Themenheft von Hochparterre, Dezember 2024
Lernen vom Hobelwerk
Die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › hat in Oberwinterthur ihr zweites Projekt realisiert. Auch auf dem Hobelwerk-Areal ist Innovation das Schlüsselwort.
Cover: Eine zentrale Gasse führt mitten durch das Areal.
Rückseite: Das historische Fabrikdach bildet das offene Zentrum.
Stimmungsbild mit dem Wohnturm von Haus E links, der Hobelwerkhalle und den Häusern D rechts und C im Hintergrund.
Hochparterre hat der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › bereits einmal ein Themenheft gewidmet: Im August 2015 erschien ‹ Wohnen im Dialog › über das fertiggestellte Hunziker-Areal. Das Heft ist ausverkauft, aber in Bibliotheken und auf e-periodica.ch zu finden.
Inhalt
4 Ein Wimmelbild weist den Weg Wie eine ungewöhnliche Planungsgeschichte zum Hobelwerk führte.
8 Ein Hobel will geführt sein
Was sich in Oberwinterthur über Partizipation lernen lässt.
12 Fünf Häuser, viele Lebensräume
Wie auf dem Hobelwerk-Areal gewohnt wird.
20 Von Bienen bis Re-Use
Was eine integrale Vorstellung von Nachhaltigkeit bedeutet.
24 « Wir stehen nicht mehr auf der grünen Wiese » Wohin die Reise der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › geht.
Die Bilder in diesem Heft stammen vom Fotografen und Künstler Peter Tillessen, der das Hobelwerk-Areal im Spätsommer dieses Jahres mehrmals mit seiner Grossformatkamera besucht hat.
Editorial
Immer noch mehr als Wohnen
Mit dem Hunziker-Areal in Zürich-Leutschenbach gelang der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › 2015 ein Vorzeigeprojekt in Sachen Wohnungsbau und Stadtentwicklung: keine Siedlung, sondern ein Quartier, keine uniformen Wohnungen, sondern alternative Lebensräume, dazu hohe Ansprüche an Partizipation und Nachhaltigkeit. Ein Experiment auf vielen Ebenen, das zum Vorbild für zahlreiche andere Wohnbauprojekte wurde.
Umso aufregender, dass ‹ Mehr als Wohnen › zehn Jahre nach dem Paukenschlag in Leutschenbach mit einem zweiten Projekt aufwartet. Das Hobelwerk in Oberwinterthur ist kleiner als das Hunziker-Areal, aber mindestens genauso reich an Themen. Denn die Welt ist nicht stehen geblieben: Wohnformen haben sich weiterentwickelt, Energie- und CO2-Fragen haben an Dringlichkeit gewonnen, Aspekte wie Biodiversität oder Schwammstadt sind neu in das Bewusstsein der Stadtplanung getreten.
Und auch die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ist nicht mehr dieselbe wie vor zehn Jahren. Gegründet als ‹ Genossenschaft der Genossenschaften › zum 100-JahrJubiläum des gemeinnützigen Wohnungsbaus in Zürich, hatte ‹ Mehr als Wohnen › von Beginn weg einen Sonderauftrag als Lern- und Innovationsplattform: Es soll gewagt, ausprobiert und evaluiert werden, was in Zukunft auch für andere Baugenossenschaften, ja für den Wohnungs- und Städtebau insgesamt relevant werden könnte. Mittlerweile kann ‹ Mehr als Wohnen › auf einen reichen Erfahrungsschatz aus der eigenen Geschichte zurückgreifen. Gleichzeitig hat eine neue Generation das Steuer übernommen. Gründe genug also, um dem Hobelwerk-Areal ein Themenheft zu widmen. Ein Fazit kann man dabei schon vorwegnehmen: ‹ Mehr als Wohnen › ist noch immer viel mehr als Wohnen. Marcel Bächtiger
Dieses Themenheft ist eine journalistische Publikation, entstanden in Zusammenarbeit mit Partnern. Die Hochparterre-Redaktion prüft die Relevanz des Themas, ist zuständig für Recherche, Konzeption, Text und Bild, Gestaltung, Lektorat und Übersetzung. Die Partnerinnen finanzieren die Publikation, genehmigen das Konzept und geben ihr Einverständnis zur Veröffentlichung.
Impressum
Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH - 8005 Zürich, Telefon + 41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag@hochparterre.ch, redaktion@hochparterre.ch Geschäftsleitung Deborah Fehlmann, Roderick Hönig Redaktionsleitung Axel Simon Leitung Themenhefte Roderick Hönig Konzept und Redaktion Marcel Bächtiger Fotografie Peter Tillessen, www.archphot.com Art Direction Antje Reineck Layout Jenny Jey Heinicke Produktion Linda Malzacher Korrektorat Rieke Krüger Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › hochparterre.ch / hobelwerk Themenheft bestellen ( Fr. 15.—, € 12.— ) und als E-Paper lesen
Ein Wimmelbild weist den Weg
Zunächst sollte das Hobelwerk-Areal in gewohnter Manier entwickelt werden. Doch dann kam die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ins Spiel. Ein Blick zurück auf zehn Planungsjahre.
« Hobelwerk geht, neues Quartier entsteht », titelte die Winterthurer Zeitung ‹ Der Landb ote › im Februar 2016 anlässlich der öffentlichen Auflage des Gestaltungsplans für das Hobelwerk-Areal in Oberwinterthur. Zu diesem Zeitpunkt war der Projektentwickler Markus Seiler bereits seit zwei Jahren an der Arbeit. Mit dem Gestaltungsplan waren die Weichen für die Arealentwicklung nun gestellt. Zwei Gebäude – die Hobelwerkhalle von 1904 und die offene, ‹ Z-Halle › genannte Lagerhalle – s owie der Hochkamin sollten erhalten bleiben und den Kern einer Wohnüberbauung mit sechs Gebäuden bilden: zwei Riegel entlang der Bahnlinie, drei quer dazu gestellte Bauten sowie ein 30 Meter hohes Ho chhaus als baulicher Akzent und Abschluss des Hobelwerkwegs.
Ein Wimmelbild als Versprechen Für die Vermarktung des Areals erstellten Topik Partner 2017 ein Wimmelbild, das eine Vorstellung vom Leben im Hobelwerk vermitteln sollte. Schon damals waren soziale Durchmischung, Zusammenleben und Mitbestimmung wichtige Eckpunkte.
1 H aus A, Pool Architekten
2 H aus B, Pool Architekten
3 H aus C, Ramser Schmid Architekten
4 H aus D, Pascal Flammer Architekten
5 H aus E, Ramser Schmid Architekten
6 H obelwerkplatz und Hobelwerkhalle
Ein Drittel des Hobelwerk-Areals inklusive der Villa des früheren Besitzers Joseph Kälin war bereits 2005 verkauft und überbaut worden. Einen weiteren Teil im Norden hatte der Detailhändler Volg übernommen und darauf eine Verteilzentrale gebaut. 2014 schloss die Stadtbauentwicklungs-AG, an der Beat Odinga von Odinga Picenoni Hagen beteiligt ist, mit dem Besitzer Hans-Ulrich Kipfer eine Vereinbarung über den Kauf des restlichen Areals, falls sich darauf eine Überbauung realisieren liesse. Zusammen mit Pool Architekten, dem Landschaftsarchitekturbüro Studio Vulkan und dem Amt für Städtebau der Stadt Winterthur führte Markus Seiler als Projektleiter seitens des Immobilienentwicklers und im Auftrag der Stadtbauentwicklungs-AG eine Testplanung durch. Die
Eckpunkte – der Erhalt der drei historischen Teile sowie das Hochhaus am Hobelwerkweg – standen schon früh fest. « Bereits die Testplanung war recht detailliert, und auch die Bauetappen haben wir damals schon bestimmt », erzählt Markus Seiler. Parallel dazu wurde mit der Ausarbeitung des Gestaltungsplans begonnen, der Ende 2015 vorlag. 2017 stimmte das Stadtparlament zu, ein Jahr später war er rechtskräftig.
Im Sommer 2016 gab das Unternehmen Kälin & Co siehe ‹ Am Anfang war das Feuer ›, Seite 6 bekannt, dass es das Hobelwerk ab Juli 2017 aufgeben werde. « Hobelwerkweg bald ohne Hobelwerk », schrieb dazu der ‹ Landbote ›. « Wahrscheinlich ist, dass die Kälin AG künftig zur reinen Immobilienfirma wird », mutmasste die Zeitung – und lag damit falsch. Denn mit dem rechtskräftigen Gestaltungsplan waren die Voraussetzungen gegeben, dass die Stadtbauentwicklungs-AG das Areal wie vereinbart erwerben konnte.
Das Leitbild ist ein Meilenstein
Ein Projekt zu entwickeln und dann zu verkaufen, ist ein üblicher Vorgang im Immobilienbusiness. Auch die Stadtbauentwicklungs-AG handelt nach diesem Muster und behält nur wenige Liegenschaften. « Ihr geht es ab er nie allein um den Profit, sondern auch um gesellschaftliche Themen », sagt Markus S eiler. Im Hinblick auf die Vermarktung erarbeitete er mit seinem Team deshalb ein Leitbild der künftigen Überbauung, dessen zentrale Werte in einem Wimmelbild veranschaulicht wurden siehe ‹ Ein Wimmelbild als Versprechen ›.
Zu dem Zeitpunkt war vorgesehen, die Häuser A, C und D mit Mietwohnungen zu verkaufen und die Häuser B und E im Stockwerkeigentum zu vermarkten. Die im Leitbild festgeschriebene Vielfalt sollte auch in der Architektur Ausdruck finden. « Wir wollten keine Üb erbauung aus einem Guss », betont Markus S eiler. Für die Häuser A und B hatten Pool Architekten bereits ein bewilligungsreifes Projekt ausgearbeitet, für die anderen Bauten lief ein Studienauftrag. Daraus gingen Ramser Schmid Architekten als Gewinner für die Häuser C und E sowie für die beiden Industriehallen hervor, Pascal Flammer gewann das Haus D.
Die Stadtbauentwicklungs-AG schrieb zahlreiche mögliche Interessenten an, um die einzelnen Gebäude zu verkaufen. Darunter auch Peter Schmid, langjähriger Kenner des genossenschaftlichen Wohnungsbaus und in verschiedenen Funktionen damit verbunden, unter anderem als Präsident der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›. Für ihn war das Hobelwerk ein spannendes Areal, doch er sagte sich: Wenn schon, dann kaufen wir das Ganze. Gepasst hat insbesondere auch das Leitbild – so gut, dass das Wimmelbild zu einem Bestandteil der Kommunikation der Genossenschaft wurde. Nach der Zustimmung der ausserordentlichen Generalversammlung Ende 2018 kaufte ‹ Mehr als Wohnen › das Areal inklusive Projekt. « Es war das erste Mal, dass die Stadtbauentwicklungs-AG ein ganzes Entwicklungsprojekt verkauft hat », sagt Markus S eiler. Die Entwicklerin war damit aus dem Spiel. Doch Topik Partner blieben, nun im Auftrag der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, als Bauherrenvertretung am Projekt beteiligt.
Massgeschneidert für die Genossenschaft
So passend das Leitbild für die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › auch war – der geplante Wohnungsmix war es nicht. Das Projekt musste an die spezifischen Bedürfnisse angepasst werden. Weil die Baubewilligung für die Häuser A und B bereits vorlag, war der Spielraum dort beschränkt. Doch die Grundrisse wurden angepasst, man baute WG- und Cluster-Wohnungen ein und fügte beim lang gestreckten Haus B eine zusätzliche Achse ein. Bei
den Häusern C, D und E lagen erst die Wettbewerbsentwürfe vor, wodurch die Freiheiten grösser waren. Der Innovationsanspruch der Genossenschaft beschränkte sich aber nicht auf alternative Wohnformen. « Mit Themen wie Suffizienz, Schwammstadt, Netto-Null oder günstiger Wohnungsbau brachte ‹ Me hr als Wohnen › A spekte ein, die unserem Leitbild eine neue Dimension gaben », sagt Markus Seiler. Der Prozess war eine Herausforderung, mussten doch die Ziele und Vorstellungen der Beteiligten – von der Bauherrschaft bis zu den Planern – unter einen Hut gebracht werden.
Ramser Schmid Architekten betreuten die Häuser C und E bis zur Baueingabe, danach übernahmen Wild Baumanagement und GOS Architektur die Ausführungsplanung. Haus C, ursprünglich als konventioneller Wohnungsbau konzipiert, wurde nun zu einem Holzbau mit ClusterWohnungen und kleinen Micro-Co-Living-Studios. Beim Hochhaus E waren die Anpassungen geringer: Es bietet das klassischste Wohnungsangebot auf dem Areal – angeordnet um ein spektakuläres Treppenhaus. Das Haus D von Pascal Flammer machte die grösste Veränderung nach dem Wettbewerb durch. Es ist ein Holzbau geworden, bei dem das Thema Re-Use eine wichtige Rolle spielte. Auf die geplante Tiefgarage wurde verzichtet, was das Parkplatzangebot in der Überbauung von 0,8 auf 0,2 Plätze pro Wohnung reduzierte. Der Baubeginn und die Vergaben für die Häuser A und B der ersten Etappe fielen laut Seiler in eine gute Zeit und gaben den Planern mehr Spielraum für Experimente bei den Häusern C, D und E.
Bilanz nach zehn Jahren
Zehn Jahre war Markus Seiler mit dem Hobelwerk beschäftigt. Gibt es etwas, das er heute anders machen würde ? « Im Nachhinein denke ich, dass wir die Baufelder im Gestaltungsplan etwas zu präzise definiert haben », sagt er. Das habe die Teilnehmenden im Wettbewerb eingeschränkt, zum Beispiel bei der Frage, wie die zentrale Gasse durch das Areal gestaltet werden könnte, die heute als Sackgasse am erweiterten Volg-Hochregallager endet. Doch das sind kleine Episoden in einer zehn Jahre dauernden Entwicklungsgeschichte, die ebenso ungewöhnlich wie erfolgreich war. Als besonders erfreulich hebt Markus Seiler die Tatsache hervor, dass mit einem guten Projekt und dem zugrunde liegenden Leitbild eine progressive Partnerin wie die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › gewonnen werden konnte. Damals war Seiler überrascht, dass einer alles wollte: « Wir waren gar nicht auf die Idee gekommen, dass ein Interessent das ganze Projekt kaufen könnte. Als es aber so weit war, waren wir von der Richtigkeit dieser Lösung überzeugt. » ●
Markus Seiler
Bevor er 2014 als Projektentwickler zu Odinga Picenoni Hagen – heute Topik Partner – wechselte, arbeitete Markus Seiler als Architekt und Teamleiter bei Gigon Guyer Architekten. Seit 2021 ist er Partner bei Topik Partner.
Ein offensichtlich erfolgreiches Unternehmen: Auf dem Areal der Kälin & Co. AG wurde meterhoch Holz gestapelt.
Am Anfang war das Feuer
Die Anfänge des Hobelwerks in Oberwinterthur gehen auf einen Brand in Islikon zurück: « Am Samstagnachmittag um zwölf Uhr ist im Hobelwerk von Schwarzwald & Kälin in Islikon bei Frauenfeld ein Brand ausgebrochen, dem das ganze Etablissement in kurzer Zeit zum Opfer gefallen ist », berichtete die NZZ am 20. Ju ni 19 04. « Da s Etablissement stand hart an der Bahnlinie und die grosse Hitze hat alle Drähte des Bahntelegraphen und der Signalleitung geschmolzen, sodass die telegraphische Verbindung Winterthur – Frauenfeld eine Zeit lang unterbrochen war. » Offenbar traf der Brand die Firma im Mark – o der sie hegte bereits vorher Umzugspläne. Jedenfalls platzierte Schwarzwald & Kälin schon knapp einen Monat später ein Inserat, in dem das Unternehmen sein Areal « infolge Dislokation unseres Geschäfts » zum Verkauf anbot, « mit oder ohne den bestehenden Gleisanschluss ».
Einen Bahnanschluss hatte das Hobelwerk auch an seinem neuen Standort direkt beim Bahnhof Oberwinterthur. Zeitungsannoncen geben Einblick in das Geschäft von Schwarzwald & Kälin. So pries die Firma 1911 ihre ‹ Pitchpine Riftriemen › an, Nadelholzriemen in bester Qualität, wie sie in jener Zeit in Wohnhäusern weit verbreitet waren. 1919 standen in einem illustrierten Inserat « Weichhölzer, speziell Kistenbretter » und « Ronda-Täfer » im Vordergrund. Inzwischen firmierte das Hobelwerk unter seinem Alleineigentümer Joseph Kälin, später Kälin & Cie. Kälin stammte vom Etzel, wo sein Vater eine Sägerei und seine Mutter den ‹ Sternen › geführt hatten. D er ‹ Holzweg › war dem 1870 geborenen Sohn also vorgezeichnet. Im Thurgau war er gelandet, weil er in Müllheim die Tochter eines Sekundarlehrers kennengelernt hatte. Schliesslich liess er sich in der damals noch eigenständigen Gemeinde Oberwinterthur nieder. Direkt neben seinem Werk bauten die renommierten Winterthurer Architekten Rittmeyer & Furrer 1918 sein stattliches Wohnhaus. Die letzte Zeitungsnotiz von Joseph Kälin ist seine Todesanzeige im März 1950. Sein Sohn, Joseph Kälin junior, schien wenig Interesse am Holz zu haben ; er war ein anerkannter Zoologe.
Inserate, in den Jahren der Hochkonjunktur insbesondere Stellenanzeigen, zeugen vom Gedeihen der Firma. 1962 stand ein « Kaufmann mit holztechnis cher Ader oder ein perfekter Holzfachmann mit kaufmännischem Talent » auf der Wunschliste, 1970 suchte man sogar im ‹ Wallis er Boten › nach einem Baus chreiner und einem Maler für eine neue Abteilung. 1984 war die historische Acht-Walzen-Hobelmaschine einer der Höhepunkte des ‹ Dampftags › im wenige Jahre zuvor auf der anderen Seite der Gleise eröffneten Technikmuseum ‹ Te chnorama ›. Die Maschine, 1896 gebaut von der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik in Winterthur, wurde an diesem Tag extra noch einmal in Betrieb genommen, wie die ‹ Neuen Zürcher Nachrichten › s chrieben.
1999 übernahmen Robert Nater und Hans-Ulrich Kipfer die Kälin & Co. Mit Nanotechnologie – dem aus der Textilindustrie bekannten Gore-Tex-Effekt – wollten sie den Baustoff Holz « mehrheitsfähig » machen, « nicht nur für Chalets, sondern auch für Mehrfamilienhäuser », berichtete der ‹ Tages-Anzeiger › 2003. Zu jener Zeit war Kälin & Co das drittgrösste Hobelwerk der Schweiz ; pro Tag wurden Täferbretter für rund 80 Zimmer pro duziert. Keine zwei Jahre später verkaufte das Unternehmen rund ein Drittel des Firmengeländes an das Bauunternehmen Zani. Auf diesem Teil stand auch die Kälin-Villa, die unter Schutz gestellt wurde und heute in Privatbesitz ist. Auf dem restlichen Teil des Grundstücks erstellte Zani für die Versicherung Helvetia-Patria eine Überbauung mit 107 Mietwohnungen. Sechs Jahre später begannen die Planungen auf dem anderen Teil des Kälin-Areals. Werner Huber
Die industrielle Vergangenheit des Orts hat dem Hobelwerk-Areal einen riesigen gedeckten Platz für gemeinsame Aktivitäten geschenkt.
Claudia Thiesen
Die Architektin war von 2008 bis 2023
Vorstandsmitglied der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›. Bis 2024 leitete sie die Baukommission
Hobelwerk. 2019 gründete Claudia Thiesen mit der Stadtplanerin
Sabine Wolf das Büro Thiesen & Wolf
Anna Haller
Von 2014 bis 2023 war Anna Haller bei der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › für den Bereich Partizipation verantwortlich. Seit 2023 ist sie als Beraterin und als Geschäftsführerin der Trift AG – Bewirtschaftung von Grundstücken tätig.
Ein Hobel will geführt sein
Die Partizipation gehört zum Selbstverständnis der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›. Die Geschichte des Hobelwerks zeigt die Herausforderungen der Mitbestimmung auf.
Von Beginn weg hatte die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › den Anspruch, mit Formen des Wohnens und Formen der Mitwirkung und des Dialogs zu experimentieren. Die Mitglieder diskutierten, planten und bauten, bis 2015 das Hunziker-Areal in Zürich stand. Dafür schuf die Genossenschaft eigens eine Abteilung für Partizipation, die bis 2023 von Anna Haller geleitet wurde. Zusammen mit Bigi Obrist und Claudia Thiesen, der damaligen Leiterin der Baukommission, entwickelte Anna Haller Mitwirkungsformate, die das neue Quartier in Zürich-Leutschenbach geprägt haben. Das Team schuf eine Struktur mit Generalund Arealversammlungen, Allmendkommission und von Bewohnern gegründeten Quartiergruppen, in denen diese ehrenamtlich zum gemeinschaftlichen Leben beitragen. Zudem können die Quartiergruppen finanzielle Mittel aus dem Arealfonds beantragen, in den alle Bewohnerinnen einkommensabhängig einzahlen ; die Ver waltung des Fonds obliegt der Allmendkommission. Die grossen Entscheidungen der Genossenschaft fällt die Generalversammlung. Eine dieser grossen Entscheidungen war 2019 der Erwerb des Hobelwerk-Areals in Oberwinterthur. Die Erfahrungen mit dem Hunziker-Areal flossen direkt in die Gestaltung der Partizipation ein. Die Zeit war knapp, da der Gestaltungsplan bereits Rechtskraft hatte, die Planung der ersten Gebäude schon weit fortgeschritten war und die Realisierung der beiden Bauetappen für 2021 respektive 2023 vorgesehen war. Die Mitwirkungsprozesse fokussierten deshalb vor allem auf die Wohnformen und die ‹ Allmenden ›, die gemeinschaftlich genutzten Flächen auf dem Areal. Um ihrem Innovationsanspruch gerecht zu
werden, wollte die Baugenossenschaft die Partizipation möglichst barrierefrei gestalten. Neben Einschränkungen des Geh-, Hör- oder Sehvermögens geht es dabei auch um sprachliche Barrieren, fehlende Erfahrung mit Diskussionsrunden oder Unkenntnis der diskutierten Themen.
Bedürfnisse formulieren
Während der Planungszeit des Hobelwerks organisierte die Geschäftsstelle von ‹ Mehr als Wohnen › se chs ‹ Echoräume › zu unters chiedlichen Themen und mit verschiedenen Teilnehmenden. Gemeinsam mit den Bewohnern des Hunziker-Areals hatte sie Erkenntnisse aus ihrer Siedlung gesammelt und Empfehlungen für das Hobelwerk formuliert. ‹ Mehr als Wohnen › lud die Bevölkerung von Oberwinterthur – als Anwohnerinnen und p otenzielle künftige Mieter – ein, ihre Bedürfnisse zu äussern. Fachgremien diskutierten Themen wie das Mikroklima oder das kostengünstige Wohnen. « Die Mischung aus Quartierbewohnerinnen, Genossenschaftern und Expertinnen ergab ein breites Bild », erzählt Claudia Thies en. Die ‹ Echoräume › hätten nicht nur das Projekt geschärft, sondern auch zur Vernetzung der Baugenossenschaft in Winterthur beigetragen. Nach den ‹ Echoräumen › war klar, dass die Gemeinschaftsräume, die Aussenflächen, der Hobelwerkplatz und die Hobelwerkhalle zwar für eine gemeinschaftliche Nutzung reserviert, jedoch erst nach Vollbezug des Areals gestaltet werden sollten. Auf diese Weise konnten die zukünftigen Bewohner miteinbezogen werden, und zudem würde eine probeweise Nutzung Erkenntnisse für die definitive Ausgestaltung zutage bringen.
Während der Bauzeit der zweiten Etappe konnten sich die Bewohnerinnen der beiden bereits fertiggestellten Häuser auch gestalterisch einbringen: Aus Restholz des ehemaligen Hobelwerks und der Baustelle erstellten sie Kleinbauten für den Aussenraum. Weitere von der Geschäftsstelle vorgesehene Partizipationsformate konnten wegen der Corona-Pandemie nicht mehr durchgeführt werden. Die erste Willkommensversammlung fand denn auch online statt, doch die Mitwirkung ging dennoch nicht vergessen: Nachdem die Geschäftsstelle die wichtigsten Informationen zum Bezug und zum Quartierleben im Plenum geteilt hatte, begaben sich die Teilnehmer in Gruppen von bis zu acht Personen in virtuelle Räume, um sich in kleinem Rahmen kennenzulernen. Ein Fragenkatalog half den sich noch fremden Menschen dabei, miteinander ins Gespräch zu kommen. « Das hat sehr gut funktioniert, obwohl alle hinter ihrem Bildschirm sassen », erzählt Anna Haller. Einen physischen Willkommensapéro im Hobelwerk hat die Baugenossenschaft später nachgeholt.
Motivation versus Kapazität
Partizipation ist allerdings nicht nur eine Bereicherung für das Genossenschaftsleben, sie ist auch eine ständige Herausforderung. Das zeigte sich nach dem Bezug der ersten beiden Häuser auf dem Hobelwerk-Areal. Der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › war es wichtig, dass die Mitwirkung erst nach Bezug der zweiten Etappe beginnt, um niemanden zu benachteiligen. Das hätte aber bedeutet, dass die Erstbezügerinnen sich zwei Jahre hätten gedulden müssen. Und so formierten sich schon 2022 erste Quartiergruppen in Eigeninitiative. Sie engagierten sich für das Hobelwerkfest, für eine Sauna, für die Veloabstellplätze oder den Gemeinschaftsgarten. Als ab Mitte 2023 die Häuser der zweiten Etappe bezogen wurden, wuchs die Zahl der Quartiergruppen auf rund 20. Zu dieser Zeit waren im ( grösseren ) Hunziker-Areal mehr als 60 Grupp en aktiv. Das überstieg die Kapazitäten der Geschäftsstelle. Die Anfragen wurden immer zahlreicher, der administrative Aufwand wuchs stetig, die Umsetzung der Projekte
dauerte entsprechend länger. Erschwerend kamen Personalabgänge im Bereich Partizipation, im Vorstand und in der Geschäftsführung der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › hinzu. Die Baugenossenschaft bestand nun seit mehr als fünfzehn Jahren und war stark gewachsen – für viele Mitarbeitende ein guter Zeitpunkt für einen Wechsel. Der zeitweilige Personalmangel auf der Geschäftsstelle führte dazu, dass die Bewohner des Hobelwerks auch die Allmendkommission, die sie vom Hunziker-Areal her kannten, in Eigeninitiative gründeten. Diese wurde im Frühling 2024 im Rahmen einer ausserordentlichen Arealversammlung gewählt und fügt sich zwischen Quartiergruppen und Arealversammlung ein, um die Geschäftsstelle zu entlasten.
Zeit der Konsolidierung
Inzwischen hat sich vieles eingespielt. Die Hobelwerkhalle und der offene Hobelwerkplatz im Zentrum des Quartiers sind bewusst noch nicht fertig eingerichtet. Unter dem riesigen Dach des Hobelwerkplatzes steht ein Selbstbedienungsladen, der von Biohöfen aus der Umgebung beliefert wird. Kinder fahren Gokart, Jugendliche und Erwachsene nutzen den Platz für das informelle Zusammensein und gemeinschaftliches Essen. Die Hobelwerkhalle ist kleiner und auf allen Seiten geschlossen. Sie wird für Anlässe, Geburtstagsfeiern oder als Kino genutzt. So können die Bewohnerinnen gemeinschaftlich und in der Praxis entdecken, was funktioniert und welche Herausforderungen sich stellen. Nach und nach sollen sie sich die Räume aneignen. Im Austausch mit der Geschäftsstelle entsteht nun ein Konzept, um diese beiden grössten ‹ Allmenden › auf dem Areal definitiv einzurichten und einer für die Gemeinschaft stimmigen Nutzung zu übergeben.
Der Vorstand der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › hat einen neuen Präsidenten, die G eschäftsstelle eine neue Geschäftsführerin siehe Interview mit Beat Fellmann und Rahel Leugger, Seite 24. Bis 2026 arbeiten Vorstand und Geschäftsführung gemeinsam an einer neuen Strategie, wie sie die Baugenossenschaft strukturieren und entwickeln möchten. Die Überarbeitung der Partizipationsstruktur wurde bereits in Angriff genommen. Letztlich muss die Baugenossenschaft herausfinden, welche Ressourcen sie seitens der Geschäftsstelle dafür zur Verfügung stellen will und kann und wie sie diese verteilt. Grundsätzlich sind drei Lösungswege denkbar: Die Geschäftsstelle passt sich dem Bedarf an und wächst. Alternativ gibt sie –im Sinne der Selbstverwaltung – mehr Verantwortung und Arbeitsaufwand an die Genossenschafter ab. Oder die Geschäftsstelle entwickelt klare Leitplanken für Partizipationsmöglichkeiten, die an ihre Kapazität angepasst sind. Partizipation erfordert Strukturen und Transparenz. Den Bewohnerinnen muss klar sein, worüber sie in welchen Gefässen und zu welchen Teilen mitbestimmen dürfen. 2023 hat die Geschäftsstelle eine Broschüre verfasst, die Partizipationsgefässe wie die Arealversammlung oder die Quartiergruppen erläutert und aufzeigt, in welchem Rahmen die Bewohner sich einbringen können. Das Papier erläutert auch, welche Entscheidungen nicht im partizipativen Verfahren, sondern direkt von der Geschäftsstelle oder vom Vorstand gefällt werden. Mit anderen Worten: Ein Hobel will geführt sein, auch auf einem partizipativen Experimentierfeld wie dem Hobelwerk. ●
‹ Mehr als Wohnen › muss herausfinden, welche Ressourcen die Baugenossenschaft seitens der Geschäftsstelle für Partizipation zur Verfügung stellen will und kann.
Belebte Landschaftsarchitektur
Auf dem Hobelwerk-Areal gibt es einen besonderen, offenen und überdeckten Quartierplatz, auf dem Kinder spielen und ein Container die Anwohner zum lokalen Einkauf einlädt. Stühle, Bänke, Tische und Feuerschalen zeigen: Der schattige Platz, auf dem es nie regnet, wird von allen gern genutzt. Grün ist er nicht, doch das Grün findet sich direkt daneben: In der nordöstlichen Ecke des Areals, zwischen Hobelwerkhalle und Wohnturm, wächst Gemüse und gackern Hühner, dazwischen schlängeln sich Pfade zu Häusern und kleinen Sitzplätzen. Die zentrale Gasse, die das Areal längs durchquert, hat fast überall einen sickerfähigen Belag. Entlang der alten Schienenbahnen werden bald Bäume wachsen. Schlingpflanzen werden sich die heute noch etwas kahlen Gitterstrukturen der Balkone und Laubengänge am Haus C aneignen. Auch die Bewohnerinnen machen sich den Zwischenraum mit zahlreichen selbst gebauten Möbeln und Spielgeräten zu eigen. Die vielgestaltige Mitwirkung ist gewollt, bewusst wurde auf klassisches Spielplatzmobiliar verzichtet. Fertig wollen weder das Haus noch die Aussenräume sein, lieber dynamisch und belebt, immer den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen folgend, die das Areal bewohnen. Die Atmosphäre verändert sich im Hof von Haus A neben dem Hobelwerkplatz. Im säulenumstandenen Gartenhof wächst hier ein dichter Urwald – ein Kontrast zur strengen Architektur. Wie im Peristyl einer römischen Villa zwitschern Vögel auf den üppig belaubten Zweigen. Der Hof ist ein Gemeinschaftsraum der anderen Art: kontemplative Augenweide statt Festplatz. Wo viel los ist, braucht es auch Rückzugsorte. Diese finden sich auch bei den Vorgärten von Haus D.
Studio Vulkan, seit 2017 verantwortlich für die Landschaftsarchitektur auf dem Hobelwerk-Areal, ist ein Konglomerat verschiedenartiger öffentlicher Räume gelungen. Sie werden den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bewohner gerecht und fügen sich gleichzeitig in ein grosses Ganzes ein. Man wünscht dem Areal und den Menschen, dass der anfängliche Elan beim Bau von Freiraummöbeln weiter anhält. Maarit Ströbele
Verschiedenartige öffentliche Räume mit jeweils eigener Atmosphäre antworten auf unterschiedliche Bedürfnisse.
6 H obelwerkhalle
7 H obelwerkplatz
Fünf Häuser, viele Lebensräume
Auf dem Areal eines ehemaligen Sägewerks ist ein Quartier mit eigenem Charakter entstanden. Für die fünf Häuser zeichnen verschiedene Architekturbüros verantwortlich.
Text: Miriam Stierle
Das Hobelwerk bietet auf kleinem Raum eine grosse Vielfalt an Wohnformen und Lebensräumen. Die Landschaftsarchitektur von Studio Vulkan bildet die Grundlage für ein abwechslungsreiches kleines Quartier, das sich aus ehemaligen Industriebauten und neu erstellten Wohnhäusern, Gemüsegärten und Spielflächen zusammensetzt. Mäandernde Kieswege führen zwischen Melonen- und Tomatenstauden zur früheren Fabrikhalle des Sägewerks, die vom Baubüro In Situ sanft instand gesetzt wurde. Direkt angrenzend bietet der gedeckte Hobelwerkplatz Schutz vor der Witterung und der sommerlichen Hitze. Den Kindern des Quartiers dient er etwa zum Rollschuhfahren, den Erwachsenen als Treffpunkt. Der Zweiklang aus historischer Halle und gedecktem Platz bildet das Herz des Hobelwerk-Areals und vermittelt die Intention der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, einen Beitrag zu leisten zu einem Stück ökologisch und sozial nachhaltiger Stadt. Nach dem Kauf des Areals durch die Genossenschaft entstanden in zwei Etappen fünf in Volumetrie und Typologie unterschiedliche Wohnhäuser. Zwei lange Riegelbauten bilden den Rücken des Areals zu den Bahngleisen aus. Ein quadratisches Hofhaus und ein tiefer Quader rahmen Platz und Halle, ein achteckiger Wohnturm markiert den Auftakt zur Quartierstrasse. Auf den folgenden Seiten werden die fünf Häuser in Bild, Plan und Text vorgestellt.
Bauherrschaft: Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, Zürich
Bauherrenvertretung: Topik
Partner, Zürich
Architektur: Pool, Zürich
3. Obergeschoss
1. Obergeschoss
Erdgeschoss
Haus A
Südländisch anmutendes Hofhaus
In einer ersten Etappe realisierten Pool Architekten 2021 die Häuser A und B, zwei vergleichsweise konventionelle Wohnbauten mit einem breiten Wohnungsmix vom 1-Zimmer-Studio bis zur 9½-Zimmer-Gross-WG. Haus A ist ein Hofhaus, das sich von aussen aber nicht als solches zu erkennen gibt. Über vier Zugänge erschliesst sich jedoch ein südländisch anmutender Gemeinschaftshof. Einfache Materialien und eine üppige Hoflandschaft verleihen dem angenehm kühlen Arkadengang eine warme Atmosphäre. Das nach aussen geöffnete Erdgeschoss beherbergt eine Kindertagesstätte, eine Bäckerei, einen Co-Working- Spac e, einen Waschsalon und einen grossen Gemeinschaftsraum für Kulturveranstaltungen und Versammlungen.
Die Wohnungsgrundrisse folgen einem sich wiederholenden Prinzip: eine offene, zum innenliegenden Laubengang hin orientierte Wohnküche, ein durchgesteckter Wohnraum mit vorgelagertem Balkon und überwiegend zur Aussenseite hin orientierte, grosszügig verglaste Zimmer. An der Laubengangfassade bilden tiefe Betonschwerter doppelgeschossige Nischen aus, die subtil zwischen öffentlichem und privatem Raum vermitteln. Auf den beiden niedrigeren Gebäudeteilen befinden sich zwei Dachterrassen mit Sauna, Erholungs- und Begegnungsmöglichkeiten, die für alle Bewohner des Quartiers zugänglich sind. Dass die Regenzisternen und die Photovoltaik-Anlage mit dem darunterliegenden Gründach sichtbar sind, ist Absicht: Die Baugenossenschaft will damit das Verständnis für nachhaltige Bauweisen und eine klimabewusste Freiraumgestaltung fördern. Miriam Stierle
Haus B
Ein
schöner Rücken
kann auch entzücken
Etwas nordöstlich vom Bahnhofsgebäude Oberwinterthur erstreckt sich der lang gezogene Riegelbau von Haus B entlang der Gleis e und schirmt das Areal vom Lärm der Züge ab. Auf der Hobelwerkseite entsteht so eine breite, belebte Gasse. Hierhin orientieren sich die gewerblichen Nutzungen und die öffentlichen Räume im Erdgeschoss, etwa der für Feste geeignete Gemeinschaftsraum gegenüber der Hobelwerkhalle. Massive Stützen säumen eine überdachte Vorzone, die den öffentlichen Charakter des Sockelgeschosses unterstreicht. Auf der Gleisseite befinden sich im Erdgeschoss kleinere Raumeinheiten mit zumietbaren Ateliers, Hobby- und Waschräumen. Zwei breite Durchgänge verbinden die Gasse und den Hobelwerkplatz mit dem grossen Spielplatz hinter dem Haus.
In Haus B werden 1½- bis 5½-Zimmer-Wohnungen angeboten, meist in Form von etwas grösseren und konventionelleren Grundrissen für Familien und Wohngemeinschaften. Doch auch in diesem Haus strebt die Genossenschaft eine demografisch und sozial vielfältige Mieterschaft mit unterschiedlichen Berufs- und Bildungshintergründen, Nationalitäten, Einkommen und Lebensphasen an, um die soziale Nachhaltigkeit zu gewährleisten.
Vier vertikale Treppenhäuser erschliessen zwei bis drei Wohnungen pro Geschoss. Eine Halle bildet jeweils das Zentrum der Wohnung. Zum Hobelwerk hin erweitert sich die Halle zu einem Wohnraum mit Erker, zum Gleisfeld geht sie in eine grosse Loggia über. Mit Klinker gefasste, vorspringende Erker und unterschiedlich hohe Fensteröffnungen rhythmisieren die mit Holzelementen verkleidete Fassade. Eine zur Gasse orientierte Balkonschicht schliesst das Sockelgeschoss ab. Haus B ist ein einfaches und zugleich schönes Haus. Robust, unterhaltsarm und auf eine lange Lebensdauer ausgerichtet, haben Massivbauten wie diese nachhaltig Bestand. Miriam Stierle
Haus B, 2021
Hobelwerkweg 39, Winterthur
Bauherrschaft: Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, Zürich
Bauherrenvertretung: Topik Partner, Zürich
Architektur: Pool, Zürich Die regelmässigen Erker und die gedeckte Arkade rhythmisieren den langen Baukörper gegenüber dem Hobelwerkplatz.
0 5 10 m
Haus C
Begrüntes Regal für kleines Geld
Für die zweite Bauetappe wünschte sich die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › unter anderem experimentelle Wohnkonzepte. So wurde nach der Übernahme des Areals das Raumprogramm für Haus C mo difiziert, und die konventionellen Wohnungsschnitte wurden um Gewerbenutzungen sowie um Micro-Co-Living-Einheiten für Ein- und Zweipersonenhaushalte ergänzt. Diese privaten Wohneinheiten mit geringer Fläche verfügen über eine Miniküche und ein eigenes Badezimmer. Darüber hinaus steht den Bewohnern ein über den Laubengang erschlossener, grosszügiger Gemeinschaftsraum zur Verfügung. In Haus C erstreckt sich dieser über drei Geschosse. Man erreicht ihn auf allen Ebenen über eine vorgelagerte Balkonschicht, die als begrünter Aussenraum genutzt wird. Im Vergleich zu den Cluster-Wohnungen bietet das Micro-Co-Living mehr privaten Rückzugsraum. Es eignet sich auch für begleitetes Wohnen.
Auch konstruktiv wurde das ursprüngliche Projekt für das Haus C no chmals fundamental neu gedacht. Aus dem konventionellen Massivbau wurde ein radikaler Holzbau, der aufzeigen sollte, wie CO2-Emissionen auf allen Ebenen reduziert werden können siehe ‹ Von Bienen bis Re-Use ›, Seite 20 Um trotzdem bezahlbare Mieten anbieten zu können, waren weitere Anpassungen und Optimierungen nötig. Ramser Schmid Architekten, die 2017 den Studienauftrag für die Häuser C und E gewonnen hatten, begleiteten das Projekt bis zur Phase der Ausführung. Die Ausführungsplanung übernahm die bereits in das Projekt involvierte Wild Baumanagement mit Unterstützung von GOS Architektur. Der vom Holzbauer Baltensperger konzipierte Modulbau wurde in nur vier Tagen aufgerichtet. Durch den Einsatz von Holz aus regionaler Herkunft und eine Konstruktionsweise, die das Holz als Rohstoff erhält, zeichnet sich das Gebäude als Pionierleistung für ressourcenschonendes Bauen aus. So gelang es der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, das Projekt Haus C als Exp erimentierfeld zu nutzen. Marcel Bächtiger
Haus C, 2023
Hobelwerkweg 41, Winterthur
Bauherrschaft: Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, Zürich
Bauherrenvertretung: Topik Partner, Zürich
Architektur: Ramser
Schmid, Zürich ; Wild Baumanagement , Winterthur, und GOS, Winterthur
Holzbau: Baltensperger, Winterthur
Re-Use-Wohnhaus in Weiss
Innovation ist ein Schlüsselwort im Selbstverständnis der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, und innovativ ist das von Pascal Flammer entworfene Haus D gleich in zweierlei Hinsicht. Die Aus einandersetzung mit kollektiven Wohnformen wurde in Haus D zwar nicht grundlegend neu erfunden, aber doch gewinnbringend weiterentwickelt: Je zwei Cluster-Wohnungen verteilen sich über die drei Obergeschosse. Die grossen Gemeinschaftsräume blicken über das Areal, die individuellen Zimmer sind seriell auf der Rückseite angeordnet. Dieser einfachen Grunddisposition sind geschickte Differenzierungen eingeschrieben. In einem Fall bilden drei Zimmer mit Bad eine Einheit im Cluster, in einem anderen sind zwei Einzelzimmer direkt miteinander verbunden, und in einem dritten Fall hat das Zimmer ein eigenes Bad. Die lange Küchenzeile sorgt für eine ungezwungene Trennung von gemeinschaftlichen und privaten Räumen. Nochmals anders gelebt wird im Erdgeschoss, wo vier Meter hohe, durchgesteckte Einheiten als Wohnateliers für Gewerbetreibende und Kunstschaffende dienen.
2. Obergeschoss
1. Obergeschoss
Erdgeschoss
0 5 10 m
Beispielhaft ist zudem der Einsatz von wiederverwendeten Bauteilen, den In Situ als Fachplanungsbüro begleitet hat. Angesichts des engen Zeit- und Kostenrahmens ist die Menge an Re-Use-Elementen beachtlich: Sie reichen von der grossflächigen Wellblech-Aluminium-Fassade an der südwestlichen Ecke über Zimmer- und Balkonfenster bis zu Handtuchhaltern und Sanitärapparaten. Der ökologische Effekt ist bezifferbar: Je nach Bauteil reduzieren sich die Treibhausgasemissionen um 49 bis 96 Prozent. Auch architektonisch ist das interessant: Die ausschwingende Balkonschicht, die markanten Träger und der offengelegte Treppenzylinder sind formal starke Gesten, die sich gegenüber der Heterogenität der Bauteile zu behaupten vermögen und von einer starken gestalterischen Handschrift zeugen. Gleichzeitig verleihen vernakuläre Elemente wie die traditionellen Fensterläden der Architektur eine informelle Qualität, die massgeblich zur Eigenheit des Hauses beiträgt. Einem möglichen Material- und Farbenpotpourri wirkt Pascal Flammers Konzept, alles weiss zu streichen, so einfach wie effektiv entgegen. Marcel Bächtiger
Haus D, 2023
Hobelwerkweg 43, Winterthur
Bauherrschaft: Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, Zürich
Bauherrenvertretung: Topik Partner, Zürich
Architektur: Pascal Flammer, Zürich
Re-Use: Baubüro In Situ, Zürich
Haus E, 2023
Hobelwerkweg 45, Winterthur
Bauherrschaft: Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, Zürich
Bauherrenvertretung: Topik
Partner, Zürich
Architektur: Ramser
Schmid, Zürich ; Wild Baumanagement , Winterthur, und GOS, Winterthur
Die unverwechselbare Erscheinung des Wohnturms setzt eine kleine Landmarke auf dem Hobelwerk-Areal.
6. Obergeschoss
1. Obergeschoss
Erdgeschoss
Wohnturm mit abgeschnittenen Ecken
An der Zugangsseite des Areals schlägt der Hobelwerkweg einen leichten Bogen. Die Parzelle weitet sich und macht Platz für ein kleines Wohnhochhaus mit neun Geschossen und getrimmten Ecken. Städtebaulich markiert es den Eingang zum Areal. Seine achteckige Grundform passt sich geometrisch in die rechtwinklige Ausrichtung der anderen Bauten ein und bildet einen organisch fliessenden Aussenraum. Das von Ramser Schmid Architekten entworfene Haus E ist das mysteriöseste der fünf Häuser auf dem Hobelwerk-Areal. Der objekthafte Wohnturm ist im Kern ausgehöhlt. Gegeneinander verdrehte, einläufige Treppen verbinden die kreisförmig umlaufenden Galerien miteinander und lassen einen Vertikalraum entstehen, der aufgrund der vielen Türen wie eine Art Panoptikum erscheint. Das Haus E bietet Wohnungen mit 2½ bis 6½ Zimmern. Pro Geschoss gibt es vier Wohnungen. Jede verfügt über einen vieleckigen Wohnraum mit vorgelagerter Loggia. Schlafzimmer, Bad und Toilette sind als rechtwinklige Räume in den achteckigen Grundriss eingeschrieben und definieren ein dem Wohnraum vorgelagertes Entrée mit schmaleren und weiteren Gängen.
Im ursprünglichen Wettbewerbsprojekt war im leicht erhöhten Erdgeschoss eine dickere Balkonschicht vorgesehen, die ebenfalls eine Wohnnutzung ermöglicht hätte. Mit der Übernahme des Projekts durch die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › wurde das Raumprogramm gemischter: Nun befinden sich im Erdgeschoss Gästezimmer, ein Gemeinschaftsraum, ein Waschsalon sowie eine Mobilitätsstation, in der die Bewohner des Areals Velos, Cargobikes und Anhänger ausleihen können. Der Anspruch, statt Wohnungen für den gehobenen Mittelstand kostengünstigen Wohnraum anzubieten, hatte zwangsläufig gestalterische Folgen: Das als filigranes Gespinst entworfene Fassadengerüst mit Lisenen aus Stahlprofilen, die sich wie ein Kleid über den mit Eternit verkleideten Massivbau gestülpt hätten, wich einer konventionellen verputzten Kompaktfassade. Auch die Fensterflächen wurden reduziert. Die Fassade erreicht ihren formalen Ausdruck nun mit der unterschiedlichen Körnung des Putzes und einer grafischen Farbgestaltung entlang der vertikalen Wandteile, die das geometrische Spiel des Grundrisses in Rauten und Dreiecke übersetzt. Miriam Stierle ●
Co-Living auch im Aussenraum: Bei Haus C greifen Privates und Kollektives mühelos ineinander.
Von Bienen bis Re-Use
Auf dem Hobelwerk-Areal greifen verschiedene Ebenen der Nachhaltigkeit ineinander. Der integrale Ansatz weist trotz Zielkonflikten den Weg in eine emissionsarme Zukunft.
Text: Marcel Bächtiger
Nachhaltigkeit ist längst zu einem Schlagwort geworden. Skeptische Stimmen sehen darin einen Begriff, der alles und nichts bedeutet: Man kann nachhaltig wohnen, nachhaltig reisen, sich nachhaltig ernähren, es gibt nachhaltige Materialien, nachhaltige Technologien, nachhaltige Prozesse und nachhaltige Ideen. Über den inflationären Gebrauch des Worts mag man sich mokieren, doch er mindert nicht die Relevanz des Anliegens – geht es doch um nichts weniger als den Erhalt unserer Umwelt für künftige Generationen. Dass es eine enorme Bandbreite unterschiedlicher Arten der Nachhaltigkeit gibt, ist vielleicht weniger der Unschärfe des Begriffs geschuldet als vielmehr Ausdruck des dahinterstehenden ganzheitlichen Ansatzes: Die einzelne Massnahme bewirkt nicht viel, erst das Ineinandergreifen verschiedenster Ebenen von Nachhaltigkeit hat einen, nun ja, nachhaltigen Effekt.
Für dieses Neben- und Miteinander unterschiedlicher Dimensionen der Nachhaltigkeit bietet das HobelwerkAreal reichhaltiges Anschauungsmaterial. Und das soll es auch, gehört die Rolle als Innovations- und Lernplattform doch zum Gründungsauftrag der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›. Für B eni Rohrbach, der das Projekt als Leiter Forschung und Innovation bei ‹ Mehr als Wohnen › bis 2022 begleitet hat, ist es gerade die Integration verschiedenster Nachhaltigkeitsthemen, die das Hobelwerk auszeichnet – und die Möglichkeit, von den gesammelten Erkenntnissen zu lernen, auch dort, wo es Zielkonflikte gibt und Aushandlungen nötig sind siehe ‹ Extrem lehrreich ›, Seite 23
Von der Biodiversität zum Heimatgefühl
Tatsächlich spannt sich der Nachhaltigkeitsbogen im Hobelwerk vom Sozialraum über die Mobilität und die Biodiversität bis hin zum Bauprozess und der Gebäudetechnik. Dabei hängt ein Aspekt immer auch mit anderen Aspekten zusammen – sie ermöglichen und bedingen sich gegenseitig. Ein Beispiel dafür sind die Wildbienen, für die auf einer der zahlreichen Dachflächen ein Refugium eingerichtet wurde, in dem sie sich vermehren können. Zu den Wildbienen sollen sich Mauersegler, Eidechsen und andere Wildtierarten gesellen. Sie fördern zusammen mit den von Quartiergruppen gepflegten Gemüsegärten und den begrünten Fassaden die Biodiversität auf dem Areal, die wiederum die Grundlage ist für wichtige Ökosystemleis-
tungen. Die Bildung von Lebensräumen für Bestäuber und die biologische Regulierung von Schädlingen sind dabei die naheliegendsten Effekte, Wohlbefinden, Erholung und Heimatgefühl wissenschaftlich nachgewiesene Folgewirkungen für die Gesellschaft. In Zeiten steigender Temperaturen nicht unerheblich ist zudem der mikroklimatische Effekt, der mit einer biodiversen Aussenraumgestaltung einhergeht: Eine geringe Versiegelung und damit Sickerflächen, Regenwasserspeicherung und -verdunstung sowie natürlicher Schatten von Pflanzen und Bäumen tragen wesentlich zur Hitzeminderung auf dem Areal bei.
Synergien und Zielkonflikte
Dass das Hobelwerk-Areal dicht bewohnt ist, gleichzeitig aber als biodiverser Garten funktioniert, schlägt noch auf einer zweiten Ebene ökologisch zu Buche: Statt mit dem Auto in die Berge fahren zu müssen, finden die Bewohnerinnen den naturnahen und kühlen Erholungsund Betätigungsraum vor der Haustür. Ein weiterer wichtiger Pfeiler der Nachhaltigkeitsbestrebungen ist denn auch das Mobilitätskonzept des Hobelwerks: Wer hier wohnt, besitzt kein Auto – es sei denn, er sei aus gesundheitlichen oder beruflichen Gründen darauf angewiesen. In der Mobilitätsstation in Haus E können Cargobikes und Veloanhänger ausgeliehen werden, und auch ein Elektroauto steht zur Verfügung. Mit dem Bahnhof Oberwinterthur liegt die Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz zudem nur fünf Gehminuten entfernt.
Einer der wichtigsten Hebel zur Verminderung des Energieverbrauchs ist der Anspruch, die individuellen Wohnflächen tief zu halten. Der stark durchgrünte Aussenraum mit Gärten, begrünten Bereichen und Dachterrassen bildet zusammen mit der Hobelwerkhalle, dem Hobelwerkplatz und weiteren gemeinschaftlichen Räumen ein reichhaltiges Flächenangebot, das als Gegengewicht zur reduzierten privaten Wohnfläche funktioniert. Der kollektiv genutzte und unterhaltene Grünraum fördert den zwischenmenschlichen Austausch und die Biodiversität – ein Kreislauf der Nachhaltigkeit.
Verständlicherweise gibt es bei der Integration der verschiedenen Nachhaltigkeitsbestrebungen auch Zielkonflikte. Wie zum Beispiel soll ein Dach im Sinn der Nachhaltigkeit am besten genutzt werden ? Als geteilter
→
Landschaftsidyll vor Industriekulisse: Die gemeinschaftlich bestellten Gemüsegärten gehören zum partizipativen Gedanken der Landschaftsarchitektur.
Aussenraum mit hoher Aufenthaltsqualität, der private Balkone obsolet macht ? Als Grünfläche, die zu Bio diversität und Regenwasserretention beiträgt ? Oder als prädestinierter Ort für eine Photovoltaik-Anlage ? Die Menge und die Dimension der Dachflächen machten auf dem Hob elwerk-Areal ein Nebeneinander verschiedener Nutzungen möglich – ein Vorteil, den die integrale Entwicklung eines ganzen Quartiers mit sich bringt. Wobei das Nebeneinander im Hobelwerk manchmal auch ein Übereinander ist: Weil die Photovoltaik-Module nämlich höher als üblich aufgeständert werden, lässt sich die darunterliegende Dachfläche begrünen.
Vom Bund unterstützte Forschung
Welche Lösung oder welche Kombination von Lösungen ökologisch am sinnvollsten ist, lässt sich weder hier noch anderswo ohne Weiteres bestimmen. Sozialräumliche Effekte sind nur schwer quantifizierbar und in Energie- oder CO2-Werte zu übersetzen, und das Verhalten der Bewohner lässt sich kaum verlässlich prognostizieren. Aufschluss über die Wirksamkeit der verschiedenen Ansätze verspricht ein längerfristiges Nachhaltigkeitsmonitoring zu geben, wie es die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › auf dem Hunziker-Areal seit Jahren praktiziert und nun auch im Hobelwerk aufgegleist hat.
Derweil liefert das laufende Projekt ‹ Skalierbare Lösungen für den Weg zu Netto-Null ›, das vom Bunde samt für Energie ( BFE ) und vom Klimafonds der Stadt Winterthur unterstützt wird und 2027 abgeschlossen sein soll, erste Zahlen. Ausprobiert, beobachtet und evaluiert werden auf dem Hobelwerk-Areal zum einen zwei gebäudetechnische Innovationen: Die Wärmeversorgung läuft über Luft-Wasser-Wärmepumpen und ein bivalentes Heizsystem mit Wärmepumpe und Pellet-Holzheizung. Ein selbstlernender, prädiktiver Regler steuert die Wärmebereitstellung über das ganze Areal. Anhand realer Daten lernt er, sich laufend an Veränderungen anzupassen und die Wärmeversorgung entsprechend zu steuern. Zudem soll auch die Lüftung nachhaltiger werden: In den Häusern C, D und E wird eine neuartige CO2-gesteuerte Abluftanlage getestet und mit den herkömmlichen feuchtegesteuerten Abluftanlagen in den Häusern A und B verglichen.
Zwei weitere Arbeitspakete des BFE-Projekts widmen sich dem ressourcenschonenden und CO2-armen Bauen. Untersucht werden der Effekt eines CO2-optimierten Holzbaus beim Haus C siehe ‹ Begrüntes Regal für kleines Geld ›, Seite 16 und die Planung mit wiederverwendeten Bauteilen aus Abbruchobjekten beim Haus D siehe ‹ Re-Use-Wohnhaus in Weiss ›, Seite 17 Bei beiden Häusern steht die Frage im Zentrum, wie viel Treibhausgasemissionen und Energie in der Erstellung eingespart werden können. Beim Haus C geht es beispielsweise um die CO2-Emissionen, die bei der Anlieferung des Holzes anfallen, aber auch um die Frage, wie Holz so verbaut werden kann, dass es als Rohstoff erhalten bleibt. Ein Zwischenbericht des BFE-Projekts hält fest, dass durch den Wechsel vom ursprünglich vorgesehenen Massivbau zum Holzmodulbau jährlich 1,1 Kil ogramm Treibhausgasemissionen pro Quadratmeter eingespart werden konnten. Drei Optimierungsmassnahmen, die in Zusammenarbeit mit dem Holzbauunternehmen umgesetzt wurden – ein besonders schlanker Anhydrit-Unterlagsboden, Innenwände ohne Gipsbeplankung und die mehrheitliche Verwendung von Schweizer Holzprodukten – führten zu einer zusätzlichen Einsparung an Treibhausgasemissionen von 0,5 kg / m2a. Bei Erstellungsemissionen von insgesamt 5,9 kg / m2a ( ohne Gebäudetechnik ) sind das keine marginalen Beträge. Auch den Effekt der Verwendung von Re-Use-Bauteilen bei Haus D kann der
Zwischenbericht bereits beziffern: Die Erstellungsemissionen ( ohne Gebäudetechnik ) liegen mit 5,2 kg / m2a noch tiefer als beim Haus C, was auch durch den Verzicht auf ein Untergeschoss erreicht wird.
Nachhaltig und bezahlbar
Die Ergebnisse sind beachtlich. Dennoch: Sowohl Haus C als auch Haus D hätten noch emissionsärmer konzipiert und realisiert werden können – allerdings nur mit mehr Zeit und vor allem mehr Geld. Der eng gesetzte Kosten- und Zeitrahmen führte dazu, dass beim Haus D nur ein Teil der angestrebten Menge an Re-Use-Bauteilen beschafft werden konnte und beim Haus C der CO2-optimierte Holzbau weniger radikal ausfiel als ursprünglich angedacht. So sind das Erd- und das erste Obergeschoss betoniert, und die durchgehende Laubenschicht wurde nicht in Holz, sondern in Stahl und Beton ausgeführt.
Immerhin brachten die Abstriche bei der ökologischen Nachhaltigkeit ein Plus bei der sozialen Nachhaltigkeit mit sich: Trotz hohen Ansprüchen an Energie- und Treibhausgasreduktion kann die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › im Hobelwerk kostengünstigen Wohnraum anbieten – die Mieten in den Häusern C und D sind nicht höher, als sie es bei einem konventionellen Wohnungsbau wären. Damit zeigen die Häuser beispielhaft, was man sich als klimabewusste Genossenschaft leisten kann: emissionsarmes Bauen und Wohnen nicht in einem idealisierten Kontext, in dem Geld keine Rolle spielt, sondern bezahl- und lebbar für den durchschnittlichen Menschen. Oder im Duktus des BFE-Forschungsprojekts: « ohne S onderstatus ». Die Formulierung geht Hand in Hand mit dem Begriff « skalierbar »: Dass die im Hobelwerk erprobten Lösungen vom ‹ Courant normal › eines engen Kosten- und Zeitrahmens und dem Ziel bezahlbaren Wohnraums ausgehen, macht sie erst übertragbar auf Bauprojekte anderer Baugenossenschaften. So gesehen ist das integrale Nachhaltigkeitsexperiment auf dem Hobelwerk-Areal ein im besten Sinn nachhaltiges Unterfangen: Seine Erkenntnisse bereiten den Weg für ökologisch und sozial durchdachte Wohnsiedlungen der nächsten Generation. Dass auf dem « Weg zu Netto -Null » noch einige Etapp en zu gehen sind, tut seiner Beispielhaftigkeit keinen Abbruch.
Dass die erprobten Lösungen vom ‹ Courant normal › ausgehen, macht sie übertragbar auf andere Bauprojekte.
« Extrem lehrreich »
Martin Ménard und Beni Rohrbach zeichnen für vieles verantwortlich, was das Hobelwerk-Areal nachhaltig und innovativ macht. Im Gespräch blicken sie auf Herausforderungen und Learnings zurück.
Im Hobelwerk trifft man auf eine grosse Bandbreite von Nachhaltigkeitsansätzen – vom partizipativen Gemüsegarten bis zur CO2-gesteuerten Abluftanlage. Wie gut lassen sich solch unterschiedliche Massnahmen in Übereinstimmung bringen ?
Beni Rohrbach: Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Die Entwicklung eines ganzen Areals hat zwar den Vorteil, dass man diese verschiedenen Aspekte parallel angehen und zusammendenken kann, was im Optimalfall zu Synergien führt. Gleichzeitig muss man darauf achten, dass sich die Massnahmen nicht gegenseitig torpedieren. Es braucht viele Aushandlungen und eine laufende Reflexion der einzelnen Vorhaben, damit diese auch wirklich gewinnbringend ineinandergreifen.
Martin Ménard: Für die Wissenschaft stellt die parallele Erforschung unterschiedlicher Ansätze ein grosses Potenzial dar. Ein Setting wie im Hobelwerk, wo eine Baugenossenschaft innovative Themen vorantreibt und deren Evaluation aktiv unterstützt, ermöglicht es, die verschiedenen Konflikte und Trade-offs wissenschaftlich zu untersuchen. Nur so können wir herausfinden, wo das gesunde Mittelmass zwischen den einzelnen Bestrebungen liegt. Nehmen wir den Konflikt zwischen einer Begrünung der Dachfläche und der Installation von Photovoltaik: Bei den Häusern A, B und C hat sich die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › dazu entschieden, hoch aufgeständerte Photovoltaik-Module zu installieren, die mehr Bepflanzung zulassen. Diese Lösung führte aber zu Mehrkosten und höheren Emissionen in der Erstellung. Solche Widersprüche müssen wir gesamtgesellschaftlich aushandeln.
Beni Rohrbach: Die aufgeständerten Module s chlagen sich am Ende in den Mieten nieder. Aber was wäre die Alternative ? Wichtig ist es, die Zielkonflikte transparent zu machen und möglichst gut zu kommunizieren. Das ist der Zweck der Lernplattform, die ‹ Mehr als Wohnen › s ein will. Wird diese Lernplattform irgendwann zu konkreten Schlüssen kommen, sodass nicht nur Zielkonflikte benannt, sondern auch die besten Lösungswege aufgezeigt werden können ?
Martin Ménard: Das BFE-Projekt, das ich koordiniere, befasst sich mit der Erstellungs- und der Betriebsenergie von drei Häusern. Wir können also am Ende beziffern, welche Massnahmen wie viel bringen. Andere Untersuchungen kümmern sich um andere Aspekte: um den Aussenraum und das Mikroklima, um innovative Wohnformen oder um Partizipation. Wie diese verschiedenen Disziplinen in eine gemeinsame Schlussfolgerung integriert werden können, ist noch eine offene Frage. Aber wenn uns das gelingt, dann wissen wir in Zukunft, welche Weichen wir wie stellen können.
Mit dem Hobelwerk hat die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ein bestehendes Projekt übernommen und auf Innovation und Nachhaltigkeit getrimmt. Wie gross war die Herausforderung, die Bauprojekte in Zusammenarbeit mit den Architekten nochmals umzudenken ?
Beni Rohrbach: Das war für alle Seiten sehr herausfordernd, ab er auch extrem lehrreich. Beim Re-Use-Projekt Haus D beispielsweise ist das Baubüro In Situ erstmals nicht als Architektur-, sondern als Fachplanungsbüro aufgetreten. Das Projekt bot die Möglichkeit, diese neue Schnittstelle zu entwickeln – daraus ist dann das Fachplanungsbüro Zir-
kular für das Bauen im Kreislauf entstanden. Weil es diese Schnittstelle vorher nicht gab, waren Diskussionen unvermeidlich: Wer entscheidet, welche Bauteile beschafft werden sollen ? Wer s etzt die Fristen ? Wie gestaltet man den Informationsaustausch zwischen Fachplanungs- und Architekturbüro ? Vieles war anfangs unklar und hat sich erst im laufenden Prozess eingespielt.
Martin Ménard: Ein fertig geplantes Projekt noch einmal fundamental umzudenken, ist eine enorme Leistung und verdient grossen Respekt. Zwischenzeitlich hatte ich Bedenken, ob es funktionieren würde. Aber die Bereitschaft, sich zusammenzuraufen und gemeinsame Lösungen zu finden, war auf allen Seiten gross. Aus wissenschaftlicher Sicht bleibt der Wermutstropfen, dass wir nicht alles so radikal umsetzen konnten, wie wir es uns gewünscht hätten. Die vielen Kompromisse drücken quantitativ auf das Ergebnis.
Beni Rohrbach: Für uns als Baugenossenschaft ging es weniger um wissenschaftlich radikale Lösungen als vielmehr um Lösungen, die kostenmässig so attraktiv sind, dass sie von anderen Baugenossenschaften aufgenommen und wiederholt werden können. Lösungen, die mit bezahlbaren Mieten realisierbar sind und damit sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltig sind.
Martin Ménard: Dennoch bleibt als Fazit: Wer ein nachhaltiges Projekt realisieren will, fängt besser schon bei der strategischen Planung damit an. Wenn Themen wie Holzbau und Re-Use erst nach abgeschlossenem Wettbewerb hinzukommen, kann man ihr volles Potenzial nicht ausschöpfen, weil die Volumetrie, die Struktur und die Grundrisse bereits definiert sind.
Wurde auch der Aussenraum im Sinn der Nachhaltigkeit nochmals umgeplant ?
Beni Rohrbach: Der klug konzipierte Aussenraum war einer der Gründe, warum ‹ Mehr als Wohnen › das Hobelwerk inklusive Projekt gekauft hat. Die Landschaftsarchitektur von Studio Vulkan hatte bereits im ursprünglichen Projekt eine wichtige Rolle gespielt, und es gab viele gute Ansätze zur Schwammstadt und zur blau-grünen Infrastruktur.
Auf frühen Visualisierungen war aber noch mehr Asphalt und Beton zu sehen. Hier konnten wir unsere Learnings vom Hunziker-Areal einbringen: Wie viel versiegelte Fläche braucht es ? So wenig wie möglich !
Martin Ménard: Auch auf dem Hunziker-Areal hat man diesb ezüglich nachgebessert. Vor zehn Jahren waren Themen wie Schwammstadt und Hitzeminderung noch nicht so stark im Fokus. Heute scheint es selbstverständlich, von Anfang an darauf zu achten, den Aussenraum klimatisch günstig zu gestalten.
Wenn man das Hobelwerk mit Projekten von anderen nachhaltig planenden Genossenschaften vergleicht: Worin liegt seine Besonderheit ?
Beni Rohrbach: Ich will nicht behaupten, das Hob elwerk sei um Meilen progressiver als andere Projekte. Aber ein Alleinstellungsmerkmal ist sicher, dass wir nicht ein einzelnes Thema herausgegriffen haben, sondern uns parallel mit den unterschiedlichsten Dimensionen von Nachhaltigkeit auseinandergesetzt haben: mit innovativen Wohnformen, mit neuer Gebäudetechnik, mit dem Mikroklima, mit Re-Use – und immer auch mit den Kosten. Und dass wir auch damit leben können, dass nicht immer alles reibungslos zusammenspielt. Interview: Marcel Bächtiger ●
Beni Rohrbach und Martin Ménard Der Umweltwissenschaftler Beni Rohrbach war während der Realisierung des Hobelwerks als Leiter Forschung und Innovation bei der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › tätig.
Martin Ménard begleitete das Hobelwerk als Energie- und Innovationsberater. Beide sind sie Autoren des Forschungsprojekts ‹ Projekt Hobelwerk – Skalierbare Lösungen für den Weg zu Netto-Null › des Bunde samts für Energie ( BFE ).
Beat Fellmann
Beat Fellmann ist Partner bei der Beratungsfirma Casea, die auf Wohnkonzepte im Alter spezialisiert ist. Im Januar 2023 hat er das Vorstandspräsidium von ‹ Mehr als Wohnen › übernommen
Rahel Leugger
Die Biologin Rahel Leugger war Mitglied der Geschäftsleitung von Südhang Weine und Geschäftsführerin der Stadtoase Zürich, bevor sie im Mai 2024 zur neuen Geschäftsführerin von ‹ Mehr als Wohnen › gewählt wurde.
Das Hobelwerk-Areal zeigt: Die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ist nicht mehr dieselb e wie vor zehn Jahren. Rahel Leugger und Beat Fellmann wissen, wohin die Reise gehen soll.
Interview: Marcel Bächtiger
« Wir stehen nicht mehr auf der grünen Wiese » →
Fast zehn Jahre nach dem viel beachteten Hunziker-Areal hat die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ihr zweites Projekt fertiggestellt: das Hobelwerk-Areal in Oberwinterthur. Parallel dazu hat sich die Genossenschaft neu aufgestellt. Im Gespräch blicken die neue Geschäftsführerin
Rahel Leugger und der neue Vorstandspräsident Beat Fellmann auf die beiden realisierten Projekte – und in die Zukunft der Genossenschaft.
War schon immer klar, dass ‹ Mehr als Wohnen › sich nicht auf das Hunziker-Areal beschränken würde ?
Rahel Leugger: In der ‹ Strategie 2018 – 2020 › haben die damaligen Verantwortlichen das Ziel klar formuliert: ‹ Mehr als Wohnen › soll nachhaltig und innovativ weiterwachsen. Wir sind eine Baugenossenschaft, das Bauen ist Teil unseres Daseinszwecks. Und es gehört zu den übergeordneten
Aufgaben unserer Genossenschaft, Bauland der Spekulation zu entziehen. Mit dem Hobelwerk-Areal ergab sich die Gelegenheit, ein grosses Grundstück nicht nur im Baurecht zu übernehmen, sondern selbst zu erwerben.
Beat Fellmann: ‹ Mehr als Wohnen › hat bei der Gründung den Sonderauftrag erhalten, als Innovations- und Lernplattform zu dienen: Wir probieren Dinge aus, von denen andere Genossenschaften lernen können. Wir wollen unsere Erfahrungen aber auch selbst anwenden können, unsere Ideen weitertreiben, neue Experimente wagen – und da gibt es vor allem eines: eigene Areale entwickeln. Wenn Sie die beiden Projekte Hunziker-Areal und Hobelwerk vergleichen: Wo sehen Sie die hauptsächlichen Unterschiede ?
Beat Fellmann: Das Hunziker-Areal war das erste Projekt der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen ›, sie war fris ch gegründet und lebte von Ideen und Visionen. Was Innovation im genossenschaftlichen Wohnungsbau heisst, musste man erst herausfinden, gemeinsam definieren und dann konkret umsetzen. Auf dem Hobelwerk-Areal konnte auf dem gesammelten Wissen der letzten zehn Jahre aufgebaut werden. Heute stehen wir nicht mehr auf der grünen Wiese wie damals bei der Gründung. Hoffentlich auch !
Rahel Leugger: Beispielsweise konnten wir die Partizipationsformen, die sich auf dem Hunziker-Areal bewährt haben, auf das Hobelwerk übertragen. An beiden Orten gibt es eine Allmendkommission und Quartiergruppen, die
sich aus interessierten Bewohnerinnen zusammensetzen. Die Dimensionen der beiden Projekte sind allerdings sehr unterschiedlich. Das Hunziker-Areal ist gross und wie ein kleiner Stadtteil angelegt: Vieles, was man im täglichen Leben braucht, findet man vor Ort. Das Hobelwerk-Areal mit seinen fünf Häusern ist viel kleiner, das genossenschaftliche Zusammenleben überschaubarer.
Ist das Hobelwerk vielleicht auch einfach eine gewöhnliche Genossenschaftssiedlung ?
Beat Fellmann: Das mag von aussen betrachtet so scheinen, ist ab er nicht der Fall. Innovation und Experiment sind auch hier zentral, nur vielleicht etwas weniger sichtbar. Auf dem Hunziker-Areal spielten sozialräumliche Aspekte die Hauptrolle, im Hobelwerk stehen verstärkt Nachhaltigkeitsüberlegungen im Zentrum. Das ist auch hinsichtlich der Entstehungsgeschichte interessant: Wir haben ein bestehendes Projekt übernommen und dann sozusagen rückentwickelt, um aus einer konventionellen Wohnüberbauung ein ökologisch beispielhaftes Projekt zu machen. Auch die Frage nach zeitgenössischen Wohnformen haben wir weiterverfolgt. Das Micro-Co-Living etwa ist ein neues Konzept. Und die Optimierung der Wohnfläche ist eine ständige Herausforderung, gerade auch bei konventionellen Wohnungsgrundrissen.
Rahel Leugger: Das Hobelwerk ist eben nicht nur eine Genossenschaftssiedlung, sondern auch ein Forschungsprojekt. Gemeinsam mit dem Bundesamt für Energie ( BFE ) untersuchen wir hier mögliche Wege zu Netto-Null, sowohl was die Erstellung als auch den Betrieb angeht. Dabei geht es immer um skalierbare Lösungen: Unsere Erkenntnisse sollen zu Lösungen führen, die bei uns, aber auch andernorts übernommen und vervielfältigt werden können. Das Hobelwerk-Areal ist vollständig bezogen, die grossen gemeinschaftlichen Räume – der Hobelwerkplatz und die Hobelwerkhalle – sind aber noch nicht in einem partizipativen Prozess angeeignet. Wo steht die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › in Sachen Partizipation ?
Rahel Leugger: Tatsächlich war der Bereich Partizipation auf der Geschäftsstelle in den Monaten nach dem Bezug des Hobelwerks personell unterbesetzt. Es fehlte an Ressourcen, um die Prozesse zu unterstützen und die
Bewohner zu coachen. Unterdessen hat sich die Allmendkommission konstituiert, und es wurden verschiedene Quartiergruppen gegründet. Die Partizipationsprozesse sind etwas langsamer angelaufen als erhofft, nehmen nun aber Fahrt auf. Wir sehen auch, dass es weniger Unterstützung von offizieller Seite braucht als gedacht. Es finden Veranstaltungen statt, auf dem Platz treffen sich Bewohnerinnen, Kinder spielen, es ist lebendig hier !
Beat Fellmann: Dass noch nicht jeder Quadratmeter des Hob elwerk-Areals programmiert und vergeben ist, finde ich nicht schlimm. Und eigentlich sollten Partizipationsprozesse ja ohnehin nie ganz abgeschlossen sein. Die Formen der Mitwirkung müssen sich entwickeln können und kritisch hinterfragt werden. Auf dem Hunziker-Areal beobachten wir momentan, dass neue Generationen neue Ideen beisteuern. Im Hobelwerk ist alles noch frisch, es herrscht Aufbruchstimmung, die Bewohner haben Lust, sich einzubringen.
Rahel Leugger: Das Wissen über partizipative Prozesse ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die meisten Menschen, die im Hobelwerk wohnen, wollen nicht nur mitwirken, sie wissen auch, wie das geht. Sie haben in anderen Kontexten bereits Workshops organisiert und Protokolle geschrieben. Für uns als Geschäftsstelle geht es also auch darum herauszufinden, wie viel Coaching es überhaupt braucht und wie viel aus sich selbst heraus entstehen kann. Wichtig ist, am Anfang zusammenzusitzen und die rechtlichen und die finanziellen Rahmenbedingungen zu kommunizieren. Innerhalb dieses Rahmens möchten wir den grösstmöglichen Freiraum gewähren. Wenn man ständig sagen muss, dies geht nicht und jenes ist nicht erlaubt, führt Partizipation nur zu Frustration.
Bei der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ist vieles im Umbruch. Rahel Leugger, Sie sind seit Mai im Amt, Beat Fellmann seit vergangenen Dezember. Ist durch die vielen personellen Wechsel nicht auch viel Wissen und Erfahrung verloren gegangen ?
Beat Fellmann: Die personellen Wechsel gab es, und sie wurden auch viel diskutiert. Jede Organisation erreicht nach einer gewissen Zeit eine Reifephase, in der die Gründungsmitglieder sich neu orientieren und durch neue Personen ersetzt werden. Das ist nichts Schlechtes. Sicher geht einiges verloren, aber es kommt auch viel Neues dazu. Ist ‹ Mehr als Wohnen › heute eine andere Genossenschaft als vor zehn Jahren ?
Beat Fellmann: Als Nachfolgegeneration müssen wir unsere eigene Interpretation der Ursprungsidee finden. 17 Jahre nach der Gründung sind andere Themen wichtig als zu Beginn. Auf dem Hunziker-Areal sind nicht mehr alle Erstbewohner. Und auch wer seit Beginn dort wohnt, hat heute möglicherweise andere Prioritäten als damals. Wir stehen nicht nur für Innovation und Experiment, sondern sind auch den Bedürfnissen der Bewohnerinnen verpflichtet. Sie haben ein Anrecht darauf, gut und günstig in unseren Siedlungen zu leben, und sind vielleicht nicht in erster Linie daran interessiert, über neue Projekte nachzudenken. Ausserdem haben sie sich finanziell an der Genossenschaft beteiligt ; sie muss also prosperieren. Diesen unterschiedlichen Ansprüchen müssen wir heute wahrscheinlich stärker gerecht werden als in der Pionierzeit.
Rahel Leugger: Die Verantwortung gegenüber den bestehenden Bewohnern ist wichtig – und sie weist nicht nur aus finanziellen Überlegungen Richtung Wachstum. Meine Vision ist, dass man über verschiedene Lebensphasen hinweg in unserer Genossenschaft wohnen kann – nicht in derselben Wohnung, sondern in einer jeweils passenden Wohnform. Für dieses Fernziel brauchen wir genügend unterschiedliche Typologien und damit mehr Volumen.
Womit wir bei der Thurgauerstrasse angelangt wären.
Rahel Leugger: Richtig. An der Thurgauerstrasse in ZürichLeutschenbach plant die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ihr drittes Projekt. Wir haben uns gemeinsam mit der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich ( ABZ ) und der Wohnbaugenossenschaft Grubenacker ( WBG G ) für das Teilgebiet C des städtischen Entwicklungsgebiets beworben und zu unserer Freude den Zuschlag bekommen. Die Wohnungen sollen ab 2031 bezogen werden.
Beat Fellmann: Spannend ist für uns die Frage, wie wir unser Wissen und unseren Innovationsanspruch in dieser Konstellation einbringen können. Sicher werden wir vieles anwenden können, was wir auf dem Hunziker-Areal und im Hobelwerk erprobt und über das BFE-Forschungsprojekt herausgefunden haben. Interessant ist auch der Transformationsprozess, den wir gemeinsam mit der WBGG anstreben. Die WBGG ist ein Zusammenschluss von Bewohnern des benachbarten Grundstücks an der Grubenackerstrasse, mehrheitlich Besitzer von Einfamilienhäusern. Die Idee ist, dass wir den Menschen, die ihr Haus gegen eine kleinere, altersgerechte Wohnung eintauschen möchten, passenden Wohnraum zur Verfügung stellen können. So könnte auch auf dem Grundstück der WBGG längerfristig gemeinnütziger Wohnraum entstehen. Fraglos ein herausfordernder Ansatz. Aber wir glauben, dass es Möglichkeiten gibt. Und diese loten wir jetzt aus.
Unterdessen gibt es viele progressive Genossenschaften, die Cluster-Wohnungen anbieten oder sich Aspekten der Nachhaltigkeit verpflichtet sehen. Wie definieren Sie die Rolle der Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › in diesem Umfeld ?
Rahel Leugger: Uns wird es auch weiterhin um Innovationen im Bereich des Wohnens und des Zusammenlebens gehen, um die Frage, wie sich individuelle Bedürfnisse, ökonomische Bedingungen und gesellschaftliche Ideale austarieren lassen. Das sind kontinuierliche Entwicklungen. Auch die Cluster-Wohnung war ja keine Neuerfindung, sondern die zeitgenössische Umsetzung der Wohngemeinschaft, die es schon früher gab – einfach mit mehr Privatsphäre und eigenem Bad. Das Micro-Co-Living ist nun wiederum die Weiterentwicklung der Cluster-Idee – die Folge unserer Beobachtung, dass manche Menschen auch in einem kollektiven Haushalt das Bedürfnis nach mehr Rückzugsmöglichkeiten haben. Dass die einen häufiger in Gemeinschaftsräumen sitzen wollen und andere die beste Freundin nicht immer in der Grossküche treffen möchten. Oder dass man ab einem gewissen Alter das Angebot einer eigenen Nasszelle wieder mehr schätzt. Erkenntnisprozesse wie diese sind nie abgeschlossen, sie wandeln sich mit der sich verändernden Gesellschaft. Beat Fellmann: Es geht uns ganz grundsätzlich um die Frage, wie Menschen auf neuartige Weise attraktiv zusammenleben können, beispielsweise vor dem Hintergrund eines abnehmenden individuellen Flächenverbrauchs. Ich bin sicher, dass noch genügend gesellschaftspolitische und ökologische Fragestellungen auf uns zukommen werden, die nach innovativen Lösungen verlangen. ●
Abendstimmung in der zentralen Gasse zwischen den neuen Häusern und den alten Industriebauten.
Lernen vom Hobelwerk
Wo früher Holz gesägt wurde, wird heute gelebt. Mit dem Hobelwerk-Areal ist in Oberwinterthur ein kleines, charakteristisches Quartier aus Wohnbauten, Industriezeugen und Grünräumen entstanden. Dabei verfolgte die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › ambitionierte Ziele, was Nachhaltigkeit, Partizipation und alternative Wohnformen betrifft. Das Themenheft dokumentiert die Geschichte des Areals, präsentiert und kommentiert die verschiedenen Architekturprojekte und beleuchtet die Ansätze zum emissionsarmen Bauen, zur Biodiversität und zur Mitwirkung der Menschen im Hobelwerk. Die Baugenossenschaft ‹ Mehr als Wohnen › geht auf das 100-Jahr-Jubiläum des gemeinnützigen Wohnungsbaus in Zürich im Jahr 2007 zurück. Ihre Projekte sind Ausdruck des Gründungsauftrags, eine Innovationsund Lernplattform zu sein, von der auch andere gemeinnützige Bauträgerschaften profitieren. www.hochparterre.ch / hobelwerk
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