Ein Turm fürs Generationenwohnen

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Themenheft von Hochparterre, September 2023

Ein Turm fürs Generationenwohnen

Vier Generationen wohnen im elfstöckigen Hochhaus neben dem alten Kloster von Ilanz. Die Residenza St. Joseph zeigt , wie Wohnen im Alter ausserhalb der Zentren geht.

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Blick vom Bahnhof Ilanz auf den elfstöckigen Wohnturm der Residenza St. Joseph, der hinter dem alten Kloster und neben dem Spital liegt.

Umschlagfoto vorne:

Die Betreiberin der Residenza St. Joseph veranstaltet regelmässig Events für alle Bewohner, etwa eine Grillparty auf der Terrasse des Gemeinschaftsraums.

Umschlagfoto hinten: Der sorgfältig gestaffelte Wohnturm liegt in der Vorstadt Sontga Clau am linken Rheinufer von Ilanz.

Vier Generationen unter einem Dach

Inhalt

4 Länger leben, besser wohnen

Neue Wohnformen für das Alter: Ausgangslage, Fakten und Zahlen.

8 Die Gemeinschaft braucht Zeit

Residenza St. Joseph in Ilanz: eine Wohnreportage und eine Architekturrezension.

16 « Es braucht ein Umdenken im Füreinander-Sorgen »

Vier Wohnexpertinnen im Gespräch.

22 Zwis chen Einheitsbrei und individueller Gestaltung

Richtlinien und Normen: mit dem Architekten und dem Vertreter des Alterswohnen-Labels ‹ LEA › auf einem Rundgang.

In der Schweiz gibt es rund 3,9 Millionen Privathaushalte, etwa ein Drittel davon sind Einpersonenhaushalte. Diese beanspruchen besonders viele Quadratmeter pro Kopf, vor allem, je älter ihre Bewohner sind: 33 Prozent der über 65-Jährigen leben allein auf durchschnittlich 90 Quadratmetern. Aus durchaus nachvollziehbarem Grund: In der Regel bedeutet ein Umzug für diese Menschen weniger Fläche an schlechterer Lage für mehr Geld. Deshalb braucht es attraktive Wohnmodelle wie das Generationenwohnen.

Situation

Zu ihrem 20-jährigen Jubiläum gibt die Sammelstiftung Vita, eine der grössten Vorsorgeeinrichtungen der Schweiz, mit Hochparterre ein Themenheft zum Generationenwohnen heraus. Sie ist überzeugt, dass die Durchmischung der Generationen auch einen gesellschaftlichen Mehrwert bringt, und baut ihr Portfolio in diesem spezifischen Bereich des Wohnens im Alter aus. Sieben Generationenhäuser mit und ohne Betreuung hat die Sammelstiftung bereits umgesetzt. 43 Millionen Franken hat sie in Ilanz investiert, wo 61 Wohnungen in einem elfstö ckigen Neubau und 13 Wohnungen in einem umgeb auten alten Kloster entstanden sind. Seither leben dort vier Generationen unter einem Dach. Am Beispiel der Residenza St. Jos eph thematisiert das vorliegende Heft Fragen rund um das Generationenwohnen. Zu Beginn skizziert die Soziologin Joëlle Zimmerli die Ausgangslage. Fakten- und zahlenreich beschreibt sie die aktuelle demografische, aber auch die gesellschaftliche Entwicklung. In einer Reportage spricht Karin Salm mit Bewohnerinnen, einer Betreuerin, der Projektleiterin und mit betrieblichen Angestellten der Residenza St. Jos eph. Entworfen hat das AltNeu-Ensemble der Bündner Architekt Conradin Clavuot. Leonie Charlotte Wagner lobt in ihrer Rezension dessen Fähigkeit, die Architektur punktuell von der Leine zu lassen. In einer Gesprächsrunde reden vier Wohnexpertinnen über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen Projekts, über die Rolle von Begegnungs- und Gemeinschaftsräumen, aber auch des Wohnumfelds. Und zum Schluss protokolliert Reto Westermann einen Rundgang mit dem Architekten und mit Andreas Huber vom Label ‹ Living Every Age ›, auf dem die b eiden über Grundrisse, Türbreiten und Schwellenhöhen diskutieren. Der Ilanzer Fotograf Jaromir Kreiliger hat das Ensemble in Bildern festgehalten. Roderick Hönig

Impressum

Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Geschäftsleitung Andres Herzog, Werner Huber, Agnes Schmid Verlagsleiterin Susanne von Arx Konzept und Redaktion Roderick Hönig Fotografie Jaromir Kreiliger, www.jaromirkreiliger.ch Art Direction Antje Reineck Layout Jenny Jey Heinicke Produktion Linda Malzacher Korrektorat Rieke Krüger Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Sammelstiftung Vita hochparterre.ch / generationenwohnen Themenheft bestellen ( Fr. 15.—, € 12.— ) und als E-Paper lesen

Themenheft von Hochparterre, September 2023 Ein Turm fürs Generationenwohnen Inhalt 3 Residenz St.Joseph PLANGRÖSSE A3 SituationsplanIlanz C L A V U O T GÄUGGELISTRASSE T 08 252 00 16 MAIL@CLAVUOT.C 29.06.2023 1:2000 EE 50 10 0100
Editorial

Joëlle Zimmerli

Joëlle Zimmerli ( 42 ) ist Soziologin und Geschäftsführerin des sozialwissenschaftlichen Planungsbüros Zimraum Raum + Gesellschaft in Zürich. Sie ist Autorin zahlreicher Studien und Bücher zum Wohnen im Alter und berät Eigentümer in Entwicklungs ­, Vermarktungs­ und Bewirtschaftungsfragen rund um das Thema.

Länger leben, besser wohnen

Herausforderungen des Generationenwohnens

Generationenwohnen ist kein Selbstläufer in der Bewirtschaftung. Innerhalb der Mieterschaft eine Durchmischung der Generationen zu erreichen, erfordert bei Vermarktung und Vermietung, auf die Besonderheiten der Generation 65 plus einzugehen , etwa deren grösseres Informationsbedürfnis zu befriedigen oder Alternativen zum Online ­Bewerbungsprozess anzubieten. Je nach Ausrichtung braucht es in der Bewirtschaftung und oft auch vor Ort Personen mit hoher Sozialkompetenz. Wohnungseigentümer und Liegenschaftsverwaltungen müssen sich bewusst sein, welche Aufgaben und welcher Mehraufwand auf sie zukommt, um geeignetes Personal und genügend Ressourcen sicherzustellen und das Versprechen des Generationenwohnens einzulösen.

Die Menschen werden immer älter und sind länger fit. Das wirkt sich auf den Wohnungsmarkt aus. Neue Wohnformen für das Alter sind gefragt – auch aus s ozialer Perspektive.

Text:

Das Wohnen im Alter ist im Umbruch. Seit mehr als 20 Jahren wissen wir, dass die Zahl der älteren Menschen in der Schweiz steigt. Mittlerweile haben wir einige Erfahrungen damit, welche neuen Wohnformen die Babyboomer und die Generation 80 plus akzeptieren, und wie die Generation der Babybo omer für das Wohnen im Alter vorsorgt. Ein viel diskutiertes Konzept ist das Generationenwohnen, in das vor allem ältere Frauen, aber auch viele Gemeinden und soziale Institutionen hohe Erwartungen setzen. Dabei wird der Begriff sehr breit ausgelegt. Es gibt erst wenige systematisch untersuchte Beispiele und noch weniger Wissen dazu, ob Generationenwohnen dazu führt, dass ältere Menschen länger – oder besser – in einem privaten Zuhause wohnen können.

Länger im privaten Zuhause

Zur Rekapitulation: Das Wohnen im Alter verändert sich in der Menge. Die Zahl der 65- bis 79-Jährigen hat in der Schweiz seit 2010 um mehr als 230 00 0 Pers onen zugenommen ( plus 24 % ), die Zahl der über 80-Jährigen um 99 00 0 Pers onen ( plus 27 % ). In der gleichen Zeit ist die Zahl der jünger en Menschen lediglich um 8 % gestiegen siehe Grafiken 1 und 2. Rund 21 % der über 65-Jährigen wohnen in Einfamilienhäusern. Deren Anteil hat in den vergangenen Jahren stärker zugenommen als der Anteil der über 65-Jährigen in Mehrfamilienhäusern siehe Grafiken 3 und 4. Dass es immer besser möglich ist, auch im hohen Alter in einem privaten Zuhause zu wohnen, zeigen die sinkenden Alters- und Pflegeheimquoten zwischen 2010 und 2021: Von den 80- bis 84-Jährigen wohnen nur noch 6 % in einer solchen Institution ( 2010: 9 % ), von den 85- bis 89-Jährigen noch 15 % ( 2010: 20 % ), und selb st bei den über 90-Jährigen ist es nur noch ein Drittel ( 2010: 41 % ) siehe Grafik 5.

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Joëlle Zimmerli

Diese demografische Entwicklung stellt den Wohnungsmarkt vor Herausforderungen. Die Tatsache, dass ältere Menschen aufgrund der zunehmenden Lebensdauer länger in einem privaten Zuhause wohnen, führt zu einer grösseren Nachfrage nach Wohnungen. Dabei eignen sich viele Wohnungen nur bedingt für das Wohnen im allerletzten Lebensabschnitt, also in der ( kurzen ) Leb ensphase, die viele nicht im Pflegeheim, sondern zu Hause verbringen möchten. In einer Befragung des Age Reports 2019 gab ein Drittel der über 65-Jährigen an, ihre Wohnung sei im Behinderungsfall nicht geeignet, bei einem weiteren Drittel nur mit Einschränkungen. Probleme bereiten vor allem Treppen, Badezimmer und Schwellen.

Wohnformen für neue Lebensstile

Das Wohnen im Alter verändert sich nicht nur in der Menge, sondern auch in der Qualität. Das Alter teilt sich in mehr Lebensphasen ein als früher. Es beginnt mit dem Auszug der Kinder und der zunehmenden Flexibilität im Beruf. Ein längeres, gesundes Rentenalter ermöglicht ein drittes Lebensalter, das viele im privaten Zuhause verbringen können. Im vierten Lebensalter nimmt die Fragilität zu. Mit Unterstützung kann in den ( altersgerechten ) eigenen vier Wänden weiterhin vieles möglich gemacht werden. Die letzte Phase der starken Pflegebedürftigkeit betrifft nicht alle und ist in der Regel nur kurz. Auch sie findet immer öfter im privaten Zuhause statt. Die zentrale Frage, die sich ältere Menschen schon früh stellen müssen, ist deshalb: Welche Wohnungen und welche Wohnumfelder eignen sich für die letzte Lebensphase ?

Zudem zeigen sich Veränderungen bei den Lebensstilen: Die bisherigen Alten gehören zur Verzichtsgeneration, die in ihren ( Wohn- )Ansprüchen mehrheitlich bescheiden war und ist. Die künftigen Alten sind von den ‹ Loslegern › geprägt, einer anspruchsvollen Gruppe, für die das Wohnen im Alter nicht mit Status- und Komfortverlust einhergehen darf. In Zukunft wird es auch mehr Menschen geben, die sich noch lange im beruflichen Umfeld bewegen und es gewohnt sind, alles selbst zu organisieren – auch das Wohnen im hohen Alter.

Was die ältere Bevölkerung bevorzugt, zeichnet sich aus dem Sachzwang der Pflegesituation als wünschenswert ab. Die Schwierigkeit, ( private ) Pflegeheime ohne Subventionen wirtschaftlich zu führen, und der sich verschärfende Fachkräftemangel führen dazu, dass die ambulante Betreuung und Pflege zu Hause in Zukunft noch wichtiger wird als heute. Weil sich jedoch viele Wohnungen und Häuser nur bedingt für das Wohnen in der letzten Lebensphase eignen, wären Umzüge in altersgerechte Miet- oder Eigentumswohnungen in gut versorgten Wohnumfeldern erstrebenswert. Das wiederum bedeutet, dass sich der Wohnungsmarkt zunehmend fit machen muss für älter werdende Mieter und Eigentümerinnen, und zwar in allen Bereichen – von Projektentwicklung und Wohnungsvermarktung über Bewirtschaftung und Vermietung bis hin zur Anpassung des Wohnungsbestands für den letzten Lebensabschnitt.

Fehlende Durchmischung

Bereits in den frühen 2000er-Jahren reagierte der Wohnungsmarkt mit Sonderwohnformen. Auf private Initiativen hin entstanden Residenzen und Wohnungen mit Services, die eine attraktive Alternative zu Alters- und Pflegeheimen bieten sollten. Das Alter beim Einzug war in der Regel über 80. Ein Angebot für die Generation 80 plus waren auch an Pflegeheime angebundene Alterswohnungen. Sie sollten das selbständige Wohnen mit geringem Betreuungsbedarf ermöglichen. Parallel dazu gewannen →

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1 Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz 2 Bevölkerungsentwicklung ( indexiert ) 2010 8 000 000 6 000 000 4 000 000 2 000 000 0 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 unter 65 ­ Jährige 65 ­ bis 79 ­ Jährige 8 0 ­ plus ­ Jährige 130 125 120 115 110 105 100 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 unter 65 ­ Jährige 65 ­ bis 79 ­ Jährige 8 0 ­ plus ­ Jährige 3 Anteil 65-plus-Jährige nach Gebäudetyp 65 ­ plus ­ Jährige in Einfamilienhäusern 65 ­ plus ­Jährige in Mehrfamilienhäusern 21 % 79 % 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 4 Anteil 65-plus-Jährige nach Gebäudetyp ( indexierte Entwicklung ) 130 120 110 100 90 65 ­ plus ­ Jährige in Einfamilienhäusern 65 ­ plus ­ Jährige in Mehrfamilienhäusern 5 Quote in Alters- und Pflegeheimen 50 40 30 20 10 0 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 80 ­ bis 84 ­ Jährige 85 ­ bis 89 ­ Jährige 9 0 ­ plus ­ Jährige Quellen Grafiken: 1 –4 Bundesamt für Statistik , 5 BFS –Statistik der sozialme dizinischen Institutionen ( SOMED ) und Statistik der Bev ölkerung und der Haushalte ( ST ATPOP )

Alterswohnungen – häufig von Genossenschaften oder Gemeinden angeboten – an Bedeutung: Mietwohnungen für die Altersgruppe 65 plus, die dem Wohnungsmarkt entzogen werden und bezahlbaren Wohnraum für Seniorinnen sicherstellen sollen. Bei diesen Wohnungen ist das Eintrittsalter in der Regel deutlich tiefer als bei den anderen beiden Sonderwohnformen. Wie in privaten Wohnungen üblich, erbringen hier ambulante Anbieter allfällige Betreuungs- und Pflegedienstleistungen.

Die Nachfrage nach diesen Sonderwohnformen ergibt sich meist aus einem Sicherheitsbedürfnis. Die serviceund pflegeorientierten Angebote sprechen hauptsächlich Menschen in oder kurz vor der fragilen Lebensphase an. All diesen Wohnformen fehlt jedoch die Durchmischung mit anderen Generationen. Die Erkenntnis, dass viele ältere Menschen gerne in einem generationendurchmischten Umfeld wohnen möchten, kurbelte die Diskussion um neue Wohnkonzepte an. Dazu trug die Beobachtung bei, dass für viele ältere Menschen – vor allem für die Frauen –die Einbettung in ein soziales Umfeld ebenso wichtig ist wie eine sichere Wohnung und Betreuung.

Das Zusammenleben fördern

Damit gewann das Generationenwohnen an Bedeutung. Neben der Durchmischung der Generationen legt es den Fokus häufig auf das Zusammenleben und weniger auf Unterstützung und Pflege. Es gibt Konzepte, die mit eigenen Dienstleistungen ergänzt werden, andere sorgen mit bewusst zusammengestellten Erdgeschossnutzungen für alltagsunterstützende Angebote. Gerade in kleineren Gemeinden tragen solche Projekte zu einer besseren Versorgung der gesamten älteren Bevölkerung bei. Und sie leisten einen Beitrag, ältere Menschen aus der Region an zentralere, besser erschlossene Wohnlagen zu bewegen und damit die Wege für ambulante Pflegedienstleister oder betreuende Angehörige zu verkürzen.

Die neuen Konzepte kommen aus drei Richtungen: Anbieter von Sonderwohnformen fingen an, ihre Wohnungsangebote auch für jüngere Menschen zu öffnen und dem Zusammenleben mit Siedlungsassistenz, Gemeinschaftsräumen oder nachbarschaftlichen Aktivitäten mehr Gewicht zu verleihen. Anbieter von Wohnungen begannen, ihre hindernisfreien Wohnungen in gut versorgten Wohnumfeldern bei der Erstvermietung vermehrt für die Zielgruppe 65 plus zu vermarkten. Dadurch erreichten sie eine stärkere Durchmischung der Generationen, manchmal ergänzt mit begegnungsfördernden Bereichen, Gemeinschaftsangeboten und Siedlungsassistenzen, die sich an alle Generationen richten. Und Exponenten aus der Generation der Babyboomer organisierten sich selbst und realisierten Generationenwohnprojekte, häufig integriert in genossenschaftliche Strukturen.

Unterschiedliche Ansätze

Der Kern des Generationenwohnens ist das Versprechen, in einem generationendurchmischten Umfeld bis ins hohe Alter soziale Kontakte zu ermöglichen. Ob dieses Versprechen eingelöst werden kann, ist noch offen, eine Studie am ETH Wohnforum ist im Gang.

Die Bedürfnisse beim Wohnen im Alter sind vielfältig. Deshalb sind unterschiedliche Ansätze gefragt – eine mehr oder weniger intensive Generationenmischung, ein mehr oder weniger moderiertes Zusammenleben, ein mehr oder weniger explizit verfüg- und sichtbares Unterstützungs- und Pflegeangebot. Das Generationenwohnen allein kann das Problem des Wohnens im Alter nicht lösen. Es bietet aber Lösungsansätze, die auf unterschiedliche Lebensentwürfe eingehen können. ●

Raumplanung

Attraktive Fusswege vor der Haustür

« Altersfreundliche Raumplanung ist mehr als Barrierefreiheit. Häufig fehlt der ganzheitliche Blick. Im Kern geht es um das Menschenrecht, auch im Alter nach seinen Interessen und Bedürfnissen leben zu dürfen. Dafür gilt es die räumlichen Voraussetzungen zu schaffen, und zwar dort, wo die Menschen zu Hause sein wollen: in den Quartieren, Dörfern, Städten und Regionen. Dabei geht es nicht nur um Wohnraum, sondern auch um Fussverkehr, Nahversorgung, Frei- und Begegnungsräume vor der Haustür und um Partizipation, die Mitgestaltung des Lebensraums. Altersgerechte Raumentwicklung bedeutet, gesellschaftliche mit raumplanerischen Zielen zu verschränken: Was muss der Raum leisten, damit wir die gesellschaftspolitischen Ziele erreichen ? Mobilität beispielsweis e ist gerade im Alter stark an den Fussverkehr gebunden. Attraktive, sichere und durchgängige Fusswege fördern Bewegung, Gesundheit und nachbarschaftliche Begegnung. Der attraktive Fussweg beginnt vor der Haustür, im Wohnumfeld, das dazu animieren soll, vor die Tür zu gehen, Natur zu erleben, Entdeckungen zu machen, Menschen zu begegnen. Häufig ist das Wohnumfeld aber versiegelt oder besteht aus Abstandsgrün. Da wird viel Potenzial verspielt, das mit Planungen von Fassade zu Fassade, parzellenübergreifenden Planungen oder einfachen Interventionen wie einem schattigen ‹ Plauderbänkli › am richtigen Ort genutzt werden könnte. Wichtig für Autonomie im Alter ist auch eine gute Nahversorgung im Umkreis von zehn Fussminuten vom Wohnort. Das ist besonders für kleine, ländliche Gemeinden herausfordernd. Der Aufbau einer guten Grundversorgung ist dort kaum möglich. Es gilt – neb en der regionalen Perspektive – die räumlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit Nachbarschaft gedeihen und etwa ein Freiwilligennetz aufgebaut werden kann. Letztlich brauchen Gemeinden eine Strategie zur Innenentwicklung, die vermehrt gesellschaftspolitische Ziele in den Blick nimmt. Die öffentliche Hand soll dabei eine gestaltende Rolle übernehmen, etwa durch eine aktive Bodenpolitik, das Initiieren oder Unterstützen von Projekten, wobei Betroffene sich aktiv beteiligen sollen. »

Eva Gerber, Stadt­ und Gemeindeentwicklerin, Mitglied der Geschäftsleitung und Standortleiterin Zürich bei Kontextplan

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Die Nachfrage nach Sonderwohnformen ergibt sich meist aus einem Sicherheitsbedürfnis.
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Der Haupteingang liegt im Sockel des sanierten und mit Balkonen erweiterten alten Klosters. Über einen Lift und eine Passerelle gelangt man in den weiter oben gelegenen Wohnturm.

Sammelstiftung Vita 2003 von der Zürich Lebensversicherungs-Gesellschaft AG als rechtlich selbstän di ge, teilautonome Stiftung gegründet, ist die Sammelstiftung Vita heute eine der grössten Vorsorgeeinrichtungen der Schweiz. Sie ist unabhängig von Zurich , setzt jedoch nach wie vor auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Versicherer. 2023, im Jahr ihres 20-jährigen Jubiläums, haben mehr als 24 500 angeschlossene Unternehmen mit mehr als 147 000 Versicherten der Sammelstiftung Vita ihre berufliche Vorsorge anvertraut. Seit 2018 investiert die Stiftung nach ESG-Kriterien ( Environmental, Social, Governance ) in Wohn- und Lebensraum für das Älterwerden – bis anhin rund 230 Millionen Franken, davon 43 Millionen in die Residenza St. Joseph in Ilanz. Sie investiert in verschiedenen Regionen der Schweiz in 400 Wohneinheiten für das Alter und ist jeweils von der Projektentwicklung bis und mit der Betriebsphase engagiert. Ziel ist stets ein Mix aus unterschiedlichen Wohnformen und eine gut vernetzte Nachbarschaft im Haus und im Quartier. Auf der Grundlage der kommunalen Alterspolitik verfolgt die Sammelstiftung Vita langfristige Partnerschaften mit Gemeinden und lokalen Akteuren. Für die Projektentwicklung und den Betrieb arbeitet sie mit Partnern zusammen.

www.vita.ch / wohnenimalter

Die Gemeinschaft braucht Zeit

Die Residenza St. Joseph in Ilanz bietet Wohnungen, die auf ältere Bewohner ausgerichtet sind. Nicht nur sie schätzen den zeitgemässen Wohnraum und das ergänzende Angebot.

Nach 30 Jahren urbanem Leben in Städten, die letzten zehn Jahre im quirligen Kreis 5 in Zürich, ist Doris Neuhäusler nach Ilanz in die Residenza St. Joseph gezogen. Aus ihrer 2½-Zimmer-Wohnung blickt sie auf den rauschenden Rhein. Als Projektleiterin für strategische Immobilienprojekte bei der Sammelstiftung Vita hat Doris Neuhäusler die Entstehung des Mehrgenerationenwohnens in der Residenza begleitet, hat Menschen in der Surselva kennengelernt und beherzt entschieden, nach Ilanz zu ziehen.

« Die Residenza St. Jos eph ist ein Leuchtturmprojekt und eine gesellschaftliche Investition in den ländlichen Raum », sagt sie. Die 61 Wohnungen im Neubau sind für die Bedürfnisse älterer Menschen gebaut und bieten Dienstleistungen für betreutes Wohnen. Sie sind mit einem 24-StundenNotrufsystem ausgerüstet, der direkte Kontakt zur Spitex ist garantiert, und auch für ein abwechslungsreiches Freizeitangebot ist gesorgt. Weitere 13 Wohnungen sind im sorgfältig renovierten Klostergebäude der Ilanzer Dominikanerinnen entstanden. Die beiden Gebäude teilen sich einen stimmungsvollen Gemeinschaftsraum – die ‹ Stiva da sentupada ›. Denn in der Residenza sind alle Räume in Rumantsch und in Deutsch angeschrieben.

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Text: Karin Salm
Blick über die Rheinbrücke: Die neuen und die alten Häuserzeilen staffeln sich kulissenartig den Hang hinauf.
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Fenster und Böden aus Holz vermitteln Wohnlichkeit und Beständigkeit. Die Aussicht vom Balkon reicht weit.

Lageplan

1 Wohnturm

2 A ltes Kloster

3 H aupteingang

4 S pital

5 G enerationenspielplatz

→ Grosse Nachfrage

Ein Jahr nach der Eröffnung ist die Vermietung komplett. Für Doris Neuhäusler ein Beweis dafür, dass das Konzept aufgeht. Sie erinnert sich gut daran, dass das Projekt anfangs nicht nur auf Zustimmung stiess. Die Gemeinde befürchtete, dass ein Alterswohnprojekt zum Klumpenrisiko werden könnte, wenn Kosten für die Langzeitpflege anfallen. Für ältere Menschen sei es aber ein Vorteil, zentral und mit einem vielfältigen Betreuungsangebot für den Notfall zu wohnen. Rund 70 Prozent der Wohnungen sind für Personen in der Nacherwerbshase vorgesehen. Aber auch das Mietintere sse von Jungen, Erwerbstätigen, Familien und WGs ist gross. « Das zeigt, dass es im Kanton Graubünden an zeitgemässen Mietwohnungen für unterschiedliche Zielgruppen mangelt », konstatiert Neuhäusler. Die 2½- bis 4½-Zimmer-Wohnungen kosten zwischen 1200 und 2000 Franken netto pro Monat. Für alltägliche Leistungen der Siedlungsassistenz, das Notrufsystem, die Nutzung des Mehrzweckraums, die Gästewohnung sowie die Organisation von Freizeitaktivitäten wird eine Monatspauschale von 70 Franken pro Wohnung verrechnet.

Neben dem Neub au befindet sich der Generationensielplatz – ein lauschiger Kieslatz mit einem denkmalgeschützten Gartenpavillon und einer Feuerschale. Mitten im alten Klostergarten am Berghang gelegen, ist er öffentlich zugänglich und soll Raum bieten für Begegnungen und Austausch. Auch der Weg durch den Garten ist öffentlich. Die Schülerinnen und Schüler des Bildungszentrums Surselva nutzen ihn gerne als Schleichweg.

Für den Betrieb und das Betreuungsangebot ist die in der Region verankerte Spitex Foppa zuständig, die seit September 2021 im sanierten Altbau einquartiert ist. Stolz führt die Geschäftsleiterin Corina Schnoz durch die neuen Räumlichkeiten im ehemaligen Kloster. Aktuell leistet die Institution für Pflege und Betreuung zu Hause 16 Einsätze pro Tag im benachbarten Neubau. « Statt langen

Residenza St. Joseph, 2022

Spitalstrasse 7, Ilanz GR

Bauherrschaft: BG Altersund Gesundheitsresidenz Ilanz, Chur

Architektur: Clavuot , Chur

(

Projektleitung: Eric

Eberhard ; Mitarbeit: B ogdán Funk, Bence Kollár, Romano Candinas, Niklas Schlub )

Auftragsart: Studienauftrag

auf Einladung, 2015 Bauleitung / -management: Nocasa, Chur

Bauingenieur: Liesch, Chur Elektroingenieur: Energia alpina, Sedrun

HLK-Ingenieur: Hendry, Sedrun

Bauphysik: Kuster + Partner, Chur

Unternehmer: Nicol. Hartmann & Cie., Chur ; Peter Bausysteme, Niederhasli Anrechenbare

Geschossfläche: 6234 m2

Kosten: Fr. 43 Mio.

Fahrten nach Thalkirch zuhinterst im Safiental oder nach Vrin in der Val Lumnezia, für die eine Spitex-Mitarbeiterin eine Stunde im Auto sitzt, sind die Klienten einfach per Lift erreichbar », sagt S chnoz. Wobei sie zu bedenken gibt, dass es nur einen Lift gebe und es für die Mieterschaft bisweilen zu Wartezeiten komme.

Neue Aufgaben für die Spitex

Der Einzug in die Residenza St. Jos eph hat die Spitex Foppa gestärkt. Sie ist in Ilanz wahrnehmbarer geworden und hat zusätzliche Aufgaben übernommen: Sie bietet einen Concierge-Dienst an und ist für die Mieterinnen erste Ansprechpartnerin, sie regelt die Vermietung der Gästewohnung und ist zuständig für das Freizeitangebot – Neuland für eine Institution, die sonst zu den Menschen nach Hause geht, um pflegerische und medizinische Hilfeleistungen zu erbringen. Corina Schnoz hat eine Mitarbeiterin angestellt, die wöchentliche Aktivitäten wie Lottonachmittage und Filmabende, einen Mittagstisch oder ein Bocciaturnier organisiert. Sie bedauert, dass nicht mehr Menschen das Angebot nutzen. Immerhin wird der Gemeinschaftsraum zusehends von Vereinen und politischen Parteien für Sitzungen genutzt. Mit anderen Worten: Ein Teil des Städtchens kommt in die Residenza. Die anfängliche Skepsis ist auch ihr aufgefallen. Hier entstünde ein Haus nur für alte Leute, war zu hören, oder dass die Menschen nun aus den kleineren Dörfern wegzögen. Doch die Residenza beweise: « Die Bewohnerschaft ist gemischt, und statt in ein Altersheim nach Chur zu ziehen, bleiben die Menschen in der Region. »

Atemberaubende Aussicht

Wie Heinrich und Madeleine Huonder. Das Ehepaar kam aus Disentis nach Ilanz. Er war 35 Jahre für die Axp o tätig, sie 20 Jahre im Alters- und Pflegeheim Disentis. Dort hat Madeleine Huonder gesehen, was geschieht, wenn

Themenheft von Hochparterre, September 2023 Ein Turm fürs Generationenwohnen Die Gemeinschaft braucht Zeit 10 Residenz St.Joseph PLANGRÖSSE A3 Umgebungsplan C L A V U O T DI PL A RCHI TE KT ET H S W B GÄUGGELISTRASSE 49 CH-7000 CHUR T 08 1 252 00 16 MAIL@CLAVUOT.CH 26.07.2023 1:500 EE
1 2 4 5 3 0 15 30 m

sich betagte Menschen nicht rechtzeitig um altersgerechte Wohnverhältnisse kümmern. « Dann entscheiden die Umstände, und man landet in einem Pflegeheim », so die 72-Jährige. Von Kindesbeinen an sei sie für ihr Leben gern Ski gefahren und hätte sich nicht vorstellen können, je damit aufzuhören. Doch die Vernunft liess sie anders entscheiden – genau wie beim Thema Wohnen. Ins Altersheim in Disentis hätten sie und ihr Mann nicht ziehen wollen. « Direkt neb en dem Friedhof und ohne Aussicht – das kam nicht infrage », meint Heinrich Huonder. D em Entscheid, in die Residenza zu ziehen, sei ein langer Prozess vorausgegangen. Die beiden schauten sich die Bauprofile an, verfolgten den Bauverlauf und wählten schliesslich eine 2½-Zimmer-Wohnung im achten Stock mit atemberaubender Aussicht. Ihren Hausteil in Disentis haben sie verkauft, die Möbel verschenkt und sich neu eingerichtet. Nur das alte Stubenbuffet durfte mit. « Das Auto hab e ich abgegeben, weil hier alles zu Fuss erreichbar ist », sagt Heinrich Huonder, und seine Frau ergänzt: « Langweilig wird es uns nicht. Die hauseigenen Tagesangebote nutzen wir zwar nicht, weil wir viel unterwegs sind. Aber an die Filmabende gehen wir gerne. »

Zufrieden ist auch die 72-jährige Ulrica Cahenzli: « Schon ein Jahr vor dem Einzug hatten wir den Mietvertrag unterzeichnet. Es ist gut zu wissen, dass Unterstützung da wäre, wenn wir sie benötigen würden. » Anders als Huonders nimmt das Ehepaar Cahenzli regelmässig an den Aktivitäten teil. Ulrica Cahenzli findet es schade, dass nicht mehr Menschen mitmachen beim Mittagstisch, beim Grillplausch auf dem Generationensielplatz oder an den Filmabenden. Es sei doch schön, allenthalben neue Mieter zu treffen: « Ich kenne längst noch nicht alle! » Cahenzlis haben sich für eine Wohnung auf der Westseite mit Blick auf den Piz Mundaun entschieden. « Für mich ist das Wohnen in der Residenza wie ein Nachhausekommen: Ich bin in diesem Quartier geboren und aufgewachsen, das Geläut der Kirche ist mir sehr vertraut », erzählt Ulrica Cahenzli und winkt einem jungen Paar zu, das mit einem riesigen Reisekoffer vorbeigeht.

Freuden und Sorgen

Die ‹ Stiva da s entupada › soll Treffpunkt und Gemeinschaftsort sein. Claudio Quinter, zuständig für die Bewirtschaftung der Residenza St. Jos eph, beobachtet, dass sie sontan wenig genutzt wird. Selbstverständlicher und im Alltag integrierter Treffpunkt sei der Eingangsbereich mit den Briefkästen. « Am Anfang hatten wir viel zu tun, weil die Schnappschlösser für viele ungewohnt waren. Immer wieder haben sich Mieter ausgeserrt, und wir mussten ausrücken », erzählt Quinter schmunzelnd. Jetzt laufe alles rund. Die Haustechnik sei grossartig und funktioniere tipptopp. Sorgen bereitet ihm der Generationensielplatz, der sich zum Treffpunkt trinkfreudiger Jugendlicher aus Ilanz und der Surselva entwickelt habe. Erst vor einigen Tagen sei nahezu das ganze Brennholz in einer Nacht verfeuert worden, und in der Feuerschale seien geschmolzene Flaschen gelegen. Vom übrigen Unrat gar nicht zu reden. Für Hansjörg Sprenger, Hauswart der Residenza, ist klar: So geht das nicht. Das habe er auch der Verwaltung mitgeteilt.

Doris Neuhäusler liegt der Generationensielplatz am Herzen. Man habe den Platz bewusst als öffentlichen Ort eintragen lassen und beschildert. Sie weiss, dass solche Angebote anders als beabsichtigt genutzt werden können. Doch die einstige Städterin sieht das mit einer Portion Gelassenheit: « In der Stadt kennt man diesen Mix aus Mehrgenerationenwohnen und öffentlichen Räumen. Hier braucht es einfach noch etwas Zeit und Austausch im direkten Gesräch, bis eine Gemeinschaft entsteht. »

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Residenz St. Joseph PLANGRÖSSE A3 4.OG (Regelgrundriss) C L A V U O T C H T H W GÄUGGELISTRASSE 49 CH-7000 CHU R 2 0 MAIL@CLAVUOT .C 29.06.2023 1:200 EE 51 10 A3 C L A V U O T A W B GÄUGGELISTRASSE 49 CH-7000 CHU MAIL@CLAVUOT .C 29.06.2023 1:200 EE 51 0 10
4. Obergeschoss 9. Obergeschoss
→ 0 10 m
Schnitt Alt- und Neubau

Je weiter unten, desto höher die Räume: 2,9 Meter in den unteren Geschossen, 2,5 Meter in den oberen.

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« Es ist gut zu wissen, dass Unterstützung da wäre, wenn wir sie benötigen würden. »
Ulrica Cahenzli, Bewohnerin
« An die Filmabende gehen wir gerne. »
Madeleine Huonder, Bewohnerin Die eingezogenen Balkone des Turms führen zu versetzten Wohnräumen. Luftig wohnen im alten Kloster: Die Dachwohnungen sind zweistöckig. Gemeinsames Essen in der ‹ Stiva da sentupada ›.

Je nach dahinterliegenden Räumen halbieren, dritteln oder vierteln die Querriegel die Fichtenholzfenster. An der Fassade entsteht dadurch eine elegante Unregelmässigkeit.

Der Generationenspielplatz mit Bocciabahn, Feuerstelle und Pavillon steht allen Ilanzern offen. Tagsüber beleben ihn Familien und Seniorinnen, abends die Dorfjugend.

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« Das Auto habe ich abgegeben, weil hier alles zu Fuss erreichbar ist. »
Heinrich Huonder, Bewohner
« In Graubünden fehlen zeitgemässe Wohnungen für unterschiedliche Zielgruppen. »
Doris Neuhäusler, Sammelstiftung Vita
Gleich mehrere Hunde sind in die Residenza St. Joseph eingezogen.

Ein Turm für Ilanz

Von aussen betrachtet wirkt der elfgeschossige Turm des Architekten Conradin Clavuot « altneu », um einen Begriff des ehemaligen ETH-Architekturprofessors Miroslav Šik zu verwenden, der zu der Zeit, als Clavuot in Zürich studierte, dort als Assistent lehrte. Trotz seiner im Verhältnis zur Ilanzer Umgebung imposanten Grösse wirkt der Turm feingliedrig und vertraut. Dafür sorgen eine Vielzahl von Entscheidungen, die eng mit dem Ort, aber auch mit Clavuots Fähigkeit, seine Architektur punktuell von der Leine zu lassen, zusammenhängen.

Bis der Entwickler Nocasa das Grundstück kaufte, befand es sich im Besitz der Ilanzer Dominikanerinnen. Auf dem Perimeter steht ein Gebäude des alten Klosters aus dem Jahr 1904. Etwas weiter westlich wurde 1969 nach Plänen von Karl Moser am Berghang eine neue Klosteranlage gebaut, auf die das neue Projekt in der Nutzung Bezug nehmen sollte. Das führte zur Idee eines Mehrgenerationenhauses, in dem betreutes und unabhängiges Wohnen möglich sein sollten. Clavuots Team gewann den Studienauftrag mit sechs teilnehmenden Büros mit dem Vorschlag, das Klostergebäude von 1904 zu sanieren und direkt dahinter einen Turm zu setzen. Der Entwurf nutzt den Bestand als Vermittler in Sachen Höhe. Von der Altstadt aus gesehen, staffeln sich collagenartig drei Bauten in die Höhe: vorne die jenseits des Perimeters liegende Hauptfassade eines Arkadengebäudes, welches das Grundstück zur Strasse hin abschliesst, dann das sanierte Klostergebäude und schliesslich die Fassade des Turms. Die Gebäude sind nicht nur persektivisch, sondern auch funktional und räumlich gekoppelt. Eine Passerelle führt vom Bestandsin den Neubau, auf dem Dach des Turms befindet sich neu der Helikopterlandeplatz des benachbarten Spitals und ein unterirdischer Korridor verbindet Spital und Turm.

Viele Gesichter

Grossformatige Fichtenholzfenster prägen die Turmfassaden. Je nach dahinter gelagertem Innenraum halbieren, dritteln oder vierteln ihre Querriegel die vertikalen Fenster – es entsteht eine elegante Unregelmässigkeit. Für ein weiteres Spiel sorgen Sprünge in den Geschosshöhen. Um mehr Licht in die hinter dem Bestand liegenden Wohnungen zu bringen, sind die Geschosse hier 2,90 Meter ho ch, sonst messen sie mit Ausnahme des Dachgeschosses 2,50 Meter. Auskragende, betonierte Geschossplatten bewirken mit ihrer Schattenbildung eine horizontale Fassadengliederung. In Anlehnung an die Farbenwelt des Rheins sind Sockel und Fassade mit einem grobkörnigen, mineralisch eingefärbten Zementanstrich verputzt.

Im Grundriss ist der Turm ein verschachteltes Rechteck, das sich in einen acht- und einen zehngeschossigen Teil gliedert. Die Süd- und die Westfassade sind von Wohnung zu Wohnung graduell abgestuft. Hangseitig und Richtung Osten ist der Baukörper stärker zergliedert, sodass der Turm zu jeder Himmelsrichtung ein anderes Gesicht zeigt. Im Erdgeschoss liegt der Gemeinschaftsraum mit Terrasse, von der aus man dem Bach lauschen kann, der westlich des Turms den Hang hinunter plätschert. In den Folgegeschossen führen Korridore vom Erschliessungskern zu den insgesamt 61 Wohnungen. Aufgrund ihrer Länge wirken sie schmal und erinnern – bisher no ch eher unwohnlich – an Hotelflure.

Hinter den Türen erwarten einen lichtdurchflutete Wohnungen, die mit ihren grosszügigen zentralen und beinahe bodentief befensterten Wohnküchen einen loftähnlichen Charakter haben. Fichtenholzfenster und Eichen-

boden vermitteln Wohnlichkeit und Beständigkeit. Durch das Einrücken der von den Wohnküchen aus erschlossenen Balkone sind alle Wohnungen mindestens zweiseitig, die Eckwohnungen sogar dreiseitig belichtet.

Privatheit und wohnliche Materialien

Im aprikosenfarben gestrichenen ehemaligen Klostergebäude gibt es 13 weitere Wohnungen. Weil der Bau statische Probleme aufwies, musste er im Innern durch eine neue Tragstruktur verstärkt werden. Richtung Süden wurden Balkone angebracht. Im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss befinden sich die Psychiatrischen Dienste Graubünden sowie Büro- und Therapieräume. Darüber liegen die 2½- bis 4½-Zimmer-Wohnungen mit Altbaucharme. Auf die Frage, was architektonisch für das Wohnen im Alter wichtig sei, antwortet Conradin Clavuot, dass ihn vor allem die Privatheit und die Materialität beschäftigt hätten. Geschützte Räume seien wichtig, sagt er und deutet auf die eingerückten Balkone. Zudem sei Holz für ältere Menschen ein bekanntes und wohnliches Material, weshalb er sich bei der Bauherrschaft beharrlich für die Holzfenster eingesetzt habe. Mit feinen, teils kaum merklichen Spielen und Abweichungen gelingt dem Projekt eine sorgsame Verzahnung zwischen Alt- und Neubau. ●

Gemeinde

Qualitätssicherndes Verfahren, unaufgeregte Integration

« Bis die Residenza St. Jos eph gebaut werden konnte, brauchte es einiges an baurechtlicher und planerischer Vorarbeit. Am Anfang war – wenig überraschend in direkter Nachbarschaft zum Spital – ein Gesundheitszentrum geplant. Aus verschiedenen Gründen hat sich das Projekt in der Nutzung und im Entwurf weiterentwickelt. 2019 wurde eine Altersresidenz mit betreutem Wohnen bewilligt. Dieser Umweg erforderte unter anderem eine Teilrevision der Ortslanung, die 2017 von der Ilanzer Stimmbevölkerung mit grosser Mehrheit genehmigt worden war. Neun Monate nach Baueingabe wurde das Projekt bewilligt – für unsere Verhältnisse recht schnell und problemlos. Die Gefahr, dass die vielen Alterswohnungen zu einem finanziellen Klumpenrisiko für Ilanz werden könnten – etwa wenn Kosten für die Langzeitpflege von Bewohnern anfallen –, bleibt bestehen. Diese Sorge kann uns niemand nehmen. Bei der Bevölkerung hat das Projekt trotz des stattlichen Bauvolumens keine grossen Wellen geschlagen. Es gab keine laute Kritik, aber auch kein explizites Lob. Diese unaufgeregte Integration hat mit der Lage und auch mit der Architektur zu tun. Der elfstöckige Turm fügt sich gut in das Gelände ein, er ist im steilen Hang gut platziert. Die feingliedrige Architektur fördert die Einpassung in das Stadtbild. Beides ist auf das qualitätssichernde Verfahren zurückzuführen, das Gemeinde und Heimatschutz vom Entwickler eingefordert hatten. Im Gegenzug hat die Wettbewerbsflicht die Frage nach dem Arealplan erübrigt. Was ich einem zukünftigen Entwickler oder Investor raten würde ? Vor der Projektierung die Rahmenbedingungen sorgfältig zu klären. Und in günstigen Wohnraum zu investieren. Davon hat Ilanz nämlich zu wenig. »

Leiter Planung und Bau bei der Gemeinde Ilanz

Themenheft von Hochparterre, September 2023 Ein Turm fürs Generationenwohnen Die Gemeinschaft braucht Zeit 14
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Eine Passerelle verbindet den Wohnturm mit dem alten Kloster, in dem 13 Wohnungen entstanden sind. Vor dem Gemeinschaftsraum lädt eine verwinkelte Terrasse zum Verweilen ein.

braucht ein Umdenken im Füreinander-Sorgen

Vier Expertinnen über das Wohnen im Alter, Begegnungsund Rückzugsräume, Verantwortlichkeiten und Einfamilienhäuser – und wie sie selbst im Alter leben möchten.

Was bedeutet Generationenwohnen heute ?

Marie Glaser: Generationenwohnen heisst, nicht nur für ältere Menschen zu bauen, sondern für ein breites Altersspektrum. Der Ausgangspunkt des Generationenwohnens ist das Wohnen im Alter. Die Frage ist: Wie können wir hindernisfreies, altersgerechtes Bauen im architektonischen Raum menschengerecht umsetzen ? Meine Antwort ist einfach: Unter Anwendung des Konzepts ‹ Design für alle ›. Von diesem Planungsansatz sind wir leider noch weit entfernt. Fleur Jaccard: Der Begriff Generationenhaus wird fast schon inflationär verwendet. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass sich lediglich die Zusammensetzung verändert hat: Früher wohnten mehrere Generationen einer Familie unter einem Dach. Heute ist die Familie ein individualisiertes Konglomerat, dessen Mitglieder oft über verschiedene Orte verteilt leben. Im Generationenhaus finden heute Menschen zueinander, die nicht verwandt sind. Erfolgsfaktoren sind der Wohnungsmix, bauliche Aspekte und vor allem Begegnungsmöglichkeiten. Laut einer Umfrage wünschen sich knapp 70 Prozent der Menschen beim Wohnen eine gute Nachbarschaft. Wie also diese gestalten und möglich machen ?

Leonie Pock: Ich plädiere trotzdem dafür, den Begriff Generationenwohnen weiterhin zu verwenden, denn er stellt den Menschen und seine Bedürfnisse ins Zentrum. Wichtig ist, die Durchmischung und die Gemeinschaft aktiv zu fördern, allenfalls mit einer Siedlungsassistenz, und es braucht verschiedene Grundrisse und Wohnungsgrössen. Sie gewährleisten, dass man entspannt im Generationenwohnhaus bleiben kann, auch wenn man älter wird oder als Familie Zuwachs bekommt. Nur so können langfristige Beziehungen entstehen.

Generationenwohnen ist also vielmehr als soziale Gestaltungsaufgabe zu verstehen ?

Fleur Jaccard: Ja, Generationenwohnen benötigt Anreize, um nachbarschaftliche Beziehungen zu fördern. Es gilt, kluge Begegnungs- und Gemeinschaftsräume, aber auch Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen. Beziehungen sind dynamisch, sie erfordern Vertrauen, Zeit und gemeinsame Aktivitäten. Generationenwohnen bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit sehr vielfältigen Bedürfnissen. Je besser unterschiedliche Erwartungen formuliert und ausgehandelt werden, desto einfacher und reicher wird das Zusammenleben.

Welche Rolle spielen die Begegnungs- und Rückzugsräume in der Residenza St. Joseph ?

Doris Neuhäusler: Eine grosse, aber es geht nicht um diese Räume allein. Als institutionelle Anlegerin denkt die S ammelstiftung Vita vielmehr in räumlichen und gesellschaftlichen Konglomeraten. Bauen wir in einem gewachsenen Quartier, geht es um das Mitdenken des Bestands und darum, an ihn Anschluss zu finden. Wir versuchen, einen Neubau von Anfang an als lebendiges, organisches Ganzes zu denken und so früh wie möglich in die Planung einzusteigen. Es geht darum, ein Generationenhaus sowohl während der Realisierung als auch in der Betriebsphase als Organismus zu verstehen.

Leonie Pock: Am ETH Wohnforum haben wir 19 verschiedene Generationenwohnprojekte analysiert, die zwischen 1970 und 2017 gebaut wurden. Die Ergebnisse bestätigen die tragende Rolle der Gemeinschaftsräume. Wichtig ist zudem die Gestaltung von Erschliessungsflächen, auf denen man sich sieht und einfach miteinander in Kontakt kommt. Unsere Studie hat aber auch gezeigt, dass solche Räume

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noch kein generationenübergreifendes Zusammenleben garantieren. Dafür müssen sie intensiv genutzt werden. Das erreicht man etwa durch Verknappung, also zum Beispiel, dass nicht alle eine eigene Waschmaschine oder im Extremfall eine eigene Küche in der Wohnung haben. Und welche Rolle spielt das Wohnumfeld ?

Marie Glaser: Für ältere Menschen, Kinder oder Personen mit eingeschränkter Mobilität eine grosse, denn ihr Bewegungsradius ist kleiner, in ihrer Wohnung, aber auch im direkten Wohnumfeld. Deshalb muss die Wohnumgebung ebenso hindernisfrei gestaltet sein wie die Wohnung selbst. Wenn Hindernisse abgebaut werden, kann der Bewegungsradius zunehmen. Architektinnen und Planer müssen viel mehr über die privaten vier Wände hinausdenken und die Verbindungen ins Quartier und in die Stadt mitplanen. Im Wohnumfeld braucht es gute Angebote des öffentlichen Verkehrs und zu Fuss erreichbare öffentliche Begegnungsräume für angenehme Aufenthalte. Generationenwohnen heisst, in vielen Dimensionen zu denken. Eingangs haben Sie gesagt, dass wir beim hindernisfreien Bauen oder beim ‹ Design für alle › noch lange nicht dort seien, wo wir sein sollten. Nun sagen Sie, dass für gutes Wohnen im Alter auch noch das Wohnumfeld mitgedacht werden muss. Kosten darf das Ganze natürlich auch nicht mehr. Haben wir ein Problem ?

Marie Glaser: Tatsächlich kann es einen Konflikt geben zwischen Sozialverträglichkeit und ökonomischer Bilanz. Denn das Gestalten von barrierefreiem Wohnen und einem entsprechenden Wohnumfeld bedingt am Anfang höhere Investitionen. Längerfristig zahlt es sich aber aus, weil es keiner späteren Nachbesserungen bedarf. Für die Zukunft benötigen wir ein grosses Angebot an altersgerechtem und kostengünstigem Wohnraum, vor allem für ältere Personen mit kleinem Budget und insbesondere für die Frauen. Vielleicht ist es sinnvoll, projektspezifisch zu überlegen, ob es Lösungen gibt, die beide Ziele erreichen, etwa bei Sanierungen nicht in allen Gebäuden einen Lift einzubauen, um dafür eine gewisse Anzahl Wohnungen weiterhin günstig vermieten zu können. Wohnbauten, die mit Mitteln aus der Wohnraumförderung des Bundes neu gebaut werden, müssen den Anforderungen des barrierefreien Bauens nach der Norm SIA 500 entsprechen. Darüber hinaus erfüllen viele den LEA-Standard ( Living Every Age ). Damit entsteht ein Grundstock an altersgerechtem Wohnraum. Aber das reicht nicht.

Wie viel mehr kostet barrierefreies Wohnen ?

Doris Neuhäusler: Im Verhältnis zu den Investitionskosten sind die Mehrkosten marginal. Neue Wohnformen wie das Generationenwohnen bieten eine Gelegenheit, zugunsten von Nutzerinnen und Nachbarn mehr in die interdisziplinäre Denkarbeit zu investieren – zu Beginn des Entwicklungs- und Planungsprozesses liegt hier der grösste Hebel. Während des gesamten Lebenszyklus einer Immobilie braucht es mehr als Architektur, etwa Sozialraum-, Zielgruppen-, Betriebs- und Bewirtschaftungsexpertise. Diese Interdisziplinarität fordert uns im positiven Sinn heraus. Und wir machen Erfahrungen, die in andere Wohnkonzepte einfliessen können. Was passiert, wenn wir das Thema Wohnen im Alter nicht auf allen Ebenen anpacken ?

Fleur Jaccard: In der Schweiz wird jede zehnte Person ab 65 Jahren ohne betreuende Angehörige sein, etwa weil sie kinderlos ist oder die Partnerin verstorben ist. Bei Fragilität sind diese Menschen besonders auf externe Betreuung angewiesen. Die Betreuung hängt aber von den finanziellen Ressourcen ab. Vor dem Hintergrund der steigenden Miet- und Lebenskosten und des Mangels an

Marie Glaser

Seit 2022 ist Marie Glaser ( 52 ) Leiterin des Bereichs Grundlagen Wohnen und Immobilien des Bundesamts für Wohnungswesen. Davor leitete sie das Forschungszentrum ETH Wohnforum –ETH Case. Glaser hat in München, Washington DC und Wien Europäische Kulturanthropologie und Literaturwissenschaft studiert und verfügt über eine Ausbildung in inter- und transdisziplinärer Forschungszusammenarbeit sowie in Museumswissenschaft.

Fleur Jaccard

Fleur Jaccard ( 48 ) ist Geschäftsführerin der Age-Stiftung. Die Ethnologin und diplomierte NPO-Managerin hat langjährige Erfahrung in der Philanthropie, im Stiftungsmanagement und in der Beratung bei strategischen und operativen Fragen. Sie war Leiterin der Abteilung Soziales und Mitglied der Geschäftsleitung bei der Christoph Merian Stiftung, davor Leiterin der Abteilung Public Affairs bei Unicef Schweiz und Koordinatorin Integrationsförderung bei der Fachstelle Integration und Antidiskriminierung des Kantons Basel-Stadt.

Doris Neuhäusler

Doris Neuhäusler ( 53 ) ist Projektleiterin für strategische Immobilienprojekte bei der Sammelstiftung Vita. Seit mehr als 30 Jahren befasst sie sich in unterschiedlichen Massstabsebenen und gesellschaftlichen Dimensionen mit dem Thema Wohnen: Regional-, Gemeinde-, Areal- und Quartierentwicklung, Wohn- und Nutzungskonzepte, Innenarchitektur-, Einrichtungs-, Farb-, Licht- und Designkonzepte. Das Räumliche kombiniert sie mit Sprache und Bild – eine fortlaufende persönliche und berufliche Entwicklungsreise.

Die Anthropologin Leonie Pock ( 37 ) arbeitet seit 2021 am ETH Wohnforum – ETH Case. In einem dreijährigen praxisbasierten Forschungsprojekt forscht sie zum Thema Generationenwohnen. Zeitgleich arbeitet sie an einem Film, der diese Wohnform einem breiteren Publikum vorstellen soll und Ende 2023 zu sehen sein wird. Davor arbeitete sie zwei Jahre in der internationalen Zusammenarbeit und verbrachte fünf Monate als freiwillige Menschenrechtsbeobachterin in Kolumbien.

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bezahlbarem Wohnraum verstärkt sich das Armutsrisiko für ältere Menschen. Zudem zeigen alleinlebende Menschen im Alter ein hohes Einsamkeitsrisiko.

Marie Glaser: Das bedeutet auch, dass sich das Angebot an unterschiedlichen Wohnformen vergrössern muss. Wohnbedürfnisse und Wohnpraktiken verändern sich. Ich wohne anders als meine Eltern, und ich werde auch im Alter anders wohnen als sie. Wenn wir über das Wohnen im Alter sprechen, geht es immer auch um gegenwärtige Vorstellungen, in die unsere eigenen Vorstellungen eingebunden sind. Wenn wir in die Zukunft denken wollen, müssen wir bereit sein, unsere Vorstellungen zu hinterfragen. Wohnraum gibt es eigentlich genug, nur wird er zu wenig effizient genutzt. Ein Drittel der über 65-Jährigen lebt allein auf durchschnittlich 90 Quadratmetern. Welche Antworten gibt das Generationenwohnen darauf ?

Marie Glaser: Heute wird das Einfamilienhaus oft nicht mehr innerhalb der Familie weitergegeben. Die Jüngeren verlassen wegen der Ausbildung oder der Arbeit den Wohnort ihrer Kindheit und kehren oft nicht mehr zurück. In der Folge bleiben die Eltern in ihren Einfamilienhäusern. Mangels alternativer Angebote oder wegen der höheren Mietkosten eines neuen Objekts entscheiden sie sich gegen einen Umzug. Wenn der Partner stirbt, bleiben sie allein zurück. Aber auch sie möchten weiterhin sozial eingebettet leben. Ich gehe davon aus, dass sich das Generationenwohnen oder andere Formen des Zusammenlebens, etwa gemeinde- oder dorfübergreifend, vor allem auf dem Land etablieren kann. Denn diese Wohnformen reagieren auf ein Bedürfnis. Vielleicht führen sie auch dazu, dass

jüngere Familien am Ort bleiben oder zuziehen, weil durch den Wechsel der älteren Personen in altersgerechte Objekte Häuser oder grössere Wohnungen frei werden.

Doris Neuhäusler: Besonders sinnvoll sind Generationenwohnprojekte in ländlichen Zentrumsgemeinden mit einem bereits bestehenden Angebot an Gesundheitsversorgung und Konsummöglichkeiten, Bildungs-, Kultur-, Sport- und Freizeitangeboten. Wie in Ilanz, einer Zentrumsgemeinde in der Surselva, wo die Bewohnerschaft der Residenza St. Joseph von einem breiten Angebot profitiert, das bereits vorhanden ist.

Das Generationenwohnen löst das Problem der Einfamilienhausgebiete aus den 1960er- und 1970er-Jahren aber nicht. Was passiert damit ?

Marie Glaser: Sie haben eine alternde Substanz und eine alternde Bewohnerschaft. In Städten und Agglomerationsgemeinden bleiben Einfamilienhäuser aber stark gefragt. In ländlichen Regionen ist die Nachfrage geringer. Dort könnte es problematisch werden, auch weil ausserhalb der Zentren laufend Infrastrukturen wie Post, Bank oder Läden verloren gehen. Es gibt Ansätze zur kleinräumigen Nachverdichtung von Einfamilienhaussiedlungen, etwa ‹ Metamorphouse › der Architektin Mariette B eyeler. Sie haben jetzt die Nachfrageseite beschrieben. Wer ist für das Angebot zuständig ?

Wer sollte sich um das Thema kümmern ?

Fleur Jaccard: Wir alle zusammen. Stiftungen spielen dab ei eine besondere Rolle, weil sie unabhängig agieren können. Sie sind der Gemeinnützigkeit verpflichtet und funktionieren oft als Pioniere. Sie können Mittel bereitstellen, etwas ausprobieren und formen, die Lernprozesse fördern.

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Innen und aussen viel Grün: Eine Bewohnerin einer tieferen Etage steht auf dem Fensterbrett und lauscht dem Rauschen des Bachs, der unten durchfliesst.

Die Age-Stiftung etwa hat in ihrer öffentlichen Datenbank 61 Projekte in der Rubrik Mehrgenerationenwohnen dokumentiert – ein grosser Schatz an Erfahrungswissen.

Marie Glaser: Alle Ebenen sollten zusammenarbeiten. Auf der lokalen Ebene liegt die Verantwortung bei den Gemeinden und den privaten Bauträgerschaften. Die Frage ist: Wie kommt das Erfahrungswissen etwa der Age-Stiftung zu ihnen ? In welcher Form kann man es weitergeben, damit die Entscheidungsträger erfahren, dass verschiedene Formen des Zusammenwohnens im Alter realisierbar sind ? Dass es Beratung und Hilfe bei der Umsetzung gibt ? Hier stehen Bund und Kantone in der Pflicht. Sie informieren, beraten, unterstützen und vernetzen. Im Rahmen seines Forschungsprogramms unterstützt das Bundesamt für Wohnungswesen ( BWO ) Studien und Referenzprojekte zum Wohnen im Alter, unter anderem das Projekt des ETH Wohnforums zum Generationenwohnen. Zudem betreut das BWO gemeinsam mit weiteren Bundesämtern den Themenschwerpunkt ‹ Demografischer Wandel: Wohnund Lebensraum für morgen › des Programms ‹ Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung 2020 – 2024 ›. Se chs Projekte mit lokalen, regionalen und kantonalen Akteuren setzen innovative Ansätze um. Der Bund ist daran, Wissen daraus weiterzugeben.

Ein dreijähriges Forschungsprojekt des ETH Wohnforums untersucht 19 Generationenwohnprojekte, die zwischen den frühen 1970er-Jahren und 2017 entstanden sind. Welche Unterstützung bekamen die Macherinnen und Macher der untersuchten Wohnprojekte damals ?

Leonie Pock: Viele Pioniere verfügten über relativ grosse zeitliche, finanzielle und soziale Ressourcen. Sie hatten bereits viele Kontakte und viel Know-how und kamen mehrheitlich aus gebildeten Schichten. Und sie wussten, wo es Fördertöpfe gibt und gab. Wer diese Ressourcen nicht hat, sitzt auf dem Trockenen. Deshalb ist der Trend zu neuen intergenerationellen Wohnformen begrüssenswert. Generationenwohnen darf ruhig im Mainstream ankommen. Sprechen wir noch einmal über die Residenza St. Joseph in Ilanz. Wie hat die Gemeinde auf das Projekt reagiert ?

Doris Neuhäusler: Wir hatten Glück. Die damalige Gemeindepräsidentin war bereits in der Thematik drin und hat sich für das Projekt eingesetzt. Sie hat erkannt, dass Ilanz als Zentrumsgemeinde der richtige Ort dafür ist, dass Anknüpfungspunkte vorhanden sind und wo unser Generationenhaus Mehrwerte generieren kann. Die Gemeinde hat die Baubewilligung mit einer darin explizit genannten Realisierungsverpflichtung erteilt: Wohnungen für älter werdende Menschen. Die Sammelstiftung Vita investiert aber nicht nur in Ilanz. Für uns stellt sich jeweils die Frage: Nimmt die Gemeinde als erste Ansprechpartnerin eine proaktive Rolle ein oder nicht ? Weil das auf kommunaler Ebene von den Personen abhängt, die in der politischen Verantwortung stehen, würde ich eine Alterspolitik auf Bundesebene beziehungsweise ein nationales Programm für das Wohnen im Alter begrüssen.

Marie Glaser: In einem Bericht des Bundesrats wurden 2007 Leitlinien unter anderem zur Wohnsituation älterer Menschen als Grundlage für eine schweizerische Alterspolitik beschrieben. Die ‹ Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung › sieht vor, dass die Stadtentwicklung inklusiver und nachhaltiger gestaltet werden soll. Zudem soll der Zugang zu sicheren und inklusiven Grünflächen und öffentlichen Räumen gewährleistet werden, besonders für Frauen und Kinder, ältere Menschen und Personen mit Behinderungen. Auch der Zugang zu sicherem und bezahlbarem Wohnraum und ebensolchen Transportsystemen soll sichergestellt werden. Die Nachhaltigkeitsstrategie 2030 des Bundes greift hier ein. Wichtiges Anliegen muss es

sein, dass Gemeindevertreterinnen keine Scheu vor diesem Thema haben und das Wohnen im Alter in ihrer Gemeinde aktiv angehen.

Fleur Jaccard: Ich frage mich aber schon, wieso die Alterspolitik nicht in die Strategie der Wohnraumförderung integriert ist. Disziplinenübergreifenden Fragen wie diesen hilft das föderale System der Schweiz nicht wirklich.

Ich habe mit meiner Mutter über das Thema gesprochen. Sie ist der Meinung, eine verstärkte Integration der Alten in die Gesellschaft sei die Aufgabe der jüngeren Generation. Am ETH Wohnforum sagte eine Altersforscherin das Gegenteil: Die Alten sollten sich für generationenübergreifende Wohnformen engagieren.

Leonie Pock: Ich bin schon der Meinung, dass es die Aufgabe der vorherigen Generationen ist, dafür zu sorgen, dass die Nachkommenden noch eine Lebensgrundlage haben. Das Wohnen gehört für mich auch dazu. Jüngere Menschen haben keine Ressourcen und keine Möglichkeiten, zu bestimmen, was jetzt gebaut wird. Gleichzeitig darf die Diskussion nicht polar werden – das Generationenwohnen muss gemeinsam ge dacht werden. Nur dann profitieren alle.

Fleur Jaccard: Ich bezweifle, dass es für Junge genauso wichtig ist, generationendurchmischt zu wohnen, wie für die Älteren. Das Schreckgespenst vieler älterer Menschen ist es, mit ihresgleichen zusammenzuleben. Besonders wenn sie auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, scheint sich das Bedürfnis nach Durchmischung zu verstärken. Für den sozialen Zusammenhalt ist es wichtig, die Durchmischung auf allen Ebenen zu fördern. Segregation gefährdet das Zusammenleben: Was ich nicht kenne, führt zu Ängsten und Projektionen.

Marie Glaser: Es braucht ein Umdenken im FüreinanderSorgen. Familiäre Beziehungen gehen geografisch auseinander und lockern sich. Beziehungen und Freundschaften ausserhalb der Familie, sogenannte Wahlverwandtschaften, werden relevanter. Welche Generationenwohnprojekte aus der Untersuchung des ETH Wohnforums haben am besten funktioniert ?

Leonie Pock: Die, die beim Miteinander den Schwerpunkt nicht auf das Alter gelegt, sondern einfach gemeinsame Interessen gefördert haben, etwa durch Gemeinschaftsgärten oder gemeinschaftlich genutzte Räume. Hier kann eine Siedlungsassistenz für Verbindungen sorgen oder helfen, Hemmungen abzubauen. Wichtig ist, dass die Gemeinschaft nicht nur in den ersten Jahren betreut wird. Die sozialen Prozesse müssen nicht nur aufgegleist, sondern langfristig betreut werden. Nicht leisten können Mitbewohner Pflegetätigkeiten. Sie übersteigen die Kompetenzen eines Generationenhauses.

Welche Rolle spielt die Gestaltung der näheren Wohnumgebung ?

Fleur Jaccard: Das Wohnumfeld ist zentral für das Wohlbefinden der Menschen, doch Grünflächen und Erholungsgebiete geraten unter Druck. Vielerorts wird verdichtet, und immer mehr Menschen wohnen immer näher zusammen, weil die Bevölkerung wächst und die Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum steigt. Gerade bei grösseren Projekten mangelt es leider oft an einer guten Aufenthaltsqualität. Viel Beton, wenig Schatten und kaum Begegnungsmöglichkeiten, die zum Verweilen einladen. Fehlt die Qualität, gehen die Menschen nicht mehr aus dem Haus.

Doris Neuhäusler: Als halböffentlicher Raum spielt das Wohnumfeld eine zentrale Rolle für Bewegung und Begegnung im Alltag. Es trägt wesentlich zur Wohnqualität einer Siedlung bei. Leider fällt die Qualitätssicherung von der Raumplanung bis und mit der Baubewilligung durchweg durch die Maschen. Spielplätze ab Stange und →

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unmotiviert platzierte Betontische mit Bänken genügen den baugesetzlichen Anforderungen weitgehend. Wenn sich von der Planung bis und mit der Realisierung einer Wohnsiedlung niemand daran stört oder sich explizit für die Qualität einsetzt, prägt dieses öde Bild während rund 25 Jahren – der Dauer eine s Sanierungszyklus – die Ausstrahlung der Siedlung.

Wohnen im Alter ist nicht nur eine Frage des Bauens, sondern auch eine Frage des Mietpreises. Der Referenzzinssatz wurde angehoben, nicht nur für ältere Mieterinnen kann das prekär werden. Wie begegnet die Residenza St. Joseph dieser Problematik ?

Doris Neuhäusler: Als institutionelle Investorin geht die Sammelstiftung Vita treuhänderisch mit dem ihr anvertrauten Vorsorgevermögen um. Für unsere Investitionsobjekte müssen wir eine am jeweiligen Standort marktübliche Rendite erzielen. Diese kann auch mit zielgruppenspezifischen Nutzungskonzepten etwa für älter werdende Menschen erreicht werden. Unsere Antworten sind Preismix und Vielfalt im Wohnungsangebot. Für die Sammelstiftung Vita als wirkungsorientierte Investorin ist es sinnvoll, mehr zu tun als das absolute Minimum. Im Fokus steht für uns die gesellschaftliche Wirkung – wir wollen nicht immer wieder dasselbe reproduzieren. Wer ist in die Residenza St. Joseph eingezogen ?

Doris Neuhäusler: Rund ein Drittel der Bewohner kommt aus der näheren Umgebung, etwas mehr als ein Drittel aus der Region. Der Rest ist aus städtischen Gebieten wie Zürich, Basel, Bern oder dem Aargau zugezogen. Die Hälfte ist noch in der Erwerbsphase, wenige haben Kinder. Die einen sind wegen der Möglichkeit des betreuten Wohnens in die Residenza gezogen, andere wegen der Wohnqualitäten und den Zusatzangeboten zur Privatwohnung wie etwa der Gästewohnung. Im ländlichen Raum sind das neue Angebote. Wie stellen Sie sich Ihre persönliche Wohnsituation im Alter vor ?

Fleur Jaccard: Das hängt von meiner jeweiligen L ebenssituation ab. Vermutlich werde ich eher nicht in einer Alterswohngemeinschaft leben wollen. Am liebsten hätte ich die Möglichkeit, schnell an meine Lieblingsorte zu kommen und zwischendurch in einem Tiny House etwas Ruhe zu finden. Auf jeden Fall werde ich mir an wichtigen Lebensübergängen immer wieder die Frage stellen, was ich brauche und wie ich mich wohlfühle.

Marie Glaser: Ich wünsche mir das, was ich anderen ermöglichen will: Ich mö chte im Alter in meinem Quartier wohnen bleiben können, dort am gesellschaftlichen Geschehen teilhaben und diese Wohnform auch bezahlen können.

Doris Neuhäusler: Ich habe lange in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt in Zürich gewohnt und dort die Vorteile einer guten Nachbar- und Hausgemeinschaft erfahren. 2022 bin ich selbst in die Residenza St. Jos eph gezogen und habe wiederum gute und spannende Nachbarn gefunden. Als Neuzuzügerin waren sie besonders wichtig, weil ich in der Surselva noch kaum private Kontakte hatte.

Heute – ein gutes Jahr später – verstehe ich meine Wohnsituation als eine Art grosse Wohngemeinschaft: Einmal pro Woche treffe ich mich mit den unmittelbar benachbarten Leuten zum gemeinsamen Kochen und Essen.

Leonie Pock: Bei den Interviews im Rahmen meiner Recherche habe ich festgestellt, dass die Menschen alle sehr zufrieden waren und diese Wohnform ihnen ganz viel ermöglicht. Deshalb könnte ich mir eine solche gemeinschaftliche Wohnform ebenfalls gut vorstellen. Bei der Recherche habe ich aber auch gelernt: Generationenwohnen eignet sich nicht für alle, denn es ist auch anstrengend. Man muss viel aushalten können, es braucht sehr viel Konfliktfähigkeit und Selbstreflexion. ●

Immobilienmanagement

Integration innerhalb und ausserhalb des Hauses

« Dass die Residenza St. Jos eph mehr ist als Wohnen für das Alter, hat uns als Eigentümervertreterin gefordert: Ein Generationenhaus mit Betreuung bringt höhere Aufwände in der Planung mit sich, und es braucht auch mehr planerische Abklärungen und Arbeit in der Konzeption, etwa ein Nutzungs- und Bewirtschaftungskonzept und mehr Koordination der am Betrieb des Hauses beteiligten Parteien. Doch der Mehraufwand hat sich gelohnt. Die Durchmischung fördert die Integration innerhalb und ausserhalb des Hauses, zum Beispiel dadurch, dass wir den Gemeinschaftsraum und den Garten dem ganzen Quartier zur Verfügung stellen. Die Barrierefreiheit und die damit zusammenhängenden baulichen Anpassungen erfordern mehr Platz. Und mehr Platz kostet. Ich schätze die Mehrkosten gegenüber einem konventionellen Wohnbau auf drei bis fünf Prozent. Mit der Sammelstiftung Vita haben wir entschieden, die Anforderungen des Labels ‹ Living Ever y Age › ( LEA ) an das hindernisfreie und altersgerechte Wohnen umzusetzen. Das war Neuland für uns, die Anforderungen bezüglich hindernisfreiem Bauen sind höher als die gesetzlichen Vorgaben. Das hat uns gefordert und teilweise zu Verwirrung geführt, aber nun herrschen im Haus gute Platzverhältnisse, und die Installationen sind am richtigen Ort – und das bei einem Haus, das nicht zum Luxussegment gehört. Man sieht die LEA-Konformität kaum, aber wenn eine Bewohnerin vielleicht eines Tages nicht mehr so mobil ist, wird sie merken, dass jemand mit- und vorausgedacht hat. Wir verstehen dieses Mehr als Commitment gegenüber der Gesellschaft – mehr Mieteinnahmen bringt die LEA-Zertifizierung nämlich nicht. In die gleiche Richtung geht die Zusammenarbeit mit der lokalen Spitex Foppa. Sie ist in der Surselva zu Hause, animiert die Bewohner und erbringt individuelle Betreuungsdienstleistungen. Das Mietvertragswesen sowie der Betrieb, etwa Hauswartung und Reinigung, laufen über uns. So sind wir als Eigentümervertreterin weiterhin stark involviert und profitieren von Erkenntnissen, die wir beim nächsten Projekt einfliessen lassen können. »

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« Generationenwohnen darf ruhig im Mainstream ankommen. »
Leonie Pock
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Die 13 neuen Wohnungen im sanierten Klostergebäude geniessen viel Tageslicht und Altbaucharme.

Conradin Clavuot

Conradin Clavuot ( 61 ) hat an der ETH Zürich Architektur studiert und führt seit 1988 sein eigenes Architekturbüro in Chur. Von 2003 bis 2006 war er Gastdozent an der ETH, von 2010 bis 2016 hatte er eine Gastprofessur an der Universität Liechtenstein. Clavuot plant und baut schwerpunktmässig im Kanton Graubünden. Zu seinen Werken zählen die Planung für die Wohnüberbauung Pulvermühle in Chur oder die Bahnhofsbauten sowie die Geschäftshäuser Otto und Alex am Churer Bahnhofplatz. Clavuots Arbeiten erhielten zahlreiche Auszeichnungen.

Andreas Huber

Andreas Huber ( 59 ) hat an der Universität Zürich Geografie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte studiert. Danach war er zehn Jahre am ETH Wohnforum als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig, bevor er als Geschäftsführer zu ImmoQ wechselte, einem Spin-off der ETH, das sich auf die Evaluation von Wohnimmobilien aus Sicht der Nutzerinnen und Nutzer spezialisiert hat. Seit 2013 ist Huber Geschäftsführer des Vereins ‹ Living Every Age › ( LEA ) in Zürich, der das weltweit erste Gütesiegel für hindernisfreie und altersgerechte Wohnungen entwickelt hat.

Zwischen Einheitsbrei und individueller Gestaltung

Rund tausend Anforderungen umfasst das LEA-Label. Der Architekt und der Label-Vertreter sprechen über Regeldichte und Augenmass beim hindernisfreien Wohnungsbau.

Ein hindernisfreies Wohnumfeld ermöglicht es älteren Menschen, lange selbständig zu bleiben. Die baulichen Grundlagen liefert die Norm SIA 500. Sie kam auch bei der Residenza St. Jos eph zur Anwendung. Die Sammelstiftung Vita als Investorin ging noch einen Schritt weiter und liess die Wohnungen nach dem LEA-Standard für hindernisfreie und altersgerechte Wohnungen zertifizieren. LEA steht für ‹ Living Every Age ›. Das LEA-Label umfasst einen Katalog von rund tausend Anforderungen. Neben der Norm SIA 500 b eruht der LEA-Standard auf weiteren anerkannten Planungsrichtlinien und Merkblättern. Zertifizierte Wohnungen werden in vier Stufen von Bronze bis Platin ausgezeichnet. Für die Residenza St. Joseph war Gold oder Platin gefordert. Dafür sichtete LEAGeschäftsführer Andreas Huber vor Baubeginn die Pläne und prüfte nach der Fertigstellung vor Ort die Umsetzung aller Kriterien. Um alles gemäss den LEA-Richtlinien ausführen zu können, erhielt Architekt Conradin Clavuot ein Buch mit den Anforderungen. Dessen Inhalt beeinflusste Clavuots Arbeit und die G estaltung des Gebäudes nachhaltig. Bei einem Rundgang zeigen Clavuot und Huber, wo und wie welche Massnahmen umgesetzt wurden und welche Knacknüsse es zu lösen galt. Und sie diskutieren über die Dualität von hindernisfreiem Bauen und Architektur. Die Tour startet auf dem Vorplatz. Was bereits hier überrascht: Die Rampe vom Trottoir zum Vorplatz hat mehr als die erlaubten sechs Prozent Neigung.

Conradin Clavuot: Die Rampe gehört der Gemeinde, und es war baulich nicht möglich, sie anzupassen. Das hätte zu viele Details in der unmittelbaren Nachbarschaft negativ verändert. Auf dem Grundstück selbst haben wir aber alles hindernisfrei gestaltet.

Andreas Huber: Schade, aber verständlich. Die Zertifizierung für das LEA-Label beginnt ab Grundstücksgrenze, aber wenn der Weg dahin zu steil ist, ärgert das einen natürlich.

Vom Haupteingang führt der Rundgang zum Empfangsund Aufenthaltsbereich des Neubaus. Ein Lift erschliesst die Wohngeschosse. Conradin Clavuot zeigt, dass die Herausforderungen des hindernisfreien Bauens nicht selten in kaum wahrnehmbaren Details liegen.

Conradin Clavuot: Weil im Hochhaus betreutes Wohnen angeb oten wird, muss es im Brandfall möglich sein, handicapierte Personen mit dem Lift zu evakuieren. Deshalb darf kein Löschwasser in den Schacht gelangen. Am einfachsten liesse sich das mit einem Absatz vor der Lifttür verhindern. Der aber würde dem hindernisfreien Bauen widersprechen. Daher mussten wir alle Lifttürschwellen mit einer Neigung planen.

Andreas Huber: Solche Konflikte sind häufig und stellen hohe Anforderungen an die Planung.

Conradin Clavuot: Damit können wir umgehen. Mich stört vielmehr die laufend zunehmende Zahl an Regeln. Als Architekt kann man die schlicht nicht alle kennen. Kommt hinzu, dass die Regeln dauernd ändern und die Fachstellen unkoordiniert arbeiten. Es kann passieren, dass eine Stelle ein Detail abnimmt, eine andere es aber bemängelt.

Andreas Huber: Unser Label beinhaltet auch die Beratung in der Planungsphase. Das hilft etwas.

Conradin Clavuot: Das LEA-Lab el war eigentlich kein Problem, die Zusammenarbeit war stets angenehm.

Mit dem Lift fahren wir in den siebten Stock und schauen uns eine 3-Zimmer-Wohnung an. Der Eingangsbereich wirkt sehr gross. Das liegt an der Freifläche neben dem Schwenkbereich des Türflügels, die mindestens 60 Zentimeter breit sein muss, damit auch Bewohnerinnen mit Rollator oder Rollstuhl die Tür gut öffnen können. Im Badezimmer wurde anstelle eines Waschturms ein Kombigerät für Waschen und Trocknen installiert. Die Freifläche davor ist gross genug, dass auch Menschen im Rollstuhl das Gerät bedienen können.

Conradin Clavuot: Der breite Eingangsbereich und die Manövrierfläche im Bad sind sinnvoll. Doch die riesige Menge an Vorgaben aus allen Bereichen erfüllen zu müssen,

Themenheft von Hochparterre, September 2023 Ein Turm fürs Generationenwohnen Zwischen Einheitsbrei und individueller Gestaltung 22
Text: Reto Westermann

ist tückisch: Zusammen mit weiteren Normen und Regeln führen sie zu einem architektonischen Einheitsbrei. Beispielsweise bei den Grundrissen: Wenn Architekt und Investorin kein Risiko eingehen wollen, setzen sie auf garantiert normgerechte, bewährte Lösungen. Gleiches gilt für gestalterische Details. Wer auf der sicheren Seite sein will, nutzt normierte Bauteile – entsprechend sieht es dann schweizweit überall gleich aus.

Andreas Huber: Die Präferenz für Standardlösungen beobachten wir auch. In der Tat gibt es Investoren, die überall dieselben Grundrisse realisieren. Das vereinfacht zwar die Zertifizierung, führt aber zu einer Wohn-Monotonie.

Conradin Clavuot: Heikel finde ich auch Vorgaben in der Norm SIA 50 0, die gestalterisch keine befriedigende Lösung ermöglichen. Hier im Bad etwa sind die Höhen von Waschbecken und Unterkante des Spiegelschranks vorgegeben. Dazwischen ist kaum Platz für den vorgeschriebenen Einhandmischer. Wir haben nur ein einziges passendes Modell gefunden – da bleiben die Gestaltung und auch die Wünsche der Bauherrschaft auf der Strecke.

Andreas Huber: Viele Anforderungen der SIA-Norm sind auf Personen im Rollstuhl ausgerichtet. Konsequent umgesetzt, kann das zu Einschränkungen für andere Nutzergruppen führen. Bei LEA haben wir einen anderen Anspruch: Die Wohnungen müssen so gebaut werden, dass man sie auch noch bewohnen kann, wenn die körperlichen Einschränkungen eines Tages zunehmen. Notwendige Anpassungen an individuelle Bedürfnisse sollen möglichst einfach realisierbar und baulich bereits vorbereitet sein. Unsere Zertifizierung lässt mehr Freiheiten als die Norm –ohne Abstriche bei der Hindernisfreiheit. Dafür müssen Auftraggeber und Behörden mitspielen – und auch Augenmass walten lass en.

Conradin Clavuot: Genau dieses Augenmass vermisse ich manchmal, auch in der Residenza hat es ab und zu gefehlt.

Was er damit meint, zeigt der Architekt beim Wohnungseingang, wo eine Rampe aus Holz die 2,5 Zentimeter hohe Schwelle zwischen Korridor und Wohnung überwindet.

Conradin Clavuot: Gemäss Norm ist die Schwelle zulässig. Bei der Bauabnahme haben die kantonalen Behörden nachträglich eine Lösung ohne Schwelle gefordert. Begründet wurde das mit dem Hinweis auf ein Merkblatt, das in einer erläuternden Beilage spezifische Anforderungen für betreutes Wohnen definiert. Auf dieses Merkblatt und schon gar nicht auf die Beilage hat uns die vom Kanton beauftragte Beratungsstelle bei der Planung aber nicht hingewiesen. Das ist ärgerlich, denn man kann einfach nicht voraussetzen, dass ein Architekt sämtliche Vorgaben kennt. Wir mussten dann alle 61 Wohnungstüren kürzen und Holzrampen montieren. Das war teuer und sieht nicht gut aus. Die Alternative wäre ein Rechtsstreit mit dem Kanton gewesen.

Andreas Huber: Weder in der Norm SIA 500 noch im erwähnten Merkblatt wird ein absolut schwellenloser Wohnungszugang verlangt. Für das LEA-Label wären die 2,5 Zentimeter in Ordnung gewesen. Wenn jemand Probleme hat, die Schwelle zu überwinden, könnte man einfach nur die betreffende Tür anpassen.

Conradin Clavuot: Auch bei den Schwellen auf der Aussens eite der Balkontüren mussten wir nachbessern und nachträglich alle Balkone mit einem Holzrost versehen, der die Höhe ausgleicht.

Conradin Clavuot zeigt mit dem Doppelmeter, dass sich die Lösung mit dem Holzrost nur knapp realisieren liess: Die vorgeschriebene Geländerhöhe von einem Meter über Balkonboden wird gerade noch eingehalten.

Conradin Clavuot: Zum Glück hatten wir hier etwas Reserve. Andreas Huber: Aus LEA-Sicht ist die Schwelle beim Balkon eb enfalls kein Problem. Ein Geländer von mehr als einem Meter Höhe hingegen wäre grundsätzlich wünschenswert gewesen. Vor allem in einem Hochhaus.

Zurück in der Eingangshalle, zieht Conradin Clavuot ein Fazit und wirbt für mehr Flexibilität bei allen Beteiligten. Conradin Clavuot: Wir haben für alles eine Lösung gefunden. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass die Vorgaben beim hindernisfreien Bauen sowohl zugunsten der architektonischen Vielfalt als auch einer spezifischen Nachrüstungsmöglichkeit mehr Flexibilität bieten würden. Zudem müssten auch die Bauherrschaften bereit sein, sich für Lösungen einzusetzen, die vom Standard abweichen. Sonst bauen wir bald wirklich nur noch Einheitsbrei – und darauf habe ich keine Lust. ●

Immobilienentwicklung

Allein im Anforderungsdschungel

« Bei der Residenza St. Joseph lief leider nicht alles so rund wie geplant – andernorts bauen wir mehr Wohnungen in der Hälfte der Zeit. Aber von vorn: 2015 haben die Ilanzer Dominikanerinnen der Nocasa ihr Grundstück neben dem Spital angeboten. Mikro- und Makrolage für Alterswohnungen waren gut, und Ilanz hatte Nachholbedarf. Wir haben zugegriffen und ein Projekt entwickelt. Der Entwurf sah vor, das alte Kloster abzubrechen. Dagegen wehrte sich der Bündner Heimatschutz, und wir mussten ein neues Projekt entwickeln. Der Architekt Conradin Clavuot hat uns eren Studienauftrag für sich entschieden – mit einem Entwurf, der den Altbau integriert und die Lage mit Aussicht voll zur Geltung bringt. Dann aber ging das Hin und Her mit den Behörden los. Zuerst erhielten wir grünes Licht für betreute Alterswohnungen in der Spitalzone. Als der Arealplan bewilligt war, hiess es, dass es eine Spezialzone für betreutes Wohnen brauche. Das hat das Bewilligungsverfahren um mehrere Jahre verzögert und unsere Vorinvestitionen in die Höhe getrieben. Bei der Baueingabe hat das Spital trotz Vorabklärungen Einsprache erhoben: Der Wohnturm sei – unter anderem – mit ihrem Helikopterlandeplatz nicht vereinbar. Wir haben dann auf eigene Kosten einen neuen Landeplatz auf unserem Dach gebaut und sogar einen Lift eingebaut, der den Landeplatz über einen unterirdischen Gang mit dem Spital verbindet. Kostenpunkt: rund eine Million Franken. Bei Baubeginn konnten wir das Projekt an die Zürich Anlagestiftung verkaufen – Investorin ist die Sammelstiftung Vita. Ein Glücksfall für uns beide: In das Portfolio von Nocasa hat das Projekt nicht wirklich gepasst. Was wir gelernt haben ? Die Kombination von Alterswohnen, Altbausanierung und Hochhaus-Neubau erfordert eine tiefe Auseinandersetzung mit altersgerechtem Bauen, Betrieb und Brandschutz. Als private Bauherren und Entwickler fühlten wir uns im Anforderungsdschungel oft allein gelassen. Nachahmern empfehle ich, nur Projekte anzupacken, die in die Region und an den Standort passen. Und bei Projektbeginn eine gute Beratung zu sichern. Die Entwicklung vom Alters- zum Mehrgenerationenwohnen war richtig, die Durchmischung sorgt für eine gute Stimmung im Haus. Heute sind alle 74 Wohnungen vermietet, das ist ein schöner Erfolg und eine späte G enugtuung. »

Flurin Candinas, Baumanager und Mitinhaber bei Nocasa

Themenheft von Hochparterre, September 2023 Ein Turm fürs Generationenwohnen Zwischen Einheitsbrei und individueller Gestaltung 23

Ein Turm fürs Generationenwohnen

Die Schweiz wächst. Und ihre Bevölkerung wird immer älter. Damit verändern sich auch Wohnverhältnisse und Wohnbedürfnisse.

Am Beispiel der Residenza St. Joseph thematisiert das vorliegende Heft Fragen rund um das Wohnen im Alter. Die Sammelstiftung Vita investiert als Pensionskasse strategisch in zukunftsorientierte Wohn- und Lebensräume wie das elfstöckige Generationenhaus in Ilanz. Das Heft diskutiert die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen Projekts, die Rolle von Architektur und hindernisfreiem Bauen, von Bewegungs- und Begegnungsräumen, aber auch der Gestaltung des Wohnumfelds. www.vita.ch / wohnenimalter

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