Das Dorf, das Grün, die Planung

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Themenheft von Hochparterre, August 2016

Das Dorf, das Grün, die Planung

Eine Geschichte der Raumplanung von Malans in der Bündner Herrschaft. Und ein Plan von Gion A. Caminada, wie sie weitergehen soll.

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Das Haus Anhorn mit langsam ausbleichendem Putz, angeschnitten ein Patrizierhaus mit Engadiner Ecklaufmustern und auf der Gasse die Hunde Fix und Foxi.

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Inhalt

Editorial

4 Fadärablick Über das Dorf und seine Raumgeschichte – ein Überblick.

6 Einzonen, umzonen, grünzonen Über den Kampf für fünf Grünzonen – ein Gespräch.

12 Alte Dichte, alte Perlen Über die Renovation einer Häuserzeile.

14 Auf nach ‹ Ägypten › Über die Umnutzung alter Ställe.

16 Aus dem Regelbuch des Bauens Architekt Gion A. Caminada skizziert ein Ensemble im Dorfkern.

22 Am Schermen Über die Grenzen der Verdichtung im Dorfkern.

24 Fertig Most, adieu Hochstammbaum Über den Niedergang des Obstbaums.

2 6 Miteinander im Einfamilienhausglück Über das Ensemble als Antwort auf die Zersiedelung.

2 8 No Man’s Land Über einen Bahnhof, den der Tiefbau und das Auto zerstört haben.

3 0 Pendler, Wein, Künste Über das Arbeiten im Dorf.

Malans zum Beispiel Malans ist ein Dorf im Graubündner Rheintal mit einem geschichtsträchtigen Kern, mit Baum- und Weingärten, die bis weit in den Dorfkern reichen. Darunter zehn Hektaren Grünzone – sie sind ein landschaftliches Juwel. Eine kleine Gruppe in Landschaft und Planung engagierter Männer hat dafür in den 1970er- und 1980er-Jahren Planungs- und Landschaftspolitik gemacht. Zuerst gegen den Gemeinderat und dann mit ihm, mit Initiativen und mit Öffentlichkeitsarbeit, gegen die Baulobby und mit den Landbesitzern und der Bevölkerung. Und immer mit derselben Geschichte: Die Grünzonen sind das Beste, das wir haben. Fünfzig Jahre später erzählt dieses Themenheft von Hochparterre diese Planungsgeschichte. Es zeigt auch, wie Bauherren und Architekten mit Gärten, mit Hausrenovationen, mit Propa­ganda für Baukultur und mit Neubauten starke Orte gebaut haben, und es besucht die Tränen der Architektur. Das Heft stellt schliesslich vor, wie der Architekt Gion A. Caminada den Weiterbau des Dorfkerns von Malans entwirft – als Ensemble, in dem Bauten nicht einsam herumstehen, sondern Beziehungen stiften und Differenzen stärken. Ich danke Josua Studach. Er ist einer der Pioniere der Malanser Landschaft. Er hat dieses Themenheft angeregt, damit gezeigt werde, dass Planung nie vom Himmel fällt, sondern erstritten und verteidigt werden muss. Und zwar dort, wo die Menschen leben – im Dorf oder im Quartier der Stadt. Ich danke Ralph Feiner, dem Fotografen, er wohnt in Malans. Und ich danke Susanne Krättli, der Gemeindepräsidentin, die dieses Heft ermuntert und es mit ermöglicht hat – ein Heft über das Dorf, in dem ich als Bub und Jüngling glücklich war.  Köbi Gantenbein

Umschlagbild vorne: Die Häuserzeile Oberdorf steht an der Grünzone Scadena. Umschlagbild hinten: Malans – das Postkartenbild mit Hochstammobstbäumen.

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon 044 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor  Köbi Gantenbein  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Idee  Josua Studach und Köbi Gantenbein  Konzept, Redaktion und alle Texte  Köbi Gantenbein  Fotografie  Ralph Feiner  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Barbara Schrag  Produktion  René Hornung  Korrektorat Dominik Süess, Lorena Nipkow  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Somedia Production, Chur Herausgeber  Hochparterre AG, Zürich  Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—

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Malans von der Aussichtskanzel zum Fadära. Ein alter Kern, neue Einfamilienhausquartiere und fünf grosse Grünzonen, die bis in die Mitte des Dorfs reichen.

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Fadärablick

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Aussichtskanzel am Weg aufwärts zum Fadära. Er heisst Salisweg, benannt ist er nach Johann Gaudenz von SalisSeewis ( 1762 – 1834 ), dem Spross einer der Patrizierfamilien, die nach einem Dorfbrand in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Dorf in kurzer Zeit als barocken Residenzort wieder aufbauten. Paläste mit steilen Dächern haben sie mit Nebenhäusern, Ställen, Baumgärten, Vorplätzen und Brunnen zu machtglitzernden Ensembles geordnet. Von Salis war Soldat und Dichter, Franz Schubert vertonte seine Herzschmerztexte. Er kam im Bothmar, dem zweiflügligen Schloss mit Barockgarten, Gärtnerhaus, Stallungen, Landwirtschaft und Rebbergen, zur Welt und war ein für die Gemeinde und die republikanische Sache engagierter Politiker. Seine Nachfahren leben heute noch dort. Es ist auch ihr grosses Verdienst, dass die grünen Flächen, die bis weit in den Dorfkern reichen, heute geschützte Grünzonen sind. Andere Patrizierfamilien sind nach und nach untergegangen: weggefegt von Napoleons Republik ; ausgekauft von wohlhabend gewordenen Bauern und Händlern ; verschwunden auch, weil sie ihre Ämter und Güter im Untertanenland Veltlin verloren haben und weil keine Nachfrage nach Kriegshandwerk mehr bestand. Die Baukultur der Planta, Guler, Schmid und so weiter hat die Familien weit überdauert. Und als gelungen loben wir Heutigen, was Macht- und Herrschaftssitz einst war, gebaut mit Geld, das Untertanen hergeben mussten. Von der Aussichtskanzel aus sehen wir, nach welchen Prinzipien dreihundert Jahre später das stabile, starke und sternförmige Dorfmuster weitergebaut worden ist. Die bäuerliche Gesellschaft war auf engem Raum in Alt-­ Malans vielfältig voneinander abhängig. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Parzellierung von Wiesen. Aus dem Landwirtschafts- wurde ein Wohndorf. Parzelle steht an Parzelle, nicht gedacht für ein Ensemble, sondern nur für jeweils ein Gebäude. Freien Raum gibt es als Stras­sen, als Abstandsgrün, als Gärten oder als noch nicht bebautes Land. Die Parzellen von Neu-Malans sind in einem Bogen um den Kern gelegt. Er endet in zwei Häuserhaufen. Am Waldrand in den teuren Lagen mit Fernblick übers Rheintal und in den günstigeren Lagen der Ebene, dort wo das Dorf in die Acker- und Wiesenlandschaft übergeht. Raumbildend ist die Sonne. Der grosse Bogen, den sie über Malans zieht, bestimmt die Formation der Häuser in Neu-Malans. Sonnenwärts sitzen sie locker auf Reihen. Die alten Häuser drängen sich im Kern. Ihre Bewohner hatten genügend Sonne von der Arbeit im Feld und rückten nah zusammen, denn der Boden war knapp, die Tal­ ebene bis ins 19. Jahrhundert Schwemmland des Flusses aus dem Prättigau und des Rheins. Nach und nach werden die Parzellen in Neu-Malans zugebaut. Das Gegenstück zu deren Auffüllung und zum dichten Kern sind fünf grosse, grüne Räume: 1 Markstaller, 2 Küng / Ratschelga, 3 Under Bongert, 4 Scadena und 5 Both­mar / Iseppi. Vor Bebauung geschützt sind sie die landschaftlichen Juwelen von Malans und seine raumplanerische Errungenschaft. Sie machen mit fast zehn Hektaren einen Fünftel der besiedelten Fläche aus.

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Die fünf Grünzonen 1 Markstaller 2 Küng / Ratschelga 3 Under Bongert 4 Scadena 5 Bothmar / Iseppi

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Einzonen, umzonen, grünzonen Bild und Substanz der Malanser Landschaft sind fünf grosse Grünzonen mitten im Dorf. Drei Männer erzählen, wie die Bauzone schrumpfte und die Natur erhalten bleiben konnte. Gesprächsleitung: Köbi Gantenbein

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Im Gewölbe eines Patrizierhauses sitzen Gody Clavadetscher, Peter Wegelin und Josua Studach am Tisch. Die drei haben als Landschaftsschützer, als Bauer, als Raumplaner, als Gemeinderat und als Bodenbesitzer die Malanser Ortsplanung mitgeprägt. Clavadetscher und Studach seit über fünfzig Jahren, der jüngere Wegelin kam als Aktivist einer Initiative, die viel in Bewegung setzte, später dazu. Sie erzählen die jüngere Raumgeschichte des Dorfs. Josua Studach:  Graubünden erhielt 1894 ein kantonales Baugesetz, das den Gemeinden erlaubte, « im Interesse der Feuer- und Gesundheitspolizei sowie des Verkehrs und der Verschönerung der Ortschaften » kommunale Bauordnungen zu erlassen. Normalerweise wurde aber einfach gebaut, nur vierzig Gemeinden hatten eine Bauordnung. 1964 revidierte der Kanton sein Gesetz. Etwa zwanzig Gemeinden arbeiteten Zonenpläne und darauf abgestimmte Baugesetze aus. Das tat auch Malans.

Gody Clavadetscher: Das erste Baugesetz trug dem Malan­ ser Dorfkern Sorge und schuf 67 Hektaren Bauzonen, die weit in die besten Reblagen ausgriffen. Das war etwa zehnmal so viel Fläche wie der Ortskern. Man konnte zudem auch ausserhalb der Bauzonen mit einer Ausnützungsziffer von nur 0,15 bauen. Josua Studach: Das war der Zeitgeist in den 1960er-Jahren. Während aber das Wachstum und die Zersiedelung zum Beispiel den Zürichsee rasant veränderten, ging es bei uns gemächlicher zu. Die Malanser Bevölkerung war in den zweihundert Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg nur um gut sechshundert Personen gewachsen und blieb bis in die 1960er-Jahre stabil bei gut 1300 Einwohnerinnen und Einwohnern. Doch dann erreichte der Trend zum grossflächigeren Wohnen auch Malans. Vermögende Bewohner zogen zu und bauten Einfamilienhäuser in lockerer Art. Peter Wegelin: Die Zersiedelung hat nicht nur uns Bauern bedrängt. Es waren so viele Menschen schweizweit unzufrieden, dass 1969 endlich ein Artikel in die Bundesverfassung kam, der den Bund beauftragte, für eine « zweckmässige Nutzung des Bodens und eine geordnete →

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Küng und Ratschelga 2, angrenzend an die Kirche und umgeben von dichter Bebauung, ist mit vier Hektaren die grösste Grünzone und das landschaftliche Juwel von Malans. Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Einzonen, umzonen, grünzonen

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Schloss Bothmar, Sitz der Familie von Salis, in der Grünzone Iseppi 5. Vor dem Schloss liegt die 1,8 Hektaren grosse Grünzone Scadena 4.

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Unterdorf: Parzelle um Parzelle wird zugebaut.

In der Bildmitte das grosse, graue Haus Schmid, rechts davon das Bäckerhaus mit Ställen. Die Grünzone Under Bongert 3 mit knapp einer Hektare ist der Weinberg dieses Ensembles.

Torkel in der Grünzone ? Malanser Konsens ist: Die Grünzonen werden nicht überbaut. Das Baugesetz erlaubt aber ‹ Kleinbauten › und ‹ land­ wirtschaftliche Ökonomiebauten ›, wenn sie zu einem in der angrenzenden Bau­zone stehenden Betrieb gehören. Der Winzer Georg Fromm will mit Peter Zumthor als Architekt seinen Wein­bau­betrieb in der Grünzone Ratschelga erweitern und ersetzt dabei eine be­ stehende Remise. Gegen das von der

Gemeinde bewilligte Projekt gibt es Ein­ sprachen. Der Bau werde der grösste Torkel im Dorf und bräuchte den Ausbau einer bestehenden Fahrspur zu einem 160 m langen Schotterrasenweg. Befürch­ tet wird auch eine künftige Nutzung als Gastwirtschaft. Die Einsprecher wollen, dass auch Winzer ihre Betriebe in Bau- und nicht in Grünzonen erweitern, was hier gut möglich wäre. Sie meinen, dass auch ein herausragender Architekt eine Grün­ zone schwäche, wenn in ihr gebaut werde.

Kuona: Haus um Haus wird der Dorfrand befestigt.

Törliweg: Verdichtungsdruck setzt Wingerten zu.

Privilegiertes Wohnen am Rand der Grünzone Markstaller 1. Sie ist knapp eine Hektare gross.

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→ Besiedelung » zu sorgen. Sowohl der Kanton Graubünden als auch der Kreis Maienfeld, zu dem Malans gehört, stimmte dem Raumplanungsartikel zu. Gody Clavadetscher:  Die attraktiven Wohnlagen von Malans sorgten dafür, dass die Spekulation mit Boden in Fahrt kam. Bodenverkäufer, Treuhänder und Gewerbler wehrten sich gegen die Raumplanung und die Einsicht, dass die Bauzonen viel zu gross waren. Josua Studach: Anlass zum Aufstand war 1969 ein Bodengeschäft der Gemeinde, die ein Paket von Landverkäufen im Tausch gegen ein Planta-Haus eingefädelt hatte, wohl wissend, dass damit mitten auf der grünen Wiese am Wald­rand eine Villa gebaut werden würde. Die Gemeindeversammlung genehmigte das Geschäft zwar, aber an der nächsten Wahlversammlung forderte einer von uns, dass der Gemeinderat abgewählt werden müsse. Das geschah natürlich nicht. Dafür wurde ein Vertreter des Gewerbes Gemeindepräsident. Peter Wegelin: Ich war damals noch jung und weiss nur aus Schilderungen, dass dieses Bauprojekt die Malanser Raumplanungsdebatte lanciert hat. Josua und seine Kollegen schrieben Einsprachen gegen das Baugesuch und versuchten, dem Bauherrn die Wasserzuleitung zu verbieten. Der Gemeindevorstand wies alles ab. Aber viele waren erwacht, denn sie fürchteten, dass dem Bauen in den Reben Tür und Tor geöffnet würde. Gody Clavadetscher:  Man wirbt bis heute mit ‹ Wohnen in den Reben ›. Mir hat daran gefallen, dass es für dieses Wohnen immerhin auch Reben brauchen wird. Josua Studach: Wir luden zu Informationsveranstaltungen ein, organisierten eine Pressefahrt, gründeten einen Verein, in dem neben uns jungen Landschaftsschützern auch gestandene Bürgerliche wie Brigadier Walter Gemsch mitwirkten. Der Gemeinderat warnte: « Wünschen Sie eine totale Bausperre mit allen Folgen, zum Beispiel der Einstellung begonnener Bauten, mit der Möglichkeit, Forderungen wegen der Teuerung übernehmen zu müssen, und Rechtshändel auf Ihre Kosten ? » Das Klima war gehässig. Peter Wegelin: Der Gemeindevorstand fuhr auf zwei Schienen weiter. Auf der einen nahm er sich vor, eine neue Ortsplanung aufzugleisen. Auf der anderen bewilligte er neue Bauten im ‹ übrigen Gemeindegebiet › und wollte möglichst viel als Bauzone sichern. Deshalb lancierten wir eine Initiative, die verlangte, dass ein grosses Stück Rebland auszuzonen sei. Gut die Hälfte der Stimmbürger unterzeichnete das Begehren. Gody Clavadetscher:  Wir beherrschten das politische Handwerk aber schlecht. Der Gemeinderat mobilisierte gut, wir vergassen das und haben verloren. Josua Studach: Die ‹ neue Ortsplanung › hatte zwei Themen. Erstens wurden die bestehenden Bauzonen gutgeheissen, und wer Bauabsichten hatte, dessen Land wurde noch eingezont. Zweitens gab es aber Besitzer, die ihr Land entschädigungslos in eine Grünzone gaben. Das sind die gros­s en Baumgärten und Rebberge, die heute die Sub­ stanz und das Bild des Dorfs ausmachen. Gody Clavadetscher: Der Küng zum Beispiel ist der Weinberg oberhalb der Kirche. Er ist mit 2,6 Hektaren die grösste Rebparzelle von Malans und gehört der Familie Salis-Soglio. Das war Bauland an bester Lage und seit 1949 gepachtetes Rebland unserer Familie. Eines Tages fasste ich Mut und klopfte zusammen mit Oswald Janggen ans Tor des Schlosses Bothmar. Marguerite von Salis-Soglio führte uns in den Rittersaal. Wir hatten saubere Hemden an, rochen dennoch nach Stall und baten sie, ihre fast drei Hektaren des Küng vor der Bebauung zu schützen und in die Grünzone zu geben. Sie hat sofort zugestimmt, und ihr Anwalt hat das Nötige in die Wege gelei-

tet. Andere Familien zogen mit, sodass über fünf Hektaren Grünzone gesichert werden konnten. Auch die Gemeinde stellte ein Stück Land am Waldrand in die Grünzone. Peter Wegelin:  Der Gemeinderat nutzte 1977 die Grosszügigkeit der Grundbesitzer und rechtfertigte damit den Ausbau der Bauzone. Sein Ziel war, Malans als Wohnort für 5000 Menschen zu rüsten – wir waren damals etwas über 1300. Die Bevölkerung nahm aber nie im geplanten Mass zu. Neu-Malans wurde mit Häusern bloss locker bebaut. Josua Studach: Dennoch – die Sensibilität für sorgfältigen Umgang mit dem Land war schon lange kein Anliegen mehr von Bauern und Weinbauern allein. 1980 wurden mit dem Raumplanungsgesetz des Bundes die Grundlagen gestärkt. Der Kanton Graubünden hatte mittlerweile viel Wissen in Raumplanungsfragen, und es gab dafür auch den politischen Willen. Die Gemeinden wurden aufgefordert, die viel zu grossen Bauzonen zu reduzieren. Und in Malans wirkte nun ein Vorstand, der immer wieder mit uns Landschaftsschützern zusammenarbeitete. Unsere Freunde arbeiteten in Kommissionen mit und wurden in den Gemeinderat gewählt. Gody Clavadetscher:  Mit dem Zonenplan von 1988 gelang es, weitere 15 Hektaren Reb- und Kulturland aus der Bauzone zu nehmen. Gut 6,5 Hektaren schlug der Gemeinderat vor, und weitere 8,5 Hektaren wurden an der Gemeindeversammlung auf Anträge von Dorfarzt Christoph Meier und Landschaftsarchitekt Lieni Wegelin aus der Bauzone entlassen. Schöne Rebberge waren nun Landwirtschaftszone. Entschädigungen gab es keine, und fast keine Rekurse wurden gutgeheissen. Auch verschoben weitere Grundeigentümer noch zwei Hektaren in die Grünzonen, die nun fast 7,5 Hektaren massen. Wobei ich als Bauer anfügen will, dass diese Grünzonen für uns nicht nur schön, sondern auch wichtig sind – es ist beste Reblage. Und man darf ruhig sagen, dass Land in der Grün- oder Landwirtschaftszone erheblich weniger Steuern kostet. Peter Wegelin: Wir waren und sind keineswegs gegen die wirtschaftliche Entwicklung des Dorfs. Auch der Zonenplan von 1988 bietet Platz für 1400 zusätzliche Einwohner. Und die Grünzonen sind ein grosser Wert, nicht nur für uns Weinbauern, sondern auch für das Dorf. Auch die Besitzer des Baulandes, das an Grünzonen grenzt, wissen, was sie damit haben. Mehrwert mussten sie nie abgeben. Josua Studach: Die nun über dreissig Jahre alte Zonenordnung hat sich bewährt. Wir haben etwas erreicht. Der Gemeinderat zieht seither am selben Strick. Das Motto heisst: Keine neuen Einzonungen. So geschah es denn auch. Bis auf die Gärtnereien, deren Grundstücke wurden noch umgezont und nach und nach überbaut. Immerhin hat man bei den letzten zwei Umzonungen erstmals Mehrwert aus Planungsgewinnen abgeschöpft. Gody Clavadetscher: Rückblickend bin ich zufrieden. Es ist gut, wie es nun ist. Ich warne aber davor zu denken, die Dorflandschaft bleibe selbstverständlich so. Man muss wachsam sein. Und ich bin bekümmert, dass sich die jüngere Generation nicht für die Planung interessiert. Josua Studach: Neue Grünzonen aus bisherigem Bauland wird es kaum mehr geben. Der Quadratmeter Land kostet mittlerweile bis zu 1200 Franken. Und wird ein Rebberg in der Bauzone mit Eigentumswohnungen überbaut, gibt das zwar einen Aufstand unter den Anwohnern, aber der nützt nichts. Statt neuer Einzonungen ist nun im Dorf die Innen- und Nachverdichtung Trumpf. Das ist sinnvoll und ein grosser Schritt, wenn ich an die 1960er-Jahre zurückdenke. Aber die Gemeinden wissen nicht, was das heisst. Auch Malans muss da an die Arbeit und auf die Verdichtung mit der Forderung ‹ Qualität der Architektur › antworten. Wie das geht ? Da tappen wir alle noch im Nebel.

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Gody Clavadetscher, * 1942 ist Bauer und Weinbauer. Er ist zusammen mit seiner Frau Annemarie ein Pionier der Bio-Landwirtschaft. Heute führen seine Söhne den Betrieb. Er war lange Jahre Mitglied der Kommis­ sion, die den Zonenplan beriet, und sass im Ge­ meinde- und im Bürgerrat.

Peter Wegelin, * 1952 ist der Winzer des Wein­guts Scadena und produziert vielfach ausgezeichneten Pinot Noir und andere Sorten. Er engagierte sich für die Auszonungsinitiative ‹ Untere Bongertrechti ›.

Josua Studach, * 1937 studierte Forstingenieur und Raumplanung. Er war einer der ersten Raum­ planer Grau­bündens und führte viele Jahre das Büro Stauffer & Studach. Er ist seit den Anfängen der Ortsplanung als Land­ schaftsschützer engagiert.

Zur Ortsplanung gibt es eine Broschüre: ‹ Malans – Die Geschichte der Bemühungen, ein Weinbaudorf zu erhalten ›. Erhältlich bei josua.studach @ sunrise.ch

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Die städtisch anmutende Tobelgasse war einst eine deutsche Reichsstrasse. Sie konnte ihre Geschichte und räumliche Diversität mit Renovationen bewahren.

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Alte Dichte, alte Perlen

Die dichte Zeile an der Alten Reichsstrasse.

Das Haus Amstein steht wie alle an der Strasse und ist so Haus und Strassenraum.

Tell war ein Bauer mit weissem Bart und Tabakpfeife. Sein Bauernhaus lag hinter dem Alten Spital an einer Gasse grosser und kleiner Ställe. Wo Tells Haus und Hof einst den Strassenraum festigten, sperrt nun eine Tiefgarage ihr Maul auf. Ein Ersatzneubau dank besonderer Lage mit besonderer Ausnutzung. Zwar haben darin hundert Tellen Platz, die Substanz, die Bilder, die Geschichten aber sind in Dutzendarchitektur verschwunden. Als Gegenbild die Tobelgasse. Ein zusammenhängen­ der Bestand ist während der letzten zwanzig Jahre erneu­ ert worden. Die Tobelgasse und deren Fortsetzung, die Sternengasse, waren, neben den Ensembles der aristo­ kratischen Familien, das Malanser Kräftefeld. Dank po­ litischer Bestimmung und dank verkehrlicher Gunst war das Dorf bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ein überre­ gional bedeutender Marktplatz. Ein Teil des Warentrans­ ports vom Deutschen Reich über die Bündner Pässe nach Italien und zurück rumpelte über die Alte Reichsstrasse durchs Tobel. Malans war Ruhe- und Umschlagplatz. Über Jahrhunderte übernachteten hier die Fuhrleute. Malanser handelten mit Weizen, Salz, Kaffee, Zucker – und mit eige­ nem Wein. Es gab Lagerhäuser, Apotheken, seit 1788 die Buchdruckerei Berthold, einen Goldschmied, zahlreiche Wirtschaften und eine Badeanstalt. Doch 1864 fand der letzte Markt statt. Die Rhätische Bahn und die Kantons­ strasse beendeten die Verkehrsgunst. Zurückgeblieben ist ein kleines, städtisch anmuten­ des Quartier – der Gasse nach gereiht hohe Häuser, am Marktplatz aus Stein, dann zu Strickbauten wechselnd, mehrgeschossig, mit Stall- und Torkelbauten im Hinter­ hof – hier standen einst die Weinpressen. Heute sind sie zu Wohnungen umgenutzt. Jedes Haus ein eigensinniges Volumen, aneinandergefügt, getrennt von Gassen, auslau­ fend in Hinterhöfe. Bauherren, Handwerker und Restau­ ratorinnen haben Anbauten wie mehrgeschossige Lauben und überkragende Veranden komfortabel nützlich ge­ macht. Sie haben Holzkonstruktionen ergänzt, alte Farben an den Fassaden – Rosa, Blauviolett – hervorgeholt. Einzel­ ne haben kühne Fenster eingefügt, andere beim Pflästern der Höfe den falschen Griff getan – dem starken Ensemble kann das wenig anhaben. Warum gelang es dem Tobel, nicht aber dem Alten Spital, in die neue Zeit zu kommen ? Drei Gründe: Erstens ist Diversität nicht nur für die Blumenwiese, sondern auch für das Eigentum gut. Je konzentrierter es ist, umso eher kommt der alles umfassende Ersatzneubau. Je höher die Diversität, umso grösser die Vielfalt auch im Bauen. Zwei­ tens die Aufmerksamkeit. Menschen wie der Architek­ turhistoriker Diego Giovanoli, der Landschaftsarchitekt Lieni Wegelin, der Dorfarzt und Ornithologe Christoph Meier, Hans Rieder und Karlheinz Derungs, beide Baukom­ missionspräsidenten, und der Raumplaner Josua Studach – alle im Dorf zu Hause – haben über viele Jahre mit Fach­ wissen für Baukultur politisiert, inner- und ausserhalb der Gemeindegremien. Drittens das Inventar. Der Archi­ tekt Fortunat Held hat zusammen mit seinem Sohn Felix präzise Vorschläge gemacht, was, wo und wie Architek­ ten- und Bauherrensorgfalt verdiente. So wuchs ein gene­ reller Gestaltungsplan, der das Alte Spital und das Tobel als « ortsbaulich bedeutsam » markiert. Der Artikel, der dem Gestaltungsplan in der Bauordnung Kraft gibt, for­ dert, dass Neubauten mindestens so gut sein müssen wie das, was abgebrochen wird. Um das durchzusetzen, ist es nötig, aus dem Bauberater einen Dorfarchitekten mit Biss zu machen und der baukulturellen Güte im Abwägen von allem mit jedem verbindliches Gewicht zu geben.

Renoviert statt abgebrochen: zauberhafte Hinterhöfe mit Lauben und Gärten. Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Alte Dichte, alte Perlen

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‹ Ägypten ›: Haus, Gärten und nicht mehr gebrauchte Ställe.

Blick auf ‹ Ägyptens › imposante Stalllandschaft. Rechts die ‹ Pfisteri ›, ein Dienstbotenhaus mit einem ‹ Senter Giebel › in der Fassade.

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Auf nach ‹ Ägypten ›

Planta-Häuser – das obere kühn renoviert von Rudolf Olgiati, das untere eine klassische Restauration.

‹ Ägypten › und die Löwengasse. Was wird aus dieser stimmigen Stall-, Haus- und Gassenwelt ?

An der Hauptstrasse durch den Ortskern, der Kronengasse, stehen zwei Patrizierhäuser der Plantas. Hinter dem unte­ ren gehts in eine Gasse, die sich zu einem Kelch öffnet. In dessen Mitte steht ein Brunnen. Dann knickt die Gasse ab, gesäumt von drei Ställen und einem Bauernhaus: Wir sind in ‹ Ägypten ›. Mit hundert Schritten läuft man durch ein Ensemble, dessen Gestalter vor gut dreihundert Jah­ ren etwas konnten: weit, eng ; gross, klein ; hell, dunkel ; öffnen, schliessen ; beeindrucken, einladen ; auftrumpfen, bergen. Kein Zonenplan, keine Bauordnung, kein Archi­ tektenname, kein Masterplan. Soziale und ästhetische Konventionen, ein schmales Repertoire der Baumeister, Arbeitserfordernisse des Land- und Weinbaus, aber auch Vorbilder aus anderen Residenzen des Adels haben die­ ses Ensemble geprägt. Die von Plantas sind schon lange verschwunden, doch ihre bis in die Details prachtvoll aus­ gekleideten Stuben haben die Zeiten überstanden. Was wird aus ‹ Ägyptens › Ställen werden ? Am einen Planta-Haus hat schon vor vierzig Jahren der Architekt Ru­ dolf Olgiati zusammen mit dem in alte Häuser verliebten Werber Paul Gredinger vorgeführt, wie zeitgenössische Architektur ein altes Ensemble bereichern kann. Das andere, das untere Planta-Haus, strahlt mit klassischer Renovation, detailschön bis hin zum mit Bollensteinen ge­ pflästerten Vorplatz. Ihm gegenüber zeigen zeitgenös­ sisch ein Bauherr und sein Architekt Jon Ritter mit Ein­ zügen, Durchblicken und Kupferhaut ihre Muskeln. Das Ensemble erträgt den Designkameraden gelassen. Und auf der anderen Stras­senseite lugt eine Wohnung aus ei­ nem grossen Stall, eine zwiespältige Lösung. Sollen Men­ schen wohnen, wo Kühe und Heu wohnten? ‹ Ägypten › – seine Ställe – wird eine Herausforderung für die Eigentümer, die Architekten und die Baubehörde. Sie werden kaum zwecklos schön bleiben dürfen. Seit 1983 ist Malans Teil des Inventars schützenswerter Orts­ bilder der Schweiz. Die Gemeinde hat eine Bauordnung, die dem Bild und der Substanz ihres Kerns Sorge trägt. Sie kennt die Werkzeuge von Hofstattrecht bis Baubera­ tung, vom Inventar bis zum Gestaltungsplan. Für Um- und Ersatzbauten soll nicht nur die schlaue Lösung für den Autoparkplatz und die angemessene Rendite gelten, son­ dern auch gute Architektur. Ein Stall muss nicht stehen bleiben, aber was ihn vertreiben will, soll architektonisch gut geraten und das Ensemble in Substanz und Bild stär­ ken. Der generelle Gestaltungsplan sieht das für Orte wie ‹ Ägypten › vor. Nötig sind Verfahren, die dem guten Willen helfen. Zum Beispiel könnte die Gemeinde – in ‹ Ägypten › und anderswo – Bauherren verpflichten, zusammen mit ausserdörflichen Institutionen wie dem Bündner Heimat­ schutz in einem Architekturwettbewerb die gute Lösung zu finden. Oder vorsehen, dass nebst dem Nachbarschaftsauch der baukünstlerische Einspruch wirken kann. Das verteuert einen Bau nicht und macht ihn nicht komplizier­ ter – es kann helfen, ihn schön und gut zu machen.

Das Muskelspiel in zeit­ genössischem Design mit Kupfer und Dachgarten ordnet sich den Volumen seiner Nachbarn unter.

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Ensemble Schmid mit Obstgarten, der als Ort der Produktion gestärkt werden soll.

Aus dem Regelbuch des Bauens Der Architekt Gion A. Caminada hat ein Zukunftsbild für ein markantes Ensemble im Dorfkern skizziert – als Beispiel für ein Regelbuch des Bauens. Text: Gion A. Caminada und Köbi Gantenbein Skizzen: Gion A. Caminada

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Eines der Postkartenbilder von Malans: Am Eingang zum Dorfkern steht ein mächtiges graues Haus mit einem Walmdach. Es ist gleich lang und etwas höher als das Kirchenschiff nebenan. Vor ihm wie ein Teppich ein Weinberg in der Grünzone. Hier wohnten einst die Ersten der Adelsfamilie Salis. 1750 übernahm der General Johann Christian Friederich Schmid, der Kommandant des Bündner Regiments in holländischen Diensten, das Ensemble und baute es aus: Patrizierhaus, Nebenhäuser, Stallungen und Ländereien. Nach der Zeit des Generals hatte es verschiedene Eigentümer, bis im 19. Jahrhundert Simon Studach, ein Zugezogener, und seine Frau Anna Fromm, eine Malanser Bürgerin, die Liegenschaft kauften und als Bauernbetrieb, Bäckerei, Weingut, Mosterei und Laden nutzten. Das Ensemble ist heute aufgeteilt unter den

Nachkommen der Familie Studach. Obwohl der imposante Brunnen abgebrochen ist, ein architektonisch unscheinbares Postgebäude den stattlichen Stall ersetzte und die Hauptstrasse von Malans das Ensemble trennt – es heisst bis heute Ensemble Schmid –, ist es immer noch als Ganzes erkenn- und erlebbar. Die Familie Studach-Nicca hat das Haus von 1975 bis 1992 zusammen mit der Denkmalpflege und dem Bündner Heimatschutz renoviert. Es steht heute unter dem Schutz von Bund und Kanton. Wie kann dieses Ensemble bestehen und als Teil des Dorfs entwickelt werden ? Josua Studach wollte dazu die Meinung des Architekten Gion A. Caminada hören. Was denkt der Architekt, der sich in den letzten dreissig Jahren immer wieder mit Dorfentwicklung befasst hat? Was meint er zum Ensemble Schmid als Beispiel und Anstoss für weitere Entwicklungen in Malans ? Für seine Antwort notierten Gion A. Caminada und sein Mitarbeiter Silvan Blumenthal sechs Texte in ihren Zettelkasten für das Regelbuch des Bauens. →

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Ensemble Schmid: Der Weinberg soll über eine neue Verbindung ans Haus gebunden werden. Neben dem Patrizier- und hinter dem Bäckerhaus wird ein neues Wohnhaus gebaut. Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Aus dem Regelbuch des Bauens

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Das Ensemble Schmid 1 Haus Schmid 2 Garten mit Pavillon 3 Bäckerhaus 4 Under Bongert 5 Postplatz 6 Kirchgasse 7 Obstgarten 8 K irche und Friedhof 9 Heerengasse

Die Interventionen im Ensemble Schmid A Der Obstgarten 7 bleibt Ort der Land­­wirt­schaft. Er wird in seinem oberen Teil Garten einer neuen, dichten Bauzeile und bekommt zur Kirch­gasse einen grossen Eingang, der auch Vorhof des Hauses Schmid ist.

B Auf der Ruine bei der Kirchenmauer ent­steht ein neues, grosses Haus. Damit wird die Kirchgasse ein starker Raum, mal weit, mal eng. C Die Mauer zum Haus Schmid wird geöffnet. Dank Toren entsteht zwischen den Räumen beidseits der Strasse eine kräftige Beziehung.

D Anstelle der alten Post wird ein neues, grosses Haus gebaut. E An der Heerengasse 9 entsteht eine neue Häu­ser­­ zeile. Der Bestand wird abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt.

Dorfstruktur von Malans Grünzone und -fläche Grünflächenrand S trassenraum S tälle

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Die Topografie verbindet die Bauten an der Kirch- und Heerengasse. Der Obstgarten schafft eine besondere Wirkung für das Wohnen. Er wird Erfahrungsraum, um natürliche und land­ wirtschaftliche Prozesse zu begreifen.

Zum Ganzen

Zur Landwirtschaft

Das Dorf als eine Ganzheit von Wohn- und Arbeitsort ist verschwunden. Jene Landwirtschaft, die es über Jahrhunderte geprägt hat, gibt es nicht mehr. Geblieben ist ein Bild. Leere Ställe und bäuerliche Spuren wie Mauern entlang der Grundstücke bilden ein starkes Fundament. Die Umnutzung von Ställen und Scheunen in Wohnungen – in vielen Dörfern das aktuelle Thema – erhält zwar die Bilder, aber die Kontexte bleiben sinnlos und isoliert. Auch wenn es geschickten Architekten und neugierigen Bauherren ab und zu gelingt, einen gefälligen Ausdruck zu erhalten, so gelingt es kaum je, tragfähige Bedeutungssysteme herzustellen – sie aber sind das Wesentliche von Kultur. Bilder allein genügen nicht. Konzepte und Strategien sind nur dann sinnvoll, wenn sie Teil einer übergeordneten Idee sind, bei der die Bedeutungen und ihre Zusammenhänge über dem Bild stehen. Nur so kann eine Identität wachsen, die für die Erkennbarkeit des Orts steht – singulär, substanziell und einzigartig. Differenzen werden aus der Nähe zum Ort gewonnen. Und damit sie kräftig werden, ist auch Distanz nötig. Die daraus erwachsende Architektur und Planung ist mehr als ein Bild. Sie entsteht. Sie ist Kraft. Darum zeigt die jüngere Malanser Raumgeschichte exemplarisch, wie aus Widerstand gegen den Profit markante Grünzonen entstanden sind und wie sie gehalten werden konnten. In Malans haben wir versucht, diese Bedeutungszusammenhänge zu verstehen und daraus Ideen für das Ensemble um das Haus Schmid im Unterdorf zu entwickeln. Ich frage mich an dieser Stelle aber, was das Dorf heute noch zu leisten vermag, gar als Gegenüber zur Stadt. Was sind seine Qualitäten ? Wir schrieben oben, das Dorf – Wohnen und Arbeiten zugleich – gebe es nicht mehr. Was ist das Dorf dann ?

Grünflächen im Kern des Dorfs, ob Grünzonen oder für Weinbau und Landwirtschaft bewirtschaftete Flächen, sind die Identität von Malans. Sie sind mehr als nur ausgesparte Gebiete in einem grösseren Territorium. Sie sind Zeugnisse einer achtsamen Beziehung von Natur und Kultur und der Untrennbarkeit von Wohnen und Arbeiten. Der Widerstand gegen die Bebauung dieser Territorien ist daher weit mehr als eine Auflehnung gegen das zerstörerische Profitdenken, er erhält die Substanz von Malans. Landwirtschaftliche Produktion soll auch in Zukunft im Ort bleiben. Sie bestimmt, wie die angrenzenden Bauten gesetzt werden. An den Rändern zu den grünen Flächen gibt es dichte Bebauungen, die eine Beziehung von ausserordentlicher Spannung ausdrücken. Für das Ensemble Schmid heisst das: – D er Obstgarten – und der Under Bongert sowieso – bleibt Ort der landwirtschaftlichen Produktion und schafft eine besondere Wirkung fürs Wohnen. Zudem bietet er die Voraussetzungen für einen Erfahrungsraum, um natürliche und landwirtschaftliche Prozesse zu er­fahren und zu begreifen. – Bereits verbaute Stellen werden verdichtet, das leere Gegenüber bleibt unverbaut. Die Nähe und die Weite sind sowohl Gegensatz wie auch Paar. Die notwendige Dichte der Bebauung ist weniger programmatisch gedacht als vielmehr eine zwingende Notwendigkeit. Die für die Produktion notwendigen Flächen bleiben unverbaut. – Das Bild ist eine Synthese aus den natürlichen Gegebenheiten und den Fähigkeiten der Menschen. Topologie, Ästhetik und Poesie sind darin untrennbar vereint und widerstehen dem subjektiven Handeln – sie gehören jedem und niemandem. – Die präzise Aufreihung der Apfelbäume im Obstgarten geht in einen Garten über und schliesst an eine neue, dichte Wohnbebauung an. Ein grosses Tor zwischen dem Under Bongert und dem Haus Schmid grenzt ab und verbindet zugleich. Die Übergänge schaffen Beziehungen zu den einzelnen Bauzeilen. →

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Die Kirchgasse wird an den Postplatz angeschlossen. Als Vorraum für das Haus Schmid entsteht ein Tor zum Obstgarten. Dann geht die Gasse eng zwischen Kirchenmauer und einem neuen Haus weiter. Es steht auf der Ruine eines alten Stalls.

Zu Strasse, Platz, Verkehr

Zum Ensemble

In Malans regelt ein sternförmiges System aus Strassen, Gassen, Wegen und Pfaden den Verkehr. Die unterschiedlichen Zugänge und Zufahrten sollen betont werden. Vor allem die Unterscheidung zwischen der Strasse als linearem Element und dem Strassenraum, als Raum von undefinierter Geometrie und für unterschiedlichste Zwecke nützlich, ist deutlich auszubilden. Eine Topografie ohne Abgrenzungen und Markierungen fliesst durch das Dorf. Die Unterscheidung von Strasse und Strassenraum reguliert das Tempo im Zentrum auf eine selbstverständliche Art und Weise: eine Normalität ohne explizite Regulierungen. Unbedachte Veränderungen des Stras­s enraums allein für den Autoverkehr mit Aufhebung von Verengungen, mit Strassenausbauten oder Parkplätzen beschädigen das Dorf. Das Auto ist eine Realität, aber es darf nicht sein, dass es zur einzigen Realität wird und unseren Lebensraum dominiert und formt. Es ist ja noch nicht geklärt, wie wir uns in wenigen Jahren fortbewegen werden.

Anders als etwa in den geschlossenen Dörfern des Prättigaus prägt Vielfalt das Dorf Malans. Das Grundmuster des Dorfkerns sind Ensembles, die sich aus Elementen des Wohnens und Arbeitens zusammensetzen. Ensem­ bles sind erst in zweiter Linie ästhetische Einheiten, die unser Auge erfreuen – in erster Linie sind sie Einheiten, die sich aus lebensweltlichem Zusammenhang zu einem Gebilde stabilisiert haben. Das Gemeinsame und das Verbindende der Ensembles ist die Abgeschlossenheit. Diese Radikalität muss verstärkt werden. Ein Ort erhält Kraft und Dichte, wenn an ihm etwas geschieht. Es geht nicht um radikale räumliche Abgeschlossenheit, sondern um dichte Zusammenhänge – architektonische, räumliche, soziale, sozioökonomische und funktionale.

Für das Ensemble Schmid heisst das: – Das alte Posthaus wird mit einem Neubau ersetzt. Das neue Gebäude bildet den Auftakt zum Strassenraum des Kerns von Malans. Damit wird der öffentliche Raum erweitert und neu gefasst. –D ie Kirchgasse schliesst direkt an den Strassenraum an. Auf die Grundmauer der heutigen Ruine unterhalb der Kirche wird ein Haus gebaut. Die Kirchgasse ge­winnt durch die Verengung und die Erschliessung des Obstgartens an Charakter. – D er Zugang vom Haus Schmid zum Obstgarten wird durch ein grosses Eingangstor neu gebildet. Dadurch wird die Beziehung zwischen diesen beiden Räumen ver­stärkt und der Produktion ein höherer Stellenwert ge­geben. Die Kirchgasse wird gestärkt und verliert so weiter an Bedeutung als reine Durchfahrt. –D ie Kirche wird durch die Friedhofsmauer umfasst und gehalten. Als Schwelle trennt die Mauer den profa­n­en vom sakralen Raum und de­finiert den Friedhof als einen Ort des Schweigens – einen Seelenraum. Er ist in seiner Bedeutung und Grösse unbedingt zu erhalten.

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Das Untergeschoss des Hauses Schmid soll durch die Renovation des Torkels an Dichte gewinnen. Ein breiter Eingang in der zurückversetzten Mauer zeigt den Übergang zum Under Bongert auf der anderen Stras­senseite an. So wird auch das Haus Schmid freigespielt.

Für das Ensemble Schmid heisst das: – Das Haus Schmid tritt in bewusste Beziehung zu dem ihn umgebenden Boden – dem Obstgarten oberhalb der Kirchgasse und den Reben in der Grünzone unterhalb der Dorfstrasse. – D er grosse Rebberg in der Grünzone wird – über die trennende Strasse – in direkte Beziehung zum Haus Schmid gesetzt. Die beiden Portale beidseits der Strasse stehen einander gegenüber. – Ein Teil der Umfriedung unterhalb des Hauses Schmid wird versetzt. Die Stellung des Hauses wird betont, und es wird Tor zum Dorfkern. – D er Torkel im Kellergeschoss des Hauses Schmid wird gestärkt und soll an diesem Ort bleiben. Das Haus gewinnt durch ihn an Dichte. – Das Bäckerhaus bleibt in den Strassenraum gestellt ein Hindernis für Autofahrer. Seine Ställe und Schöpfe werden instand gehalten und sind Reserve für künf­tige Umnutzungen.

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Das alte Posthaus wird abgerissen. An seiner Stelle entsteht ein grosses, ja mo­ numentales Wohnhaus, selbstbewusst, stark, aus dem Ort gebaut. Mit einer öffentlichen Nutzung im Erdgeschoss und darüber mit Wohnungen.

Die Heerengasse wird eine Wohnzeile, verzahnt mit dem Obstgarten. Dieser Ort der Produktion ist auch ein Ort des Irrationalen und Ästhetischen, eine räumlich randlose, dichte Stimmung.

Zu den Regeln des Bauens

Zu den alten Ställen

In Malans stehen kleine und grosse, repräsentative und bescheidene, private und öffentliche Bauten nebeneinander. Diese Vielfalt ist eindrücklich. Malans ist ein gutes Beispiel, wie aus dem Spezifischen des Orts und nicht aus dem Allgemeinen zur Gestaltung Regeln für das Bauen zu gewinnen sind. Um Malans zu stärken, ist das unterschiedliche Nebeneinander weiterzuführen. Wir müssen auch den Mut haben, grosse Häuser zu bauen. Die Arbeit am Fast-Gleichen erzeugt die grösste Wirkung und stärkt die Identität des Orts.

Ställe in Malans sind wesentlich für das Lebensgefühl. Sie werden kaum noch landwirtschaftlich genutzt. Einige sind Sinnbild für die erhabene Schönheit der Leere. Sie werden langfristig dem Zwang zu ökonomisch sinnvoller Nutzung nicht entkommen. Wer Ställe in Wohnungen umnutzt, muss wissen, dass nicht jeder Stall dafür geeignet ist. Oft ist es sinnvoller, einen Stall abzubrechen und ein neues Haus zu bauen. Wohnen im Stall oder in der Scheune ist kein kulturell erstrebenswertes Ziel. Die Idee für den Um- oder Neubau und der Kontext bestimmen, in welchem Grad er verfremdet wird. Es ist keine Strategie, Alt und Neu einander entgegenzusetzen. Das raubt dem Ort seine Kraft.

Für das Ensemble Schmid heisst das: as alte Posthaus wird abgerissen. An seiner Stelle ent–D steht ein grosses, ja monumentales neues Wohnhaus, das die Bedeutung des Orts unterstreicht. Die Geome­ trie, die Setzung und die Loslösung von den angrenzenden Bauten wird dem trostlosen Postplatz eine neue Form und Bedeutung geben. –E in grosses Haus aus Steinen soll mehr sein als nur eine Reverenz an die alten, grossen Häuser von Malans. Es bildet ein weiteres Glied in der Hierarchie. Selbst­ bewusst, stark, aus dem Ort gebaut. –D as neue Haus braucht eine öffentliche Nutzung im Erdgeschoss. Ein Laden oder ein anderes Geschäft mit Kundenverkehr kann hier einen schönen, repräsentativen Ort erhalten.

Für das Ensemble Schmid heisst das: –A n der Heerengasse entsteht eine neue Häuserzeile. Der Bestand wird abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt. Die Beziehung der alten Häuser zur Gasse – die faszinierende Verzahnung von Strasse und Haus – gilt auch für die neuen. – Die Setzung des Neuen ist noch zu präzisieren. Es sollen keine Resträume entstehen. Resträume werden verhindert, indem eine für das Wohnen ungünstige Lage mit einer anderen Funktion aufgerüstet wird. – Die Qualität des Wohnens im Dorfkern wird bereichert. Dichte Nutzung gegenüber der grossen Freifläche steht dafür. Haus- und Landschaftsraum gehen ineinander auf. Beziehungen entstehen durch eine sorgfältige Art der Öffnungen zwischen diesem ungleichen Paar. Der Obstgarten als Gegenüber steht auch für das Irrationale, das Ästhetische, das Poetische und die Resonanz. Der Garten, nicht allein auf Nutzungen eingerichtet, wird zu einem anmutigen Ort. – Die neue Häuserzeile am Obstgarten und das Haus am Postplatz werden so konzipiert, dass sie in hoher Verdichtung für ganz unterschiedliche Menschen Wohnung werden können, denn das Dorf lebt nicht von räumli­cher Differenz, sondern von sozialer und kultureller Vielfalt seiner Bewohnerinnen und Bewohner.

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Das Haus von Moos, gebaut 1722 und renoviert 2008 von Michael Hemmi und Michele Vassella, mit Zier- und Nutzgarten, umsäumt von Mauern.

Des Schermens Vielfalt vom Stein bis zum Holz: der Bauernhof der Familie Dennler – ein Strickbau wie im Prättigau.

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Am Schermen

Im Dorf hat jede Person etliche Quadratmeter, denn räumliche Dichte ist nicht gleich soziale Dichte.

Schermen – Diversität der Volumen und Freiräume.

Mauern sind essenziell für den Strassenraum des Schermens.

Anton Rüedi war ein Bäuerlein mit Charakterkopf und listig glänzenden Augen. Unterwegs mit einem einachsigen Traktor in den Wingert, aufs Feld, durchs Dorf. Anton wohnte und wirtschaftete im Haus von Moos, einem denkmalgeschützten barocken Weinbauernhaus. Kräftig markiert es den Saum oberhalb von Rathaus und Schule. Vorgelagert ein Baum- und Gemüsegarten, umgeben von einer Mauer. Im Untergeschoss steht ein grosser Torkel, nebenan der Stall, an den das nächste, erst jüngst sanft renovierte Haus grenzt. Als Anton heiratete, liess er sein Schlafzimmer in einem warmen, hellen Grau ausmalen. Vieles sonst blieb, wie es immer war. Anton Rüedi war der letzte Bauer in diesem Haus. Sein Nachfolger ist Alfred R. Sulzer. Er ist aus Zürich nach Ma­ lans gezügelt. Ein kunstsachverständiger Berater. Zusammen mit den Architekten Michael Hemmi und Michele Vassella führt er vor, was eine gute Renovation ist: in unverkrampfter Selbstverständlichkeit Zeitgenössisches – sorgfältig gemacht – ins Alte gefügt mit viel bauhandwerklichem Können. Das braucht nebst Kenntnis und Verstand auch Geld: Anlagekosten drei Millionen. Schermen heisst die Gasse, wo Anton Rüedi wohnte und bauerte. Ein renoviertes Haus steht neben dem andern. Dazwischen neue Allerweltseinfamilienhäuser, als Wohnungen hergerichtete, nicht mehr gebrauchte Ställe und von Mauern gefasste Gärten. Den Abschluss des Schermens macht ein gut geratenes, schmales Holzhaus, in dem Susi und Lieni Wegelin wohnen, sie Bildhauerin, er Landschaftsarchitekt. Das von der Sonne grau verwitterte Haus ( Architektur Bearth & Deplazes, 1988 ) steht an einem Platz mit einem grossen Brunnen. Die lebhafte Differenz der Räume macht die Güte dieses Dorfteils aus. Statt Bauern leben im Schermen aber nun Lehrerinnen, Künstlerinnen, Berater, Unternehmer, Bähnler und Rentnerinnen – und einen alten Landwirt gibt es auch noch, einen der letzten, die im Dorf bauern. Mit dem neuen Raumplanungsgesetz machen wir uns daran, die Dorfkerne zu verdichten. Gassen wie der Schermen müssen sich vor den Verdichtern fürchten. Denn die haben ein Auge auf die Baumgärten. Sie wollen Tiefgaragen graben, Rucksäcke an die Häuser bauen und die gros­ sen Volumen bis unters Dach ausnutzen. Zählt man aber die Wohnflächen im Schermen zusammen und teilt sie durch die Anzahl Bewohnerinnen, landet man wohl bei 150 Quadratmetern pro Person. Einst waren das zwischen zehn und zwanzig. Anders herum: Verdichtung heisst Fragen stellen zum wachsenden Anspruch an Wohnquadratmeter pro Person. Es heisst aber auch, wer Dorfkerne verdichtet, hat bald einen Garten vernichtet oder einen Zwischenraum für einen Parkplatz zerstört – und fort sind die Substanz und das vertraute Bild. Nach welchen Regeln soll die Gemeinde entscheiden ? Die Bauordnung entstand vor dem neuen Raumplanungsgesetz, das Verdichtungsdruck produziert. Sie sollte revidiert werden, denn schnell ist ein Stall weg, und sein Nachfolger braucht zehn Parkplätze, deren Automobile die Gassen belasten, die nie für sie gedacht waren. Oder ein altes Haus wird bis unters Dach vollgestopft. Nützlich und ratsam für den Malanser Dorfkern wäre eine Studie der Ämter für Raumentwicklung von Bund und Kanton: Wie können alte Häuser verdichtet werden ? Wie nicht ? In Zusammenarbeit mit der Gemeinde wäre zu zeigen, wie Verdichtung gelernt werden kann – exemplarisch.

Haus Wettstein aus Stein, eben renoviert, und das Holzhaus Wegelin ( 1988, Bearth & Deplazes ). Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Am Schermen

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Dank Landschaftspolitik gibt es die Obstbaumlandschaft mit Hochstämmern in den ‹ Heuteilern › noch.

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Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Fertig Most, adieu Hochstammbaum

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Fertig Most, adieu Hochstammbaum

Scadena, einst Land sowohl für Obst als auch für Trauben, ist bis heute eine Mischkultur, wenn auch etwas gelichtet. Ansichtskarten, 1920er-Jahre.

Die weiten Felder in der Ebene waren einst Obstbaumgärten. Heute sind sie Traktorland.

Als Schwinger holte Friedrich Rietberger einst Kränze, später begann er als Bauer Medaillen zu sammeln: Mit der Kuh Claudia wurde er 2004 Europameister der Braunviehzüchter, und im Frühling 2016 machte ihn seine Kuh Norma zum Vizeeuropameister siehe Foto Seite 30. Sein Erfolg ist auch eine Geschichte der dörflichen Landwirtschaft. Die Generation seiner Eltern hielt grosses und kleines Vieh, ackerte Kartoffeln, mostete Obst, kelterte Wein und hatte Haus und Hof im Dorf. Sie züchteten Meisterkühe, andere konzentrierten sich auf Edelobst, einer auf Rosen. Und 17 Weinbauern und -bäuerinnen bauten weitherum gerühmte Weine aus. Spezialisierung statt Diversität. Von Wirtschaft und Landschaft. Schon vor tausend Jahren liessen der Churer Bischof und der Abt aus Pfäfers als Grossgrundbesitzer Weisswein als Monokultur anbauen. Später waren nebst den Einkünften aus den Bündner Kolonien im Veltlin und den Renten aus den Söldnerdiensten die Weinproduktion und der Weinhandel wichtiges und auch standesgemässes Einkommen der mächtig gewordenen Dienstadligen von Fürstabt und -bischof. Aus dieser Tradition wuchsen früh Betriebe, die auf Weinbau setzten. An den stotzigen Lagen über dem Dorf und immer mehr an sanften Hängen neben ihm standen die Weinberge – eine über Jahrhunderte stabile Landschaft. In den letzten Jahrzehnten erst wurde sie erweitert und mit Wegen und Mauern für die mechanisierte Winzerarbeit ausgerüstet. Dazu war auch nötig, die einst einzeln stehenden Rebstöcke auszureissen, neue in Reihen zu setzen und in die Weinberge Anlagen mit Drähten zu spannen, an denen sich die Reben emporranken. Markant hat ein Fruchtwechsel die Landschaft geprägt: Apfel- und Birnbäume standen einst dicht bis ins Dorf und weit gestreut über die Felder. Doch die Zahl der Obstbäume wurde innert einer Generation von 2500 auf 800 dezimiert, aus der Baum- wurde die Weinlandschaft. Statt Äpfeln und Birnen werden Trauben gepresst. In der Ebene entstanden Äcker und baumlose Wiesen, mit dem Traktor befahrbar. Als der Umbau in den 1970er-Jahren immer mehr Felder ausräumte, als Hecken verwilderten und Obstbäume verwaisten, setzte die Bürgergemeinde als grosse Bodenbesitzerin der zunehmenden ökonomischen Bedeutungslosigkeit die Vielfalt als ästhetische und ökologische Bereicherung entgegen. Angeregt von einer der frühen Studien zur Biodiversität in der Schweiz über die ‹ Regeneration von Waldrändern, Hecken und Feldobstbau › lancierte sie zusammen mit Bauern, Landschaftsschützerinnen, mit Gemeinde- und Bundesgeld ein seit vierzig Jahren laufendes Programm – Alleen, Feldgehölz, Hochstammobstbäume, Hecken, Trockensteinmauern trösten die funktionalisierte Landschaft. Und fein säuberlich sind sie eingetragen in den Gestaltungsplan des Baugesetzes. Es ist nötig und richtig, diesem Gestaltungsplan mehr Kraft und Wirkung zu geben – jeder Baum ist ein Gewinn für die Landschaft, jede Hecke ein Stück Lebensraum für Käfer, Vögel und Schmetterlinge, jede Trockenmauer eine Heimat für Schlangen und Eidechsen.

In den ‹ Heuteilern › verschwanden die Bäume – jetzt stehen sie wieder. Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Fertig Most, adieu Hochstammbaum

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1 Haus Paul Held 2 Künstlerhaus ( Anbau ) 3 E xperimentelles Haus 4 Haus Yvonne und Fortunat Held 5 V illa Felix Held

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Das Haus von Paul Held, erbaut 1933.

Das Haus von Yvonne und Fortunat Held von 1984, einwachsend in den Garten. Links die Villa, gebaut von Felix Held, 2014.

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Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Miteinander im Einfamilienhausglück

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Miteinander im Einfamilienhausglück

Das experimentelle Haus fürs günstige Wohnen, 1997 von Felix Held gebaut.

Ende des 19. Jahrhunderts brauchten die Kurorte Graubündens Gemüse und Früchte – Malans pflanzte sie an. Calonder, Escher, Singer, Kurth, Stäubli, Küenzi, Lauber, Gilomen – bis zu zwölf Gärtnereien prägten innert weniger Jahre mit Beeten, Treibhäusern und Obstplantagen das Dorf. Heute fliegen die Bohnen billiger aus Afrika herbei, die Tomaten kommen aus Holland mit dem Lastwagen, und weil die Gärtnereien zum grössten Teil in der Bauzone lagen, machte ein Gärtner nach dem anderen aus seinem Pflanzland Bauland, wie schon 1940 Emil Ruffner. Auf dessen Areal Im Kaiser schlug der Bauunternehmer Simon Tscharner den Pfosten für die erste grössere Siedlung von Neu-Malans ein. Parzellenscharf entstand Haus um Haus, umgeben von Rasen, erschlossen fürs Automobil. Locker bebaut wird seit sechzig Jahren in einem breiten Bogen um den Dorfkern Parzelle um Parzelle gefüllt. Dazwischen ein paar Rebzeilen, Gärten und Wiesen. Nun werden sie verdichtet. Das führt zu Kummer der Menschen, die schon da sind: verdichten ja, aber nicht bei mir. « Das ist städtisch », hiess einer der letzten Oppositionszüge gegen die Überbauung eines Weinbergs mit Eigentumsklötzen in Dutzendarchitektur. Mit Ausnutzungsboni und Gestaltungsplänen holt die Gemeinde da und dort etwas heraus – doch Bauzone ist Bauzone, und wo der Quadratmeter Bauland bis zu 1200 Franken gilt, weicht der idyllische Weinberg, der Wingert, bald einem Haus. Eine Alternative zu den einsam stehenden Einfamilienhäusern wuchs am Rand von Neu-Malans. Ein Ensemble, über drei Generationen gebaut, das Verdichtung, Geschichte und zeitgenössische Architektur verbindet und Beziehungen zwischen einzelnen Gebäuden und der Landschaft stiftet. Als einer der Ersten realisierte der Grafiker und Architekt Paul Held 1933 allein auf weiter Flur an einem sanften Hang sein Haus mit roten Fensterläden. Fünfzig Jahre später bauten Yvonne und Fortunat Held, Architekten auch sie, ein weiteres Haus mit mehreren Wohnungen in der Manier der eleganten Spätmoderne dazu. Als dritte Generation realisierte Felix Held seit 1998 drei weitere Bauten: ein Experimenthaus des günstigen Wohnens, ein Künstlerhaus mit sparsamem und offenem Grundriss und Fenster für den weiten Bergblick und zum Schluss eine Villa als weissen Schrein. Über einen Garten mit Büschen, Blumen, Bäumen, Brunnen und Skulpturen sind die fünf Häuser miteinander verbunden. Geglückt ist dieses Ensemble auch, weil sein unverbauter Rand mit einer Rückzonung erkämpft worden ist. Wenn wir mit der Idee « Fertig zersiedelt, keine neuen Einzonungen mehr » Ernst machen, ist es nützlich, in Ensembles zu denken. So kann Verdichtung gelingen. Es ist an der Zeit zu studieren, ob die Ausnützungsziffern, die Bauhöhen und die Nachbarschaftsabstände im Baugesetz noch stimmen oder ob hier nicht alte Regeln zugunsten besserer und freierer Vorschriften fallen sollen. Und weil Verdichtung mehr Menschen Lebensraum bringen wird, haben auch die Landbesitzer mehr davon. Eine solche Planung bringt ihnen Mehrwert, den die Gemeinde getrost abschöpfen kann.

Das Haus des Künstlers, 1996 von Felix Held gebaut. Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Miteinander im Einfamilienhausglück

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Ist alle Fantasie verloren, geht der Tiefbauer mit Beton in die Landschaft und schafft ein No Man’s Land der freien Fahrt für freie Bürger.

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Trostlos und traurig: der Bahnhof als No Man’s Architecture.

Rote Farbe vor dem Loch soll den Schwung der Autos bremsen, die Fussgänger gehen auf eigenem Weg ins dunkle Loch.

No Man’s Land beim Bahnhof Malans.

No Man’s Land Am 1. Juli 1858 fuhr die erste Eisenbahn von Rheineck nach Chur. War Malans bisher Station an einer wichtigen Strasse über die Alpen und ins Prättigau, so umfuhr nun die Eisenbahn den Ort. Man wollte noch erreichen, dass Malans seinen Bahnhof bekomme. Vergeblich – er entstand drei Kilometer weiter weg auf der grünen Wiese im Gründerdorf Landquart. Dreissig Jahre später dann ein Trost. 1888 beschloss die Aktiengesellschaft des holländischen Seemanns Willem Jan Holsboer, eine Eisenbahn von Landquart nach Davos zu bauen und diese nicht direkt, sondern über Malans ins Prättigau zu führen. Am Fuss des Dorfs, zehn Minuten Fussweg vom Kern, entstand die Station mit Wohnung für den Vorstand im ersten Stock, Büro, Signal- und Weichenhäuschen ebenerdig und daneben ein Schuppen mit Rampe. Ein Ensemble aus Holz, das mit der Zeit schwarz gebrannt zu einer Visitenkarte am Dorfeingang wurde. Es war ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliches Verlangen, technischer Fortschritt, Ingenieurskönnen und gestalterische Sorgfalt zueinanderfinden können. Der Schuppen wurde später eine ortsbaulich bedeutende Baute im Gestaltungsplan. Am 27. Oktober 2012 schüttet es wie aus Kübeln. Am neuen Bahnhof Malans versammeln sich Präsidentinnen und Präsidenten der Gemeinde, der Rhätischen Bahn, des Kantons und der Baugesellschaft. Malanserinnen stehen im Regen, und die Musikgesellschaft spielt einen Marsch, eigens für den Bahnhof komponiert. Der hölzerne Schuppen steht als Anstandsrest da, amputiert und an den Rand gedrückt. Die Billette spuckt ein Apparat aus, der Bahnhofvorstand ist ein Automat, das Signal wird schon lange von Geisterhand geschaltet. Über eine eindrückliche Tiefbauinstallation fahren Automobile durch eine Unterführung – sie müssen nun nicht mehr, wie Generationen vor ihnen, an der Barriere warten. Durch die Unterführung findet über Treppen sogar die mutige Fussgängerin ihren dunklen Weg. Perronanlagen, grosszügig wie an einem Hauptbahnhof, empfangen die wenigen Passagiere. Vollendet ist die Installation mit einem weiten Vorplatz als Parkplatz und einem neuen Strassenast in ein Wohnquartier. Die Eisenbahnpioniere und ihre Ingenieure waren einst imstande, gesellschaftliches Verlangen und technisches Können zu einem vorzüglichen Bau zu formen, der eine neue, grosse Anlage in die Landschaft fügte. Ihre Urenkel beherrschen den Computer, den Normenkatalog und die Problemlösung mit Beton. Ihr Bahnhof ist ein überwältigendes technoides Ensemble aus Strassen, Radien, Rampen, Treppen, Wartehäuschen, Verbotstafeln, Geländern, Perrons, Trassen und einem trostlosen Haus anstelle des Stationsgebäudes. Er ist auch Sinnbild für die Malanser Lebensader – für die Mobilität, dank der die Pendler am Morgen weg- und am Abend heimfahren. Immerdar und jederzeit schrankenfrei. Melancholisch wartet am Geleise eine Gruppe expressiv aus Holz gesägter Passagiere – Kunst von Peter Leisinger im Malanser No Man’s Land.

Unten durch, dann die Treppe hoch und dreimal um die Kurve – so finden Fussgängerinnen ihren Weg. Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — No Man’s Land

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Valérie Cavin und Roman Clavadetscher, Landwirte.

Nastia und Roman Hassler, Metzgerei.

Felix Held, Architekt und Designer.

Fritz Rietberger, Landwirt, mit Kuh Norma, der Vizeeuropameisterin. Malans lesen – Malans in der Bündner Herrschaft. Robert Donatsch. Calanda Verlag, Chur 2002. – Siedlungsinventar der Gemeinde Malans, Fortunat und Felix Held. Teile 1 und 2, Malans 2005. – Flurnamen Bündner Herrschaft, Kultur Herrschaft. This Fetzer. Maienfeld 2013. – Die Regeneration von Waldrändern, Hecken und Feldobstbau am Beispiel der Gemeinde Malans. Stiftung Landschaftsschutz et al. Bern 1984.

Anita und Andrea Lauber, Obst- und Weinbauern.

Gzime Sasivari und Ursula Nebiker, Volg.

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Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Pendler, Wein, Künste

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Pendler, Wein, Künste

Maria und Peter Leisinger, Holzbildhauer.

Thomas Studach, Weinbauer.

Evelina Cajacob, Künstlerin.

Die Malanser Weingüter – Luzi Boner, Weinbau zur Krone – Anjan Boner, Weingut – Giani Boner, Completer-Kellerei – Adolf Boner, Completer-Kellerei – Clavadetscher, Weine, Geflügel und Rindfleisch – Cottinelli Weinbau  – Donatsch, Weingut und Weinstube zum Ochsen – Fromm Weingut – Jürg Hartmann, Weinbau

– Hofwynegg – Bettina Weber, Heiri Müller, Wein und Fleisch – Andrea Lauber, Weinbau und Obst – Louis Liesch, Bioweine – Ueli und Jürg Liesch, Weinbau – Thomas Studach, Weinbau – Gaudenz Thürer, Weinbau – von Salis Weine – Peter Wegelin, Scadenagut

In Malans wohnen heute gut 2300 Menschen, ein Viertel pendelt zur Arbeit oder zur Ausbildung nach Chur, Landquart, ins Sarganserland, ins Fürstentum Liechtenstein und auch nach Zürich. Die Arbeits- und die Konsumund Kulturbeziehungen zu den Zentren haben sich in den letzten fünfzig Jahren stark entwickelt. Fuhren einst zwischen sechs und neun Uhr vier Schnellzüge vom nahen Landquart nach Zürich, so sind es heute neun, dazu zahlreiche nach Chur oder St. Gallen, und es gibt die Autobahn durchs Rheintal und nach Zürich. In Malans gibt es über hundert Kleinbetriebe vom IT-Laden bis zum Volg, von der Metzgerei bis zur Floristin, von der Tätowierstube bis zur Psychologin, von der Heilerin über die Hightechfirma für medizinische Geräte bis zum neuen Ärztehaus weit weg vom Dorf in der Gewerbezone. Dazu das Baugewerbe – Architekten, Baumeister, Elektriker, Plättlileger, Schreiner, Restauratorin. Dann – anders als im Dorf heute üblich – vielfältige Wirtschaften vom neobarocken Palast der ‹ Krone › über die schmucken Kammern im ‹ Weiss Kreuz › zu der vom Schreiner schön ausgekleideten Weinstube des ‹ O chsen › bis zum schönen Garten des ‹ Balans › und seinem Nachbarn, dem urbanen Hotspot ‹ Snackbar Kebap ›, eingerichtet in einer nicht mehr gebrauchten Velowerkstatt. Und wer nach dem Dorfspaziergang samt Hund gut schlafen will, findet im ‹ Guesthouse Scadena › ein Bett. Eine Seilbahn gibt es ebenfalls – sie führt aufs Älpli und hat als Bergstation eine Restaurantterrasse mit grossartigem Blick über die Stadt am Alpenrhein, zu der die Orte zwischen Chur und Bregenz langsam zusammenwachsen. In Malans sind nur noch wenige Menschen in Feld, Stall und Torkel tätig. Sie können aber, was die Landwirtschaftspolitik für den Alpenraum beschwört: Ausserordentliches. Zum Beispiel Fritz Rietberger, Europameister der Braunviehzüchter, oder Roman Clavadetscher und Valérie Cavin. Bei ihnen dürfen Hühner und Hähne anständig leben, bevor sie Poulet werden müssen. Vorreiter des zeitgenössischen Weinbaus ist Thomas Donatsch, der vor fünfzig Jahren die Reben in der Bündner Herrschaft so pflegte und kelterte, dass daraus Spitzenweine werden konnten. Er baute als Erster Chardonnay und Pinot Blanc an und den Blauburgunder im Holz aus. Auf seiner Pionierzeit bauten Kollegen und später jüngere Winzer ihre Arbeit auf, die Malans und die Bündner Herrschaft zu einem der führenden Weingebiete Europas gemacht hat. In Malans hat einst die Baukunst den Residenz­ort der Bündner Patrizier geprägt. Heute fühlt sich die bildende Kunst wohl. Die Zeichnerin und Videokünstlerin Evelina Cajacob ist hier zu Hause, die Künstlerinnen Meta Fromm, Angela Wahner, Susi Wegelin, Anne M. Stauffer und Ruth Boxler, der Künstler Rico Klaas, die Porzellan­ malerin Ulrike Berger, die Keramikerin Claudia Roffler, der Bildhauer Peter Leisinger, der Grafiker Fortunat Anhorn, der Fotograf Guido Baselgia und sein Kollege Ralph Feiner, der dieses Heft fotografiert hat. Den Sack machen drei Kunstinstitutionen zu: jährlich vor dem Dorf ein Open-Airund im Dorf ein Filmfest. Schon seit 1912 gibt es die Musikgesellschaft, in der zwei Dutzend Musikantinnen und Musikanten Klarinetten, Hörner, Trompeten, Tuba und Saxofone blasen, die Trommel und Pauke schlagen und die Fahnen schwingen.

Georg Fromm, Weinbauer. Themenheft von Hochparterre, August 2016 —  Das Dorf, das Grün, die Planung — Pendler, Wein, Künste

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Das Dorf, das Grün, die Planung Malans im Kanton Graubünden ist ein Dorf mit geschichtsträchtigem Kern, mit Baum- und Weingärten, die bis in den Dorfkern reichen, aber auch ein Dorf mit neueren Einfamilienhäusern und Eigentumswohnungen in einem fröhlichen Babylon der Architektur. Dieses Themenheft von Hochparterre zeigt, wie die Menschen vor Ort im Laufe der letzten fünfzig Jahre ein Dorfbild mit Substanz erstritten haben. Mit hartnäckigem, langem Einsatz für Grünzonen. Und es stellt den Plan vor, wie der Architekt Gion A. Caminada in Malans die Renaissance des Dorfs entwirft – als Ensemble, in dem Bauten nicht einsam herumstehen, sondern Beziehungen stiften und Differenzen aufzeigen.

Gemeinde Malans Bürgergemeinde Malans Kultur Herrschaft Amt für Raumentwicklung Graubünden Bundesamt für Raumentwicklung Sophie und Karl Binding Stiftung Herbert und Helen Frey-Wiedemann-Stiftung Maria Schaeppi Stiftung Stiftung Landschaftsschutz Schweiz Beitragsfonds der Graubündner Kantonalbank Repower Somedia

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