zukam.» Die Gesetze waren hart, in jenen Tagen. Ein Pachtbetrieb durfte keine Betriebsferien machen, die Öffnungszeiten des Restaurants wurden zudem streng überprüft. Zu spät öffnen hiess, eine zünftige Rüge einfangen. Das waren keine idealen Voraussetzungen für ein frisch vermähltes Paar. Dementsprechend haben die Freunde von Johanna der neuen Verbindung nicht mehr als ein Jahr Dauer eingeräumt, die Freunde von Ernst sagten gar, diese Ehe sei der Blödsinn seines Lebens. Aber die beiden haben im Sommer 1952 trotzdem geheiratet. Johanna beendete die Saison im ‹Schönfels›, erst dann kam sie nach Basel. Damals war sie bereits schwanger. Das ist übrigens der Grund, dass Johanna Dettwiler heute, nach 53 Jahren, von einer Frau angesprochen wurde, weil diese dachte, der erstgeborene Sohn von Ernst und Johanna sei nicht ein gemeinsames Kind gewesen. So ist das halt, im engen Gerede einer dorfähnlichen Kleinstadt. Dementsprechend prägnant ist die Erinnerung Johannas an den Moment, wo sie als verheiratete Frau DettwilerMinder zum ersten Mal den Leuten in der Gaststube vorgestellt worden war: «Die Baiz war gerammelt voll. Hinten sassen die Prostituierten. Damals verkehrte das horizontale Gewerbe in den Restaurants. Die Strasse war für Frauen auf dem ‹Waggel› verboten, wurden sie aufgegriffen, drohte die Sitte mit Ar11
beits- und Erziehungshaft in Hindelbank. So dienten die Gasthäuser als Ruheräume, Kontaktstellen oder Verpflegungsmöglichkeit. Entsprechend bunt und laut war die ‹Gastig› im ‹Schluuch›. Als ich den Raum betrat, drehten sich alle um und verstummten. Es war still. Es war dermassen still, dass ich dachte, diese Leute werden mich nie akzeptieren. Ein Gast sagte mir später: «Du warst wie eine Ausserirdische. So einen Moment habe ich nie mehr erlebt. Diese Stille. Ich habe mich gefreut, ich habe das sehr genossen.» Wie dem auch sei, wir haben wenige Jahre später die Liegenschaft ‹zem alte Schluuch› gekauft und als Wirtepaar geführt. Aber am Anfang dieser Geschichte stand die Beziehung zu meinem Mann Ernst und unsere Hochzeit.»
Dieter und Imbi auf ihrer letzten Reise
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Dieter und Imbi – in memoriam Orpheus und Euridike, Antonius und Kleopatra, Romeo und Julia; in der Literatur begegnet uns die tragische Liebe als eine Kraft, welche über die Gesetze des Lebens hinaus ihre Flügel spannt, mit gewaltigem und endgültigem Drang die körperliche Existenz hinter sich lässt. Sie spottet die Grenzen des Todes Lüge und erlangt damit eine Aura des Übernatürlichen. Sie wirkt gestelzt und kitschig – und dennoch pflanzt sie Tränen in die Augen der Lebenden, und kaum jemand kann sich dem Wunsch nach ewiger Liebe entziehen. Sie ist das menschliche Versprechen, welches wohl am meisten gebrochen wird. Trotzdem geben es die Menschen immer wieder ab, wohl in der Hoffnung, dass im jeweiligen Fall die emotionale Bindung des Paares stärker sei als Streit, Missgunst, Enttäuschung, Gewohnheit und Auseinanderleben. Wenn dann ein solches Wunder passiert, wenn eine Liebe das Leben überlebt, dann hinterlässt diese Verbindung ein Strahlen, das etwas Mystisches nach sich zieht. Etwas Grösseres, als es der normal Sterbliche begreifen kann. Das dürfte der Punkt sein, wo gemäss griechischer Mythologie zwei neue Sterne am Nachthimmel sichtbar werden. Wie Castor und Pollux. Dieter und Imbi haben diese Liebe gelebt. «Komm, schenk da noch etwas ein. Dieses Glas ist fast leer.» Der schwarzbärtige Mann lallte mich unfreundlich an. Sein langes Haar war zu einem losen Zopf gebunden. Ich hatte ihm schon über die erlaubte Menge Whisky eingeschenkt und sollte mich doch an die verlangten vier Zentiliter halten. Es war fast Mitternacht, der unbequeme Hüne trank seit Stunden. «Hör doch, ich habe schon über das Mass eingeschenkt. Ich muss mich an...» «Du musst gar nichts. Wenn ich Dir sage schenk nach, dann schenk nach!» «Nein. Ich darf nicht und ich will nicht!» «Schenk ein, sag ich Dir.» Gut, ich liebte meinen Nebenjob als Barmann, trotzdem war ich nicht immer die geeignete Person, um mit den Marotten der Gäste umzugehen. Das hier war so ein Fall. Sein Befehlston und sein Auftreten brachten mein Emmentalerblut in Wallung. Bestimmt spielte da auch das männliche Platzhirschgebaren eine unterbewusste Rolle. «Spinnst Du eigentlich?» Ich provozierte übergangslos den Streit. «Du benimmst Dich wie ein Arschloch und ich soll Dich noch bedienen?» «Was heisst hier Arschloch...ich...» 13
Ohne das Eingreifen der Wirtin wäre der Streit eskaliert. Sie nahm mich ins Gebet und schickte ihn nach Hause. Zwei Tage später sass er wieder im ‹alte Schluuch›.Ich entschuldigte mich verhalten für mein Benehmen.Er brummte: «Ach was, Schnee von Gestern. War ja auch meine Schuld. Ich bin Dieter.» So lernte ich Dieter kennen. Er war gebürtiger Deutscher, Weltenbummler und seit langen Jahren mit seiner Lebensgefährtin aus Basel unterwegs. Ihr Übername war Imbi, sie besassen ein Anwesen in der französischen Haute Saone und schienen füreinander geschaffen. Sie führten ein Leben am Rand – und doch mittendrin. Sie reisten sehr viel und ihre kinderlose Beziehung war für beide das Richtige. Unabhängig, alternativ; aber mit einer Konstante, die dem Leben etwas abforderte und den Mitmenschen viel zurückgab. Ein halbes Jahr später half mir Dieter beim Einrichten des Theaters am Nadelberg, das ich mit dem Einakter ‹Die dunklen Tiefen der Liebe› bespielte. Auf den Fahrten erzählte er mir von Alaska, von seinen Jahren als Hochseefischer. Ich wurde sehr still. Sein Fundus an Erlebtem war enorm und ich schämte mich, wenn ich an den Streit mit ihm zurückdachte. Zur ungefähr gleichen Zeit fing Imbi mit dem Kochen im ‹Schluuch› an. Die gemeinsamen Frühschichten sind mir bis jetzt unvergessen geblieben. In den drei bis vier fast gästefreien Morgenstunden bereitete sie das Tagesmenü und die Küche vor, ich richtete die Bar und die Gaststube. Wir philosophierten über Gott und die Welt und ich entdeckte einen wunderbaren Menschen. Auch sie erzählte viel. Von ihren Reisen, von Dieter, von Hoffnungen, geplatzten Träumen und stillen Freuden. Wir arbeiteten fast drei Jahre zusammen, als Imbi hin und wieder zu klagen anfing. Sie sagte, sie würden eine Veränderung brauchen. Sie und Dieter. Der Alltagstrott hatte die beiden erreicht und der Alkohol war ein schlechter Ersatz für Reisen und Abenteuer. Imbi schien plötzlich von Sorgen beladen.Zu meinem 31. Geburtstag schenkte sie mir das Buch ‹Ahasver› von Stefan Heym. Einige Tage später sagte mir Imbi, dass Dieter und sie verreisen müssten, wenn ihre Beziehung noch eine Chance haben sollte. Noch einmal verreisen. Noch einmal die weite Welt spüren. Noch einmal ganz sich selber sein. Ich war über zehn Jahre jünger als das Paar und konnte nicht beurteilen, ob dies lediglich ein momentanes Missgefühl war, oder ob Imbi mit ihrer Beurteilung der persönlichen Situation tatsächlich richtig lag. Zudem flog die Zeit an mir vorbei, ich steckte über den Kopf in den 14
Anforderungen von Theaterproduktionen, Kind, Beziehung und Nebenjob. Der Blick in die eigene Tasse trübt offensichtlich die Wahrnehmung für die Umgebung. So schien mir. Aus meiner eigenen Erfahrung konnte ich lediglich bestätigen, wie schwierig es war, Beziehung und Alltag unter einen Hut zu bringen. Einzig den gesteigerten Alkoholkonsum der beiden konnte auch ich feststellen. Und gehässige Worte. Doch wo gab es die nicht? Dann kündigte Imbi. Sie hatte ihren Kopf durchgesetzt und organisierte eine neue Weltreise für sich und ihren Lebenspartner. Sie lachte viel, in den Tagen vor der Abreise. Sie war gelöst. Die Beiden reisten ab – und hin und wieder kamen Nachrichten oder Karten aus Übersee. Wochenlang. Monatelang. Dann ging plötzlich eine Mitteilung durch die Medien, dass in Afrika ein Busunglück das Leben von Touristen gefordert hätte. Zwei Schweizer wären auch dabei gewesen. Zwei Schweizer – ein Paar. Niemand wollte annehmen dass… die Schweizer Botschaft bestätigte die unangenehme Vermutung. Dieter und Imbi waren tot. Mitten im Leben – und doch vorbei. Sie sind tot. Sie sind jetzt zusammen. Der Nachthimmel hat zwei leuchtende Sterne mehr.
Dieter und Ruthli Moser
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Deutsche Handwerksgesellen ‹auf der Walz im Schluuch›
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Schicksalsgemeinschaft Die Beziehung und das Geschäft, eine Geschichte fürs Leben
Die Beziehung und das Geschäft gingen bei Ernst und Johanna Dettwiler-Minder Hand in Hand. Dabei zeigen beide Entwicklungen erstaunliche Parallelen. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Weder zum Ehepartner, noch zum Betrieb. Es war vielmehr Faszination, es war Umwerben, es war Zusammenwachsen, es war Zusammenhalten – es war eine Geschichte für das ganze Leben. Zuletzt bildeten das jung verheiratete Paar und der ‹alte Schluuch› eine Symbiose, oder eine Gleichung, die ohne ihre Faktoren nicht denkbar oder machbar gewesen wäre: Beziehung und Arbeit gleich Arbeit und Beziehung. Sowohl die Liebe wie das Geschäft waren somit alles, nur nicht eine kurze Liaison der oberflächlichen Begegnung. Johanna Dettwiler erzählt: «Der Ernst konnte ein Geschäft aufbauen, es in Gang bringen. Dafür war er bekannt. 1945–1947 war er auf dem Restaurant Morgarten. Später hatte er mir einmal gesagt, dass nach dem ersten Arbeitstag Fr. 9.80 Umsatz in der Kasse lagen. Das Geschäft war am Boden. Bereits nach zwei Jahren lief es so gut, dass die Brauerei selber auf Ernst zukam und ihn anfragte, ob er das heruntergewirtschaftete Restaurant an der Greifengasse übernehmen würde. Damals wurde es noch von einer alten Witwe geführt. Sie besass wohl nicht mehr die Kraft, die ein solcher Betrieb abverlangte. Ernst hatte zugesagt, und so übernahm er den ‹alte Schluuch›. Er reüssierte schnell. Seine Gäste waren Hafenarbeiter, Leute aus dem Baugewerbe, Prostituierte, Gewerbler, Clochards, Jenische; kurz, fast ganz Kleinbasel verkehrte im ‹Schluuch›. Ernst verkaufte das Bier für 85 Rappen, daneben gab es kalte Küche. Klöpfer, Wurstsalat, Käse, Käsesalat – das waren die Renner damals. Tagsüber kamen viele Arbeiter zum Znüni, zum Zmittag, zum Zvieri. Lustig war, dass ausgerechnet die Gewerkschaft die Parole erliess, dass die Arbeiter den ‹alte Schluuch› meiden sollten, weil der Ernst FDPParteimitglied war. Sie forderten dies an einer Gewerkschaftsversammlung im Volkshaus. Nicht sehr erfolgreich, wie man unschwer erkennen konnte.» Diese Erinnerung entlockt Johanna ein Schmunzeln, ich für meinen Teil möchte dazu eine Strophe aus Heinrich Heines Gedicht ‹Die Wanderratten› beifügen: Im hungrigen Magen Eingang finden Nur Suppenlogik mit Knödelgründen Nur Argumente von Rinderbraten Begleitet mit göttlichen Wurst-Zitaten 17
Das Gedicht spricht aus, was überall auf der Welt Gültigkeit hat: Die Moral geht durch den Magen. Auch in Kleinbasel. So war der Betrieb ‹zum alte Schluuch› längstens etabliert und umsatzstark genug, als Ernst seine Johanna ehelichte. Der Gewinn konnte die Familie gut ernähren. Nicht nur ernähren, das Wirtepaar konnte die Liegenschaft nach wenigen Jahren kaufen. Nach ihrer Hochzeit lebte Johanna Dettwiler-Minder an der Greifengasse 6. Unten war die Baiz, im ersten Stock die Küche, im zweiten Stock war das Wohn- und Esszimmer, im dritten Stock das Schlafzimmer und die Kinderzimmer, der vierte Stock bot Platz für zwei Mansarden. Johanna erinnert sich: «Unser Sohn Hansueli kam im April 1953 zur Welt. Das zweite Kind, Christine, bereits 16 Monate später. Im August 1954. Während dieser Zeit hatte ich nicht viel mit dem Restaurant zu tun. Ich war Hausfrau, Mutter, machte Stickereien und Gobelins, bezog unsere Stühle, besuchte den Ernst bestenfalls nach Feierabend im Restaurant. Ich musste mich sehr an meine neue Umgebung gewöhnen. Ich litt unter dem Klima, der schlechten Luft und dem Lärm. Das Berner Oberland war halt schon sehr anders. Aber 1955 kam das, was mir mein früherer Arbeitgeber, der Arzt Dr. Schmid aus Thun, auf den Kopf zugesagt hatte: ich wollte im Betrieb mitarbeiten. Die Rolle als Hausfrau hat mich nicht genügend ausgefüllt. Wir stellten ein Kindermädchen ein, und so fing ich an, jeweils am Morgen im ‹Schluuch› zu bedienen. Daneben habe ich das Büro, die Abrechnungen und die Kasse gemacht. Da hat mir Ernst vertraut. Blind. Von Anfang an.»
Die glückliche Familie in den Ferien; Johanna ist schwanger
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So begann neben der Familiengeschichte, die erfolgreiche Geschäftssymbiose des Ehepaars Dettwiler-Minder. Johanna brachte eine straffe Hand und einige Ideen: «Ich habe später erfahren, dass ich den Ruf eines Drachen hatte. Aber Ernst war zu grosszügig, zu gutmütig. Personal, Pöstler, Lieferanten – alle haben im ‹alte Schluuch› gratis konsumiert. Zwischendurch ging sicher auch etwas in die Tasche eines Angestellten, das ist in der Gastronomie kaum zu vermeiden. Aber man kann dagegen angehen. Trotz meiner Kontrolle begann der ‹Schluuch› noch besser zu laufen. Oder vielleicht gerade deswegen. Ein wichtiger Grund für mehr Umsatz war selbstverständlich auch die warme Küche, die wir ab 1955 anboten. Gekocht hat Ernst im ersten Stock. Es gab eine Portion Läberli für Fr. 2.10, das Bier für einen Franken und der absolute Renner waren die Spaghetti an Tomatensauce für Fr. 1.80. Das Geschäft florierte. Vis à vis vom ‹alte Schluuch› stand das Odeon mit seinem Dancing, dem Grill und dem Restaurant. In diesen Jahren hat mich Ernst jeweils zu einem Wurstsalat im Odeon eingeladen, von dort konnten wir das Geschehen im ‹Schluuch› beobachten und rechtzeitig eingreifen, sollte es zu einer Schlägerei oder zu anderen Unannehmlichkeiten kommen.» Das war dann die Kehrseite des Erfolgs. Je mehr Gäste, umso grösser die Probleme, welche diese mitgebracht haben. Da flogen schon mal die Fäuste. Aber nicht nur die Schlägereien, sondern auch die Arbeitszeiten steigerten sich mehr und mehr. Der ‹alte Schluuch› war während 365 Tagen vom Morgen um sieben Uhr früh bis Mitternacht geöffnet. Er verlangte unerbittlich die Anwesenheit seiner Betreiber. Johanna erzählt, dass sie während der Fasnacht quasi drei Tage am Stück gearbeitet haben. Der ‹alte Schluuch› war längstens zu einem festen Bestandteil des Gastronomielebens in Kleinbasel und der so genannten ‹Gasse› geworden. «Uf d Gass goo» hiess damals, dass sich eine Clique Männer aus Klein- oder Grossbasel versammelte und zusammen um die Häuser zog, wie das auf gut Deutsch heisst. Da gab es dann eine Art traditioneller Route, die wie ein ungeschriebenes Gesetz eingehalten wurde. Angefangen hat man so einen Ausgang im ‹Schwalbennest›, dem heutigen Läckerlihuus, dann ging es über die ‹Brauerzunft› zum ‹Schwarzen Bären›, von dort zum ‹Schafeck› und in die ‹Barrikade›, zuletzt stand der ‹alte Schluuch› auf dem Programm. Das war eine Tournée. Zwischendurch gab es vielleicht noch einen Besuch im Kino Union, der so genannten ‹Revolverküche›. Das Kino erhielt diesen Namen, weil dort zwei Westernfilme für fünf 19
Franken Eintrittsgeld gesehen werden konnten. Die Vergnügungsmeile war geboren. Nicht jedermanns Sache, aber sie war da. Fest steht, dass sich das Wirte Ehepaar Dettwiler-Minder einen unumstösslichen Platz in der Kleinbasler Unternehmerlandschaft erarbeitet hatte. Entsprechend bekannt war Ernst Dettwiler. Johanna berichtet, wie sie die Mittlere Brücke mit ihrem Mann zusammen nicht überqueren konnte, ohne von den verschiedensten Leuten aufgehalten und angesprochen worden zu sein. Der wirtschaftliche Erfolg des ‹alte Schluuch› wurde somit augenfällig, die gesteigerte Arbeitsbelastung auch. «Ernst beschloss im Jahr 1958 den ‹alte Schluuch› zu verpachten, um ein ruhigeres Restaurant neben dem Friedhof Hörnli zu übernehmen. Ich hätte das nicht gemacht, aber er hatte genug von den Schlägereien und den Arbeitszeiten. So kam es, dass wir das ‹Café Dettwiler› beim Hörnli in Betrieb nahmen, das spätere ‹Café Favorita›. Die Umgebung war jetzt ruhiger, der Arbeitsaufwand blieb aber der Gleiche. Im Gegenteil, wir mussten sogar noch mehr arbeiten. Auch hier war uns grosser Erfolg beschert, aber wir wollten zurück. Ich wurde noch einmal schwanger und gebar 1962 die Sabine. 1963 zogen wir an den unteren Rheinweg. Damit wohnten wir jetzt in einer gesunden und schönen Umgebung. Den ‹alte Schluuch› liess Ernst zu dieser Zeit von einem Geranten führen.» So kam das Wirtepaar zurück ins Kleinbasel, zurück zu ihrem Geschäft, das so sehr ihre Beziehung symbolisieren sollte.
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‹The old pipe› In einem Artikel über den renommierten Gastronomieunternehmer Martin Candrian sind zwei Bemerkungen sehr aufschlussreich: Auf die Frage nach Veränderungen bei der Übernahme eines Traditionslokals sagt er, dass er von ebendiesen einen grössten Respekt habe und dass selbst das Ersetzen eines beliebten Bildes sehr heikel sein könne. Im Zusammenhang mit dem Pachtantritt seines Grossvaters im ‹au premier› des Bahnhofs Zürich gibt er zu Protokoll: «Erstaunlich, dass er damals als Katholik und als St. Galler mit einer Basler Ehefrau den Zuschlag bekommen hat.» Die zwei Aussagen beleuchten auf ihre Art eine scheinbare Binsenwahrheit, die aber im Erfolgsstress der kurzlebigen Konzeptgastronomie gerne übersehen wird: Für langjähriges Prosperieren eines Restaurants garantiert nicht in erster Linie das Ausschanksystem oder die Vertreterbeziehung, für langjährigen Erfolg braucht es die kulturelle und politische Verankerung im Zusammen hang mit der persönlichen Identifikationsmöglichkeit der Stammgäste. Mit anderen Worten: ausserhalb der schnellen Verpflegungsmöglichkeit will der Gast sich wieder erkennen, er will ein gutes Stück ‹zu Hause› sein. Die Dynamik dieses Prozesses hat der ‹alte Schluuch› nach seiner Renovation hautnah miterlebt, als zur bisherigen Stammkundschaft eine völlig neue dazu stiess. Das gab Reibungen, trotzdem war es eindrücklich zu erleben, wie dieses spezielle ‹sich zu Hause fühlen› zustande kommen kann. Wie aus heiterem Himmel sassen eines Tages vier Briten an der Theke. Das Englisch von uns Mitarbeitern war gut genug, dass wir uns bequem unterhalten konnten. Die Briten erzählten von ihrer Arbeit am Flughafen, von den speziellen Anstellungsbedingungen bei ‹Jet aviation› und von ihren Familien auf der grossen Insel. Beim Abschied fiel die Frage, ob sie nicht einen Sonntagsbrunch auf ‹good old english fashion› bei uns reservieren könnten. In ihren Worten hiess das, ein ‹decent meal›, eine anständige Mahlzeit. Würstchen, Toast, schwarze Bohnen, gebratene Tomaten, Blutwurst und Eier. Viele Eier. Warum nicht? Der ‹alte Schluuch› hat das geboten – das war der Anfang einer langjährigen Beziehung mit Briten, die als temporäre Arbeiter in den Werkstätten von ‹Jet aviation› in Frankreich arbeiteten, grösstenteils in Kleinbasel untergebracht waren und wohl deshalb ein bisschen ‹Heimat› suchten. Der ‹alte Schluuch› wurde ihr allabendlicher Treffpunkt zum ersten Bier, das unbeding21
te Muss am Sonntag der zur Tradition gewordene Brunch. Dieser Brunch belegte bald einmal das ganze Restaurant. Für die bisherigen Stammgäste waren die Engländer oft ein wenig zu laut, aber dann vermischte sich das Publikum zusehends, Freundschaften entstanden und lokale Alternativkultur traf auf das ‹British Empire›. Für mich war das eine wunderbare Zeit und ich erinnere mich genau an einige Episoden, wenn das Vermischen dieser Kulturen ganz neue Blüten hervorbrachte. Da war zum Beispiel eine distinguierte Frau aus Riehen, die hauptsächlich für Vernissagen oder Kleinkonzerte den ‹alte Schluuch› besuchte. Sie nervte sich über die manchmal etwas rüpelhaften Engländer. Einer war ihr dann wirklich zu viel: es war ein charmanter Spinner von etwa zwei Meter Höhe, der sich nach einigen Bieren schon mal selber laut tadelte, weil ihn zu viel Alkoholkonsum impotent machen würde. Die Riehenerin stellte ihn empört zur Rede, ein gutes Jahr später haben sie geheiratet und leben jetzt in London. Oder da war Thomas, ein 62jähriger Mechaniker. Ein Brite alter Schule mit Schalk und einer guten Portion Unverfrorenheit. Seine Schuhe glänzten immer, seine grauen Haare waren äusserst gepflegt, sein Benehmen tadellos. Am Schluss eines Abends wünschte er sich regelmässig Frank Sinatras ‹I did it my way› aus der Jukebox. War noch eine Dame anwesend, fragte er höflich für einen Tanz. Nach diesem Ritual ging er zu seinen Kollegen und verabschiedete sich mit den Worten: «Think about it, the plane has to get in the air», was so viel heissen soll wie: Denkt daran, das Flugzeug muss morgen fertig sein.Zu uns hinter der Bar Arbeitenden meinte er: «So, ik gehe jetzt lecker slapen». Thomas machte sich einen Spass daraus, ein deutsch-holländisches Kauderwelsch zu sprechen. Diesem Thomas geschah es, dass er einen Zimmerbrand im Hotel miterlebte. Schlafend natürlich. Er musste mit schweren Rauchvergiftungen in das Kantonsspital eingeliefert werden.Als er nach über einer Woche wieder im ‹alte Schluuch› erschien und alle ihn aufgeregt fragten, was genau passiert sei, war die einzige Antwort: «Well, it was hot and smoky – es war heiss und rauchig.» Sir Thomas, wie wir ihn nannten, war auch der englische Namensgeber für den ‹alte Schluuch›. In seiner Version hiess das Restaurant «The old pipe», ein Kürzel für die freie Übersetzung «The old pipeline», der alte Schluuch eben. 22
Die Vollendung des Schicksals von Herrn Fricker – in memoriam In der unheiligen Nacht vor der grossen Schlacht würden die Wallküren über das Nachtlager der Soldaten streifen und die Männer küssen, deren Tod am nächsten Tag das Feld der Kriegerehre bereichern solle. So die germanische Sage. Das Schicksalhafte hinter diesem Gedanken hat einen bestechenden Anflug von göttlichem Auserwähltsein, von übersinnlicher Grösse; welche nicht im Buch des sterblichen Lebens zu finden ist. Das dachte ich an jenem Morgen. Ich sass im Tram und fuhr durch Basel. Was ist aber mit den Verwundeten? Was für ein Schicksal wartet auf die Verletzten und Verstümmelten? Sind sie dazu verdammt, in den Wartesaal der Ewigkeit abgeschoben zu werden, bis sich die nächste Gelegenheit zum Sterben bietet? Sind sie lebende Tote? Ich wusste es nicht. Damals. Vor vier Jahren.Aber ich fühlte mich ausgebrannt und suchte René Fricker auf. Wegen seinen Diensten oder seiner Gesellschaft – ich fühlte mich auf schwer beschreibbare Art wohl in seiner Nähe. Ich hatte ihn durch einen Reporter kennen gelernt, der mein Künstler-Schicksal teilte und mehr oder weniger erfolgreich für eine lokale Zeitung der Stadt Basel schrieb. Nicht der grosse Lebenswurf; trotzdem ein Wurf und trotzdem ein Leben. Sein Name war Hugo. Beide waren wir um die Vierzig und beide waren wir den Ausschweifungen des Stadtlebens nicht abgeneigt. Er brachte mich zu René, zudem verkehrte Fricker im ‹alte Schluuch›. «René, he, René...»Ich versuchte die schlafende Gestalt zu wecken. René Frickers Oberkörper lag zusammengesunken auf dem kleinen Bürotisch, der nur durch eine halb verlotterte spanische Wand von der Fahrradwerkstatt getrennt war. Überall lagen Werkzeuge, Räder, Gestelle, Lampen und Fetzen aus Stoff oder Putzfäden. Es roch nach Stahl, Rost, Öl und Schmiermittel. «René, Du wirst eines Tages ausgeraubt.» «Nein, nein...keine Sorge... ich kenne nur gute Menschen.» Renés Stimme klang dünn, als er seinen ausgemergelten Körper aufrichtete. Er erwachte schnell und übergangslos. René Fricker war irgendwo Mitte Fünfzig, er war bekannt für seine Ehrlichkeit und für seine Fairness. Unter dem zerknitterten Blaumann trug er eine Lederhose und ein Westernhemd. Er hob den Kopf und beobachtete das Bild seiner Überwachungskamera. Sein trokkener Husten zeugte von der fortgeschrittener Tuberkulose. 23
Einmal fragte ich ihn, wie denn alles angefangen hätte. Er begann zu erzählen. Leise, wie zu sich selber: «Herr Fricker lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben.» René redete von sich in der dritten Person. Als müsse er den nötigen Abstand zum Erzählten gewinnen. «Er kam jeden Morgen zur gleichen Zeit in die Werkstatt. Er liebte die glänzenden Motorräder. Den Chrom und die wuchtigen Zylinder. Er war immer pünktlich. Und genau. Seine Klientel dankte es ihm. Die Kunden trugen das Geld oft Bündelweise in den Lederstiefeln und der Laden war in der ganzen Stadt bekannt. Frickers Motor-Bikes. Alles lief gut. Bis – an einem Donnerstag im November verliess Fricker sein Geschäft pünktlich wie immer...na ja...ich habe dem Busfahrer noch einen schönen Abend gewünscht.» René zeigte mir die vergilbten Zeitungsausschnitte. Sie waren zweiundzwanzig Jahre alt. Ich las die Artikel. Die Diebe sind damals in sein Schlafzimmer eingedrungen und schlugen ihn mit einer Eisenstange halbtot. Seinen Tresor räumten sie aus.Er überlebte knapp und musste fortan von der Invalidenrente zehren. Sein Kopf schmerzte permanent, die Ärzte verschrieben ihm Morphium. Langsam krallte sich die Sucht in seiner Existenz fest. Seine geliebten Motorräder wichen den Fahrrädern. Er reparierte sie ebenso gewissenhaft. Nur jetzt unendlich langsam. Dies war die einzige Arbeit, die er ergänzend zu der Invalidenrente verrichten konnte. Zum Morphium gesellte sich das Kokain. Er lagerte den Stoff in den Fahrradnaben und handelte unter seinen Freunden. So lernte ich ihn kennen. Ehrlich und gewissenhaft. Gutes, kaum verschnittenes Koks, das wurde zu seinem gewerblichen Markenzeichen. Als die Polizei kam, ging alles sehr schnell. René Fricker wurde über ein Jahr beschattet. Vier Kameras waren auf seinen Veloladen gerichtet.Die Beamten stürmten den kleinen Laden mit einem Grossaufgebot. Wir wurden abgeführt, verhört – ich wurde als Gelegenheitskonsument wieder freigelassen, bezahlte aber ein ordentliches Strafgeld und hatte dann die Möglichkeit, mein zeitweiliges Suchtverhalten neu zu überdenken. Mit wachsendem Erfolg. Renés Leiden wirkte äusserst strafmildernd, er galt als Ehrenmann und wurde nach knapp zwei Jahren wieder entlassen. Ich besuchte ihn ab und zu in seiner Sozialwohnung, bis eines Tages der Morgen dunkel blieb. Ich erinnere mich ganz genau. Auf dem Titelblatt der Zeitung war das Haus abgebildet, darin René Fricker zwischenzeitlich lebte. Der Titel leuch24
tete obszön mit den Worten: «Drogenhändler erschlagen» Aus dem Text ging hervor, dass sich der Kleindealer R.F. nicht gewehrt hatte, als ihn ein Süchtiger mit dem Aschenbecher erschlug, um ihm das kleine Häufchen Drogen zu stehlen. R.F. war nicht sofort tot, deshalb erstickte ihn der Täter mit einem Plastiksack. Das war der Tag, als die Walküren ihren Sohn endlich nach Hause holten. Sein Leiden hatte nach sechsundzwanzig Jahren ein Ende. Die Zwischenwelt verblich. René fehlt mir. Ich weiss, dass über ihm und seinem umstrittenen Verkaufsprodukt der Stab gebrochen werden kann. Zu Recht, kann man sagen. Das weiss ich. Aber trotzdem weiss ich auch, dass René dem Leben mehr Anstand, Ehre und Respekt entgegengebracht hatte, als die meisten Leute, die ich kennen lernte. R. I. P.
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Milieu: Freude und Leid ‹uff dr Gass› Viel Licht erzeugt viel Schatten. Kein Leben bleibt von dieser Allerweltserkenntnis verschont. Nur bleibt es jedem Schicksal persönlich vorbehalten, wie es mit den Folgen der Freude und mit den Folgen des Leides umgeht. In diesem Prozess wird dann die Binsenwahrheit plötzlich zur Lebensweisheit. So auch in der Geschichte von Ernst und Johanna – und in ihrer gemeinsamen Geschichte mit dem ‹alte Schluuch›. Johanna erzählt: «Nach der Geburt von Sabine blieb ich erst einmal zu Hause. Wir wollten beim dritten Kind keine Kinderschwester. Wir wussten auch, dass dies das letzte Kind sein würde. Seit 1963 war zwar ein Gerant auf dem ‹alte Schluuch›, trotzdem hat Ernst jeden Tag dort gearbeitet. Damit ich nicht ‹aus der Übung kam›, habe ich jeden Freitagabend übernommen. Das heisst, ich habe im ‹alte Schluuch› gearbeitet. Der Weg vom unteren Rheinweg zur Greifengasse war kurz. Ich erinnere mich, wie die kleine Sabine später mit dem Trottinett oder auf dem ‹Holländer› – einem Vehikel ähnlich wie ein Dreirad, nur mit Handantrieb – ihrem Vater weisse Hemden in das Geschäft gebracht hat. Da war Ernst pingelig, seine Hemden mussten immer blütenweiss sein. Hatte er sich Flecken gemacht, rief er die Sabine an und fragte sie, ob sie den PonyExpress satteln würde.» 1967 wechselte der Gerant des ‹alte Schluuch› in den ‹Rastadterhof› und das Wirte-Ehepaar Dettwiler übernahm sein Geschäft wieder zu ganzen Teilen. In dieser Zeit etablierte sich das Milieu in Kleinbasel. Bars und Nachtklubs entstanden, die Prostituierten zeigten sich auf der Strasse, die Stammkundschaft der Arbeiter, Dirnen und ‹Gässeler› erhielt eine ganz andere Konkurrenz: die der Laufkundschaft von den Nachtschwärmern. Studentenverbindungen, Regierungsmitglieder, Kaufleute, Zuhälter, Musiker, Fasnächtler, Zunftleute, Besucher aus der näheren Umgebung – alles traf sich im Kleinbasel, alles traf sich im ‹alte Schluuch›. Das Geschäft lief, wie nie zuvor. Die Abende wurden auch gesitteter, die Schlägereien verebbten ein wenig. Aus dieser Zeit berichtet Johanna: «Eigentlich hatte ich nur noch vor Abbi Angst, der sah immer aus wie ein Räuber. Er hat im ‹Kap Horn› gearbeitet, dem späteren ‹Swiss Chalet›. Ich habe jedes Mal gebetet, dass nichts passiert, wenn er das Restaurant betrat. Wenn er die Tische kehrte, blieb niemand verschont. Damals mochte er mich nicht. Ich habe ihm aber meine Angst nicht gezeigt. Später hat sich Abbi dermassen verändert. Unglaublich. Er rief mich plötzlich beim Namen, war recht 26
friedlich und eigentlich sehr höflich. Er hatte sich sehr gewandelt. Fast vom Saulus zum Paulus.» Dann muss Johanna lachen: «Für viele gehörte der ‹alte Schluuch› und die angrenzende Vergnügungsmeile zu den ersten Erlebnissen ihres Jungmännerdaseins. Fast wie eine Institution. Mein Hausarzt erzählte mir kürzlich, dass während seines Studiums ein Besuch im ‹alte Schluuch› Kult war, wie das heute ausgedrückt wird. Ein ‹Äntebüsi› und ein Bier seien die erschwinglichste Variante gewesen, um schnell in Ausgangsstimmung zu kommen. Als er einen Freund in dieses Zeremoniell einführte, seien ausnahmsweise wieder einmal die Stühle geflogen. Er habe seinem Bekannten dann einfach gesagt, sie müssten jetzt ihr Glas festhalten, ruhig sitzen bleiben und sich nicht bewegen. Dann werde alles schnell vorbei sein.» Der ‹alte Schluuch› blühte. Die Mischung seiner Kundschaft war einmalig, das Leben pulsierte ‹uff der Gass›. 1973 kauften Ernst und Hanni Dettwiler ein modernes Haus in Courgenay. Es sollte Ferienhaus und Zweitwohnsitz werden. Die Sonne leuchtete über den beiden und über ihren Kindern. 1974 zeigte dann der Schatten sein Gesicht: «Ernst hatte sich kurz hingelegt. Als er aufstand, wurde ihm schwarz vor Augen. Er fiel um, schlug mit dem Hinterkopf auf den Steinboden. Ich stand in der Küche und hörte es fürchterlich knallen. Ich dachte, ein Schrank sei umgefallen. Ich eilte durch die Wohnung und sah, dass mein Mann bewusstlos war.» Johanna erzählt diese Geschichte gefasst und ruhig. Sie beschreibt, wie Ernst nach einer schweren Hirnblutung im Spital an die Herz- Lungenmaschine angeschlossen werden musste. Es folgte eine Operation um die Blutgerinnsel zu entfernen, dafür wurde der Kopf aufgefräst. Ernst kam wieder zu sich, aber seine linke Seite blieb gelähmt. Zudem blieb er fast blind. Nichts war mehr wie früher – und nichts würde jemals wieder so sein. Die ersten sechs Wochen musste er gefüttert werden. Johanna kümmerte sich selbstständig darum, obwohl Ernst ein 1. Klasse Patient des Spitals war.Als er selber seinen Zustand realisierte, wünschte er sich, lieber gestorben zu sein. Aber seine Frau Johanna und seine Tochter Sabine kümmerten sich um ihn. Die älteren Kinder waren zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeflogen. So kam auch für das Geschäft, was kommen musste: Der ‹alte Schluuch› musste 1974 vermietet werden. Was folgte, war ein mehrjähriger Kampf gegen die Behinderung und gegen den Tod. Mit über 120 Physiotherapie27
und Ergotherapiestunden konnte der Zustand Ernsts so weit stabilisiert werden, dass er gestützt gehen konnte. Johanna erzählt an dieser Stelle, wie ein scheinbar gut gemeinter Zuspruch doch nur Öl in das Feuer des persönlichen Schmerzes giessen kann: «Ich sass im Warteraum der Therapie und weinte. Eine vorbeigehende Diakonissenschwester setzte sich zu mir und sagte mir: «Keine Bange, der Herrgott prüft nur die Starken – und nur so viel, wie sie ertragen können.» Der Spruch war deplaziert und blöd, fast hätte ich gesagt, dann ist ja alles gut, dann ist es ja nicht so schlimm. Der Herrgott meint es ja gut.» Die Situation war schlimm genug, aber die Pflege und die Therapie zeigten Wirkung. Bis Ernst bei einem Optikerbesuch einen totalen Rückfall hatte, zusammenbrach, mit einer Oberschenkelfraktur erneut eingewiesen wurde und bis zu seinem Tod an den Rollstuhl gefesselt blieb. Für Johanna war es zuviel, sie protokolliert, dass sie unbedingt eine Lösung für ihr Leben brauchte. Sie verlangte nach Arbeit und Zerstreuung. Diese Lösung war das gemeinsame Geschäft, das sie mit ihrem Mann aufgebaut hatte. 1978 ging sie wieder in den ‹alte Schluuch› zurück, diesmal allein. Sie sagt heute: «Wenn ich nicht im ‹Schluuch› hätte arbeiten können, ich weiss nicht, wie ich die Zeit bis zu Ernsts Abschied durchgestanden hätte. Aber so war ich am Vormittag bei Ernst zu Hause, von 14. 00 Uhr bis Geschäftsschluss war ich im Restaurant. In dieser Spanne kümmerten sich ein Pfleger und die Sabine um meinen Mann. Dem Geschäft ging es zwischenzeitlich nicht so gut, die Vermietung war nicht zufriedenstellend. Als ich am 1. April 1978 wieder neu anfing, stellte sich mir ein Hüne in den Weg und sagte mir, er würde mich jetzt rausschmeissen. Ich hätte im ‹Schluuch› nichts verloren. Später wurden wir aber Freunde. Die Arbeit war hart, der Umsatz musste wieder gesteigert werden. Dann war das auch die Zeit von pöbelnden Halbstarken.» Johanna musste sich den Respekt erarbeiten, den ihr Mann zeitlebens genossen hatte. Kein leichtes Unternehmen für eine allein stehende Frau. Zusammen mit ihrer Serviertochter Rita verdiente sie sich den nötigen Respekt, der das sensible Gleichgewicht im ‹alte Schluuch› aufrechterhielt. Mit Erfolg. Sie reüssierte als Geschäftsführerin und Inhaberin im Schicksals geprägten Restaurant. Am 22. Januar 1981 starb Ernst Dettwiler. In der Nacht wollte er noch die Kinder sehen, dann wurde er bewusstlos und verschied am Morgen um 6.00 im Spital. Das Leiden war zu Ende. 28
Zurück blieben die Familie und das Geschäft, welches in Johanna eine würdige Nachfolgerin für ihren Mann fand – demzufolge leuchtete ein kleines Licht weiter. Es hatte den Schatten überlebt. Auf die Frage, was denn das Charisma Ernst Dettwilers ausgemacht habe, antwortet Johanna folgendes: «Er war ein Lebemann. Er war sehr belesen, sehr kommunikativ und sehr beliebt. Ernst hat Leute förmlich angezogen. Das war seine Stärke. Aber er war kein Menschenkenner und deswegen oft unvorsichtig. Ich bin genau das Gegenteil. Da haben wir uns ergänzt. Während er das Geschäft nach Aussen repräsentierte, habe ich es gegen Innen zusammengehalten. Das hat gut funktioniert. Wenn es aber um Investitionen ging, musste ich ihm oft sagen: «Schuster bleib bei Deinen Leisten». Er hat den Leuten einfach geglaubt. Leider auch den Gaunern. Er hat zum Beispiel in das bombensichere Geschäft einer Kiesgrube investiert – und nie wieder einen Rappen von seinem Geld gesehen. Ich kannte auch nicht ganz all seine Nebengeschäfte. Ich wäre vermutlich überrascht gewesen. Nach seinem Tod habe ich einen Einkaufswagen voll verschiedenster Munition auf den Polizeiposten gebracht. Die habe ich bei uns gefunden. Einen ganzen Einkaufswagen voll. Die Beamten sind fast Kopf gestanden und haben mich gefragt, wo denn die Waffen zu diesen Patronen wären. Das wusste ich natürlich nicht. Das wusste nur Ernst. Alleine war er zu vertrauensselig, aber zusammen konnten wir gut wirtschaften. Der ‹alte Schluuch› hat uns getragen. So war für mich und unsere Kinder über den Tod von Ernst hinaus gesorgt.» Das Licht ist nie erloschen.
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Jean-Paul ‹Bebbele› Diese Geschichte soll nicht ausschliesslich ‹...zum Gedenken› sein, ihr Protagonist weilt schlussendlich noch unter uns. Diese Geschichte ist weder ‹nur komisch› noch ‹zu tragisch›, sie ist ein Stück von beidem und deswegen ein Stück Alltag. Diese Geschichte kommt aus der Mitte und spielt doch am Rand. Sie beleuchtet ein Leben, das auf verschlungenen Wegen seinen Platz fand und dort auf eine schwer erklärbare Art und Weise zu einer Schlüsselfigur wurde. Tagtäglich. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Diese Geschichte handelt von Jean-Paul, einem Kellner, der wie kaum ein zweiter seines Standes im Leben Kleinbasels und im Milieu der Vergnügungsmeile am Rheinufer verwurzelt war. Diese Geschichte handelt von einem Kollegen, der mir zum Arbeitsfreund wurde. Diese Geschichte handelt damit von einem Menschen, wegen dem ich zwischendurch einen regelrechten Rumpelstilzchentanz der Verzweiflung aufführen konnte und den ich total in mein Herz geschlossen habe. Ich habe sehr gerne mit ihm gearbeitet, keiner war so schnell wie er, keiner konnte so witzig sein, keiner so viel Heiterkeit verbreiten. Und keiner konnte dermassen schandmäulig lästern und seine Ungnade über Land und Leute kundtun. Er kannte absolut alle und jeden. Er war Anlaufstelle, Kontaktperson und Auskunftskapazität in Personalunion. Neben dem Servieren, parlieren (schwätzen) und resümieren. Wenn jemand sagte, «...ich gehe heute in den ‹alte Schluuch›...», dann lag es auf der Zunge, dass er sagen konnte, «...ich gehe zu Jean-Paul...». Dabei war er nicht fürs Kellnern geboren. Wie er sagte. Und das erst noch im Milieu. Nein, er absolvierte eine Lehre als Reproduktionsphotograf und arbeitete auf diesem schönen Beruf, bis sein ganzer Berufsstand zu Gunsten der modernen Techniken wegrationalisiert wurde. Das war das Ende der Geschichte aller Reproduktionsphotographen. Das war das Ende von Jean-Pauls zwanzig Jahre dauernden Karriere als Lehrlingsausbildner in seinem Betrieb. Jean-Paul wollte nicht arbeitslos sein und nahm ersatzweise einen Job als Kellner in Kleinbasel an. Im ‹Schwarzen Bären.› Aus dem Überbrückungsangebot wurde eine Berufung. Ich kann das nicht anders formulieren. Er ging ganz und gar in seinem Job auf. Er liebte ihn. Aber natürlich war niemand gefeit vor Jean-Pauls Gehässigkeit, wenn er auch nur den Hauch einer Ungerechtigkeit oder eines Dünkels spürte. Man wünschte sich einen sonnigen 30
Tag Jean-Pauls, dann schien die Sonne über Kleinbasel. Wenn nicht – mein Gott, dann musste man sich schon um die Gunst der Götter und um das Wohlbefinden JeanPauls bemühen. Am Besten wenn man ihn zu einem Glas Wein oder zu einem Cointreau einlud. Himbeergeist oder Quittenwasser konnten auch einiges zum Gelingen eines Abends beitragen. Zusätzlich zu einem Händedruck und einem aufrichtigen «...ich freue mich, Dich zu sehen...» Tatsächlich freuten sich alle, die ihn sahen. Mit ihm nahm man halt einfach am Leben teil. Keine Zeit war zu kurz, um nicht doch noch schnell ein paar Neuigkeiten auszutauschen. Klatsch und Tratsch im Vorübergehen, aber auch aufrichtiges Zuhören, wenn tatsächlich etwas in Schieflage war. Das alles war Jean-Paul bei der Arbeit – und damit war die Arbeit bei ihm. Was ich damit sagen will ist dies: Die heutige Arbeitswelt ist geprägt von ‹Job-Descriptions› und Normierungen, die den Einzelnen als Teil eines Ganzen ersetzbar machen und die damit Individualität und Autonomie fast ganz aufheben. In diesem Umfeld wird eine Figur, wie der Jean-Paul es an seinem Arbeitsplatz war, unbedingt zu einer Identifikationsfigur für das Geschäft und für die Kunden. Er war an seinem Arbeitsort ein Original – und gab damit seinen Gästen etwas Originalität ab.
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Daneben war seine grosse Leidenschaft ‹das Löifä›, das Laufen, wie er es als gebürtiger Elsässer aussprach. Er wanderte. Viel und in einem Tempo, das einem professionellen Langstreckenläufer zur Ehre gereicht hätte. Jede freie Minute verbrachte er in den Bergen, im Wald, an Seen – oder in einer der geliebten Dampfeisenbahnen, die hier und da noch touristisch eingesetzt werden. Von seinen Reisen brachte er Spezialitäten mit: Ziegenkäse, Schafskäse, Pflaumenbrot, Beeren – alles was Gottes spezielle Natur hergab. Die Köstlichkeiten drapierte er auf einem Teller neben der Kasse, in der Pause konnte er sie dann essen. Das war Jean-Pauls Ritual. Diesen Ausgleich zur Nachtarbeit, zum Alkoholkonsum und zum Stress eines Servicefachmanns betrieb er so intensiv, dass er trotz den eben aufgeführten Faktoren stets äusserst gesund und gepflegt aussah. Braungebrannt, schlank, nicht gross gewachsen, dafür sehr wendig und eigentlich recht elegant. So servierte er mit Fleiss, meistens guten Manieren und unermüdlichem Einsatz. Nur manchmal, wenn die Götter allzu gnädig gestimmt werden mussten, konnte er am Schluss der Nachtschicht nicht mehr. Dann kam er zum Tresen, legte sein Servicegeld und die Quittungen zum Abrechnen hin und sagte «Du Herbert, mach Du das. Gell Du machst das? Ich mag nicht mehr. Ich habe ein bischen zuviel...Du weisst schon. Gell?» Nach diesen Worten pfiff er dann ein paar Töne und bedankte sich sehr höflich für die Hilfe, die ich ihm nie hätte abschlagen können. Oder packte mich am Ohr und sagte: «Gell, Bebbele. Mein Bebbele.» Dabei war er der «Bebbele». Seine Patentante hatte ihn als Kind immer am Ohr gezogen, er war als Frühgeburt ein Nesthäkchen, dann an ihre riesigen Brüste (gemäss seiner Erinnerung) gedrückt, seine Nase gestupst und gesagt:»Ja Duu bisch mii Bebbele. Mii Bebbele» Gut – wenn er mir von diesem Trauma berichtete, schloss er gewöhnlich mit den Worten: «Wenn die manchmal wüssten. Die meinen immer weiss was. Aber jetzt ist ja alles gut gekommen.» Und wenn der Lärm im Restaurant ohrenbetäubend war und wir in der Arbeit versanken, dann half er mir beim Einschenken der Bestellungen und dazu sangen wir: «Travailler c’est trop dur, mais voler c’est pas bon. Demandez la charité, c’est quelque chose je peux pas faire. » Er sollte mir das Lied übersetzen, das klang dann so: «...Arbeiten ist zu hart aber stehlen ist schlecht. Barmherzige Almosen nehmen ist etwas, das ich nicht kann...» 32
Dann verschwand er mit dem beladenen Servierbrett und sang in meine Richtung: «... la charité ... la charité...» (...barmherzige Almosen....barmherzige Almosen...) Ich mochte ihn. Aber wehe, wenn er jemanden nicht mochte. Da stand ein Gast an der Theke und wollte bestellen. Offensichtlich kannte ihn Jean-Paul, denn er stöhnte: «Nicht der schon wieder», obwohl ich den Mann noch nie im ‹alte Schluuch› gesehen hatte.Der Gast grüsste und bestellte einen Kirsch. Jean-Paul sagte: »Wollen Sie einen Baselbieter oder einen Elsässer Kirsch?» Der Gast war erstaunt: «Haben Sie Elsässer Kirsch?» Darauf Jean-Paul kurz angebunden: «Nein. Warum?» Und liess den verblüfften Gast am Tresen stehen. Als er dann zu mir kam, meinte er: «Gäll ‘Erber’ (niemand konnte Herbert so französisch aussprechen wie er), da meinen alle, wer weiss was sie sind, aber ohne Unterhosen sind wir alle einfach nackt.» Wo er Recht hatte, hatte er Recht. Ich möchte Jean-Paul in meiner Lebensgeschichte nicht vermissen.
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Das Abstrakte und das Reale. Sicher eine der grössten und faszinierendsten Freiheiten des Künstlers ist es, die zwingenden Gesetze der Wirklichkeit in abstrakte Bilder zu verpacken. In der Fantasie Theorien und Welten zu errichten, deren Ursprung die sinnlich erfahrbare Realität darstellt – und deren übersinnlichen Erscheinungsbilder lediglich dazu helfen können, in dem Ausnahmezustand des Gedankenkonstrukts die Regel der Naturgesetze zu entdecken. Demzufolge könnte man sagen: Am Anfang des Abstrakten steht die Realität. Jetzt ist reichlich bekannt, dass die Welt des Künstlers nicht immer Hand in Hand geht mit dem, was der Rest der Menschheit Wirklichkeit nennt. Zwischen den beiden Welten gibt es oft eine Kluft, die kaum zu überbrücken ist. Die folgende Episode beleuchtet einen unverstandenen Kunstakt, der sich in der Welt unserer Realität höchst abstrakt auswirkte. Am Anfang dieser Geschichte steht Niggi. Einfach Niggi. Wobei Niggi gar nicht so einfach war. Nein. Denn Niggi war ein Hüne von einem Meter neunzig und sicher hundertsechzig realen Kilos. Ohne Kleider. Sein Bauch war riesig, seine Oberweite Furcht einflössend, seine langen, grau-schwarzen Haare hingen in dicken Strähnen an seinem Kopf. Niggi war ein Ausgestossener. Ein herumziehender StadtObdachloser, der entweder im Männerheim, in der Heilsarmee oder am Rheinufer seine Zelte aufschlug. Er konnte es nicht mit dieser Gesellschaft. Das machte er in seinem Bündner-Dialekt schnell einmal jedem klar, der es genau wissen wollte. «Was man aufbaut, wird schnell zerstört.» So seine Worte. «Und auf die Frauen ist überhaupt kein Verlass.» Er wolle gar nicht erst anfangen zu erzählen. Aber sonst war er friedlich, ja, er war sogar sehr speziell. Denn Niggi war wohl ein Obdachloser, aber ein Obdachloser der seltensten Ausnahme, Niggi arbeitete jeden Tag an die vier Stunden im ‹alte Schluuch›. Damit stempelte Niggi die Fantasie vieler Urteiler und Vorurteiler zur puren Lüge. Er war nicht arbeitsfaul! Er kam nachts um drei Uhr, reinigte das Restaurant und den Vorplatz, recycelte das Glas und die Sonderabfälle, dann war für ihn der Tag gelaufen. Manchmal kam er schon am frühen Abend und legte sich im Putzraum auf eine Matratze zum Schlafen. Vermutlich hatte er in diesen Nächten keine Bleibe gefunden. 34
Wenn er dann im Morgengrauen vor dem ‹alte Schluuch› stand, den Oberkörper nackt, nur mit einer überdimensionalen Hose bekleidet – die lediglich durch ein Seil zusammengehalten wurde – wenn er dort mit dem Wasserschlauch das Trottoir abspritzte und zufällig erste Sonnenstrahlen die Szene zum Dampfen brachten, dann sah man Hägar den Schrecklichen vor sich. Oder einen anderen Wikinger. Auf jeden Fall eine Figur von nahezu mythologischer Ausstrahlung. Ein Zentaur oder ein Berserker, vielleicht. Aber ganz sicher ein Unikum mit enormem Wanst in grossen Latzhosen, die er vierteljährlich von der Wirtin erneuert bekam.
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Niggi arbeitete jeden Tag. Im Grossen und Ganzen sehr pünktlich und sehr zuverlässig. Bis auf ein, zwei kleine Entgleisungen. Ausgerechnet für eine dieser Entgleisungen trug wahrscheinlich das Abstrakte der Kunst die Schuld. Ganz real. Das kam so: Es war Samstagnacht, respektive Sonntagmorgen. Wir schlossen das Restaurant erst kurz vor drei Uhr in den Nachtstunden, ich habe noch die Bar gereinigt, als Niggi bereits die Toiletten im Untergeschoss putzte. Beim Eingang des Restaurants stand eine grosse JukeBox, die wir jeweils nach Ladenschluss noch ausgiebig in Anspruch nahmen. Die laute Musik half, den Pflichtteil des täglichen Saubermachens schnell zu Ende zu bringen. Damals hatte die Band ‹stiller Haas› ein neues Album auf dem Markt, ich war begeisterter Fan. Das Lied vom Hasen im Weltraum fand ich besonders gut. Es ist eine Allegorie auf das Künstlerleben des Interpreten. Wie er im Alkohol und im Opium die ‹schönen Liechterln› sucht und am Ende das grosse Loch der Ernüchterung findet. Wie er sich dann am Kopf kratzt und von vorne wieder anfängt. So etwa das Lied. Dazwischen der erkenntnistheoretische Denkansatz über den Hasen im Weltall, der bei immer grösserer Geschwindigkeit immer dünner wird und keinen Halt findet. Bis er so dünn ist wie eine Spaghetti. So fliegt er durchs All und sucht einen Ausweg, doch das verdammte All ist überall. Leider. In der einen Strophe wird dann mit erstickender Stimme gesungen: «Ich bin so dünn wie eine Spaghetti... ich fliege mit über Lichtgeschwindigkeit durch das Universum und sehe nichts, du Arschloch...» Tja. Wenn jemand auf diese Art Text nicht vorbereitet ist, kann das schon Konfusionen geben. Das könnte möglich sein. Persönlich fand ich den Text umwerfend. Im übertragenen Sinn. Auf jeden Fall habe ich das Lied etwa vier Mal nacheinander abspielen lassen, als ich von der Treppe her eine fassungslose Stimme hörte: «Ja was soll auch das...eine Spaghetti...ich bin so dünn wie eine Spaghetti...der spinnt ja völlig...Spaghetti» Ich musste ein wenig lachen, habe mich bald darauf von Niggi verabschiedet und bin nach Hause gegangen. Am Morgen um neun Uhr wurde ich telefonisch geweckt, die Wirtin vom ‹alte Schluuch› bat mich, schnell vorbeizukommen, ich müsse in einer Notsituation helfen. Nicht geduscht und schlaftrunken kam ich im Restaurant an. Dort versuchten bereits zwei Polizisten, den Niggi vom Boden hochzuheben. Er lag hinter der Theke, seine Putzmittel und der Werkzeugkasten waren über den Boden verteilt, einige angebrochene Flaschen Schnaps waren 36
leer getrunken. Überall lagen Schrauben und Ösen. Der stockbesoffene Koloss rührte sich nicht und lallte: «... die Spaghettiii...immer die...hat doch keinen Sinn...erschiessen Sie mich, he, Polizist... schiessen sie mal... Gnadenschuss...» Er brauchte tatsächlich das Wort ‹Gnadenschuss›. Ob er vom Lied oder von seinem Zustand befreit werden wollte, blieb sein Geheimnis. Zu Dritt konnten wir ihn hinaustragen und ich habe mir gedacht, dass dies des Abstrakten ein wenig zu viel war. Für Niggis reale Welt. Himmelnocheins. Am Abend kam er schon wieder in das Restaurant, nüchtern, das Spital hatte ihn den ganzen Tag über ‹am Tropf› angeschlossen.Er wusste von nichts mehr. Er hatte ein sprichwörtliches Loch im Hirn.Wo wir wieder beim stillen Hasen angelangt wären: «Z’ Läbe isch äs Löcherbecki, Löcher noch und nöcher...»
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Die Tränen der Gasse für Abbi in memoriam Ich habe mich gefragt, woher all die Leute kommen. Unglaublich. Die Kirche am Claraplatz in Basel war voll bis zum letzten Platz. Und weit darüber hinaus. Leute standen in den Gängen, Leute standen auf der Empore, Leute standen im windgeschützten Eingangsbereich des hohen Kirchenschiffes. Leute standen überall. Ein Tenor sang das Ave Maria. Neben mir lehnte eine kurzberockte Schönheit in Lack und Leder an der schweren Steinsäule und verbarg ihre tränengefüllten Augen hinter einem filigranen Fächer. Schon eigenartig, die Tränen der Gasse. Tränen einer Zunft, die sonst hart im Nehmen und hart im Geben war. Eine Zunft von der man spricht – und über die man doch nichts gesagt haben will. Zuhälter, Dealer, Huren, Diebe, Heimatlose. Kurzum ‹die Gasse›, wie das Milieu in Basel genannt wurde. Meine Gedanken schweiften ab, als der Pfarrer zu sprechen begann. Drei Wochen zurück. «Rufst du mich an?» Abbi verabschiedete sich gewohnt schnell und gewohnt schroff. Ein kleines Lächeln, ein kurzes Augenzwinkern, die Autotüre wurde zugeschlagen und fort war er. Eben hatten wir den Marktstand für die Behindertenvereinigung der Stadt Basel auf dem Petersplatz aufgestellt. Es goss in Kübeln und wir standen schlotternd unter der Arkade des angrenzenden Universitätsgebäudes. Ein ungleiches Paar. Er war schwarz, ich weiss. Er war ein durchtrainierter Haudegen, ich eher der beschauliche Typ. Was uns verband, war das Nachtleben. Und die Herkunft. Er war als uneheliches Pflegekind bei einer Bauernfamilie im Emmental aufgewachsen. Ich teilte das gleiche Schicksal. Er wurde arbeitsloser Zuhälter, ich arbeitsloser Schauspieler. So lernte ich ihn kennen. Es war eine seltsame Freundschaft mit seltsamen Banden, aber ich schloss ihn damals ins Herz, als er blutüberströmt den ‹alte Schluuch› betrat, in dem ich nachts arbeitete. Er fragte nach kaltem Wasser und etwas Eis. Er versuchte sich die Reste eines abgebrochenen Zahns aus der geballten Faust zu ziehen. Ich kannte ihn nur vom Hörensagen und wusste, wie gefürchtet er war. Die Zeiten der Zuhälterei waren vorbei, die Damen machten sich längst in barocken Salons selbstständig und der moderne Zuhälter nannte sich Liegenschaftsverwalter. Da blieb keinen Platz für Helden und Berserker. Also arbeitete Abbi als Türsteher und Aufpasser in der Rheingasse und in der angrenzenden Weber38
gasse. So behielt er einen gewissen Status und mir fiel auf, dass die Leute ihn lieber freundlich gr체ssten, als dass sie achtlos an ihm vorbeigingen. Der ehemalige Tr채ger des fehlenden Zahns hat ihn offensichtlich nicht gegr체sst.
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Ich verband ihm die Hand, zwei Wochen später zog er bei mir ein. Das war vor zwölf Jahren. Wir wohnten zwei Jahre lose zusammen, dann trennten sich unsere Wege und plötzlich hörte ich, dass Abbi als Fahrer für Behinderte und Schüler arbeite. Irgendwann rief er mich wieder an und fragte, ob ich ihm helfen würde, einen Stand auf dem Markt der Herbstmesse am Petersplatz zu montieren. Ich sagte zu, jetzt standen wir unter der Arkade des Universitätsgebäudes. «Weisst du, die kleinen Krüppel sind wenigstens keine Fischköpfe. Die lachen, wenn ich sie am Morgen abhole. Die freuen sich wenn ich ihnen helfe. Die mögen mich.» Ich staunte. So viel Gefühlsregung von seiner Seite war ich nicht gewohnt. Offensichtlich mochte er seine Arbeit. Er fragte mich, ob ich Interesse hätte, für die gleichen Schultransporte der behinderten Kinder zu arbeiten. Er würde mich einführen. Er würde jemand brauchen, der ihn ab und zu ersetzt. «Ich überlege es mir» Meine Antwort kam nicht von Herzen, musste ich mir doch eingestehen, dass ich Berührungsängste hatte. «Rufst du mich an?» Abbi verabschiedete sich gewohnt schnell und gewohnt schroff. Ein kleines Lächeln, ein kurzes Augenzwinkern, die Autotüre wurde zugeschlagen und weg war er. Einige Tage später versuchte ich ihn zu erreichen. Vergebens. Ich rief die Zentrale der Behindertentransporte an. «Wissen sie, er fuhr unsere Behindertenbusse so sicher und hatte nie einen Unfall. Er war immer pünktlich und nie krank. Die Leute mochten ihn sehr. Ich verstehe das immer noch nicht...» Die Dame am anderen Ende der Leitung schniefte und ich hatte einen Kloss im Hals. Abbi war nicht mehr. Jetzt standen wir also in der Clarakirche. Weit über dreihundert Leute. Der Pfarrer hatte seine Rede beendet, als ein schmächtiger Mann im Rollstuhl nach vorne geschoben wurde. Er war tränenüberströmt und fragte, ob er etwas sagen dürfe. Er sprach zu Abbis Bild vor der Urne, währenddem er sich der übervollen Kirche nur halb zuwandte: «Viele haben gesagt, du bist böse. Aber du hast nur keine Zäune gelitten. Du hast uns geholfen, dass wir auch weniger Zäune leiden müssen. Ich vermisse dich so sehr.» Da konnte ich nicht mehr an mich halten: das Wasser floss mir unaufhaltsam aus den Augen. Seither weiss ich – die Tränen der Gasse sind weich, nicht weicher als andere, aber weiss Trost auch nicht härter. 40
Drogen: ‹Die Mutter der Gasse› Nur die Veränderung hat tatsächlichen Bestand. Diese Einsicht mag wohl von der Allgemeinheit unterschrieben werden, dass diese Veränderung streng nach dem Prinzip ‹Ursache und Wirkung› vonstatten geht, steht in der Regel in einem anderen Buch geschrieben. Speziell wenn die Auswirkungen – durch eigene Entschlüsse geprägt – eine ganz andere Richtung vorgeben, als dies beabsichtigt war. So gesehen im Allgemeinen der meisten Lebensentwürfe unserer Menschheit, gleichsam entdeckt im Spezifischen der Städtebauplanung Basels. «Es kommt, wie es kommen muss»; diese Behauptung dürfte unter diesen Umständen hinfällig sein, «es kommt, wie es verursacht wurde», wäre die richtige Schlussfolgerung. So gesehen im Milieu Basels. In den späten siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts veränderten sich die Gasse und das Ausgehverhalten der Stadtbewohner. Nicht nur in Basel, überall in der westlichen Welt.Das persönliche Lustprinzip gewann an Bedeutung, Freizeitaktivitäten wurden kommerzialisiert und eine bisher unbekannte Grösse frass sich ihren Weg durch die Gesellschaft: eine ungeheure Flut verschiedenster Drogen überrollte Europa und Amerika. Sie machten vor Basel nicht halt. Als sich Drogen im öffentlichen Lebensraum Basels ausbreiteten, nahmen die Konsumenten als Erstes den Barfüsserplatz in Beschlag. Das ‹Balance› und die ‹Seibi› waren Umschlagplätze und Treffpunkte gleichermassen. Die ‹Klagemauer›, eine Stützmauer quer über den Barfüsserplatz, bot willkommene Sitzgelegenheit im Freien. Die ‹Drögeler› prägten das Stadtbild rund um das Casino und um den ‹Barfi› im Grossbasel. Dann kam die Landesausstellung Grün 80 nach Basel.Die ganze Schweiz sollte Gast sein. Diese ‹Drögeler› mussten weg. Sie störten das Bild Grossbasels gewaltig, speziell wenn der Rest der Schweiz zu Besuch war. Etwas musste geschehen. Im Zugzwang der nahenden Eröffnung von der grossen Ausstellung wurde das ‹Balance› geschlossen, die ‹Seibi› auch, die ‹Klagemauer› wurde abgerissen und die Drogenszene in Grossbasel schien zerschlagen. Jedoch das Problem nicht gelöst. Die ‹Drögeler› zogen um, sie nahmen postwendend den Claraplatz in Beschlag. Johanna erzählt: «Nach dem Tod meines Mannes erhielt ich das Wirtepatent geschenkt. Ich war inzwischen als Ersatz für meinen Mann etabliert, nach der unglücklichen Untervermietung hatte 41
sich der Betrieb bis 1981 unter meiner Führung gut erholt. Wir hatten insgesamt zwei Mal untervermiete. Beide Mieter hatten nicht reüssiert. Die beste Menükarte nützt nichts, wenn nicht der Service, das Ambiente und überhaupt jedes noch so kleine Detail im Betrieb stimmen. Mir sagte einmal ein Gast: «Wenn Du in den ‹Schluuch› kommst, dann kommt die Sonne herein.» Natürlich ist das persönlich gefärbt und sollte mir den ‹Schmuus› bringen, trotzdem, viele scheitern in der Gastronomie, weil sie nur einen kleinen Teil der erforderlichen Palette beherrschen. Auf jeden Fall erhielt ich das Patent geschenkt, mit der Auflage, dass dies nur für diesen Betrieb Gültigkeit habe. In den Jahren nach der Grün 80 hat sich die Szene im Kleinbasel drastisch verändert. Grund dafür waren die vertriebenen ‹Drögeler› aus Grossbasel. Dort wurden sie verjagt, im Kleinbasel verteilten sie sich, ohne dass dem Problem beigekommen worden war. Als das ‹Balance› geschlossen wurde, zog die ganze Truppe in den ‹Fährimaa› am Claraplatz. Das Restaurant war im ersten Stock. Als diese Liegenschaft an die UBS verkauft wurde, zogen die Vertriebenen dem Rhein zu. Die Greifengasse hinunter, in die Rheingasse und an das Rheinufer. Plötzlich sind wir von Drogensüchtigen überrollt worden. Niemand wusste, wie mit dem Problem umgehen, niemand war richtig aufgeklärt oder informiert.» Diese Worte Johannas verkörpern das wohl grösste Problem im Umgang mit Suchtpolitik. Die Drogenpolitik wurde zu lange von Leuten geführt, die über das Thema nur Schlagwörter austauschen konnten und ansonsten überhaupt keine Ahnung über die Suchtproblematik hatten. Oder haben wollten. Die Süchtigen wurden bekämpft – das resultierte lediglich in einem Aktionismus, der einer Symptombehandlung gleichkommt, die Ursachen wurden nicht angegangen. Und wie in der Zeit der Prohibition in Amerika, profitiertem auch bei uns hauptsächlich der Schwarzmarkt und die Kriminalität von der Kurzsichtigkeit der Gesetzesmacher. So kam die Drogenszene im ‹alte Schluuch› an und Johanna versuchte, die Lage zu meistern: «Für mich als Frau war das sehr, sehr schwierig. Ich konnte sie nicht aus dem Restaurant vertreiben, also bin ich höflich und neutral geblieben, obwohl ich dafür ausgerechnet von meinen Mitbürgern und von der Polizei unter Druck gesetzt wurde. Aber geholfen hat niemand. So lernte ich bald, dass die Pupille in der Grösse einer Stecknadel den Heroinkonsumenten verriet, wenn die Pupille wie ein Teller erweitert war, wurde Rohypnol ‹geschmissen›. 42
Oder was sonst alles unterwegs war. Weil ich fair blieb und sie jederzeit gleich bediente wie all die anderen Gäste auch, wurde ich bald als eine ‹Mutter der Gasse› betitelt. Die einen haben sich gefreut, die enderen haben sich geärgert. Kaum jemand bedachte, wie viel Arbeit und Aufmerksamkeit die Anwesenheit dieser Gäste dem Personal und mir abverlangte. Dann begann die Polizei, im ‹alte Schluuch› Razzien durchzuführen. Schlussendlich wurde ich von den Fahndern vorgeladen und in einem Gespräch mit einer ganzen Runde Männer dazu aufgefordert, mit ihnen zu kooperieren. Meine Beobachtungen zu melden, über meine Gäste Bericht zu erstatten. Ich verneinte vehement. Das kam überhaupt nicht in Frage. Ich würde nie und niemanden denunzieren. Das war meine Antwort. Abgesehen davon hätten sie überhaupt keinen Nutzen, wenn ich ihnen Kranke, Süchtige und Beschaffungskriminelle ans Messer liefern würde, währenddem sie die Grossen und Drahtzieher verschonen würden. Das fügte ich hinzu. Als ich dann vom Vorsteher des Dezernats persönlich im Lift nach unten begleitet wurde, sagte der mir unverblümt, dass ich mein Patent verlöre, wenn sich die Gäste im ‹Schluuch› nicht ändern würden. Das war eine Drohung. Ich ging noch am gleichen Tag zu Frau Dr. Schultheiss, der Anwältin vom Wirteverband und klagte ihr mein Leid. Ihre Reaktion war unmissverständlich, sie sagte: «Das ist unhaltbar, solange ein Wirt nicht selber abhängig ist oder mit Drogen handelt, ist so ein Vorgehen unzulänglich und gegen das Gesetz.» Sie kümmerte sich um die Angelegenheit, danach hatte ich Ruhe.
Christoph ‹Stöffi› Mercier im Gespräch mit Barbara Kuhn und Imbi
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An dieser Stelle muss aber auch gesagt werden, dass der ‹alte Schluuch› nicht einfach plötzlich eine Drogenkneipe war, wie viele spekulierten. Überhaupt nicht. All die anderen Gäste aus der Ausgeh- und Vergnügungsmeile kamen immer noch und immer wieder, lediglich die zwei vorderen Tische waren eine Art Stammtische für die Drogensüchtigen. Das Publikum blieb immer gemischt, meine Neutralität hatte sich herumgesprochen und machte sich diesbezüglich bezahlt. Bis dann Ende der neunziger Jahre das Baudepartement bei mir vorsprach – und mir die Sicherheitsbewilligungen aller Installationen absprach. Dann war klar, dass der damalige ‹alte Schluuch› zu Ende war.» Ein Ende, das seinerseits einen Neuanfang beinhalten sollte, wie die Fortsetzung dieser Geschichte zeigen wird. So schliesst sich der Kreis zum Anfang dieser Episode und bestätigt dessen Aussage, dass nur die Veränderung von Bestand sei. Und dass der Mensch mit Klugheit, Respekt und Anstand diese Veränderung zu seinen Gunsten beeinflussen könnte – wenn er das nur wollte.
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Im Fegefeuer der Eitelkeiten Rauschmittel: Unter Rauschmitteln versteht man all jene Stoffe bzw. Drogen, die Menschen zu sich nehmen, um einen veränderten Bewusstseinszustand hervorzurufen; welche geeignet sind, sie in einen Rausch zu versetzen. Eine Veränderung der Wahrnehmung kann das Ziel der Einnahme oder eine unerwünschte Nebenwirkung sein. Alle Rauschmittel sind gleichzeitig psychotrope Stoffe, jedoch sind die wenigsten psychotropen Stoffe Rauschmittel. Der Unterschied besteht in der Absicht oder Funktion, mit der der Stoff eingesetzt wird und in der Stärke seiner Wirkung. Ein fliessender Übergang besteht zu den Genussmitteln. Übliche Beispiele für Drogen: Die weltweit am weitesten verbreiteten Drogen sind Koffein (im Kaffee), Nikotin (im Tabak), Alkohol, Betel sowie Cannabis. Tabak und Alkohol ver zeichnen die meisten Todesopfer. Rauschdrogen bewirken eine Änderung der Aktivität der Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen. Dadurch kommt es zu veränderter Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Umwelt, die als angenehm oder unangenehm empfunden wird. Aus diesem Artikel über Drogen (Internet: Wikipedia) geht klar hervor, dass jede Form von Drogenkonsum mit einer veränderten Wahrnehmung, einem veränderten Bewusstseinszustand, Hand in Hand geht. Die Palette der Stoffe die einen solchen Zustand bewirken können ist riesig, neben den natürlichen und künstlichen Produkten gehören ohne Zweifel auch soziale Funktionen wie Machtbewusstsein, Grössenwahn, Gruppensuggestion und Eitelkeiten zu den verändernden Faktoren. Während den vielen Jahren als alternativer Künstler arbeitend, in den verschiedensten Kulturbetrieben und Brotjobs, habe ich vermutlich fast jede Droge gesehen und ihre Wirkung an Leib und Leben kennen gelernt. Persönlich oder an meinem Umfeld. Nach all den Beobachtungen und nach einigen selbstständig gemachten Erfahrungen glaube ich feststellen zu können, dass der gewünschte Zustand bei einer Drogenbeanspruchung immer mit einem Realitätsverlust zusammenhängt. Wenn die Wirklichkeit nicht den Zustand bereit hält, den die Konsumenten oder Beansprucher als den gewünschten Lebenszustand identifizieren wollen, grei45
fen sie zu dem Mittel, das ihnen am schnellsten die Illusion der zurechtgebogenen Realität verschafft. So gesehen hängt das Phänomen Drogen mit dem Phänomen Sehnsucht oder Selbstsucht zusammen: Die Sehnsucht und Selbstsucht nach einer Welt, wie sie nach persönlichem Gutdünken sein sollte. Dass dies oft mit gewaltigen Lebenslügen Hand in Hand geht, wird von den Betroffenen in Kauf genommen. Die einen werden auf diese Weise in den Sog des sozialen und körperlichen Zerfalls gezogen, sie werden als gesellschaftliche Verlierer deklariert, die anderen etablieren damit einen Egoismus, der die soziale Ausbeutung seiner Mitmenschen problemlos in Kauf nimmt. Landläufig ausgedrückt ‹setzen sie sich durch›, das macht sie dann zu den Gewinnern in diesem Spiel. Ob mit legalen oder illegalen Mitteln, das Produkt bleibt leider das Gleiche, wenn es die Übervorteilung des Mitmenschen in Kauf nimmt. Bei beiden Gestaltungsmöglichkeiten der Lebensführung bleiben in der Regel die Ehrlichkeit und die soziale Kompetenz vollständig auf der Strecke. Soviel zu meinen Beobachtungen. Ohne das schwierige Thema verharmlosen zu wollen (so etwas steht mir wirklich fern), möchte ich mit meiner Kurzgeschichte nicht von einem substanzbezogenen Ego-Trip sprechen, sondern eine kleine Selbstsucht thematisieren, über die ich mich heute noch ärgere. In dieser Geschichte wurde ich Opfer meiner Eitelsucht: Schauspiel hängt zwangsläufig mit ‹zur Schau stellen› und ‹sich produzieren› zusammen. Es ist allgemein bekannt, wie turbulent dieses Fegefeuer der Eitelkeiten sein kann. Der Drang zum Schönen fordert den Mut zum Unschönen, das Gefällige verlangt das Verstossene. Schwierig. Wer nicht durch und durch im Sich-Exponierenden ruhen kann, verliert sich gerne einmal im Schönen. Oder im oberflächlich Dummen. Oder in Beidem. Aber das tut der geforderten Ehrlichkeit vom Schauspiel keinen Gefallen, im Gegenteil, dort entsteht das überkandidelte Spiel, in englischer Sprache ausgedrückt, der «Trash». So geschieht es öfters, dass man schöner sein will, als es die Wirklichkeit für einen bereithält, obwohl die Wirklichkeit immer noch besser wäre, als das, was man daraus macht. Jedenfalls bei mir war das so. Ich habe im ‹alte Schluuch› gearbeitet, als ein Schauspielkollege bei mir vorbeischaute. Er fragte mich, ob ich mich für eine szenische Lesung 46
bereit erklären könnte. Er würde schon eine Weile nach der geeigneten Person suchen, wäre aber bis jetzt nicht fündig geworden. Ein lokaler Kulturveranstalter hätte ihm den Tipp gegeben, ich würde mit dem gesuchten Profil perfekt zusammen passen. Na, das hat mir geschmeichelt. Musste es sich doch bereits herumgesprochen haben, dass ich mit szenischen Lesungen sehr vertraut war und diesbezüglich über ein beachtliches Leistungszeugnis verfügte. Welch grosse Wohltat. Natürlich würde ich mich um die Lesung kümmern. Natürlich würde ich zu den ersten Proben kommen. Natürlich. Ich kam dann zu den ersten Proben und der Schauspieler drückte mir ein Buch von Gottfried Benn in die Hand. Dessen Bild zierte die Titelseite und – ich war zu Tode beleidigt. Ich sah das Bild und wusste, warum ich so perfekt zu der Rolle passen sollte: Der Umschlag zeigte Gottfried Benn, wie er im Arbeitsmantel an einem Tisch sass, hoffnungslos übergewichtig, mit schwarzer Brille und polierter Halbglatze. Ein schleimiger Unhold.
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Das war zu viel für mich.Ich hatte schliesslich gute Zeiten gesehen, ich war ein hübscher Jüngling, der die Welt erobern wollte. Die Eroberungen waren verlustreich, jetzt wog ich hundertzehn Kilo, aber mein Haar war voll und die Brille brauchte ich vorläufig nur zum Lesen. Ich war so im Stolz verletzt, dass ich dem Kollegen auf der Stelle sagte, ich sei nur gekommen um ihm mitzuteilen, ich hätte ein anderes Engagement gekriegt und müsse leider verzichten. Damit liess ich ihn konsterniert im Proberaum zurück und segelte beleidigt meines Weges. Aus dem Programmheft erfuhr ich später, dass der sitzen gelassene Schauspieler am Ende die Rolle selber gespielt hatte, obwohl er als blond gelockter Schönling überhaupt nicht zum Erscheinungsbild Benns passte. Da hätte es in Basel viele gegeben, die mehr an Gottfried Benns Aussehen erinnerten, als er selber das tat. Viele mehr. Bei diesem Gedanken wurde mir plötzlich klar, dass er mich wahrscheinlich nicht nur wegen den hundertzehn Kilo angefragt hatte – und ich schäme mich noch heute dafür, dieses spannende Angebot ausgeschlagen zu haben. Aber eitel muss die Welt vor die Hunde gehen.Und Hochmut kommt vor dem Fall. Irgendwie wurde mir das dann zum Lehrstück und der Initialzünder dafür, in Zukunft das ungestüme Wollen der persönlichen Süchte mehr zu hinterfragen.
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«Ich sah die besten Köpfe»: Albi – in memoriam «Das ist es...ja, das ist es...» Ich spürte, wie Albi seinen Griff um meinen Körper lockerte, sich gerade aufrichtete und seine Arme weit ausbreitete. «Mein Gott, das ist es...» Sein Wohlgefühl grenzte wohl an eine Obszönität. Ich musste trotzdem schmunzeln und beschleunigte die Maschine jenseits aller erlaubten Werte. Albi schrie laut vor Entzücken. Das heulende Motorengeräusch der schweren Kawasaki vermischte sich mit seinen Rufen. Wir flogen über die St. Johanns Brücke in Basel, in diesem Moment war der Rhein nur mehr eine fliessende Sehnsucht des blauen Himmels. Ich liebte das Motorrad und die Arbeit am Theater, Albi liebte das Heroin und die Schauspielerei. An diesem Morgen musste ich ihn zuerst zu dem Süchtigenprogramm ‹Janus› fahren, bevor er die Proben zu dem Stück ‹Second Ending› aufnehmen konnte. An diesem Morgen – wie an jedem Morgen unserer Zusammenarbeit. Ich holte ihn ab, begleitete ihn zu der ärztlichen Heroinabgabe, folgte ihm in das VorstadtTheater und beobachtete seine Proben zu dem ambitiösen Stück. Seine Sucht war dabei Programmpunkt, das Stück handelte vom Drogentod eines New-Yorker Jazz Musikers. Wenn alle Umstände stimmten, spielte Albi wie ein Gott. Meine Aufgabe war es, die Umstände zum Stimmen zu bringen. «Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn...» Wie wahr, dachte ich, ich hätte das Engagement nie annehmen sollen… «...ausgemergelt, hysterisch nackt...» Jetzt stand ich da, halb ausgezogen in einem grossen Haufen Eiswürfel… «...wie sie sich im Morgengrauen durch die Neger Viertel schleppten..» Hinter mir zerdepperte Albi einen übermannsgrossen Spiegel auf der Bühne… «...auf der Suche nach einer wütenden Spritze.» Und ich rezitierte Alain Ginsbergs grosses Geheul. Christina Volk begleitete die szenische Lesung auf dem Saxophon. Sie spielte grossartig und brachte in unserer Produktion ihre langjährige Bühnenerfahrung mit den Quattro Stagioni zum Tragen. Trotzdem. Ich zweifelte. Aber die Wir49
kung des in Szene gesetzten Textes war grossartig, ganz entgegen meinen Befürchtungen. Wir spielten für die jährliche Versammlung des politischen Drogenstammtisches, viel Prominenz war anwesend, am Schluss konnte der lokale Vorstoss für einen dritten Abgabeplatz des staatlichen Methadon-Programms entschieden werden. Einmal mehr war Albi der Vorzeige-Junkie. Hier – und in den folgenden Produktionen. Aber ich misstraute der Fortuna, dachte ich doch, dass die Sympathie für einen bekennenden Heroinsüchtigen von kurzer Dauer sei. Albi Klieber war seinerzeit ein begnadeter Radiomann und hervorragender Sprecher gewesen, ein Nachmittagsliebling der öffentlich-rechtlichen Sender für gelangweilte Wohlstandsbürger, bis ihn sein national vorgetragenes Suchtbekenntnis brutal vom Thron stiess. Der Fall war tief, die Wunden kaum mehr zu heilen. Der gesellschaftliche Schaden unreparierbar. So lernte ich Albi kennen. Am Rande der Gesellschaft. Süchtig und ausgestossen. In Calvin Millers ‹Der Sänger› ist ein Satz geschrieben, der mich stets an Albis Situation erinnerte. Oft auch an meine, wenn ich in dem ständigen Existenzkampf des Alternativkünstlers das rettende Ufer bürgerlichen Friedens aus den Augen verlor. In Millers Ballade steht sinngemäss: «Es ist immer schwieriger zu singen, wenn dir das Publikum den Rücken zudreht.» Wie wahr dachte ich, wie wahr. Aber eben schwierig, wenn man nur singen kann. So jobbte ich und führte Theaterregie, dann führte ich Theaterregie und jobbte. Dann jobbte ich wieder und war entmutigt. Zur gleichen Zeit war Albi einfach heroinabhängig. Dann drehte der Wind in seinem Leben: Süchtigen-Programme wurden gefordert. Umfassende Aufklärung der Bevölkerung und das Bestreben zur Entkriminalisierung der Konsumenten. Es entstanden Drop-Ins und soziale Auffangstellen. Sterbehäuser für Aidskranke und Fixerstuben. Die Sozialpolitiker formierten sich zum besagten Drogenstammtisch und orientierten sich an den holländischen Suchtprogrammen. Integration statt Repression war angesagt. Das war Albis Chance. Er wurde zum Spielen aufgefordert. Quasi als Spieler im Spiel. Als direkt Betroffener und als Botschafter der Basler Suchtpolitik. Die szenischen Lesungen waren sehr erfolgreich, es folgte ‹Second Ending›. Dieses Stück spielte er im Vorstadt-Theater, dann im Stadttheater.
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Christoph Marthaler holte ihn dann in seine Produktionen und die unerklärliche Glückssträhne des Junkie-Schauspielers hörte irgendwie nicht auf. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass seine Sucht inzwischen zur Masche verkommen wäre, die ihm erneut einen sozialen Sympathiebonus einbringen sollte. Themenorientierte Arbeit als berechnender Karriereschub. Diesmal halt kein Niedlichkeits-Faktor, sondern einen gezielten Betroffenheits-Faktor. Dann belehrte mich Albi eines Besseren: Auf dem Höhepunkt seiner ‹Second Ending›-Spielzeit fragte er mich, ob ich ihm helfen würde, das Theaterstück in den inzwischen vier Fixerstuben von Basel zu spielen. Unentgeltlich. Dort würde das Stück eigentlich hingehören. Ich sagte zu und das Folgende gehört zweifellos zu den härtesten Erlebnissen, die ein Theatermacher nachweisen kann. Jeweils eine Stunde nach der Methadonabgabe halfen uns die Sozialarbeiter, die Fixerstube zu putzen und für eine Aufführung herzurichten. Schmutzige Spritzen, Watte, Plastikbecher, Apotheker Utensilien aller Art, Unmengen verschmutzter Papiertaschentücher machten dreissig bis vierzig Stühlen Platz, einem grossen Teppich als Bühne und sechs tragbaren Stehlampen. Eine Stereoanlage gehörte mit zum Bühnenbild. Albi spielte hervorragend – da war kein Unterschied zwischen Stadttheater und Fixerstube. Albi meinte es vollkommen ernst. Die Sucht und der Umgang mit Sucht trieben ihn zu erstaunlichen Leistungen. Er war tatsächlich zum Botschafter geworden, der das Eis der Vorurteile zum Schmelzen bringen konnte. Auf allen Seiten. Er verlangte sich und seiner Kunst viel ab. Sicher auch seiner unmittelbaren Umgebung, aber er gab nicht auf. Als er starb, starb er an den Folgen seiner langjährigen Heroinsucht. Doch ich meine sagen zu können, dass Albi sehr wohl mit den Drogen starb. Aber die Drogen haben ihn nicht umgebracht.
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Gruppenbild mit dem verstorbenen Inigo Gallo und Klaus Maria Brandauer
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Bohème, Kunst und Kultur: Wandel eines Quartiers «Nachdem mir das Amt die Installationen im Haus abgesprochen hatte, blieb nur der Verkauf von der Liegenschaft – oder deren Renovation. Was folgte, das war die grösstmögliche Veränderung, die der ‹alte Schluuch› mitmachen konnte und mitgemacht hat. Diese Veränderung war radikal, aber sehr erfolgreich. Sie widerspiegelt noch einmal die Wandlung eines ganzen Quartiers. Ich muss betonen, dass dieser Schritt ohne meine Familie nicht möglich gewesen wäre.» Johanna erzählt ruhig, nicht ohne berechtigten Stolz von dem ehrgeizigen Projekt, das noch einmal alle Kräfte und alle Aufmerksamkeit gefordert hatte. Sie erzählt zuerst von den Kindern: «1988 war Sabine an einer Sprachschule in Stuttgart und arbeitete dort in der Gastronomie, Hansueli führte bereits eine Arztpraxis in Biel und Christine arbeitete als Sozialpädagogin in Zürich. Wir haben uns zusammengetan und beschlossen, den ‹alte Schluuch› nicht aufzugeben. Wir kamen überein, dass wir das alte Haus renovieren lassen wollten und unter der Geschäftsform einer Familien-AG weiter betreiben würden. Sabine und ihr damaliger Lebenspartner Robert Schroeder verfolgten die Option, im neu entstehenden Restaurant zu arbeiten. Sie absolvierten 1990 die Wirtefachschule, und 1991 haben wir den ‹alte Schluuch› geschlossen.» Der Eingriff war total, sowohl architektonisch, wie betrieblich. Unter der Berücksichtigung der Schutzzonenbestimmungen vom Amt für Bau- und Denkmalschutz schuf der Architekt Freddy Jauch ein kleines Juwel. Qualitativ und ästhetisch wurden keine Kosten gescheut, nach einem Jahr Bauzeit strahlte der ‹alte Schluuch› in neuem Glanz. Entstanden war ein schmuckes Restaurant im Brasserie-Stil mit grosser Fensterfront, einem gut ausgebauten Keller mit Warenlift und grosszügiger Kühlgelegenheit, einem umwerfenden Aufbau mit originaler Holzdecke und Verzierungen im ersten Stock und einer schönen Wohnung, verteilt über die restlichen Etagen. Ein kleines Meisterwerk. Die Familien-AG wurde unter dem Namen ‹Gastrosophie AG› gegründet, die Kommunikations- und Produktionsberaterin Bettina Wildi aus Zürich, eine langjährige Freundin von Sabine Dettwiler, zeigte sich mit Sabine und Robert für das Betriebskonzept verantwortlich. Dieses Konzept 53
beinhaltete eine gute Küche während 365 Tagen, auserlesene Weine, Cocktails, Veranstaltungen und Ausstellungen. Schier Unglaubliches, auf einer so kleinen Wirtschaftsfläche. 1992 konnte der Betrieb wieder aufgenommen werden, und siehe da – das Konzept war sehr erfolgreich. Dazu Johanna: «Natürlich hatte sich zwischenzeitlich auch Kleinbasel wieder verändert. Die Drogenprogramme haben die Süchtigen von der Strasse weggeholt, die Kriminalität verschwand, die Prostitution zog sich in die entsprechenden Bars und Etablissements zurück und machte Schritt für Schritt einer neuen Kundschaft Platz: Den Künstlern und Kulturschaffenden. So gesehen war unser neues Konzept das Richtige, zur richtigen Zeit.»
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Tatsächlich, der ‹alte Schluuch› war innerhalb kürzester Zeit Treffpunkt, Ausstellungsraum und Angelpunkt für Künstler, Bohémiens und Kulturschaffende. Regionale, nationale, ja, sogar internationale Grössen verkehrten im kleinen Kulturtreffpunkt. Hanspeter Doll und Christoph Marthaler aus der Theaterwelt, Esther de Pommery aus dem Mäzenatentum für Musik, David Schönauer aus der Welt des Varietes, Alois Bischof und Ewald Billerbeck aus dem Journalismus, Stephan Bachmann, Sam Keller, Adrian Bühler, Georg Freuler, Hansjörg Bürgin, Walter Brack, Zirkus Maus, Remagen, die Leute vom Stadttheater und von der Kulturwerkstatt Kaserne, Personen aus der Verwaltung und der Politik – alles was Rang und Namen hatte, war im ‹alte Schluuch› zu Gast. An Konzerten, Vernissagen, oder ganz einfach zum Mittagsmenü. Über Jahre hinweg waren die Ausstellungen und Kleinstkonzerte ein gern besuchter Geheimtipp in Basel. Hochqualifizierte Künstler standen im Wechselspiel mit alternativeren Exponenten: Richterich, Roduner, Wegmüller, Schulthess, Rasser, Fürst, Cornelia Ziegler; das ist nur eine kleine Auswahl der namhaften Maler, die ihre Werke im ‹alte Schluuch› ausgestellt hatten.
Der Musiker Calo Rapallo in Aktion...
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Daneben gab es Konzerte, Lesungen oder Flamencoabende. Von Zeit zu Zeit auch eine richtige italienische Disco mit Michele. Oder Travestie mit Max Madöry. Der Betrieb brummte und die Gastrosophie AG schaffte, was man kaum für möglich gehalten hatte: einen völligen Umschwung und eine Neuorientierung im gleichen Betrieb, mit der gleichen Besitzerin und der gleichen Betreiberin. Johanna Dettwiler erinnert sich: «Wir profitierten von Vielem. Auch von der Laufkundschaft, die im Zug der städtebaulichen Planung einer angestrebten Tangente vom Barfüsserplatz zum Messeplatz neu dazukam. Dann war die Küche ein schöner Erfolg. Die Karte war ausgesucht und speziell, wir servierten täglich zwei Mittagsmenüs, die Gäste kamen aus den umliegenden Büros und aus der Novartis. Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass es Stammgäste gab, die dem ‹Schluuch› zeitlebens treu geblieben sind. Sie haben alle Wechsel mitgemacht und trugen ganz wesentlich zum Erfolg dieses Betriebes bei. Es gab auch kleine ‹Schmankerl› wie zum Beispiel die ‹Golden Girls›. Jeden Donnerstagmittag reservierten sieben pensionierte Ex-Krankenschwestern aus dem Lindenhof einen Tisch im Restaurant. Wir haben sie nach Herzenslust verwöhnt und mehr als einmal blieben sie bis in den späten Nachmittag hinein in der Gaststube sitzen. Sie feierten auch jeden ‹Santiglaus› im ‹alte Schluuch›. Das war schön.» Die Gastrosophie AG arbeitete erfolgreich, trotzdem wiederholte sich in kleinen Teilen auch hier die Geschichte, die Johanna Dettwiler bereits am eigenen Leib erfahren musste, als sie nach dem Tod ihres Mannes dem Betrieb selber übernahm. Wer auch immer innovativ arbeitet, wird von vielen Mitmenschen misstrauisch beargwöhnt. Manchmal auch beneidet und verleumdet. Wie schon zuvor ihre Mutter, musste jetzt auch die Tochter bei der Polizei vortraben, weil diese einen Rotlichtbetrieb im ersten Stock annahm. Wie sie auf diese Idee kam, darüber muss des Sängers Höflichkeit wohl schweigen. Es scheint, dass es doch Menschen gegeben hatte, die der Familie Dettwiler den Erfolg missgönnten. Als erste Massnahme platzierten die Behörden ‹sicherheitshalber› jede Nacht ein Polizeiauto auf der gegenüberliegenden Strassenseite. Ohne den Betrieb vorher geprüft zu haben. Sabine lud sie ein, das Gebäude zu inspizieren, die verblüfften Beamten standen darauf in der Küche und im Ess56
zimmer der inzwischen verheirateten Parteien SchröderDettwiler. Kein Jahrhundertfang, also. Wie schon bei der Mutter, herrschte dann auch bei der Tochter Ruhe. Nach sechs Jahren gab es familienbedingt noch einmal einen Wechsel im ‹alte Schluuch›, die Familien-AG wurde stillgelegt und Johanna Dettwiler führte den Betrieb einmal mehr alleine weiter. Inzwischen war bereits der Kassensturz auf die Qualität im kleinen Szenen-Bistro aufmerksam geworden, in einem schweizerischen Qualitä/Preis/ Leistungsvergleich erhielt der ‹alte Schluuch› die Note 4,6 und belegte den sensationellen fünften Platz in einer langen Reihe geprüfter Restaurants aus Basel, Bern, Luzern, Zürich, Fraubrunnen und Solothurn. Johanna Dettwiler berichtet: «Die letzten dreieinhalb Jahre waren eigentlich sehr schön. Ich habe den Betrieb noch einmal persönlich erfahren, konnte mich auf diese Art verabschieden und würdig lösen. Diese letzten Jahre waren begleitet von sehr treuen Mitarbeitern, ich denke dabei an Ruedi Müller, an Caroline Widmann, an Elfriede Reckziegel, an Isabelle Keller und an Sonja Michel. Sie haben mich wunderbar begleitet und im Jahr 2001 habe ich dann einen Käufer für die ganze Liegenschaft gesucht. Der Verkauf kam zustande, am 01. Januar 2002 hat der neue Besitzer und Betreiber sein Geschäft angefangen. Mein Abschied vom Restaurant, vom Haus und von den Gästen war zum Teil von Tränen begleitet, ich vergesse nie das riesige Zeitungsinserat mit hundert Unterschriften von überaus geschätzten Stammgästen, die sich auf diese Art persönlich von mir verabschiedeten. Ich habe den Schlüssel von der Liegenschaft übergeben – und erst dann hat sich das Licht meines Mannes zur Ruhe gesetzt.»
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Johanna Dettwiler
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Vier Elemente und Gottes Hauch des Schicksals Einige lächeln darüber, andere finden es beschämend, wieder andere sehen darin eine kreative Notwendigkeit; wenn man in New York im Restaurant bedient oder im Taxi gefahren wird, liegt die Chance bei etwa 80%, dass der Fahrer oder die Kellnerin aus dem Schauspiel- Tanzoder Modellbusiness kommt. Die existenzielle Notwendigkeit vom Gebrauch eines Überbrückungsangebots aus den vielfältigen marktwirtschaftlichen Dienstleistungsbereichen während der Entwicklung einer künstlerischen Karriere ist allgegenwärtig. Bei uns wird so etwas eher verschwiegen oder nicht ernst genommen, der Profi muss schlussendlich von seinem Beruf leben. Das sehen jedoch nicht alle gleich, im Gegenteil: Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die in ihrer Arbeit keine Kompromisse mit Institutionen eingehen wollen und unter dem Druck der kapitalistischen Existenzbewältigung alternative Lebensmodelle errichten – und sehr erfolgreich betreiben. Dazu gehört eben auch das temporäre Arbeiten in Brotjobs. Oft führt diese Lebensweise sogar zu autonomen Modellen der interdisziplinären Kulturbemühungen. Häuser werden gemietet, bespielt, betanzt, mit Gastronomieund Kursangeboten ausgelastet, an die Party-PeopleCommunity vermietet, kurzum, der so genannte OffBroadway entsteht, begleitet von alternativen Zwischennutzungsmodellen, deren soziokultureller Charakter heutzutage längst als städteplanerisches Muss an den Fachhochschulen gelehrt wird. Damals hatte so eine Zwischennutzung noch mit der illegalen Besetzung angefangen. Kenner der Kulturbetriebe können nun bestätigen, dass genau diese Off-Broadway Szene der notwendige Durchlauferhitzer für neue Stücke und junge Interpreten/innen darstellt. Im Feuer dieser Umgebung kristallisiert die grosse Kunst. Mit anderen Worten: ohne Off-Broadway, kein Broadway. So kann man das auch sehen. Gut, es gibt immer Grauzonen. In dieser Kulturgegend trifft Qualität oft auf Einbildung, manchmal Einbildung auf Qualität. Davon handelt die folgende Geschichte: Ein Teil dieses eben beschriebenen Prozesses ist selbstverständlich auch in der Schweiz sichtbar. Alternative Kulturgastronomie stellt einen aktiven Posten in der Existenzbewältigung vieler Künstlerinnen und Künstler dar. Sie ist ein Schmelztiegel von Talenten, beinharter Arbeit, Einbildungen und Hoffnungen. So habe ich im ‹alte Schluuch› 59
einen Künstler kennen gelernt, der mit wahrhaft kreativen Loopings ein Varieté- und Zigeunerleben finanzierte. Das Schaubudenleben war seine Leidenschaft. Er legte Karten, wahrsagte, kochte, sang, spielte als Pantomime; er war ein Multitalent, dem schlussendlich jeder gute Impresario eines Schaubudentheaters zu Grunde liegt. Das sich aber auch leicht verheddern kann. Denn grosse Auswahl an Können erfordert umso grössere Disziplin in der Anwendung. Sein Künstlername war Noël. Dieser Künstler hatte vernommen, dass ich mit dem Theaterwesen liiert war, irgendwann in einer Novembernacht stand er vor mir und fragte mich, ob ich ihm eine kurze Show choreographieren würde. Es waren Proben für eine Life Performance, die er in der Sylvesternacht in einem noblen Hotel in St. Moritz geben sollte. Als Teil eines Dinner-Spektakels. Ich wollte ihm gerne helfen. Sein Thema war tatsächlich recht anspruchsvoll, er wählte die vier Elemente als Grundbasis seines Aktes und sah sich selber als eine Art göttlicher Belebung zwischen Tanz und Pantomime. Da waren Erdhaufen mit pyrotechnischen Effekten, da waren grosse Wasserschalen mit schwimmenden Kerzen, da waren Seidentücher und Windaggregate. Er selber stellte eine Art Geist dar, der zu Musik und Gedichten den Weg zum Äusseren eines Menschen fand. Das Ganze war sehr poetisch und verspielt, am Schluss hatte ich Freude an dem Geprobten. Tänzerische Mängel konnte er geschickt wettmachen, ich war überzeugt, dass die Show Gefallen finden würde. Wir stolperten einzig über die Maske. Mir schwebte ein märchenhafter Faun vor, allein seine Brille störte halt gewaltig. Mit Linsen spielen wollte er nicht. Doch wer hat schon Barischnikow mit einer Brille tanzen sehen? Oder Marcel Marceau mit einem echten Nasenfahrrad Pantomime spielen? Das geht nun mal wirklich nicht.Also habe ich mit ihm die Schritte gezählt. Der Abstand zum Feuer, den Abstand zu den Wasserbecken, die Distanz zu den Erdhügeln – Schritt für Schritt und Bewegung um Bewegung. Noch einmal und noch einmal. Aber mein guter Künstlerfreund war nicht nur halbblind, er hatte auch vergessen, wie gross die Bühne im Hotel wirklich war. Die Distanzen waren viel weiter als geplant, die Brille anziehen kam für ihn trotzdem nicht in Frage.Er spielte auf gutes Glück. 60
Die Quittung darüber konnte man am Neujahr in der lokalen Zeitung lesen: in der Sylvesternacht haben die Bühnenvorhänge des Hotels Feuer gefangen. Zum Glück standen genug Wasserschalen im Raum, der Brand konnte mit deren Inhalt gelöscht werden. Ich habe mir dann gedacht, dass es Gott eigentlich ganz gut mit seinen Elementen gemeint hat. Alle waren zur rechten Zeit am richtigen Platz. So schien es mir.
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Eiskompressen und Bremsspuren Die Arbeit hinter der Theke ist oft eine fantastische. Das Leben prallt gegen die Bar wie ein ständiger Wellengang; es schäumt, zischt, säuselt, tobt. Speziell am Tresen verlangt der Gast jede Art von Aufmerksamkeit. Er will entspannen oder angeregt werden. Er will abladen oder zuhören. Er will glücklich sein oder streiten – in jedem Fall will er die ganze Konzentration seines Gegenübers. Ich liebte meine Arbeit als Barmann. Ich liebte die Kommunikation und verglich mein Reich der Gläser und Flaschen oft mit dem Gang des Dompteurs in der Zirkusarena. Manchmal war es auch eine Falle, aus der ich nicht entwischen konnte. Ich erinnere mich an eine bestimmte Adventsnacht: Der Abend war bereits fortgeschritten, die Gäste im Restaurant guter Stimmung. Die Bar war geschmückt, die heilige Zeit hielt bedächtig Einzug. Wie ich das genoss. Das Silber glitzerte, die Gläser funkelten, die Kerzen leuchteten; ich mochte die festlich-wohlige Atmosphäre. Drei deutsche Touristen dachten wohl das Gleiche, die Frau und ihre zwei Begleiter betraten das Restaurant und kamen direkt an die Bar. Es waren ausnahmslos elegante Erscheinungen, die den Abend gepflegt beenden wollten. So ihre Worte. Dafür waren Hahnenschwänze genau das Richtige. Cocktails. Farbige Verführer, oh, ich zelebrierte sie. Blue Lagoon, Nevskij Prospekt, White Russian. Drei königliche Drinks zum Ausklinken. Danach ein Nevskij Prospekt und zwei White Russian. Dann drei Mal Champagner. Zum Ausklinken. Wir unterhielten uns prächtig, meine deutschen Gäste lobten die fachmännische Dienstleistung. Und wollten zum Abrunden des Abends noch etwas bestellen. Damit nahm das Schicksal seinen unergründlichen Lauf. Ein betrunkener Gast aus dem Restaurant bestellte das berühmte ‹Äntebüsi›. Schon klar, dass dann ausgerechnet dieses Gebräu auch der Absacker meiner Touristen sein sollte. Ich warnte. Natürlich ist der Gast König – trotzdem: Wodka, Gin, Blue Curacao, Cointreau, Champagner, Kaffeelikör, das Ganze getoppt mit einer Mischung aus Kernobstler und Kümmelbranntwein; ohne den Teufel an die Wand zu malen – das brauchte doch einen guten Verdauungstrakt. 62
Keine Sorge, war die Antwort, wir sind geeicht. Gesagt, getan. Rein damit und weg damit. Und ha, ha, ha. Der Mann im Lodenmantel richtete sich plötzlich kerzengerade auf, einen Blick in den Augen, der gut und gern als eine Mischung zwischen dem Ausdruck eines verstörten Kalbs und dem eines hilflosen Kindes hätte durchgehen konnte. Das darauf folgende «Ohhhh..ach..uahhh» war im ganzen Lokal zu hören. Sein Mageninhalt spritzte mit Schmackes über meine Theke, meine Gläser, mein Alles. Ein letztes Stöhnen, dann sank der Unglückliche in die Knie. Das war hammerhart. Begleiterin und Begleiter stemmten ihn schwankend hoch und schleppten ihn nach draussen. Ich stand in der Schweinerei, einem Nervenzusammenbruch ziemlich nah. Und genau in diesem Moment sah eine generalbeschwipste Krankenschwester die Herausforderung ihres Lebens. Sie kam zur Theke und ich war
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einfach zu langsam. Respektive, ich habe sie gar nicht rechtzeitig beachtet. Sie nahm die drei Champagnerflaschen aus der Eisschale, krallte sich den grossen Silberbehälter und marschierte damit zum Ausgang. «Braucht ‘ne Abkühlung... braucht er», schwafelte sie und war draussen. Ein Regisseur hätte bestimmt Mühe, das Folgende zu inszenieren: Mit einem kleinen Hopper in Richtung der zusammengesunkenen Gestalt auf dem Trottoir verabschiedete sich die Krankenschwester vom aufrechten Gang und stülpte dem Unglücklichen den Champagnerkübel förmlich über den Kopf. So endete ihre gut gemeinte Abkühlung. An die drei Kilo Eis schlugen in kleinen Stücken auf ihn nieder, während der Kübel und die Schwester in grossem Bogen auf die Strasse flogen. Ein Fahrradfahrer wurde selbstverständlich mitgerissen. Das Chaos war unbeschreiblich. Irgendwie wurde nur noch geblutet, gekotzt und gestöhnt. Die Polizei und die Sanität waren recht schnell zur Stelle und halfen, wo sie konnten. Ich war inzwischen nur noch Stoiker. Aber ich vergesse den Satz des Protokoll führenden Polizisten nie: Ich stand hinter der Theke, meine Hände steckten in grünen Gummihandschuhen, zu meinen Füssen war ein Kübel heisses Wasser mit dem unvergleichlichen Javel-Geruch, überall waren nasse Tücher – der Mann nimmt seine Mütze vom Kopf, kratzt im Haar und sagt: «Ich...wie...», dann beugt er sich vertraulich nach vorne und fragt schnell: «Wie kommt eigentlich die Bremsspur auf ihren Bauch?» «Ach Göttchen... ach Göttchen...», habe ich mir gedacht. Wie wohl? Eine betrunkene Krankenschwester haut einem deutschen Touristen einen Eiskübel über die Rübe und lässt sich auf offener Strasse von einem Fahrrad überfahren. Ganz einfach, dachte ich. Und trotzdem nicht richtig das Wahre für ein Protokoll.
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Blondie / in Memoriam Der Schweizer Künstler und Kunsttheoretiker Rémy Zaugg hat gesagt, dass ein Werk ausserhalb seiner Wahrnehmung nichts sei. Mit anderen Worten: Kunst ausserhalb ihrer Wahrnehmung ist tot. Zu vergleichen mit einem Sprecher ohne Zuhörer. So ist jede Kunst zweifellos ein Medium, das in eine direkte Kommunikation mit ihrem Konsumenten tritt. Oder treten muss, wenn sie erfüllt sein will. Es gibt gute Kunst, provinzielle Kunst, schlechte Kunst, Kleinkunst, geniale Kunst, unverstandene Kunst, langweilige Kunst, moderne Kunst; je nach dem Ausüben und dem Verkaufen des Handwerkes, welchem jede Kunstbestrebung schlussendlich zu Grunde liegt. Zusammenfassend kann man sagen: Jeder menschliche Gedanke sucht sich ein Medium als Ausdrucksform, die kann dann Kunst sein. Das ist aber nur die eine Seite der Kunstausübung, die andere Seite ist das Leben der Kunstschaffenden selber, welches oft eine eigene Sprache und eine eigene Botschaft enthält. Oft leise und kaum beachtet, manchmal laut und verdrängend. Zwischendurch einen ganz anderen Sinn vermittelnd, als es der Künstler mit seinem Werk tut. Dort stand Blondie. Sie malte, als hätte Charles Bukowski einen schlechten Tag erwischt. Ihre Bilder waren wie ihr Auftritt: schrill, laut, ungeordnet, ungezähmt; im besten Fall Pop-Art, im schlechtesten Fall dilettantisch. Das war meine Meinung, die war aber bestimmt nicht gefragt, denn ich finanzierte mein eigenes Künstlerdasein mit dem Brotjob in der Kleinbasler Szene-Kneipe. Der ‹alte Schluuch› wurde bereits seit einigen Jahren als Ausstellungsplattform für die Kunstszene benutzt. Dort traf ich Blondie, respektive sie traf mich, denn ich arbeitete lediglich, während sie den Künstlertreff zu ihrer Zweitbehausung machte. Den Einen zur Freude, den Anderen zum Leid. Dann kam der Tag ihrer Ausstellung.* «Schatz, mach nicht so ein Gesicht und gib mir noch ein ‹Äntebüsi›.» Blondie kniff mich in die Wange und schickte gleich einen Kussmund nach. Mein Gott, ein ‹Äntebüsi› war eine Mischung aus Kernobstler und Kümmelbranntwein und wer so etwas soff, hatte meines Erachtens Hilfe nötig. Trotzdem musste ich lachen. Wie sie mich immer irgendwie zum Lachen brachte. Der ‹alte Schluuch› war zum Bersten voll. Die ganze Kleinbasler Kunstszene war versammelt. Blondie war lokal bekannt, ja sogar berühmt. 65
Sie verkörperte die ‹femme fatale› schlechthin und zog jeden in den Bann ihrer Zügellosigkeit. Doch habe ich schliesslich vor ihrer Offenheit kapituliert, war ich doch ihr ‹Lieblings-Barmann›, je nach der Ausserordentlichkeit ihres Wunsches. Oder je nach ihrem Alkoholpegel. Beide waren heute gross, der Name ihrer Ausstellung musste Programm sein. Blondie rief zur Vernissage ihrer Ausstellung ‹König Alkohol›. Alle kamen, ich war todmüde und genervt von der Arbeit und dem Volk das sich trunken versammelt hatte. Aber ich mixte ihr selbstverständlich die beiden Schnäpse in ein Glas. «Blondie wann wirst Du endlich erwachsen?» Ich war bestimmt der einzige Mensch, der sie Blondie nennen durfte. Schlussendlich war ich ja auch ihr «Schatz, bring mir noch...» Ich – und vielleicht noch Sabine, die damalige Wirtin des «alten Schluuch». Mit ihr verband Blondie eine gemeinsam verbrachte Jugendzeit, deshalb die Vertrautheit im persönlichen Umgang. Ansonsten konnte Andrea, wie Blondie mit gutbürgerlichem Namen hiess, anmassend, frech, fordernd und bedenkenlos anarchistisch sein. Wie mir ihre Antwort einmal mehr beweisen sollte. «Ich brauche nicht erwachsen zu werden. Damit geht das Leben verloren. Ich bleibe Kind. Wem das nicht passt, braucht nicht mir zu verkehren.» «Aber hallo...» wollte ich zu bedenken geben, «...der Alkohol wird Dich umbringen.» «Schätzchen, Du bist rührend. Weisst Du nicht, dass ich nicht älter werde als vierzig Jahre?» Blondie lachte mich an. «Herrgott, dass kannst Du doch nicht...» Ich widersprach ihr tadelnd. «Doch kann ich. Weil ich nicht älter werden will.» Später sagte mir Sabine, dass Blondie seit früher Teenager Zeit das Gleiche sagte: sie wolle nicht älter als vierzig Jahre werden. Ich fand das albern und besoffen. Ein knappes Jahr später sass Blondie wieder an der Theke. Es war später Sonntagnachmittag und die Festteilnehmer hatten sich langsam verzogen. Seit dem Samstagabend feierten sie den vierzigsten Geburtstag Blondies. Ausgelassen, wild, uferlos. Blondie wirkte müde und nicht mehr in bester Laune. «Gib noch einen Gin-Tonic Schätzchen, dann bin ich zu einem Motorboottrip eingeladen.» 66
Das sonntägliche Befahren des Rheins mit teuren Motorbooten war einigen Baslerbürgern Hobby und Statussymbol gleichermassen. Sie kippte ihren Long-Drink und war weg. Zwei Stunden später betrat eine Bekannte den ‹alten Schluuch›. Bleich, mit Tränen im Gesicht. «Andrea...Andrea...sie ist tot...ertrunken.» Blondie war vom Motorboot gefallen. Die Strömung zog sie in die Tiefe und ihr Wunsch war offensichtlich erfüllt. Sie starb am vierzigsten Geburtstag. Jetzt kann man sagen, dass in ihrem Leben Werk und Existenz identisch gewesen waren. Hemmungsloser Alkoholrausch bis zum Schluss. Das kann man sagen. Das habe auch ich gesagt, am Anfang des kollektiven Erstaunens über ihren Tod.Doch dann habe ich nachgedacht. Ich versuchte mich an Blondies Bilder zu erinnern. Da war nichts. Keine Erinnerung. Ich dachte an ihre Exzesse. Deren Bild verblich langsam im Nebel der Vergangenheit und machten platz für andere Prioritäten des Gedenkens: Was mir von Blondie blieb war eindeutig ihr Lachen. Ihre Offenheit. Und auf schwer erklärbare Art und Weise das beeindruckt Sein vor der Klarheit ihres Willens. Vor der enormen Konsequenz. Da merkte ich, dass bei Blondie Werk und Leben nicht identisch waren: das Werk mochte wohl ihre Sucht repräsentieren, jedoch das Leben verbarg eine königliche Auseinandersetzung, die einer Figur Dostojewskis zur Ehre gereichte.Sie verlangte nicht Anarchie, sondern Autonomie. Das ist tatsächlich nicht das Gleiche. Während das Eine die Gesellschaftsordnung auflöst, verlangt das Andere eine Zusammenarbeit, die das Recht des Einzelnen fördert und ergänzt. Ich denke, dass ich behaupten darf, dass dies die Philosophie Blondies war. Ihre Konsequenz wurde mir später oft zur Triebfeder, wenn meine Mutlosigkeit das träge Aufgeben und Fallenlassen forderte. Das ist mir von Blondie geblieben. Danke Andrea.
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Schicksalswege: ‹Die Stühle› Das Glück das ihr sucht, ist nicht das Glück das ihr finden werdet und was ihr findet, ist nicht, was ihr zu suchen glaubtet. So lautet das Orakel im Film der Coen Brüder «Oh brother, where art thou?» So müsste eigentlich die thematische Zusammenfassung dieser Geschichte lauten.Wäre da nicht das Theater. Aber das Theater ist da. Deshalb widmet sich die kurze Erzählung zuerst diesem Theater, dann dem Glück, obwohl das Glück in meinem Leben bereits Theater bedeutete. Die Geschichte beginnt so: Sowohl der in Polen geborene Jerzy Grotowski wie der italienische Meister Dario Fo haben ihre Theaterarbeit einem existenzialistischen Purismus verschrieben. Sie setzten dem üppigen Regietheater der Wohlstandsbürger eine neue Arbeitsweise entgegen. Dario Fo besann sich der Wurzeln der commedia del arte, während Grotowski den Bühnenraum ausmistete, sowohl Requisiten wie Gestik einer asketischen Reinigung unterwarf und auf diese Art die bourgeoise Verlogenheit der klassischen Inszenierungen anprangerte. Das war die Geburtstunde des absurden Theaters und des Living Theater. Damals begann die Ära der Groteske. Es war die Zeit Becketts und Ionescos. Arrabals und Dürrenmatts. Die Moderne suchte ihre eigenen Dramen. Komödie und Tragödie verschmolzen zur Tragikomödie. Es war aber auch die Zeit, als sich die alternativen Theatermacher nicht mehr mit der gekauften und bereitgestellten Bühnenpräsenz der Institutionen zufrieden gaben, sondern das Schauspiel in einen unmittelbaren Kontext mit seiner sozialen Verantwortung brachten. Oder bringen wollten. So wurden Gesamtkonzepte entworfen, es entstand das Theater im Wald, das Theater am Tatort und das Theater in Zwischennutzungsmodellen. Das war auch Tadeusz Kantors ‹Theater des Todes›. Dort war ich zu Hause. Meine Auseinandersetzung mit der Bühnenkunst führte mich über Bern, Zürich, Hamburg, nach New York. Als ich von Amerika zurückkam, unterrichtete ich in Dornach experimentelles Theater, jobbte und plante meine erste Inszenierung. Für den Einakter ‹Der Kandidat›, einem traumatischen Monolog eines Häftlings über sein Gewaltverbrechen, suchte ich einen bespielbaren Raum. In der Nähe der Mustermesse fand ich einen passenden Hinterhof. Zwei mehrstöckige Häuser standen Rücken an Rücken, zwischen 68
ihnen an die 15 Meter Kieselbelag und grosse, nackte Betonwände. Das Ganze war eine klaustrophobisch anmutende Zementschlucht, ideal um den Eindruck eines Gefängnisses zu vermitteln. Als ich von den Behörden die Bewilligung erhielt, fing ich mit dem Bau der Bühne und des Zuschauerraums an. Schwere schwarze Leinenstoffbahnen dienten mir als Bühnendach, zur Beleuchtung wählte ich Talgkerzen. In kurzer Zeit entstand so ein Theaterraum, der mit Fug und Recht als speziell bezeichnet werden konnte. Ich probte das Stück bereits auf der naturalistischen Bühne, als ich immer noch keine Sitzgelegenheiten für die Zuschauer hatte. Ungefähr hundert Stühle waren notwendig, mein Budget erlaubte mir nur noch die Selbstverpflegung mit Sandwichs bis zum Beginn der geplanten Vorführungen. Ein klassisches Paradoxon, sozusagen. Dann kam der erlösende Anruf eines Freundes: «Du, in der Greifengasse renoviert ein Restaurant. Frag sie nach den alten Stühlen.» Der Besuch im besagten Restaurant war leider nicht erfolgreich, die Stühle waren bereits entsorgt worden. Ich erhielt aber noch die Information, dass das Kino im Singerhaus seine Bestuhlung erneuern wolle. Mit dem Besitzer dort kam ich überein, dass ich die schweren Kinostühle ausbauen und entsorgen, respektive in meinem kleinen Theater wieder einbauen könne. Gratis. Nur Arbeit und Transportkosten. Das ging. So kamen rote Kinosessel in meinen Theaterraum. Grossartig. Ebenso grossartig war die Erfahrung mit dieser Theaterproduktion. Als dann die Spielzeit längst vorbei war, erinnerte ich mich an das Restaurant an der Greifengasse. Die Besitzer hatten zwischenzeitlich die Neueröffnung gefeiert, die Kneipe ‹zum alte Schluuch› hatte sich in einen schmucken Künstlertreff verwandelt. Immer auf der Suche nach Überbrückungsjobs fragte ich die Wirtin, ob sie einen Barmann brauchen würden. Sie dachte, ich sei entweder wunderbar oder sehr schräg, auf jeden Fall stellte sie mich ein und statt der Stühle hatte ich Arbeit. Sie besuchte meine Theater. Sie heisst Sabine. Sie ist die Tochter von Johanna Dettwiler-Minder. Sie lebt heute mit mir zusammen und unsere PatchworkFamilie unterhält drei Kinder, die zwischenzeitlich zu Teenagern herangewachsen sind und ihre Zukunft planen. An guten Sonntagen, wenn die Freunde der Kinder unsere gemeinsame Wohnung stürmen, fehlt uns vor allem das Eine: genug Stühle. 69
Abschied Liebe Hanni,ich möchte mich mit den Zeilen bei Dir ganz herzlich bedanken. Du warst vielmals für mich wie eine Mutter, ein Zufluchtsort und Du nahmst mich so wie ich war und bin. Du hast mir auch jeden Blödsinn verziehen, vielen Dank! War bis 1983 auf Heroin, viele bemerkten dies nicht einmal, danach auf Alkohol bis im Herbst 1984. Dann wurde ich schwanger, hörte auf zu rauchen und zu trinken, ja ich lebte 12 Jahre völlig ohne Drogen, Alkohol und sogar ohne Mann oder Freund. War nur für meinen Sohn da und ich bereue nichts. Nun trinke ich wieder gerne mal so am Wochenende in Basel. Heroin werde ich nie mehr anrühren. Ja ich freute mich so sehr als ich Dich wieder gesehen habe und erinnere mich noch sehr gut daran wie Du immer für uns, und für mich da warst. Nun kommt die Zeit da Du den Schluuch in andere Hände gibst, ist sicher auch schwer für Dich, aber eben alles hat seine Zeit. Nochmals vielen Dank für alles was Du für mich, uns getan hast. Wünsche Dir gute Gesundheit und einfach alles Gute auf Deinen weiteren Lebenswegen. Ganz liebi Grüess vo dr T.
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Fotos Die Autoren und der Verlag danken den folgenden Personen für das Bildmaterial, das ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt wurde: • Gaudenz Lüdin • Georg Freuler Sollte Bildmaterial verwendet worden sein, welches Copyright-pflichtig ist, bitten wir die Autorin/den Autor, mit dem Verlag Kontakt aufzunehmen. Es war leider nicht möglich, alle Bilder den Urhebern zuzuordnen.
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