Raumlabore

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Themenheft von Hochparterre, August 2018

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31 Modellvorhaben, acht Bundesämter und ein gemeinsames Ziel: Nachhaltige Raumentwicklung mit neuen Mitteln.

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Räume wie diese: Nicht nur in Brig-Glis ist die Verdichtung eine Knacknuss.

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Editorial

Unterwegs zum kohärenten Raum Inhalt

4 Übersichtskarte Die Modellvorhaben von 2002 bis 2018 im Überblick.

6 Verdichten ohne Verlierer Brig-Glis nimmt Bauherren in die Pflicht.

10 « Wer Innovation will, muss auch scheitern » Warum das Gärtchendenken in der Verwaltung ausgedient hat.

12 Inspiration am Fluss Im Grossraum Genf entsteht ein neues Naherholungsgebiet.

16 Holz, Stein und Geist Die Val Schons erhält ein Schaufenster für ihre Regionalwirtschaft.

2 0 « Jetzt kommt die Knochenarbeit » Warum der offene Ausgang zu Raumplanungsexperimenten gehört.

2 2 Bauern am Stadtrand In der Agglomeration Lausanne hilft ein Leitfaden den Landwirten.

26 Sozial aufgemischt In der einstigen kleinen ‹ Bronx › Bellinzonas weht ein frischer Wind.

3 0 « Ein Katalysator für bestehende Ideen » Warum die Internationale Bauausstellung Basel Grenzen überwindet.

Für die einen ist der Raum eine nutzbare Ressource. Für andere ist er ein schützenswertes Gut. Für manche ist er weder noch. Für alle ist er Bewegungs- und Lebensraum. Gelingt es, die vielen Ansprüche zu koordinieren und den Boden haushälterisch zu nutzen, sprechen Planer von nachhaltiger Raumentwicklung. Den Weg dorthin verstellen mehrere Grenzen: drei Staatsebenen, die nicht immer richtig miteinander reden. Viele Politikbereiche, von denen keiner das Ganze überblickt. Administrative Grenzen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Wie also diese Grenzen überwinden ? Auf der Suche nach Antworten schuf der Bund 2002 die ‹ Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung ›. Bei der dritten Generation zwischen 2014 und 2018 betreuten und finanzierten acht Bundesämter gemeinsam 31 Modellvorhaben. Ihnen widmet sich dieses Heft. Aus den fünf Themenschwerpunkten wählten wir je ein Modellvorhaben aus, und so entsandten wir fünf Autorinnen und Autoren in alle Richtungen des Landes. Anschaulich zeigen ihre Reportagen, wie die Modellvorhaben gemeinsam mit Akteuren aus den Regionen funktionieren: Brig-Glis eliminiert zu grosse Bauzonen am Rand zugunsten dichterer Bauten am besseren Ort. Die binatio­nale Agglomeration Genf entwickelt den Flussraum der Arve als Nah­erholungsgebiet mit Rad- und Uferweg. In der Bündner Val Schons verbessert eine neue Gewerbezone regionale Wirtschaftskreisläufe. Im Norden Lausannes begegnen sich Siedlungs- und Landwirtschaftsflächen. Und bei Bellinzona aktivieren ein Kinderhort und ein Sozialwart eine Wohnsiedlung, die man für Betagte und Behinderte umbaut und erweitert. Drei Gespräche ergänzen die Reportagen. Zwei Bundesvertreterinnen diskutieren, was die Modellvorhaben waren und werden, was sie sollen und wie sie funktionieren. Der Urner Kantonsbaumeister und die Bieler Stadtplanerin erklären, warum ein Modellvorhaben oft erst ein Anfang ist. Zwei Planer blicken auf die IBA Basel, die unterstützt von einem Modellvorhaben der zweiten Generation lanciert wurde und seither mancherlei bewirkte. Auch der Fotograf Gian Paul Lozza aus London und Zürich reiste für das Heft durch die Schweiz. Seine Bilder zeigen die Orte der vorgestellten Modellvorhaben – unser aller Lebensraum eben.  Palle Petersen

Umschlagfotos: Im Norden Lausannes verwandelt sich einstiges Bauernland in Stadt.

Impressum Verlag  Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor  Köbi Gantenbein  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Palle Petersen  Fotografie  Gian Paul Lozza, www.lozzaphoto.com  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Sara Sidler  Produktion  Daniel Bernet, Thomas Müller, Anna Six  Korrektorat  Lorena Nipkow, Elisabeth Sele  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Somedia Production, Chur Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit den Bundesämtern ARE, ASTRA, BAFU, BAG, BASPO, BLW, BWO, SECO Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 10.—

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Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung Dritte Generation 2014 – 2018 Siedlungsentwicklung nach innen umsetzen Beteiligte:  ARE ( verantwortlich ), BAFU, BLW, SECO 1 S tädtebauliche Integration der Industrie- und Gewerbezonen in der Region Morges 2 Im Val-de-Ruz plant die Bevölkerung aktiv mit 3 Netzwerk kooperative Umsetzung der Innenentwicklung ( LU, BL ) 4 Arealplus – wirtschaftlich orientierte Raumplanung in der Ostschweiz 5 Win-win-Raumentwicklung in Brig-Glis ( siehe Seite 6 ) 6 B aukultur und Landschaftsschutz im Binntal 7 B essere Nutzung von Zweit­wohnungen im Bellinzonese e Valli

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Freiraumentwicklung in Agglo­merationen fördern Beteiligte:  ARE ( verantwortlich ), ASTRA, BAFU, BAG, BASPO, BWO 8 G renzfluss Arve im Fokus der Agglomeration Grand Genève ( siehe Seite 12 ) 9 M it Partizipation zu attraktiven Freiräumen in Freiburg 10 R aum für Sport und Bewegung in der Region Sursee-Mittelland 11 S iedlungsnaher Langsamverkehr im Metropolitanraum Zürich 12 I ntegrale Freiraumentwicklung im Raum Schaffhausen 13 B ewegungsfördernde Räume in Winterthur und Dübendorf 14 A ufwerten des Siedlungsrandes im Raum Flawil – S t. Gallen 15 F lussauen als attraktiver Naherholungsraum im Locarnese 16 S chaffen des Parco del Laveggio im Mendrisiotto

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irtschaft in funktionalen Räumen fördern W Beteiligte:  SECO ( verantwortlich ), ARE, BAFU, BLW emeinsame Perspektiven im Baselbieter 17 G Frenkental 18 P ositionierung des Metropolitanraums Zürich im Geschäftstourismus 19 P otenzialorientierte Standort­entwicklung im Oberthurgau 20 Entwicklung zwischen Bergregionen und Zentren im Mittelwallis 21 W ertschöpfung durch Geotourismus im Mattertal 22 G ewerbezone als Entwicklungsmotor in der Val Schons ( siehe Seite 16 )

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Natürliche Ressourcen nachhaltig nutzen und in Wert setzen Beteiligte:  BAFU ( verantwortlich ), ARE, ASTRA, BLW, SECO 23 L andwirtschaft und Siedlung im Norden Lausannes ( siehe Seite 22 ) 24 I ntegrales Wassermanagement Seeland-Broye 25 S chutz und Nutzung von Gewässern im Aare- und Gürbetal 26 N utzung von Biomasse im Entlebuch 31

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Beteiligte Bundesämter ARE Bundesamt für Raumentwicklung ASTRA Bundesamt für Strassen BAFU Bundesamt für Umwelt BAG Bundesamt für Gesundheit BASPO Bundesamt für Sport BLW Bundesamt für Landwirtschaft BWO Bundesamt für Wohnungswesen SECO Staatssekretariat für Wirtschaft

Ausreichendes und bedürfnis­gerechtes Wohnraum­ angebot schaffen Beteiligte:  BWO ( verantwortlich ), ARE Beobachter:  Bundesamt für Energie ege zu einem ausgewogenen Wohnangebot 27 W an der Riviera 28 Entwicklungspotenziale Bieler Genossenschaftssiedlungen 29 B ezahlbare Erstwohnungen für die Tourismusregion Zermatt 30 Attraktives Wohnen zwischen Gotthard und Reussebene 31 V ersuchslabor Morenal in Bellinzona: Neupositionierung einer Siedlung ( siehe Seite 26 )

Zweite Generation 2007 – 2011

44 Modellvorhaben in 9 Themenschwerpunkten Beteiligte:  ARE, BAFU, BLW, SECO

Erste Generation 2002 – 2007 31 Modellvorhaben, keine Themenschwerpunkte Beteiligte:  ARE, SECO

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Verdichten ohne Verlierer

Jahrzehntelang wuchs Brig-Glis in die Fläche. Heute will man überdimensionierte Bauzonen an den Rändern eliminieren und innerstädtische Reserven nutzen. Text: Pieter Poldervaart

Im Ortskern ist in Brig-Glis alles bestens. Doch ausserhalb muss die Gemeinde – wie andere im Wallis – viel Bauland auszonen. Der Weg dorthin ist steinig.

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Fast wie aus dem Bilderbuch wirkt sie, die Oberdorfgasse, die von der Gliser Kirche den Südhang heraufklettert. Ein paar verrostete Bauteile und ein wild parkierter Geländewagen stören das Idyll. Dennoch wecken die alten Walliser Häuser beim Städter Feriengefühle. Ein Schild verweist auf eine « spätmittelalterliche Giebelkonstruktion ». Ein paar Schritte weiter plätschert ein historischer Brunnen, 1899 von « J. Mutti » aus Stein gehauen. Zwei Katzen miauen um Streicheleinheiten, und im sonnenverbrannten Stall nebenan meckern die Geissen. Hier, im alten Dorfkern von Glis, dominieren Kalkputz und Bruchsteinmauern. Hier ist das Wallis noch in Ordnung. Einen Steinwurf entfernt endet die heile Welt abrupt: In den letzten Jahrzehnten wurden am Siedlungsrand zahlreiche Ein- und Mehrfamilienhäuser von zweifelhafter Qualität aufgestellt. Auf der Hälfte einer ehemals 350 auf 150 Meter grossen Wiese westlich der Kirche reihen sich Einfamilienhäuser aneinander. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die 16 Eigentümer ihre noch freie Parzelle bebaut hätten – schön individuell natürlich. Dorfstruktur fürs Einfamilienhausquartier Doch Roland Imhof hakte ein. Als der heute 42-jährige Architekt 2011 Stadtbaumeister von Brig-Glis wurde, wusste er zwar, dass die Tage der grünen Wiese gezählt sind. Doch dem wilden ‹ Jeder-kann-Mitmachen › das Feld überlassen wollte er nicht. Also lud er zwei Architekturbüros für eine Testplanung über die 16 noch unbebauten Parzellen ein. Heraus kamen die beiden möglichen Extreme: einerseits ein einziger, dominanter Baukörper, der viel Abstand zum Dorfkern fordert; anderseits eine flächige Einfamilienhausstruktur, die die Altstadtgassen als Fussgängerwege weiterführt und weniger Puffer braucht. Demnächst treffen sich die 16 Grundeigentümer zur zweiten Mitwirkungsveranstaltung, Favorit ist die Variante Einfamilienhäuser. Sollten in einigen Jahren die ersten Familien einziehen, können die Kinder in wenigen Gehminuten die Primarschule erreichen. Kaum Geld aus der Mehrwertabgabe Die Entwicklungsplanung ‹ Oberdorf West › ist Teil des Modellvorhabens ‹ Win-win-Raumentwicklung in Brig-Glis ›. Hierfür arbeitete Imhof mit dem Büro Planteam S zusammen. Gemeinsam hatten sie bereits das Leitbild ‹ Räumliche Entwicklung Brig-Glis › erarbeitet, das dem Modellvorhaben zugrunde liegt. Der Anstoss dafür war 2014 die Annahme der Revision des Raumplanungsgesetzes ( RPG ), notabene gegen den Willen von achtzig Prozent der Walliserinnen und Walliser. Nach der Abstimmung wollte der Stadtrat wissen, wie man gemeindeweit 39 Hektaren zu viel eingezontes Bauland loswerden und gleichzeitig übergeordnete Interessen berücksichtigen könnte. « Leider hat es nicht geklappt, Gewinner und Verlierer aus der ganzen Stadt zusammenzubringen », räumt Roland Imhof ein. Für einen Abtausch von Flächen verschiedener Quartiere fehlte die Motivation, denn es gibt schlicht zu viel Bauland. Eine wegweisende Lektion – nicht nur für Brig-Glis, sondern für viele andere Gemeinden im Wallis und in der gesamten Schweiz. Gleichzeitig fehlen dem Oberwalliser Zentrum die Mittel, um mit der Mehrwert­ abgabe zu operieren. Einzig am Bahnhof ist auf dem nicht mehr benötigten Rangier­areal ein Hochhaus geplant, wo der Mehrwert teilweise abgeschöpft und für die Freiraumgestaltung eingesetzt wird. →

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Roland Imhof, Stadtbaumeister von Brig-Glis, ist im Oberwallis gross geworden – dennoch hat er den Ruf, Baugesuche restriktiv zu behandeln.

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Die noch grüne Wiese im alten Dorfzentrum von Glis wird verbaut – doch die geplanten Einfamilienhäuser sollen die Gassenstruktur der Altstadt aufnehmen.

→ In Brig-Glis funktionieren Rückzonungen somit nur selten ohne Verlierer. Um die Folgen abzufedern, setzt der Stadtbaumeister auf Kooperation. Wie bei der noch grünen Wiese von ‹ Oberdorf West › will er aus Bausünden lernen und anstehende Bauvorhaben möglichst dicht und im Dialog zum angrenzenden Dorfzentrum gestalten. Häufig bedeutet Imhofs Arbeit reagieren statt agieren. Für einen Eindruck davon genügt ein Blick aus seinem Bürofenster an der viel befahrenen Überlandstrasse. Am Südrand der Gemeinde ist eine Baulücke am Hang zu erkennen. Als das Baugesuch für eine opulente Terrassenbebauung bei Imhof landete, intervenierte er. Denn seit der RPG-Revision darf man in der zweiten Erschliessungsetappe nur neu bauen, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Baulücke, bereits von einer Strasse erschlossen und maximal dreissig Gehminuten von einer Schule entfernt. Kloster baut sozial und kompakt Die letzte Bedingung war beim Terrassenprojekt nicht erfüllt. In Gesprächen will Imhof nun gleich alle sechs Eigentümer des Perimeters dazu bewegen, die Hälfte des Baulands auszuzonen. Das verbleibende Bauland sollen sie dafür möglichst dicht und bis an den Stras­senrand nutzen dürfen, was zu einer Gasse führt wie im angrenzenden Kern des Weilers. « Die ersten drei Gespräche verliefen positiv », sagt Imhof, der aus der Nachbar­gemeinde Naters stammt und mit den lokalen Befindlichkeiten vertraut ist.

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Am Stadtrand von Brig ist eine ähnliche Auszonung bereits gelungen. Als das Kloster St. Ursula vor drei Jahren seine Schwimmhalle an den Kanton verkaufte, wurde der Geldsegen wegen Minuszinsen zum Klotz am Bein. Um das Geld wohltätig einzusetzen, beschlossen die Klosterfrauen, auf einer zweieinhalb Hektaren grossen Wiese oberhalb des Stockalperpalasts in sozialen Wohnungsbau zu investieren. Fünf Projekte lagen vor, Imhof machte sich mit Erfolg zum Fürsprecher der kompakten Variante. « Die 70-jährigen Klosterfrauen sind aufgeschlossener für Neues als viele Junge, mit denen ich zu tun habe », sagt er. Aktuell wirkt der Betonrohbau auf der grünen Wiese beinahe brutal. Selbst Imhof, sonst meist mit lausbübischem Lächeln im Gesicht, wirkt perplex. Aber nach seiner Fertigstellung im Herbst werde sich der Bau sehr wohl ins Ortsbild einfügen. Gebaut aus regionaler Lärche und mit Schafwolle gedämmt werde er dann an eine grosse Walliser Scheune erinnern. Langfristig denkbar, aber noch keineswegs geplant sind drei weitere Baukörper, die das Siedlungsgebiet abschliessen würden. Der wichtigste Erfolg ist allerdings, dass auf der Hälfte des früheren Baulands nun ein Bauverbot gilt. Das Kloster ist für die Stadt ein Glücksfall. Aber auch kommerzielle Investoren berücksichtigen zunehmend nebst ihrer Rendite – und dank des sanften Drucks aus dem Bauamt – auch die Bedürfnisse der Allgemeinheit. So kaufte eine Pensionskasse eine zusätzliche Parzelle.

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Diese bleibt zwar grün, doch im Gegenzug dürfen einzelne Gebäude im Quartierplan ‹ Undri Glismatte › höher werden. Auch ein anderer Investor darf sein Projekt im Quartierplan ‹ Wieri › verdichten – im Gegenzug für ein Bauverbot auf einer Freifläche neben dem Supersaxoschloss. Imhof bilanziert: « Es spricht sich herum, dass wir Baugesuche restriktiv handhaben. Aber gerade die Architekten merken auch, dass sich eine Konzentration aushandeln lässt, wenn man gleichzeitig auszont. » Der erste Schritt auf dem steinigen Weg der Bauzonenverkleinerung, die Verdichtung und Rückstufung, ist somit auf gutem Weg. Die mit gut 13 000 Einwohnerinnen grösste deutschsprachige Gemeinde des Kantons Wallis kann sich dabei nicht nur auf die Bundesgesetzgebung und auf einen engagierten Stadtbaumeister abstützen. Auch der Kantonsplaner Damian Jerjen hat das Modellvorhaben eng begleitet und stellt sich hinter die Ergebnisse: « Von Brig-Glis haben wir gelernt, dass auf Quartierebene vieles möglich ist, was auf Gemeindeebene harzt. » Zudem sei die Kommunikation mit den verschiedenen Betroffenen für die Akzeptanz von Planungen entscheidend. Zusammen mit den Ergebnissen der anderen vier Walliser Modellvorhaben wird Jerjen auch die Erfahrungen aus Brig-Glis in Arbeitshilfen giessen und den Walliser Gemeinden ab 2019 zur Verfügung stellen. Neudefinition als Nagelprobe Der Bund ist mit den Ergebnissen des Modellvorhabens und seiner Weiterentwicklung ebenfalls zufrieden: « Dass ein Baulandausgleich über das ganze Stadtgebiet nicht funktionierte, ist keine Katastrophe, sondern eine wohl schweizweit wichtige Lektion des Modellvorhabens », sagt Reto Ghezzi, der das Projekt beim Bundesamt für Raumentwicklung ( ARE ) betreute. Deutlich sei auch geworden, dass ein Austausch am besten funktioniere, wenn nur ein Grundeigentümer von der Auszonung betroffen sei – gerade wenn das Geld aus der Mehrwertabgabe fehle. All diese Einzelfalllösungen sind ansehnliche Erfolge. Doch langfristig ermöglichen solche Lösungen nur etwa ein Viertel der nötigen Auszonungen. Der Stadtrat will deshalb bald die Definition des Siedlungsgebiets anpacken – ein heisses Eisen, an dem sich leicht die Finger verbrennen lassen. Es geht um Auszonungen im zweistelligen Hektarbereich. Heftiger Widerstand ist programmiert.

‹ Win-win-Raum­ entwicklung in Brig-Glis ›, 2014 – 2018 Themenschwerpunkt:  Siedlungsentwicklung nach innen umsetzen Beteiligte Ämter:  ARE, BAFU, BLW, SECO Trägerschaft:  Stadtgemeinde Brig-Glis

Weitere Beteiligte:  Planteam S, Schweizerische Vereinigung für Landesplanung VLPASPAN, Dienststelle für Raumentwicklung Kanton Wallis, Agglomeration Brig-Visp-Naters ( lediglich Infor­ma­tionsaustausch  ) Budget:  Fr. 100 000.— ( Bundesbeitrag 50 000.—, Gemeinde Brig-Glis 34 000.—, Kanton Wallis 16 000.— ) Weitere Informationen:  hochparterre.ch /  movo-brigglis-de

Der Rohbau macht einen bedrohlichen Eindruck. Doch nach der Fertigstellung wird der soziale Wohnungsbau an eine grosse Walliser Scheune erinnern – und ermöglicht gleichzeitig, dass ein grosser Teil der Wiese unbebaut bleibt.

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« Wie kann man die vielen Ansprüche unter einen Hut bringen, anstatt weiter zu zersiedeln ? »  Sabine Kollbrunner

« Wer Innovation will, muss auch scheitern » Die Modellvorhaben sind Experimente über administrative Grenzen hinweg. Ein Gespräch darüber, wie sie entstanden sind, was sie bringen und was sie künftig sein könnten. Interview: Palle Petersen

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Derzeit laufen 31 Modellvorhaben in fünf Schwerpunkten. Was ist die übergeordnete Idee ? Sabine Kollbrunner: Die Antwort liegt im Namen ‹ Modellvorhaben Nachhaltige Raumentwicklung ›. Es ist doch so: Der Raum ist knapp, und jeder will ihn für seine Zwecke nutzen. Dadurch steigt der Siedlungsdruck, und die Kultur- und Naturlandschaften geraten in Bedrängnis. Wie kann man die vielen Ansprüche unter einen Hut bringen, anstatt weiter zu zersiedeln ? Die Modellvorhaben suchen hierfür neue Ansätze und Methoden. Melanie Butterling: Das bedingt vor allem Koordination: zwischen den drei Staatsebenen Bund, Kanton, Gemeinde, über administrative Grenzen hinweg und zwischen den Sektoralpolitiken. Für die Projektregionen geht es um neue Formen der Zusammenarbeit und für uns Bundes­ ämter darum, miteinander statt gegeneinander zu agieren. Das SECO macht Wirtschaftsförderung, das ARE Raumplanung, das BAFU behandelt Umwelt- und Ressourcenfragen, das BLW die Landwirtschaft ? Dieses Silodenken funktioniert je länger, je weniger ! Mittlerweile machen acht Bundesämter mit. Wie kam es dazu ? Melanie Butterling: Als ARE und SECO von 2002 bis 2007 die erste Generation der Modellvorhaben durchführten, stand die Zusammenarbeit in Agglomerationen im Zentrum. Bei der zweiten Generation zwischen 2007 und 2011 kamen BAFU und BLW dazu. Dadurch richtete sich der Blick auch aufs Land, etwa auf nachhaltigen Tourismus oder Nutzen-­Lasten-Ausgleichssysteme. In der dritten Generation von 2014 bis 2018 kommt nun beides zusammen. Wir trennen weniger stark zwischen Stadt und Land.

Sabine Kollbrunner: Nebst dem Raumkonzept Schweiz wurde zwischenzeitlich die Agglomerationspolitik aktualisiert und eine Politik für die ländlichen Räume und Berggebiete verabschiedet. All das warf viele Schnittstellenfragen auf. Darum rückten wir diese für die dritte Generation stärker in den Fokus und holten die Bundesämter für Strassen, Gesundheit, Sport und Wohnen an Bord – also ASTRA, BAG, BASPO und BWO. Werfen wir einen Blick zurück: Wie sind die Modellvorhaben entstanden ? Sabine Kollbrunner:  1999 verlangte eine Verfassungsänderung, dass der Bund mehr Rücksicht auf die Städte, Agglomerationen und Berggebiete nehmen soll. Daraus entstand 2001 die Agglomerationspolitik des Bundes. Sie umfasst einerseits Koordinationsmassnahmen wie die Tripartite Konferenz, andererseits Förderinstrumente. Das wichtigste Instrument sind die Agglomerationsprogramme, die auf Siedlung und Verkehr fokussieren. Insgesamt sind diese milliardenschwer und müssen darum vom Bundesrat abgesegnet werden. Melanie Butterling: Die Modellvorhaben sind kleiner und kreativer. Sie sind Experimente im Rahmen der Budgetkompetenz der Ämter selbst. Dort sind die Modellvorhaben entstanden. Wir orientierten uns an den deutschen ‹ Modellvorhaben der Raumordnung ›. Mit einem wichtigen Unterschied: Während das Ministerium dort Externe beauftragt, betreuen wir die Vorhaben selbst, um direkt Erkenntnisse für die eigenen Bundespolitiken abzuleiten. Sie sagen, die Modellvorhaben seien klein. Um welche Summen geht es ? Melanie Butterling:  Für die Vorhaben der dritten Generation hatten wir 3,7 Millionen Franken. Weil es keine eigens gesprochenen Mittel gibt, läuft das ganz nach dem Prinzip: Jeder, wie er kann und will. Wir teilen die Gemeinkosten, und die Bundesämter finanzieren und leiten ausgewählte

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« Es braucht Koordination zwischen Staatsebenen und über administrative Grenzen hinweg. »  Melanie Butterling

Schwerpunkte. Wir vom ARE sind bei allen fünf Schwerpunkten beteiligt und leiten zwei. Manche Ämter machen bei einem mit und leiten keinen. Sabine Kollbrunner: Grob gerechnet hatten wir 100 000 Franken pro Modellvorhaben. Zwar sind 200 000 Franken pro Vorhaben möglich, doch die meisten Trägerschaften beantragen zwischen 50 000 und 100 000 Franken, weil sie zusätzlich mindestens denselben Betrag selbst aufbringen müssen. Das ist sinnvoll: Nur wenn eine Region selbst hinter einem Vorhaben steht, bringt es langfristig etwas. Melanie Butterling: Interessanterweise wirkt dieser Effekt in zwei Richtungen. Die Aussicht auf die Bundesförderung ist häufig das entscheidende Argument, um die andere Hälfte der Mittel in der Region aufzubringen. Was bringen die Modellvorhaben den Regionen ausser Geld ? Sabine Kollbrunner:  Sie sind eine Art Label und oft auch eine Motivation für Gemeinden, die sonst nicht allzu gerne miteinander sprechen und arbeiten, genau dies zu tun. Es geht häufig zunächst darum, Kommunikationskanäle und Netzwerke aufzubauen. Das ist Grundlagenarbeit, handfeste Resultate folgen danach. Melanie Butterling:  Handfest heisst aber nicht zwangsläufig, dass die Vorhaben in formellen Projekten münden. Oft stehen Leitfäden oder Merkblätter am Ende eines Vorhabens. In den Projektanträgen gibt es stets Ideen, wie solche Dokumente nach Projektabschluss verankert werden könnten. Manchmal gelingt das gut: Im Frenkental haben elf Gemeinden auf einer Testplanung aufbauend ein gemeinsames Zukunftsbild mit Handlungsfeldern und Absichtserklärung verabschiedet. Manchmal gelingt das weniger: In der Riviera bei Lausanne hat man eine Charta zum Wohnungsbau erarbeitet, aber niemand unterschreibt sie. Also scheitern viele Modellvorhaben ? Sabine Kollbrunner:  Das hängt davon ab, wie man Scheitern definiert. Neunzig Prozent der Vorhaben erreichen die Ziele nicht so, wie sie im Projektantrag stehen. Das ist auch nicht die Absicht, denn gemeinsam verändern wir die Ziele während der Laufzeit. Ein Modellvorhaben ist kein Best-­­ Practice-Beispiel mit einem Gütesiegel des Bundes, sondern ein gemeinsamer Weg und ein Experiment mit offenem Ausgang. Selbst wenn etwas misslingt, sind wir nachher klüger. Allgemein gesagt: Wer Innovation will, muss auch scheitern können.

Melanie Butterling: Trotzdem erhoffen wir uns Erkenntnisse, die sich in anderen Regionen mit ähnlicher Ausgangslage anwenden lassen. Andermatt und Zermatt etwa haben beide zu wenig günstigen Wohnraum für die Angestellten im Gastgewerbe und in der Hotellerie. Die Gemeinden tauschen sich nun aus. So etwas können wir nicht erzwingen, aber fördern. Jedes Jahr gibt es einen Erfahrungsaustausch pro Schwerpunkt, teilweise verbunden mit Projektbesichtigungen. Hier vernetzen sich die Projektträger. Was machen Sie, damit die Resultate nicht in der Schublade verstauben ? Melanie Butterling: Externe schreiben für jeden der Schwerpunkte einen Vertiefungsbericht mit zentralen Erkenntnissen. Wir streuen diesen unter den Projektträgern und über die Plattformen und Verteiler der Bundesämter. Aus­ serdem gibt es die Website Modellvorhaben.ch, und es wird gezielt Medienarbeit betrieben. Sabine Kollbrunner: Offener ist, was in den Projektregionen selbst passiert, wenn die Vorhaben abgeschlossen sind. Häufig sind diese bloss ein erster Schritt, danach sind politische Unterstützer wichtig. Doch beim jährlichen Erfahrungsaustausch sehen wir häufig nur Mitarbeiter der Planungsbüros und Hochschulen, selten Gemeindevertreter. Man müsste diese stärker in die Vorhaben einbeziehen. Das klingt nach einer Erkenntnis für eine vierte Generation. Wird es weitere Modellvorhaben geben, und wenn ja, was wird anders ? Melanie Butterling:  Es gibt natürlich viele Gremien, um sich zwischen den Bundesämtern auszutauschen. Aber als Förderprogramm, in dem wir über Amts- und Departementsgrenzen hinweg konkrete Projekte begleiten, sind die Modellvorhaben einzigartig. Letzten Dezember haben darum alle acht Ämter beschlossen, dass es eine vierte Generation geben soll. Seit diesem Frühling erarbeiten wir die neuen Schwerpunkte und klären die Finanzen. 2019 folgen Ausschreibung und Vergabe. 2020 geht es los. Sabine Kollbrunner:  Noch ist vieles offen. Eventuell machen weitere Ämter mit, andere könnten bloss einen Beobach­ terstatus erhalten. Inhaltlich ist klar, dass wir nicht die gleichen Themen wie in der aktuellen Generation bearbeiten werden. Ein möglicher Ansatz ist, die regionale Strategiefähigkeit zu fördern. Ein anderes Metathema ist die Digitalisierung. Was bewirkt sie räumlich, und was heisst das politisch ? Spannende Fragen gibt es genug !

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Sabine Kollbrunner ( 38 ) ist Geografin und seit 2008 wissenschaftliche Mit­ arbeiterin beim Staatsse­ kretariat für Wirtschaft ( SECO ). Im Ressort Regio­ nal- und Raumordnungs­ politik ist Kollbrunner unter anderem für kohärente Raumentwicklung sowie grenzüberschreitende Programme zuständig. Melanie Butterling ( 38 ) ist Geografin und Geoinfor­ matikerin. Sie arbeitet seit 2007 beim Bundesamt für Raumentwicklung ( ARE ) und ist Programmkoor­ dinatorin der ‹ Modellvorha­ ben Nachhaltige Raum­ entwicklung ›. Ausserdem leitet sie die Thematik Anpassung an Klimawan­ del und Raumentwicklung.

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Inspiration am Fluss

Über 17 Kilometern schlängelt sich die Arve bei Genf durch neun Gemeinden und über die Landesgrenze. Stück für Stück wird die Flusslandschaft zum Naherholungsgebiet. Text: Gabriela Neuhaus

Die Arve in Genf, kurz vor ihrer Mündung in die Rhone: ein Band Natur mitten durch die Stadt.

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Die bedrohliche Wucht des schweren Lastwagens im Nacken drückt sich die Radfahrerin dicht an die Mauer und wartet, bis die Gefahr vorbei ist. Die Strasse von Carouge nach Veyrier ist schmal, der Verkehr heftig. Gross ist die Erleichterung beim Abzweiger in einen breiten Feldweg. Sofort wird es ruhig. Es bleibt Zeit, sich umzuschauen und die Velofahrt zu geniessen. Links die Mehrfamilienhäuser einer Neubausiedlung, rechts eine grosse Brache, die bis zur von Eichen gesäumten Hauptstrasse reicht. Dahinter reiht sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus. Der Feldweg wurde erst kürzlich zum Radweg ausgebaut, um den Kindern aus den angrenzenden Quartieren einen sicheren Schulweg zu ermöglichen. Dies ist auch eine Investition in die Zukunft: Wo heute der Blick über die Brache schweift, werden in den kommenden Jahren 1200 neue Wohnungen gebaut. Im Grossraum Genf leben dies- und jenseits der Grenze gegen eine Million Menschen, davon allein im Einzugsgebiet der Arve zwischen Annemasse und Genf rund 200 000. Und es werden immer mehr. Freiraum in der wachsenden Agglomeration Der Veloweg ist Teil des Modellvorhabens ‹ Grenzfluss Arve im Fokus der Agglomeration Grand Genève ›. Er führt weiter übers Feld zum angrenzenden Hameau de Sierne. Der alte Landsitz mit seinen eindrücklichen historischen Bauten liegt auf einem Hügel hoch über dem Fluss. Rundum weiden Schafe, im Tal glitzert zwischen Bäumen und Büschen die Arve – und im Süden liegt zum Greifen nah die eindrückliche Felslandschaft des Genfer Hausbergs Mont Salève. « Dieser Radweg führt durch ein schönes Ausflugsgebiet für Menschen aus der näheren Umgebung: In wenigen Minuten ist man mit dem Velo aus der Stadt in einer völlig anderen Welt. Entlang der Arve gibt es nicht nur viel Natur, sondern auch zahlreiche einladende Ecken, Baudenkmäler und nostalgische Dorfkerne zum Entdecken und Verweilen », kommentiert Anne-Lise Cantiniaux, die beim Kanton Genf für die Landschafts- und Waldpflege zuständig ist, den abrupten Szenenwechsel. Sie leitet das Landschaftsprojekt entlang der Arve, das die Flusslandschaft als Naherholungsgebiet aufwerten und für den Langsamverkehr erschliessen will. Vom Hameau de Sierne geht es über eine holprige Naturstrasse hinab ans Wasser. Zwei Grenzsteine am Wegrand weisen darauf hin, dass man nun in Frankreich ist. Auf einem kurzen Abschnitt präsentiert sich das Flussufer romantisch wild. Der Weg führt über Sandbänke, vorbei an einem schilfbestandenen Teich – über das Wasser fliegt ein Entenpaar, ein Fischer wirft die Angel aus. Solche Orte gebe es auf der Genfer Seite kaum mehr, sagt Cantiniaux. Über weite Strecken wurde die Arve gezähmt und begradigt. Beidseits der Grenze findet man am Flusslauf heute Sportzentren, Kläranlagen und Industrieunternehmen. Nur wenige hundert Meter flussaufwärts wurde von 1945 bis 1974 intensiv Kies abgebaut. Es habe viel Überzeugungsarbeit gebraucht, erzählt die Projektleiterin, um auf den Flächen, die sich die Natur seither zurückerobert hat, den Bau eines grossen Einkaufszentrums zu verhindern. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit Im Rahmen des Agglomerationsprogramms hatten Behörden und Fachleute der Region seit 2007 einen Schutzplan für die Arve-Landschaft erarbeitet – als Ausgleich zum sich ausbreitenden Siedlungsgebiet. Der Perimeter reicht vom französischen Annemasse bis ins ­G enfer →

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Das Tal der Arve bietet dringend notwendigen Natur- und ­Erholungsraum mitten in einem wachsenden Siedlungsgebiet.

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1 Genève 2 Carouge 3 Troinex 4 Veyrier 5 Chêne-Bougeries 6 Chêne-Bourg 7 Thônex 8 Gaillard ( F ) 9 Ambilly ( F ) 10 Etrembières ( F ) 11 Annemasse ( F ) 12 Vetraz Monthoux ( F )

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öffentlicher Raum Sport und Freizeit Park Naturraum nutzbar Naturraum mit ökologischpädagogischer Zielsetzung Naturraum mit ökologischer Zielsetzung Landwirtschaft Gewässer bestehend geplant

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Stadterneuerung Stadterweiterung Radweg auf dem ‹ Balkon › geplant Langsamverkehrsweg am Ufer geplant

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→ Stadtzentrum, wo die Arve, die bei Chamonix entspringt, in die Rhone mündet. « Damals anerkannte man erstmals, dass die Natur nicht an der Grenze Halt macht », sagt Bruno Beurret, der bei der kantonalen Baudirektion für das Projekt verantwortlich ist. Basierend auf diesem ersten grenzüberschreitenden Entwurf erfolgte von 2012 bis 2014 die Erarbeitung eines detaillierten Umsetzungsplans. Als Klammer wählte man zwei klar definierte Massnahmen mit Signalcharakter: die Schaffung eines Radwegs auf dem ‹ Balkon › von Annemasse bis Genf, der den Blick von oben auf die Flusslandschaft freigibt, sowie die Errichtung eines durchgehenden Uferwegs für den Fuss- und Radverkehr, auf dem man sich direkt dem Wasser entlang fortbewegen kann. Dank Bundesunterstützung im Rahmen der Modellvorhaben zur Förderung von Freiraum­ entwicklung in Agglomerationen konnten die Projektverantwortlichen zwischen 2014 und 2018 erste Teilprojekte umsetzen. Eine Studie zeigt exemplarisch auf, wie sich das Landschaftsprojekt entwickelt hat und wo künftig Prioritäten gesetzt werden müssen. Was logisch und einfach klingt, ist nämlich kompliziert: Die Umsetzung der Einzelmassnahmen liegt in der Verantwortung verschiedener Partner mit unterschiedlichen Interessen. Jede der neun Gemeinden dies- und jenseits der Landesgrenze setzt eigene Prioritäten. Ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Tempi und Entscheidungsabläufen in Frankreich und in der Schweiz. « Es ist ein Langzeitprojekt und kommt nur in kleinen Schritten vorwärts », sagt Anne-Lise Cantiniaux, die den Prozess gerne beschleunigen würde. Noch lässt die Sicherheit auf der Veloroute einiges zu wünschen übrig, viele Stellen sind weiterhin zu gefährlich für einen Familienausflug.

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Zu den typischen Schwierigkeiten für ein derartiges Projekt gehört der häufige Personalwechsel in den Behörden. So genoss das Arve-Projekt beim Kanton dank einer grünen Departementsvorsteherin anfänglich grosse Aufmerksamkeit, später rückte unter christdemokratischer Führung das Thema Mobilität in den Fokus. Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit zwischen den Fachpersonen der verschiedenen Verwaltungseinheiten, um das Landschaftsschutzprojekt am Leben zu erhalten. Ein mittlerweile gut eingespieltes Team von rund zwanzig Personen trifft sich mindestens zweimal im Jahr, tauscht sich über den aktuellen Stand der Arbeiten aus und entwickelt das Projekt weiter. Immer wieder packen die Geografen, Raumplanerinnen und Landschaftsarchitekten dabei Gelegenheiten beim Schopf. So erreichten sie etwa, dass im Rahmen der anstehenden Sanierung und Erweiterung der Kläranlage in Thônex der Naturstreifen am Fluss­ufer verbreitert wird, um Raum zu schaffen für ein weiteres Puzzlestück des Rad- und Fusswegs entlang dem Wasser. Bis es so weit ist, führt auch hier der Radweg noch über die schmale, viel befahrene Hauptstrasse. « Es braucht eine Dosis Utopie, eine Dosis Reflexion, und man muss Opportunitäten ergreifen », fasst Bruno Beu­rret zusammen. Manche Projekte sind relativ einfach zu realisieren, weil die Finanzierung – etwa via die neue Zugverbindung Annemasse – Genf – bereits gesichert ist. Bei anderen stösst man hingegen auf Widerstand. Aus politischen Gründen, weil das Geld fehlt oder die Grundeigentümer nicht mitziehen. Von den 120 geplanten Massnahmen seien aktuell dreissig gut unterwegs und einige bereits realisiert, sagt Beurret. Eine Checkliste mit Informationen zu jeder einzelnen Intervention – darunter

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zahlreiche Sicherungsmassnahmen entlang der Rad- und Fusswege, aber auch Renaturierungs- und ­Parkprojekte oder künftige neue Flussübergänge – vermittelt einen Überblick über das Ganze und den Einblick in jedes Teilprojekt. Aufgeführt sind zudem der aktuelle Stand jeder einzelnen Massnahme sowie die involvierten Partner. Vorhandenes nutzen und optimieren Von der Brücke im Ort Thônex steigt die Route de Florissant steil hinauf in das Villenquartier von Conches und Chêne-Bougeries. Am höchsten Punkt angekommen stehen Holzbänke mit wunderbarer Aussicht. Der neu geschaffene Parc des Falaises schmiegt sich an den Flusshang. An die Villa, die bis zu einem Erdrutsch hier stand, erinnern bloss noch Treppenruinen und ein paar exotische Bäume. Nachdem der Kanton das Grundstück gekauft hatte, überliess er es der Natur. Jahrzehntelang versperrte dichter Wald die Sicht auf den Fluss und in die Weite. Bis Landschaftsarchitekt Séraphin Hirtz im letzten Jahr das rund tausend Quadratmeter grosse Gelände zum Park umgestaltete. Heute stehen lockere Baumgruppen am Hang, ein breiter Waldweg führt hinunter zum Aussichtspunkt. Insektenhotels, Bienenstöcke, Sitz- und Spielgelegenheiten aus rohem Holz gehören zum Inventar. « Wir haben mit dem Vorhandenen gearbeitet. Entstanden ist ein naturnaher Park, der sich selbst weiterentwickeln wird », umschreibt der Landschaftsarchitekt seinen Auftrag. Und Bauherrin Anne-Lise Cantiniaux ergänzt: « D er Parc des Falaises ist weder ein Park noch ein Wald, sondern ein öffent­liches Stück Landschaft. Der gestaltete Naturort ist wichtig für die Menschen in den dicht besiedelten Quartieren der Umgebung. »

‹ Grenzfluss Arve im Fokus der Agglomeration Grand Genève ›, 2014 – 2018 Themenschwerpunkt: Freiraumentwicklung in Agglomerationen fördern Beteiligte Bundesämter:  ASTRA, ARE, BAFU, BAG, BASPO, BWO Trägerschaft:  Kanton Genf ( Projekt­ leitung: Anne-Lise Canti­niaux, Departement für Umwelt, Transport und Landwirtschaft ; Bruno Beurret, Departement für Raum- und Siedlungs­ planung und Energie )

Weitere Beteiligte:  Grand Genève, Annemasse Agglo, Haute école du ­paysage, d’ingénierie et d’architecture de Genève ( HEPIA ), ADP Dubois Paysage Urbanisme, Apaar, Viridis environnement, Indiggo, Artemia Budget:  Fr. 350 000.— (  Bundes­beitrag 150  000.—, Trägerschaften 200 000.—, Finanzierung der Teil­ projekte durch Eigentümer und Gemeinden ) Weitere Informationen:  hochparterre.ch /  movo-genf-de

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Land, Strassen und Leitungen machen noch keine neue Gewerbezone. Sechs Gemeinden in der Val Schons ergründeten deshalb regionale Wirtschaftskreisläufe.

Holz, Stein und Geist

Text: Julian Reich

Gottesraum und Touristenziel: die Kirche St. Martin in Zillis.

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Zwischen den Schluchten Viamala und Roffla gelegen ist die Val Schons in Graubünden seit jeher eine Transitregion. Der Verkehr über die Pässe Splügen und San Bernardino verschaffte den Einheimischen lange ein willkommenes Zubrot. Man lebte von dem, was zurückblieb. Doch je schneller die Strassen wurden, desto schneller waren die Waren transportiert und desto weniger blieb. Heute braust der internationale Transitverkehr auf der A13 durch das Tal. Man arbeitet mit dem, was vorhanden ist: Stein, Holz und Geist. Lastwagen schaffen das Gestein aus Andeer in die Welt. Forstwirte hauen Holz und verkaufen es an die Meistbietenden. Ganze Carladungen von Touristen bestaunen die 900 Jahre alten Malereien der Kirchendecke in Zillis. Holz: reden und anpacken Domenic Mani sitzt auf einem Gabelstapler und lädt eine Lieferung Holz ab. Gesägt und verarbeitet wurde es ausserhalb des Kantons. Mehrere 100 000 Franken fliessen so jährlich ab aus dem Tal, sagt der Holzbauer – und das will er ändern. Vor bald zehn Jahren hat Mani seine Betriebsstätte neu gebaut. Der einheimische Architekt Ivano Iseppi entwarf ihm eine kühne Konstruktion mit ineinander verschobenen Dachschrägen. Elf Mitarbeiter zählt der Holzbaubetrieb mittlerweile. « Das ist gerade klein genug, dass ich noch selbst zupacken kann », sagt der jugendlich wirkende Chef, dessen Hände keineswegs so aussehen, als versauere er im Büro. Die Gewerbezone ‹ Zups ›, in der Manis Betrieb steht, liegt nördlich von Andeer. Sie ist eines von drei Gebieten der regionalen Gewerbezone Val Schons. Das zweite heisst ‹ Runcs › und liegt beim Kieswerk nahe dem Steinbruch, im Süden Andeers. Das dritte, ‹ Nislas ›, befindet sich unterhalb der weltberühmten Kirche von Zillis. Für jedes Gebiet gibt es eine klare Idee: Kleinbetriebe ohne umfangreiche Lagerbereiche und Vorplätze sollen sich in Zups ansiedeln, Betriebe mit mehr Flächenbedarf und Emissionen in Runcs, und in Nislas soll ein Schaufenster für die Region entstehen. 2014 gründete sich die Gewerbezone als selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt der Gemeinden Andeer, Casti-Wergenstein, Donat, Ferrera, Lohn, Mathon und Zillis-Reischen. Doch weil man erkannte, dass eine schlagkräftige Regionalwirtschaft mehr braucht als neue Zonen, Leitungen und Zufahrten, bewarb man sich – allerdings ohne Donat – für ein Modellvorhaben des Bundes. Die Initiative dazu kam von Carmelia Maissen, damals Regionalentwicklerin der Region Viamala, später als Mitarbeiterin der Projektmanagementfirma Sofies-Emac operativ verantwortlich für das Modellvorhaben. Maissen sagt: « Wir wollten nicht einfach Land einzonen und alles Weitere dem Zufall überlassen. » Wie also lassen sich die natürlichen Ressourcen als Grundlage einer nachhaltigen Entwicklung der regionalen Wirtschaft besser in Wert setzen ? Man erarbeitete Stoffflussdiagramme, die schematisch aufzeigten, wie die Ressourcen – vor allem Stein und Holz – genutzt und weiterverarbeitet werden, und fragte sich: Wo gibt es Synergien oder Lücken ? Wer könnte mit wem zusammenarbeiten ? Auf der Suche nach Antworten setzte man auf Partizipation. Arbeitsgruppen mit lokalen Gewerblern sollten neue Lösungen und Produkte kreieren. So sammelte man viel implizites Wissen und warf einen frischen Blick auf das eigene Tun.

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Ein Glied in der Wertschöpfungskette Holz: die Werkstätte der Holzbaufirma Mani auf dem Gewerbegebiet Zups in Andeer.

Platz gibt es also genug, und wer sich ansiedeln will, sollte mit Remo Kellenberger sprechen. Er ist Geschäftsführer des regionalen Naturparks Beverin, der die Geschäftsstelle der gesamten Gewerbezone führt. Das klingt seltsam für fremde Ohren: ein Naturpark, der sich um das Gewerbe kümmert ? « Die Wirtschaft ist eine der drei Säulen einer nachhaltigen Entwicklung », erklärt Kellenberger, « darum gehört die Gewerbezone zu unseren Aufgaben. » Von Anfang an in das Modellvorhaben involviert, zieht er eine nüchterne bis positive Bilanz: Während in Zups Stein: brachliegen und experimentieren durchaus Resultate entlang der Holzverarbeitungskette Wir fahren südwärts durch Andeer zu den Steinbrü- erreicht wurden, sei man andernorts weniger weit als erchen und dem Kieswerk. Zuweilen hallt das Geräusch von hofft. Neuansiedlungen von Firmen aus anderen Regionen Explosionen über das Land. Ganz Europa verbaut mittler- und grosse Würfe seien kaum realistisch. Doch er erklärt: weile den Stein mit dem charakteristischen Grünton. Ent- « Uns war stets bewusst, dass das Modellvorhaben ein Exsprechend zufrieden ist man hier mit dem Geschäft. Und periment ist und nicht alles sofort gelingen wird. » weil man sich vom Modellvorhaben keine Antworten auf Geist: entwickeln und neu starten die Herausforderungen der Branche versprach – wie EmisAuch Zillis wartet auf den Erfolg. Noch ist das Gebiet sionen und Fachkräftemangel –, nahmen die Eigen­tümer der Steinbrüche und des Kieswerks nicht an den Gesprä- Nislas ein schmuckloser Parkplatz, auf dem an diesem chen teil. In die Gewerbezone aufgenommen war das Tag vier Tankanhänger, ein Lastwagen und einige Autos Gebiet Runcs ohnehin. Aktuell wird die Fläche von rund stehen. Das kleine Bistro aus Holz und Plastik ist im Win16 000 Quadratmetern hergerichtet. Im Kieswerk wird terschlaf, dahinter stehen die Werkstätten einer SchreiKies gebaggert und für den Verkauf vorbereitet und das nerei und eines Solarunternehmens. Nislas sei ein Unort, Land wieder zugeschüttet. Bebaut ist es bislang nicht, hört man oft. In der Sommersaison steigen hier bis zu immerhin plant ein Bauunternehmer einen Lagerplatz. 20 000 Personen aus, um die historische Bilderdecke der Noch spriesst Unkraut aus dem kargen Brachland. Kirche St. Martin von Zillis zu betrachten. Die ­Besucher →

Einer, der mitdiskutierte, war Holzbauer Domenic Ma­ni. « Eine gute Erfahrung », sagt er, « doch man kann auch zu viel reden, irgendwann muss man anpacken. » Die Gespräche zeigten Potenzial in der Holzverwertungskette auf, und man prüfte die Machbarkeit einer Trocknungsanlage. Nun plant Mani eine neue Sägerei in Zups, gemeinsam mit einem lokalen Hotelier, der nebenberuflich eine Sägerei betreibt. Ein Trocknungsturm soll folgen, damit dereinst heimisches Holz vor Ort weiterverarbeitet werden kann.

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Die Brache ist bereit: Im Gebiet Runcs bei Andeer wartet Land auf die Bebauung.

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Reich an der Ressource Stein: Blick hinüber auf die Gemeinde Andeer.

‹ Gewerbezone als Entwicklungsmotor in der Val Schons ›, 2014 – 2018 Themenschwerpunkt:  Wirtschaft in funktionalen Räumen fördern Beteiligte Bundesämter:  ARE, BAFU, BLW, SECO Trägerschaft: Gemeinden Andeer, Casti-Wergenstein, Ferrera, Lohn, Mathon, Zillis-Reischen

→ sind Fluch und Segen zugleich: Ohne ihr Eintrittsgeld wären die Restaurierungsarbeiten nicht zu stemmen. Doch gleichzeitig bringen sie unerwünschte Feuchtigkeit in den Kirchenraum. Die Tristesse der improvisierten Bauten steht in einem krassen Gegensatz zur Schönheit der Kirchendecke. So lag es nahe, das Gebiet Nislas ebenso zu entwickeln wie Zups und Runcs. Ein Schaufenster für die heimischen Wirtschaftszweige wollte man hier errichten, mit Ausstellungsräumen, einem kleinen Café und Empfangszentrum. Aus dem Modellvorhaben entstand hierfür die Interessen­ gemeinschaft Nislas. Im Rahmen eines Projekts der ‹ Neuen Regionalpolitik › und unterstützt von Sofies-Emac wurde diese Idee weiterent­wickelt. Bereits sind gemeinsam mit dem Architekturlehrgang der Hochschule für Technik und Wirtschaft Chur mehrere Entwürfe für Neubauten entstanden. Doch dann kam alles anders. Otto Steiner, ein Szenograf aus Sarnen, stiess hinzu – und stiess alles wieder um: Warum so weit ausserhalb des Dorfes Neues

Weitere Beteiligte:  Region Viamala, Naturpark Beverin, Corporaziun Val Schons, Kantonales Amt für Raumentwicklung, Kantonales Amt für Wirtschaft und Tourismus, Sofies-Emac ( Projektleitung: Carmelia Maissen )

Budget:  Fr. 240 000.— ( Bundesbeitrag 115 000.—, Gemeinden Val Schons 30 000.—, Eigenarbeits­ leistung Gemeinden und Unternehmen 35 000.—, Corporaziun Val Schons 10 000.—, Naturpark Beve­rin 12 000.—, Region Via­mala 8000.—, kantonale Ämter 30 000.— ) Weitere Informationen:  hochparterre.ch /  movo-valschons-de

bauen, wenn doch im Dorf schon genug leer steht ? « Die Menschen kommen wegen der Kirche », so seine erste Erkenntnis, « und diese muss man für das Dorf fruchtbar machen. » Wie das gehen könnte, erklärt Steiner Vertretern der Gemeinde und der Region in einem Sitzungszimmer in Zillis. Er spricht nicht von Nislas allein, seine Ideen reichen weiter: Mindestens den Kiosk neben der berühmten Kirche sollte man ersetzen. Die leer stehenden Ställe könnte man umnutzen. Oder wie wäre ein Park, der die gesamte Ebene neben der Kirche umfasst und die Fabeltiere der Deckenmalerei als drei­dimensionale Objekte erlebbar macht – ein gestalteter Garten für jene, die mehr als die Decke sehen wollen ? Die Einheimischen sind begeistert und doch vorsichtig. Sie sprechen von starken Beharrungskräften im Dorf und von Einzelpersonen, die allem Neuen kritisch gegenüberstehen. Trotzdem sehen sie das, was mit dem Modellvorhaben begann, als Chance – nicht nur für das Dorf, sondern für die ganze Region.

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« Wir wollen den Anteil der Genossen­schaftswohnungen bis 2035 auf zwanzig Prozent steigern. »  Florence Schmoll

« Jetzt kommt die Knochenarbeit » Wird das Personal des Tourismusressorts Andermatt alte Dorfkerne beleben ? Wie werden die Genossenschaften in Biel verdichten ? Ein Gespräch über Experimente. Interview: Palle Petersen

Sowohl das Modellvorhaben in Biel wie jenes in Andermatt wollen eine vorhandene Dynamik lenken, oder ? Florence Schmoll:  In Biel wollen wir eher etwas auslösen. Wir haben 31 Genossenschaften mit ungefähr 4500 Wohnungen. Die meisten Siedlungen stehen auf Land der Stadt und sind wenig dicht, zwei Drittel stammen aus der Zeit vor 1970 und stehen im Inventar schützenswerter Ortsbilder siehe ‹ Identität pflegen ›, Themenheft von Hochparterre, August 2017. Nun kommt zweierlei zusammen. Erstens wollen wir den Anteil der Genossenschaftswohnungen von heute 16 Prozent bis ins Jahr 2035 auf 20 Prozent steigern. Zweitens läuft bis dahin rund die Hälfte von fast 200 Baurechtsverträgen aus. Die Stadt kann mit den neuen Verträgen also eine Entwicklung anstossen, doch wo und wie viel ? Was will sie für welche Siedlung verlangen ? Hier brauchten wir eine Diskussionsgrundlage. Marco Achermann: Im Kanton Uri bringt das Tourismusressort Andermatt eine gewaltige Dynamik. Zum Vergleich: Die Gemeinden des Urserentals sind in den letzten fünfzig Jahren um fast ein Viertel geschrumpft, jene des oberen Reusstals sogar beinahe um die Hälfte. Heute leben etwa 3000 Menschen in sechs Dörfern, und die Ortskerne entleeren sich. In dieser Situation bringt das Resort langfristig etwa 1500 Personen, vor allem Gastro- und Hotellerieangestellte. Viele werden in Andermatt wohnen, andere im 30-Minuten-Perimeter von Flüelen bis Airolo. Hier liegt die Chance: Lässt sich die Nachfrage nutzen, um Zweitwohnungen in den Dorfkernen zu aktivieren und Altbauten aufzuwerten ? Kann man das lokale Entwicklungspotenzial funktional-räumlich nutzen ? Um Antworten zu finden, brauchten auch wir eine Grundlage für Gespräche mit Gemeinden und Hausbesitzern.

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Das klingt nach aufwendigen Bestandesaufnahmen. Wie sind Sie vorgegangen ? Marco Achermann: Zuerst analysierten wir mit der Hochschule Luzern die Gemeinden und erstellten Faktenblätter. Da geht es um profane Dinge: Wie gut ist der Anschluss an den öffentlichen Verkehr ? Gibt es noch einen Dorf­laden, einen Bancomaten, eine Schule ? Realp und Hospental haben diese Dinge nicht, bloss ein paar Beizen. Ausserdem haben wir aufgelistet, welche Gebäude in den Dorfkernen leer stehen oder unternutzt sind. In solchen sanierungswürdigen Objekten allein könnte mittelfristig Wohnraum für 400 Personen entstehen. Dazu kommen je nach Gemeinde zwischen 33 und 56 Prozent Zweitwohnungen, die oft mit geringem Aufwand Erstwohnungen werden könnten. Alle diese Chancen haben wir quantifiziert. Florence Schmoll: Wir haben gemeinsam mit Architekten und Stadtplanern, dem Stadtarchitekten und der städtischen Denkmalpflege die Siedlungen bewertet. Erstens den Nutzungswert: Lage und Lärmbelastung, bauliche Dichte und Wohnfläche pro Kopf, Identifikation und Mieterzusammenhalt. Zweitens den Gestaltungswert: städtebauliche und zeitgeschichtliche Bedeutung, Freiraumqualität und Bezug zur Umgebung. Drittens die Architekturqualität: Wohntypologien und Fassadengestaltung, Ausbau­ standard und private Aussenräume, Zustand der Bausubstanz und Energieverbrauch. Dann haben wir diese Dinge gegeneinander abgewogen und jeweils umrissen, welches Entwicklungspotenzial wir sehen. Natürlich ist unser Interesse gross, dass möglichst viele und gute Wohnungen auf unserem Land stehen. Aber letztlich geht es um kluge Kompromisse, die Rücksicht auf den Bestand nehmen und auf die Menschen, die dort wohnen. Was sagen die Genossenschaften und Gemeinden zu Ihren Ideen ? Florence Schmoll: Die Genossenschaften waren im gesamten Prozess involviert und stützen darum prinzipiell die Ergebnisse. Uneinig sind wir uns kaum, wo wir Siedlungen

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« Das Potenzial für neuen Wohnraum steckt vor allem in schlecht genutzten Altbauten. »  Marco Achermann

erhalten oder sanft erweitern wollen, eher wo wir einen teil- oder etappenweisen Ersatz vorschlagen. Viele Genossenschaften sind eher konservativ, vor allem kleinere wollen ihre Siedlungen primär erhalten. Das ist verständlich, schliesslich arbeiten viele ehrenamtlich. In diesem Rahmen sind grosse Schritte auch grosse Herausforderungen. Marco Achermann:  Das ist bei uns ähnlich. Verdichtung und Pendlerströme sind für viele Milizpolitiker nicht die drängendsten Themen. Ausserdem ist das Bewusstsein für die Probleme und Chancen der Dorfkerne eher gering, und es wäre naiv, Dorfläden oder Bancomaten zu fordern, wo sie nicht genügend Umsatz brächten. Die Dorfkernentwicklung ist darum ein wirklich schwieriges Thema, ebenso die Umwandlung von Zweit- in Erstwohnungen. Vor allem in Andermatt ist es schlicht lukrativer, sie temporär zu vermieten als dauerhaft. Gegen solche ökonomischen Fakten kommt man kaum an. Ich glaube darum auch, dass das Potenzial für neuen Wohnraum vor allem in sanierungswürdigen und schlecht genutzten Altbauten steckt. Dafür haben Sie die Hausanalyse eingeführt. In Appenzell war sie ein Erfolg, in Uri auch ? Marco Achermann:  Unsere ersten Erfahrungen waren durchwegs positiv. Die Hausanalyse ist ein tolles Instrument, das wir vom ‹ Netzwerk Altstadt › übernommen haben. Für nur 6000 Franken – der Kanton trägt die Hälfte, die Gemeinde und der Besitzer je ein Viertel – bekommt der Eigentümer zwar kein konkretes Bauprojekt, aber eine rudimentäre Machbarkeitsanalyse. Mit einfachen Grundrissskizzen und einer Rechnung zur Wirtschaftlichkeit zeigt sie auf, mit welchen Mitteln eine Nutzungsänderung möglich ist und was sie bringt. Wir haben fünf solche Analysen gemacht, zwei Häuser werden nun umgebaut. In einem Haus in Göschenen, in dem vorher zwei Personen wohnten und von dem ein Teil unbewohnbar war, entstehen vier Kleinwohnungen für mindestens fünf Bewohner. Und in Biel bauen die Genossenschaften fleissig ihre Siedlungen um und verdichten ? Florence Schmoll: Schön wärs. Ich erkläre kurz den Rahmen: Das Modellvorhaben mündete in einen stadtweiten Masterplan. Dieser ist die stadtplanerische Grundlage eines Gesamtprojekts, um den gemeinnützigen Wohnungsbau zu fördern. Parallel zum Modellvorhaben hat die Stadt 2016 ein Förderreglement mit dem erwähnten 20-Prozent-Ziel bis 2035 verabschiedet. Wir arbeiten nun an der Verordnung, die wichtige Details definieren muss – zum Beispiel, wie sich der Baurechtszins berechnet und wann es welche Abzüge gibt. Ausserdem haben wir seit 2017 einen neuen Standardbaurechtsvertrag, der schon 46 Mal

unterschrieben wurde. Er enthält nicht nur Finanzielles, sondern auch eine Zielvereinbarung. Gemeinsam mit uns und auf dem Masterplan aufbauend müssen die Genossenschaften binnen fünf Jahren eine Entwicklungs- und Sanierungsstrategie für ihre Siedlung erarbeiten. Man sieht: Das Feld ist bestellt. Jetzt kommt die Knochenarbeit. Immerhin haben Sie ein echtes Druckmittel – das Land. Ist der Baurechtszins hoch angesetzt, wird es schwierig für die Bieler Genossenschaften, nichts zu tun, oder ? Florence Schmoll:  Das stimmt. Aber auch wenn das nun sehr diplomatisch klingt: Wichtiger ist der gemeinsame Weg. Wir wollen Partner der Genossenschaften sein und sie zu mutigen Schritten motivieren. Für grosse Veränderungen muss man unter Umständen die Bauordnung anpassen oder einen Architekturwettbewerb organisieren. Bei solchen aufwendigen Verfahren können wir helfen. Wir haben im Februar 2018 die gemeinsame Charta aktualisiert und seit letztem Jahr einen Spezialfonds mit fünf Millionen Franken, um wichtige Planungsvorhaben zu unterstützen. Wenn dann gute Pilotprojekte zeigen, was möglich ist, motiviert das andere Genossenschaften, mit ihren Siedlungen ebenfalls etwas zu wagen. Nun gut: Die grosse Arbeit steht in Biel noch aus, aber Geld und Ressourcen sind da, und der Weg ist klar. Das sieht in Uri anders aus, oder ? Marco Achermann:  Wir hoffen natürlich nicht, dass unsere Arbeit als Papiertiger endet. Allerdings ist das Modellvorhaben in keinen grösseren Prozess eingebettet. Es endet mit der Onlineplattform Wohnraumförderung. Hier haben wir vieles versammelt: Es gibt eine Checkliste zu Fördertöpfen und Beratungsstellen, die Hausbesitzern den Weg zum Umbau vereinfacht. Es gibt Merkblätter für Zweitwohnungsbesitzer und Gemeinden, die aufzeigen, was eine Umnutzung zu Erstwohnungen beiden bringt. Es gibt ausserdem ein Muster-Pflichtenheft für Dorfkernbeauftragte. Solche könnten gezielt die wichtigen Themen vorantreiben: Bestandeserneuerung, Zweitwohnungsaktivierung, Freiraumentwicklung, öffentlicher Regionalverkehr und so weiter. Allerdings hat noch keine Gemeinde eine solche Stelle geschaffen. Auch bei den Hausanalysen steht vom Kanton Geld für etwa zwanzig Analysen bereit. Im Frühling machten vier Architekturbüros aus der Region eine entsprechende Schulung, und seither bieten wir die Hausanalyse in zwölf ländlichen Gemeinden an. Ob sie das Instrument langfristig nutzen werden und wie stark, das liegt nicht mehr in unserer Hand. Der Ball ist nun bei den Gemeinden und Hausbesitzern.

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Florence Schmoll ( 3 8 ) leitet seit 2015 die Abteilung Stadtplanung in Biel und betreute das Modellvorhaben ‹ Entwicklungspoten­ziale von Bieler Genossenschaftssiedlungen ›. Zu­vor leitete die Umweltingenieurin dort verschiede­ne Projekte und absolvierte Weiterbildungen in Raum­ entwicklung und Public Management. Marco Achermann ( 39 ) ist seit 2012 Kantonsplaner von Uri und betreute das Modellvorhaben ‹  Attrak­ tives Wohnen zwischen Gotthard und Reuss­ ebene ›. Zuvor arbeitete der diplomierte Raum­ planer in der privatwirtschaftlichen Projekt­ entwicklung und machte eine Weiterbildung in Public Management.

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Wo die Stadt in die offene Landschaft wächst, haben es Bauern schwer. Im Norden von Lausanne soll ihnen der Leitfaden ‹ Guide urbanisation et agriculture › helfen.

Bauern am Stadtrand

Text: Gabriela Neuhaus

Vom Bahnhof schlängelt sich der Bus Nummer 21 durch die belebte Innenstadt von Lausanne hinauf auf das Plateau von la Blécherette. Ein Kleinflugzeug dröhnt über den Bauernhof am Rand der Landepiste, bevor es ratternd aufsetzt und vor dem alten Hangar zum Stehen kommt. Die Fassade des Pionierbaus aus den Anfangszeiten der Fliegerei steht unter Denkmalschutz. Der gegenüberliegende Gebäudekomplex des Strassenverkehrsamts hingegen muss demnächst einem Ökoquartier weichen. Für den Neubau der Autoprüfstation hat der Kanton Waadt in der Nachbargemeinde Romanel-sur-Lausanne 28 000 Quadratmeter Ackerland reserviert. Die Kantonsstrasse, die von der Busstation la Blécherette in Richtung Osten führt, wurde erst kürzlich verlegt, um auf der Stadtseite für das neue Lausanner Fussball­ stadion la Tuilière Platz zu schaffen. Rund um das Stadion, von dem erst die Betonpfeiler gen Himmel ragen, entsteht eine umfangreiche Geschäfts- und Sportanlage. Bereits fertiggestellt sind die zahlreichen Trainingsplätze entlang der neuen Kantonsstrasse. Wo heute grüner Kunstrasen hinter Maschendrahtzaun leuchtet, spross im letzten Jahr noch Mais und Getreide. Das geplante Ökoquartier gleich neben dem Flugplatz soll Wohn- und Arbeitsplätze für rund 11 000 Menschen bieten. Weitere Siedlungen werden folgen. Laut Zukunftsprognosen werden 2030 in der Region Lausanne-Morges 75 000 Menschen mehr leben als heute. Der im Rahmen des Agglomerationsprogramms ‹ PALM 2016 › erarbeitete Richtplan definiert deshalb zukünftige Siedlungs- und Infrastrukturentwicklungen und klärt Fragen zu Mobilität und Umwelt. Was im umfassenden Planungswerk jedoch fehlt, ist die Landwirtschaft. Nutzungskonflikte auf der grünen Wiese « S eit Jahren passen wir uns den ständig wechselnden Bedingungen an », sagt Eric Ménétrey, der in Le Montsur-Lausanne einen 28-Hektar-Familienbetrieb bewirtschaftet. Er ist Präsident des ‹ Groupement des Agriculteurs du Nord Lausannois › ( GANL ), der die Interessen der Landwirtschaft im Norden von Lausanne vertritt und massgeblich an der Erarbeitung des Leitfadens ‹ Guide urbanisation et agriculture › beteiligt war. Der Anstoss für den Zusammenschluss der Bauern und für das neue Planungsinstrument ging ursprünglich vom Planungsverband ‹ S chéma Directeur du Nord Lausannois › ( SDNL ) aus. Projektleiter ist der Geograf Loukas Andriotis, der das Thema Landwirtschaft im Siedlungsgebiet bereits während seines Studiums untersucht hatte. « Je näher an der Stadt, desto schwieriger ist es für die Bauern, ihre Betriebe zu bewirtschaften », fasst Andriotis das Grundproblem zusammen. « Während Fragen der Umwelt bei den Planern sehr präsent sind, gab es für die Landwirtschaft bis vor Kurzem keine Entwicklungsplanung. » Oben auf dem Plateau von la Blécherette zerschneiden Siedlungen und Strassen die Kulturlandschaft. Die zwölf SDNL-Gemeinden erlebten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den landauf, landab bekannten Wildwuchs: Wohnblöcke und Einfamilienhäuser auf der grünen Wiese, Gewerbe- und Industrieparks, Einkaufszentren, Freizeiteinrichtungen. Hochspannungsleitungen ziehen sich bis zum Horizont durch die sanfte Hügellandschaft, der Verkehr donnert über die Kantonsstrasse und die Autobahn A9 Richtung Vevey und Yverdon. Während es für die Bauern in den Dörfern vor den Toren der Stadt →

Auf einstigem Ackerland wächst das Fussballstadion la Tuilière.

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Eric Ménétrey führt einen Biobetrieb in Le Mont-sur-Lausanne und setzt sich für das Miteinander von Siedlungsentwicklung und Landwirtschaft ein.

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Trügerische Idylle: Entlang der Kantonsstrasse, die gleichzeitig Autobahnzubringer ist, gehören Konflikte zwischen dem Transitverkehr und der Landwirtschaft zum Alltag.

→ besonders eng geworden ist, haben jene weiter im Norden noch etwas mehr Spielraum. Im Einzugsgebiet des Planungsverbands gibt es heute noch 83 aktive Betriebe. Insgesamt bewirtschaften sie rund 2500 Hektaren – die Hälfte des gesamten SDNL-Perimeters. Allerdings gibt es immer weniger grosse zusammenhängende Parzellen. Wohl wurden die Bauern für Grundstücksverkäufe meist reichlich entschädigt, doch müssen sie heute mit ihren Landwirtschaftsfahrzeugen weite Umwege fahren, um zu ihren nunmehr isolierten Parzellen zu gelangen. Zudem gestaltet sich die Nachbarschaft mit den städtisch orientierten Neuzuzügerinnen oft schwierig. Immer wieder komme es vor, dass Hunde ihre Geschäfte auf den Feldern verrichteten, dass sich Bewohner über den Gestank von Gülle oder den Lärm von Erntemaschinen an einem lauen Sommerabend beklagten, berichtet Bauer Eric Ménétrey, um gleich zu relativieren: « In unserem Hofladen hatten wir viele Kundinnen aus den umliegenden Quartieren, darunter junge Menschen, die sich gerne mit uns über Landwirtschaft unterhielten. » Trotzdem hat er diesen Erwerbszweig aufgegeben, weil er zu wenig rentierte.

er – wie viele Landwirte in der Region – als Teilzeitbauer bewirtschaftet. Er begrüsst den neuen Leitfaden, obschon dieser reichlich spät komme: « Ein solches Instrument hätte uns schon vor zehn bis fünfzehn Jahren gutgetan. » Er hofft, dass das Kulturland damit künftig besser vor Begleitschäden der Verstädterung geschützt werden kann. Damit in Zukunft die spezifischen Bedürfnisse der Landwirtschaft im Norden von Lausanne berücksichtigt werden, mussten die Bauern zuerst eine Vision für die Zukunft ihrer Betriebe im zunehmend urbanen Gebiet erarbeiten. Dies geschah im Rahmen von Workshops in enger Zusammenarbeit mit Gemeindebehörden und Agrar­ experten. 2012 formulierte der SDNL, basierend auf den Resultaten dieses Prozesses, elf Massnahmen zum Schutz der Bauernbetriebe in der Region – darunter die Publikation eines Leitfadens für Planungsvorhaben, die landwirtschaftliches Kulturland tangieren.

Pragmatisches Arbeitsinstrument Für die Umsetzung des Projekts, das von 2014 bis 2018 als Modellvorhaben vom Bund unterstützt wurde, mussten die Bauern ihre Sicht der Dinge in einem nächsten Zukunftsvision gefragt Schritt den Bau- und Mobilitätsspezialisten vermitteln. Lange kümmerten sich die Behörden aus Sicht der Das war sowohl für die beteiligten Landwirte wie für die Landwirte zu wenig um die Landwirtschaft im urbanen Planer Neuland. « Anfangs war es schwierig, alle an einen Randgebiet – die Bauern versuchten, sich mit dem Unver- Tisch zu bekommen und eine gemeinsame Sprache zu meidlichen zu arrangieren. « Man musste zuerst begreifen, finden », fasst Andriotis den Prozess zusammen. Und Eric dass die Landwirtschaft eine eigene Kategorie ist », sagt Ménétrey erinnert sich mit Vergnügen an eine VeranstalEtienne Fleury. Der Ingenieur ist Planungsverantwortli- tung, an der er als einziger Bauer vor lauter Planern refecher im Gemeinderat von Cheseaux-sur-Lausanne und rierte: « Für diese war unsere Sichtweise völlig neu, und ich übernahm vor einigen Jahren den elterlichen Betrieb, den musste nachher endlos Fragen beantworten. »

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Entstanden ist schliesslich, in interdisziplinärer Zusammenarbeit, ein dreiteiliger Leitfaden. Der erste Teil vermittelt eine Übersicht über die wichtigsten Herausforderungen für das Planen und Bauen im Landwirtschaftsgebiet. Dazu gehören der Schutz von Landwirtschaftsflächen und deren Bewirtschaftbarkeit sowie die Förderung eines harmonischen Zusammenspiels von Siedlungs- und Landwirtschaftsentwicklung bis hin zur Wahrnehmung neuer Chancen. Der zweite Teil listet in Form einer Checkliste die Fragen auf, die beim Planen und Bauen im Landwirtschaftsgebiet gestellt werden müssen. Zum Beispiel: Befindet sich das Projekt in der Nähe von Viehweiden ? Beeinträchtigt das Bauvorhaben den Zugang zu Parzellen ? Der dritte Teil schliesslich enthält einen Katalog von möglichen Antworten und Empfehlungen inklusive Hinweise auf die rechtlichen Planungsgrund­lagen und -richtlinien wie den kantonalen Richtplan. Dabei soll der Leitfaden nicht nur helfen, Fehler und Schäden zu verhindern, sondern auch, Chancen zu nutzen. Loukas Andriotis betont: « Das Zusammenspiel der Siedlungsentwicklung und der Landwirtschaft kann auch zu Win-win-Situationen führen. » Bereits gibt es einige Hofläden in der Region. Um das Potenzial der Direktvermarktung aber wirklich auszuschöpfen, müssten sich die Produzenten vermehrt zusammenschliessen, um die neuen Quartiere effizienter mit ihren lokalen Erzeugnissen zu beliefern. Ob und wie Behörden und Bauern den Leitfaden nutzen werden ? Viele Entscheide, die die Landwirtschafts­ gebiete betreffen, wurden in der Vergangenheit gefällt und können kaum mehr beeinflusst werden. Zumal der Beizug des ‹ Guide urbanisation et agriculture › freiwillig ist: Keine Gemeinde, kein Bauherr ist gezwungen, ihn zu benutzen. Trotzdem sind die Autoren froh, dass es ihn gibt, wie Projektleiter Loukas Andriotis festhält: « D er ­Guide macht die regionale Landwirtschaft sichtbar. » Er wird ihn auf alle Fälle einpacken, wenn es demnächst gilt, den Ausbau des Chemin de la Sauge zu verhandeln, einer bisher wenig befahrenen Nebenstrasse quer durchs Landwirtschaftsgebiet auf dem Plateau.

‹ Landwirtschaft und Siedlungsentwicklung im Norden Lausannes ›, 2014 – 2018 Themenschwerpunkt:  Natürliche Ressourcen nachhaltig nutzen und in Wert setzen Beteiligte Bundesämter:  ARE, ASTRA, BAFU, BLW, SECO Trägerschaft: Planungs­ verband Nord Lausanne SDNL ( Projektleitung: Loukas Andriotis )

Weitere Beteiligte: Kanton Waadt, Vereinigung der Landwirte Nord Lausanne GANL, Agridea, Equiterre Budget:  Fr. 100 000.— ( Bundesbeitrag 50 000.–, Kantonales Raumplanungsamt 15 000.—, Kantonales Amt für Landwirtschaft 15 000.—, SDNLGemeinden 20 000.— ) Weitere Informationen:  hochparterre.ch /  movo-lausanne-de

Wo Verkehrsachsen die Landschaft zerschneiden, wird das Bewirtschaften von Feldern und Obstgärten zur Herausforderung.

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Früher galt Morenal als Bellinzonas Bronx. Nun bringen ein Sozialabwart und ein Kinderhort frischen Wind in die Siedlung – und für Senioren entsteht ein Neubau.

Sozial aufgemischt

Text: Marion Elmer

Die Siedlung Morenal liegt am äussersten Rand des Dorfs Monte Carasso.

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Noch hat die Sonne kein leichtes Spiel, der Nachmittag ist grau. Zwar mag der L-förmige Betonbau Morenal 1 die nahe Autobahn mit seiner Längsseite aus dem Blick zu verdrängen. Das Rauschen der Autos bleibt aber omnipräsent. Im rechten Winkel zur L-Form ragt nüchtern und achtgeschossig Morenal 2 in die Höhe. Die Gartenbeete dazwischen erwachen langsam aus dem Winterschlaf. Damit für den ersten Frühlingstag alles bereit ist, montiert ein Arbeiter an der Treppe ein neues Holzgeländer. Die Siedlung Morenal steht am äussersten Rand des Dorfs Monte Carasso, bekannt für Luigi Snozzis beispielhafte Ortsplanung. Auch der Gestaltungsplan für die Siedlung Morenal stammt aus Snozzis Feder. Die Besitzerin des Grundstücks, die Familie Guidotti, liess die beiden Bauten 1995 und 1997 von ihm und Guidotti Architetti erstellen. Doch anders als das Dorf war die Siedlung stets schlecht durchmischt und nur dürftig in die Gemeinde­ strukturen eingebunden. Das Bistrot: Treffpunkt für das Dorf « Durch die Laubengänge bläst fast immer der Wind », sagt Rosmarie Oberti. Die 73-Jährige sitzt im Bistrot Morenal, das sich in der Fussspitze der L-Form befindet, und wärmt sich die Hände an einer Tasse Tee. Sie wohnt seit 15 Jahren in Morenal 2, mit den Nachbarn pflegt sie ein gutes Verhältnis. An der Wand lehnen zwei Krücken. Früher war sie oft unterwegs, spazierte den Ticino entlang oder in die nahen Hügel. Seit sie nicht mehr gut zu Fuss ist, kommt sie öfter ins Bistrot. Die Terrasse würde bei Sonnenschein zum Verweilen einladen. Heute bleibt sie leer. Die Siedlung Morenal ist vom Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz ( WEG ) anerkannt, Bewohner mit tiefem Einkommen erhalten Subventionen. Da diese bis 2021 wegfallen, bewarb sich die Familie Guidotti 2014 erfolgreich für ein Modellvorhaben, mit dem sie das Wohnungsangebot neu ausrichtete. Längerfristig sollten in rund der Hälfte der Wohnungen Senioren und Menschen mit Behinderung wohnen: Mit Pro Senectute vereinbarte man, leer stehende Wohnungen zuerst älteren Menschen anzubieten und ihnen einen ‹ custode sociale ›, einen ‹ S ozial­abwart ›, zur Seite zu stellen. Ein Mittagstisch für Schulkinder, ein Hort und eine Mütter- und Väter-Beratung sollten dazu beitragen, die Siedlung zu öffnen und mit der Gemeinde zu vernetzen. Die verantwortlichen Bundesämter loben, wie die private Trägerschaft für ihr Vorhaben mit öffentlichen Ämtern und nichtstaatlichen sozialen Institutionen zusammenspannte. Baulich brauchte es nur wenige Anpassungen: unterhalb des Bistrots einen Mehrzwecksaal, statt Abstandsgrün ein paar Pflanzbee­te für die Mieter und einen Sitzplatz mit Pergola. Rosmarie Oberti hat das Treffen der Seniorinnen an diesem Vormittag verpasst, eine Freundin hat sie in die Physiotherapie nach Sementina gefahren. Oberti besitzt ein Auto, traut sich aber nicht mehr, es selbst zu fahren. « Andrea, der ‹ custode sociale ›, schimpft deswegen mit mir. » Ohne Auto ist sie aufgeschmissen: Die nächste Bushaltestelle befindet sich rund einen Kilometer entfernt im Dorf. « Zum Glück haben wir den Denner », sagt sie. Er belegt das Erdgeschoss von Morenal 2. « Heute kaufe ich alles da », sagt sie und erzählt, dass die Denner-Mitarbeiter ihre Einkäufe jeweils zum Lift tragen. Weitere Gewerberäume befinden sich im Parterre von Morenal 1, auch ein Coiffeur und ein Nagelstudio. Was laut Oberti aber fehlt, sind ein Postschalter und eine Apotheke.

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Der L-förmige Bau Morenal 1 steht mit seiner Längsseite parallel zur Autobahn und verdrängt sie aus dem Blick der meisten Bewohner.

Um 15 Uhr kommt im Bistrot endlich Betrieb auf, aber nur wenige Gäste stammen aus der Siedlung. Sein Lokal sei ein beliebter Treffpunkt für Menschen aus dem Dorf, sagt der Gastwirt. Dennoch laufe der Betrieb harzig: Schuld sei die Tessiner Krise. Auch der Mehrzwecksaal lasse sich weniger gut vermieten als früher. Unter der Woche kämen aber regelmässig bis zu zwanzig Kinder zum Mittagstisch.

begleitet sie zum Arzt, in die Apotheke und schlichtet Konflikte. « Früher hatten die Menschen fast keinen Kontakt untereinander », sagt der Sozialabwart. Das habe sich in den vergangenen vier Jahren verändert. In etwa zwanzig der rund achtzig Wohnungen im Morenal wohnen ältere Menschen, die meisten seit dem Erstbezug. Der Tessiner Immobilienfonds Residentia, der die Siedlung 2016 erwarb, wird auch nach Abschluss des Modellvorhabens mit den Sozialpartnern zusammenarbeiten und das Wohnungsangebot für Senioren weiter ausbauen. Einige der 4 ½-Zimmer-Maisonettes im Morenal 2 werden darum in kleinere Wohnungen umgebaut. Im Süden des Grundstücks erstellen Guidotti Architetti bis 2020 ein drittes Gebäude mit 15 Kleinwohnungen. Und der Gewerberaum neben der Bar wird derzeit in zwei Säle umgebaut: einer für die Seniorinnen und Senioren, einer für den Kinderhort. Probst freut sich: « Dann haben wir neben dem Mehrzwecksaal einen ständig zugänglichen Raum, den wir bedürfnisgerecht einrichten können. »

Der Schutzengel: Mehr als ein Sozialabwart « Mi dispiace », entschuldigt sich Andrea Probst, als er zur Begrüssung seine Pranke ausstreckt. Wegen eines Notfalls im Nachbardorf hat er unsere Verabredung vergessen. Der grosse, stämmige Mann mit Bart ist der ‹ custode sociale › und kümmert sich um die älteren Bewohnerinnen und Bewohner. « Unser ‹ angelo custode › », wirft Rosmarie Oberti ein, der Schutzengel also. Angestellt ist Probst vom Kanton Tessin und von der Pro Senectute. An die Morgentreffen zweimal pro Woche im Mehrzwecksaal kämen manchmal dreizehn, manchmal acht Senioren. « Heute Morgen war das grosse Thema ein Mann, der sich drei Finger abgeschnitten hat », erzählt Probst. Die Runde besteht Der Kinderhort: Wo kleine Drachen hausen mehrheitlich aus alleinstehenden Frauen aus Süditalien, Noch kennen Alex, Aris, Gioele, Jarno und Nathan ihre die gerne plaudern und sich mit dem Kartenspiel Scopa künftigen Nachbarn nicht. Die fünf Buben zwischen vier vergnügen. Probst besucht die Seniorinnen auch in ihren und sechs Jahren sind mit einer Tagesmutter vom KinWohnungen. Er hilft ihnen mit der Post und Rechnungen, dergarten im Dorf zum Hort ‹ L ’ Aquilone › – zu Deutsch →

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Das Trampolin auf dem Spielplatz der Siedlung ist bei den Kindern des Horts L ’ Aquilone äusserst beliebt.

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→ der Drachen – spaziert, der sich derzeit noch in einer Maisonette im Morenal 2 befindet. Nun sitzen sie mit der Hortleiterin Anita Kitanova beim Zvieri. « Wieso sind die Bananen so grün ? », fragt der strohblonde Nathan. « Darf ich noch einen Keks haben ? », bettelt Alex. « Jeder bekommt zwei », sagt die Leiterin und muss aufpassen, dass sich die Buben daran halten. Der Hort hat den Betrieb 2016 aufgenommen. Vor und nach der Schule ist er für Kinder zwischen drei und elf Jahren geöffnet. Die rund ein Dutzend Kinder, die regelmässig hier sind, wohnen aber nicht im Morenal, sondern anderswo in Monte Carasso oder im Nachbardorf Sementina. Während der Schulferien kommen auch Kinder aus anderen Teilen der Grossgemeinde Bellinzona hierher. Im Hort gibt es noch freie Plätze. Die Eltern, die sich früher privat organisieren mussten, brauchten wohl etwas Zeit, um sich mit dem neuen Angebot anzufreunden, vermutet Anita Kitanova. Dennoch strahlt die junge Frau Zuversicht aus. Sie freut sich auf den Umzug in die neuen Räume, wo künftig auch der Mittagstisch stattfinden wird. « Was möchtet ihr unternehmen ? », fragt die Hortleiterin. « Basteln oder auf den Spielplatz ? » Inzwischen hat sich die Sonne durchgesetzt. « Spielplatz ! », klingt es einstimmig zurück. Kaum sind Schuhe, Jacken und Mützen angezogen, stürmen sie los. Auf dem Spielplatz hinter dem Haus sind die Kinder im Nu auf das Trampolin geklettert und hüpfen durcheinander darauf herum. Die Sonne und die fröhlichen Kinderstimmen haben die Siedlung zum Leben erweckt. Ein Teenager flitzt mit seinem Velo quer über die Spielwiese, knapp an einer älteren Signora vorbei, die erst erschrickt, dann aber leise lächelt.

Die Rentnerin Rosmarie Oberti wohnt seit 15 Jahren hier und besucht gerne ab und zu das Bistrot Morenal.

‹ Versuchslabor Morenal in ­Bellinzona: Neupositionierung einer Siedlung ›, 2014 – 2018 Themenschwerpunkt:  Ausreichendes und bedürfnisgerechtes Wohnraumangebot schaffen Beteiligte Ämter:  ARE, BWO Trägerschaft: Morenal, Monte Carasso ( Projekt­ leitung: Sabrina Guidotti ) Weitere Beteiligte:  Pro Senectute Ticino und Moesano ; Vereinigung ­Unterstützung und Home-­ Care, Bellinzona ABAD ( bis Sommer 2018 ), Kan­ tonales Amt für ältere Menschen und Home-­ Care, Konsortium Altersheim, Kreis ­Tessin ;

Pro ­Infirmis Tessin und Moesano, Kantonales Amt zur Unterstützung von Institutionen und Aktivitäten für Familien und ­Jugendliche  ; Vereinigung Tagesfamilien Sopraceneri ( AFDS ), Kantonale Stelle für Raum­entwicklung  ; Gemeinden von ­Monte ­Carasso, ­Bellinzona und Sementina Budget:  Fr. 620 000.— ( Bundesbeitrag 150 000.—, Partner 340 000.—, Trägerschaft 130 000.— ) Weitere Informationen:  hochparterre.ch /  movo-bellinzona-de

Andrea Probst, der ‹ Sozialabwart ›, hilft den älteren Bewohnern der Siedlung mit der Post, begleitet sie zum Arzt oder schlichtet Konflikte.

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« Unsere Arbeit ist Anlass und Ziel: Wir stossen Projekte an, unterstützen und vernetzen die Akteure. »  Guirec Gicquel

« Ein Katalysator für bestehende Ideen » Ein Modellvorhaben der zweiten Generation war Geburts­ helfer der ‹ IBA Basel 2020 ›. Ein Gespräch über deren Lancierung, was seither geschah und was ab 2020 kommt. Interview: Palle Petersen

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Beginnen wir grundsätzlich: Was ist eine IBA ? Dirk Lohaus: Die Internationalen Bauausstellungen stammen aus Deutschland. Architekten kennen Darmstadt 1901 und Stuttgart 1927 als Meilensteine des Jugendstils und der Moderne. In den Siebzigern und Achtzigern beschäftigten sich drei Berliner IBA mit städtebaulichen Fragen des Wiederaufbaus sowie der Stadterneuerung. Dann brachte in den Neunzigern die IBA Emscher Park einen Kulturwechsel. Im nördlichen Ruhrgebiet, wo die Industrie zusammenbrach, bewegte sie Milliarden von Mark und stiess einen gigantischen Strukturwandel an. Seither sind die IBA Instrumente ganzheitlicher Stadtund Regionalentwicklung – das will auch die IBA Basel sein. Allerdings hat sie klar weniger Eigenmittel und ist die erste grenz­überschreitende IBA überhaupt. Das Trinationale ist das eigentliche Wagnis: Im Grossraum Basel leben 900 000 Menschen in 250 Gemeinden, und es gibt 70 000 Grenzgänger. Wie lässt sich dieser Raum gemeinsam gestalten, das grenzüberschreitende Zusammenleben fördern ? Wie kann man, wie es das ­IBA-Motto anstrebt, ‹ gemeinsam über Grenzen wachsen › ? Der Schlüssel heisst Kooperation, und darum fokussiert die IBA Basel auf Prozesse. Sie ist ein Katalysator für bestehende Ideen, eine eigentliche Projektentwicklungsmaschine. Wer hatte die Idee zur IBA Basel ? Dirk Lohaus: Es gibt verschiedene Gründungsmythen. Die IBA entstand aber sicherlich im Dunstkreis des Basler Planungsamts sowie des ‹ Trinationalen Eurodistrict Basel › ( TEB ), bei dessen Vorläufer ich ab 2006 arbeitete. Nur kurz: Die Euro­districts stammen aus der Ära Chirac und Schröder und erweitern die klassische Regionalplanung um Themen wie Energie, Gesundheit, Tourismus, Zivilgesellschaft und so weiter. Im TEB erarbeiteten wir also die Entwicklungsstrategie ‹ Zukunft zu dritt ›. Letzt-

lich sind solche Konzepte wichtige, aber abstrakte Grundlagen – rosa Schattierungen auf grünem Grund mit den Verkehrsträgern als dunklen Linien. Aber was heisst das räumlich für konkrete Orte von morgen ? Die IBA-Projekte liefern Antworten. Was macht die IBA nun und mit welchen Mitteln ? Guirec Gicquel:  Aktuell arbeiten zehn Personen aus unter­ schiedlichen Disziplinen in der IBA-Geschäftsstelle, die Hälfte von ihnen wie ich an Projekten. Finanziert wird die Geschäftsstelle durch europäische und nationale Fördermittel sowie verschiedene Gebietskörperschaften der drei Länder, von der kleinen Gemeinde bis zum Bundesland. Die Projektarbeit ist Anlass und Ziel zugleich. Wir stossen Projekte an, unterstützen, vernetzen und koordinieren die Akteure. Wir beraten die Projektträger inhaltlich und helfen ihnen bei Förder- und Bewilligungsanträgen. Diese Projektentwicklungsarbeit verstehen wir als Einheit mit Partizipations- und Kommunikationsprozessen sowie Veranstaltungen. Und manchmal, wenn es nötig ist, leisten wir auch eine Anschubfinanzierung. Ein Beispiel für eine solche Startfinanzierung ? Guirec Gicquel: Nehmen wir die Projektgruppe ‹ Rheinliebe ›. Von den Projekten, die wir für die IBA auswählten, beschäftigten sich mehrere mit dem Rhein als Natur- und Freiraum. Als wir dann die Gemeinden trafen, sprachen alle über dasselbe: Baden, Sport- und Spazierwege, Aufwertung und Schutz. Doch niemand hatte die Legitimität oder Struktur, um eine gemeinsame Studie zu lancieren. Die IBA konnte das. Seit 2013 haben wir insgesamt 110 000 Franken ausgegeben. Für ein so grosses Gebiet und mehrere Jahre ist das eine winzige Summe. Aber sie ermöglichte eine gemeinsame Sicht auf den Rhein. Heute gibt es einen Massnahmenplan und ein Handbuch. Sie definieren ein Wegnetz und wichtige Schlüsselräume wie den ‹ Canal d’Alsace › als längste Flusspromenade Europas. Es gibt Massnahmen von XS bis L für Ausblicksorte, Einoder Ausstiegspunkte zum Baden sowie Aufwertungen für Pflanzen und Tiere. Ausserdem gibt es Gestaltungsricht-

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« Die Gretchenfrage ist: Wie kommen Projekte ins Rollen, wenn es die IBA Basel nicht mehr gibt ? »  Dirk Lohaus

linien für Markierungen, Sitzelemente, Bojen, Sonnenschirme und dergleichen. Das ist ganz handfest: Bestellt man mehrmals dieselbe Bank, sinkt der Preis, und man bekommt ein einheitliches Bild. Dirk Lohaus:  Das ist typisch IBA: Sie übernimmt wenn nötig eine Anschubfinanzierung, beispielsweise für ein Beratungsmandat oder eine Studie. Wenn eine Idee dann konkret und sichtbar wird, findet man einfacher Geld. Das ist eigentlich ähnlich wie bei den Modellvorhaben, die auch häufig Geburtshelfer sind. Auch bei der IBA Basel diente ein Modellvorhaben als Geburtshelfer, oder ? Dirk Lohaus: Richtig. 2007 war die IBA nicht viel mehr als eine Idee, und es war schwierig, Mittel zu bekommen. Über ein Modellvorhaben der zweiten Generation erhielten wir 50 000 Franken, die Stadt Basel und der TEB brachten den Rest von insgesamt 165 000 Franken. Das war das Budget für den Lancierungsprozess. Wir finanzierten damit eine externe Prozessbegleitung, Workshops mit Gemeinden und Interessengruppen, eine Stelle beim Planungsamt des Kantons Basel-Stadt und meine Stelle beim TEB. Wir haben Strukturen aufgebaut, den Entwurf für ein Memorandum verfasst und in der Ausstellung ‹ IBA meets IBA › vergangene und aktuelle IBA sowie unsere Pläne für die IBA Basel vorgestellt. Schliesslich gründeten wir 2010 das IBA-Büro als TEB-Tochterfirma in Basel, und ich wechselte in das neue Gefäss. Damit endete das Modellvorhaben, und die IBA begann. Wie ging es nach dem Modellvorhaben weiter ? Dirk Lohaus: Wir starteten mit einem bewusst offenen Projektaufruf. Von etwa 130 eingereichten Projekten wählten der Lenkungsausschuss und das Kuratorium etwa 45 aus. Diese Projektlandschaft zeigten wir als ‹ IBA Forum ›, und die Projektträger stellten sich im Pecha-Kucha-Verfahren vor. Bei diesem Forum sahen wir erste Gemeinsamkeiten, und die Träger vernetzten sich. Anschliessend etablierten wir ein Qualifizierungsverfahren mit klaren Stufen und Kriterien für IBA-Projekte: Kandidatur, Vornominierung, Nominierung, Labelvergabe. Guirec Gicquel: Das ist ein wichtiger Punkt, denn nebst einer Kooperationsstruktur ist die IBA vor allem ein Qualitätslabel. Wir unterstützen die Projekte, wo es nötig ist, insbesondere bezüglich ihrer grenzüberschreitenden Dimension. Manche ziehen sich dann zurück, wenn sie die inhaltlichen Lücken nicht schliessen können oder wollen. Ohnehin ist die Projektlandschaft ständig im Wandel: Eine

Gruppe löste sich auf, weil ein Projekt nicht realisierbar war, ein anderes Projekt war zu spät, und ein drittes passte nicht in die IBA-Laufzeit. Die Gruppe ‹ Rheinliebe › entstand, wie bereits erwähnt, erst im Lauf der Zeit. Dasselbe gilt für die Gruppe ‹ Kiesgruben 2.0 ›. Anfangs war diese ein Projekt, doch die Teilprojekte wurden so aufwendig und relevant, dass wir sie zu eigenständigen Projekten machten und in einer Gruppe zusammenfassten. Was passiert nun mit den Kiesgruben ? Guirec Gicquel: Zurzeit sind sieben Gemeinden beteiligt, und es geht um einen jahrzehntelangen Prozess der Renaturierung und Nachnutzung. Rund fünfzig Kiesabbaugruben sollen zu Landschaftsräumen werden, mit Fuss- und Fahrradwegen, Biotopen, Baggerseen und Wohnsiedlungen. Auch hier haben wir eine Studie finanziert, die Grubentypen und Nutzungsszenarien definiert. Bei drei Gruben wird es nun konkret, und der ‹ IBA Parc des Carrières › ist der Leuchtturm darunter: Elf Hektaren mit mehreren Kiesgruben liegen in einer Agrar- und Industriezone zwischen Basel und Saint-Louis. Der Siedlungsdruck ist immens, und darum muss man Freiraum sichern. Das Gebiet ist für 40 000 Menschen leicht erreichbar, aber fast unbekannt. Nun wandelt sich die Terra incognita zum Identitätsträger: 2014 unterschrieben die Gemeinden und Land­ besitzer eine Absichtserklärung. 2017 baute Saint-Louis den ersten Grünkorridor. Ende 2018 soll ein Verein gegründet werden, um den Prozess zu steuern. Bis 2025 entstehen dann weitere Fuss- und Fahrradwege, Naturkorridore und in der Mitte ein Spiel- und Begegnungsort. Was passiert mit den anderen Projekten, wenn die IBA 2020 endet ? Dirk Lohaus:  Die Projekte haben sich beeindruckend entwickelt, und es wird in den nächsten Jahren darum gehen, stabile Trägerschaften und Finanzierungsmodelle aufzubauen. Hier scheint mir die IBA auf gutem Weg. Die Gretchen­frage aber lautet: Wie kommen solche Projekte überhaupt ins Rollen, wenn es die IBA nicht mehr gibt ? Die letzten Jahre haben den Bedarf für eine Institution gezeigt, die grenzüberschreitende Projekte anstösst, begleitet und dazu auch mandatiert ist. Ideal wäre darum wohl ein dauerhaftes, grenzüberschreitendes Projektmanagement, das regionale Entwicklungsstrategien begleitet, wie sie beispielsweise die Agglomerationsprogramme darstellen. Ich bin überzeugt: Funktional-räumliche Planung braucht neutrale Institutionen, die vorhandene Akteure unterstützen und vernetzen. Auch nach der IBA.

Guirec Gicquel ( 38 ) ist Landschaftsarchitekt und Planer. Er arbeitete sieben Jahre bei einem un­ ter anderem auf Kies­ gruben spe­zialisierten Um­ weltbüro, bevor er 2014 zur IBA Ba­sel kam. Bis im Frühling 2018 leitete er dort das Handlungsfeld Landschaftsräume, zu dem die Projektgrup­ pen ‹ Kiesgruben 2.0 › und ‹ Rheinliebe › zählen.

Dirk Lohaus ( 46 ) ist Städte­ bauer und Stadtplaner. Er arbeitete seit 2006 für den ‹ Trinationalen Euro­district Basel ›, wechselte 2010 zur IBA Basel und blieb dort als Projektleiter und stellvertretender Geschäftsführer bis 2017. Heute leitet Lohaus die Fachstelle Raum- und Verkehrsplanung der Stadt Langenthal.

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Raum und Ressourcen sind knapp, Kulturland und Natur sind unter Druck. Wie lassen sich die vielen Ansprüche klug unter einen Hut brin­ gen ? Wie lassen sich administrative, hier­ archische und politische Grenzen überwinden ? Von 2014 bis 2018 suchten 31 ‹ Modell­vorhaben Nachhaltige Raumentwicklung › nach Antworten. Eine Publikation über Ziele und Wege, Experimente und Scheitern, Mensch und Umwelt. www.modellvorhaben.ch

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