Im Unterengadin

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Themenheft von Hochparterre, Mai 2019

Im Unterengadin Zu Besuch bei Architektinnen, Bauherren, KĂźnstlerinnen, Bauern, Hoteliers, IT-Firmen, Politikern und Dichterinnen am Rand des Landes.

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Inhalt

Editorial

4 Grossvaterlandschaft Wie nationale Solidarität das Tal verändert hat, indem es seiner Gesellschaft den Vereinatunnel bescherte.

6 Lawinenlandschaft Was das Tal dank seiner grossen Erfahrung mit Naturgefahren und den Schutzbauten für den Klimawandel lernen könnte.

10 Kunstlandschaft Wie sich von St. Moritz bis Sent Weltkunst und Kapital verbündet haben und wieso die Kirche von Lavin das wichtige Kunsthaus bleibt.

14 Bauernlandschaft Wie starke Traktoren die Bauern als Produzenten hochleben lassen und deren Zukunft das Landschaftsgärtnern wird.

18 Alte Dorflandschaft Wie Schellen-Ursli und Flurina schon lange ausgewandert sind – Strasse, Platz, Raum ihres Dorfs aber anregend bleiben.

22 Neue Dorflandschaft Wie die Überbauung Monolit in Scuol etwas alpenweit Seltenes probiert: einen städtebaulichen Plan fürs Dorf.

28 Architekturlandschaft Wie 15 Perlen der zeitgenössischen Architektur von Zernez bis Scuol aus dem solide gebauten Einerlei herausleuchten.

Im Unterengadin

« Hoch in den Bergen, weit von hier, da wohnt ein Büblein, so wie ihr … » Es heisst Schellen-Ursli. Seine Dichterin Selina Chönz und ihr Zeichner Alois Carigiet haben das Schönbild des Engadiner Dorfs in Hunderttausenden Köpfen befestigt. Zu ihm hat die Schweizer Gesellschaft vor gut zwanzig Jahren den Vereinatunnel vom Prättigau ins Unterengadin gebaut und dafür 812 Millionen Franken bezahlt. Das grösste Bauwerk Graubündens hat das Tal nachhaltig verändert. Ich habe erkundet, wie die Landschaften und Dörfer heute aussehen. In Gesprächen mit Dortgebliebenen, mit Zuwanderinnen, mit Rückwande­rern – den Randulins – habe ich erfahren, wie sich die Erinnerungs-, die Lawinen-, die Kunst-, die IT-, Schön- und Gebrauchslandschaften verändert haben, und ich fand Perlen des zeitgenössischen Bauens, die Architek­tinnen und Bauherren in den Dörfern errichtet haben. Fotografiert hat die Landschaften Jaromir Kreiliger aus der Surselva. Der Kulturpreis des Kantons Graubünden zeichnet sein werdendes Werk dieses Jahr mit einem Förderpreis aus. Das Unterengadin ist eine Literaturlandschaft. Eine der ersten Bibeln der Alpen wurde dort gedruckt, Gedichte von Autorinnen zwischen Zernez und Tschlin stehen bei meinen Feuilletons und Jaromirs Bildern, unsere Themen in Vallader singend. Hansueli Baier, ein in Graubünden und im Tal vielseitig tätiger Unternehmer, hat dieses Heft angeregt und es grosszügig unterstützt. Dafür danke ich ihm, ebenso wie den zahlreichen Unterengadinerinnen, Enga­dinern und Auswärtigen, die Jaromir und mir auf die Sprünge geholfen haben. Köbi Gantenbein

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor  Köbi Gantenbein  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept, Redaktion und alle Texte  Köbi Gantenbein  Fotografie  Jaromir Kreiliger, www.jaromirkreiliger.ch  Art Direction und Layout  Antje Reineck  Produktion  René Hornung  Korrektorat Lorena Nipkow, Dominik Süess  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Stämpfli AG, Bern Herausgeber  Hochparterre AG, Zürich Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Der alte Hohlweg unterhalb der Ruine Chanoua bei Ardez mit Blick zu den mächtigen Felswänden des Piz Son Jon und in die Lischana-Gruppe. Themenheft von Hochparterre, Mai 2019 —  Im Unterengadin — Inhalt

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Das Hotel Lischana in Scuol mit Erker und Balkon hat bessere Tage gesehen.

Grossvaterlandschaft Mein Grossvater war Schreinermeister in Jenaz im Prättigau, dem Tal im Norden hinter dem Flüela- und Vereinapass. Als Bub begleitete ich ihn zum Holzhändler nach Ramosch, « nach Remüs », wie er sagte. Wir mussten morgens um sieben Uhr auf den Zug und fuhren mit der Rhätischen Bahn via Chur übers Albulatal nach Samedan und Scuol. Dreimal umsteigen und in Scuol noch aufs Postauto, bis wir in Ramosch waren. Nach dem Zvieri in der ‹ Post › ging es wieder heimwärts. Übernachtet haben wir auf dem Rückweg im Hotel Lischana in Scuol, weil Grossvater hier einmal Arvenmöbel liefern konnte. Angeschrieben war es in seiner Glanzzeit vor hundert Jahren in Fraktur. Sein erneuter Aufschwung liess die Frakturschrift stehen und malte die Zuversicht mit breit gesperrten Versalien aus einer Groteskschrift auf die Fassade: Fortschritt, Zukunft, Tea Room. So kannten es mein Grossvater und ich. Obschon alles da ist, ein Haus, gut geraten mit vielen schönen Details, ein Pärklein, ein Parkplatz, eine Busstation, Bahnhofsnähe und gelegen am Stradun, der Hauptstrasse von Scuol, sind seine Türen geschlossen. Heute dauert eine Fahrt von Jenaz ins Unterengadin 49 Minuten, denn seit 1999 ist der Vereinatunnel der Rhätischen Bahn geöffnet. Jede Stunde verkehrt vom frühen Morgen bis in die Nacht ein Schnellzug in beide Richtungen, dazu immer wieder einer, der ins Oberengadin fährt, und je nach Verkehr zwei bis vier Autozüge pro Stunde. Im Unterengadin von Zernez bis Tschlin leben gut 8000 Einwohnerinnen und Einwohner. Sind wir grosszügig und nehmen die Feriengäste, die Grenzgängerinnen, die Samnaunerinnen und die Bewohner des Val Müstair dazu, so kommen wir auf 12 000 Menschen. Für 812 Millionen Franken hat die Schweiz ihnen das Tunnel als Verbindung mit der Welt gebaut. Das Land und seine Gesellschaft haben für die Solidarität unter ihren Regionen ein Räderwerk eingerichtet, das nach 1930 die wirtschaftlichen und kulturellen Zentren mit den Ansprüchen der vielgestaltigen Randregionen im Jura und in den Alpen zu verbinden begonnen hat – eine Raumpolitik, wie sie keines der Länder

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rund um die Schweiz kennt, geprägt vom Service public, nicht von der Profit- und Marktwirtschaft. Getragen von Milliarden Franken Umverteilung – über Räume, nicht über Menschen. Mich beeindruckt, wie die Generationen dieses Räderwerk mit Bauten wie dem Vereinatunnel geölt haben und wie wir es am Laufen halten. Keine idyllische Insel Ich sitze vor dem ‹ Lischana › und stelle mir vor, die Kellnerin brächte einen Tee aus dem Tea Room. Um mich herum schwärmten braun gebrannte Herren in gelben Pullovern und elegante Damen mit lackierten Haaren und Keilhosen, Zigaretten rauchend. Das Unter­engadin wäre auch ohne Vereina nicht im Zustand der Hotelruine, dafür hat es zu viele Untergänge überlebt. Aber es wäre eine Insel in den Alpen. Es lebten wohl bloss 3000 Menschen hier ihre eigene Zeit, abgeschieden von der Welt, mit Flächenbeiträgen, Kantonsstrassen, Spital und demselben Preis für den Liter Milch im Coop, wie die Zürcherinnen und Churer ihn bezahlen. Natürlich bin ich melancholisch, dass die Enkel von heute die langen Reisen mit ihrem Grossvater nicht mehr machen. Aber es liegt mir nicht, der Idylle, der Insel zu trauen, die viele verlassen, sobald sie erwachsen werden. Und ich habe Mitleid mit dem Hotel, ermattet wie so viele im Tal. Sein Bild ist keine Zuversicht für die Alpen als Lebensraum, auch wenn diese Entwicklung möglich wäre. Mich beeindruckt darum die Phantasie derer, die eine Renaissance ihres Tals, des Unterengadins, wollen. Mir gefällt die Anstrengung des Staats und der Gesellschaft, die sie stützen – die Solidarität von ils quals da la bassa. Und ich wundere mich immer wieder, wie im Gegenzug die Menschen in diesem Tal politische Vorlagen an der Urne ablehnen, die Solidarität mit sozial Benachteiligten anderswo im Land fordern, mit Geflüchteten und Gestrandeten zum Beispiel. Oder wie sie die Aufbrüche des Landes nach aussen, so wie der Vereina sie ihrem Tal ermöglicht hat, in Volksabstimmungen abschmettern.

Themenheft von Hochparterre, Mai 2019 —  Im Unterengadin — Grossvaterlandschaft

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Gonda Tuots sun passats … Mô cur chi vain la prümavaira Cur chi vain la stà Cur chi vain l’utuon E cur chi vain l’unviern Dvaintan nouvas tias müraglias Aint illa flur dals alossers Aint illa crappa s-chodada dal sulai Aint illa föglia gelgua dal baduogn In la naivera e glatschera Giran lur spierts In erramaint Cregns d’increschantüm …

Glasfaser und Landschaftsschutz

Tuots sun passats.

Gonda Alle sind gegangen … Doch wenn der Frühling kommt Wenn der Sommer kommt Wenn der Herbst kommt Und wenn der Winter kommt Werden neu deine Gemäuer In der Blüte der Traubenkirsche Im sonnenwarmen Stein Im gelben Laub der Birke Im Schnee und Eis Weben ihre Geister Irren umher Trunken von Heimweh … Alle sind gegangen.

‹ Tuots sun passats. / Alle sind gegangen ›. Abgedruckt im ‹ In Viadi /Unterwegs ›. Luisa Famos. Übersetzt von Luzius Keller. Limmat Verlag, Zürich 2019. Nach langen Jahren sind in diesem Bändchen die Gedichte der grossen Engadiner Dichterin seit Kurzem wieder zu haben.

Not Carl war mit 28 Jahren Gemeindepräsident von Scuol, Präsident des Grossen Rates des Kantons Graubünden und Präsident überall. Mit fünfzig geriet er in eine Krise und fuhr nach Kanada. Seit ein paar Jahren ist er wieder da, Rechtsanwalt über 70, engagiert in der Regionalpolitik und bei den Kraftwerken. Er ist einer der beherzten Kämpfer für den Wasserzins in den Alpen: « Massgebend war der Vereina. Mit ihm spekulierend haben wir das Bogn Scuol gebaut, als Service public, mit fünfzig Millionen, in den Neunzigerjahren. Jedes Jahr gibts Defizit, aber das macht nichts, denn entscheidend war, dem Tal eine Zukunft zu geben. Genauso die Bergbahn. So begann der Ganzjahrestourismus. Nur er schafft gute Dauerstellen und ermöglicht den Familien, hierzubleiben. Der Zukunft stehen nicht die Finanzen und andere Realitäten im Weg. Probleme sind der Kopf, die Idee, der Glaube, das Unternehmertum. In der politischen Elite fehlen Unternehmer, Macher, Bewegliche. Die politischen Ämter beanspruchen heute zu viel Zeit. Wir sind langsam, die Abläufe sind zäh, alle wollen immer sicher sein. Ein grösseres Bauvorhaben braucht sieben Jahre Planung, bevor nur ein Stein auf den andern gesetzt wird. Und dann leisten sich die Baumeister noch den grossen Betrug im Kartell, bis die Busse der Weko aus Bern vorfahren. Unglaublich. Ich engagiere mich für die Digitalisierung des Tals. Sie braucht gute Infrastrukturen, die die Swisscom dem Rand der Schweiz nicht geben wollte. Wir rentieren nicht. Also müssen die Gemeinden selbst bauen. Das Fenster war kurz offen. Durchs Engadin führt eine für Europa wichtige Hochspannungsleitung. Swissgrid will sie aufrüsten. Als Vertreter der Gemeinden bestand ich darauf, dass im Gegenzug alle anderen Stromleitungen in den Boden verlegt werden. Dadurch verschwinden nun 1300 Strommasten im Engadin. Und der Landschaftsschutz hat die Digitalisierung angetrieben, denn wir bestanden auf einem eigenen Leerrohr im gleichen Graben. Dort hinein kommt die Glasfaserleitung. Unser Hebel war: Entweder Graben plus Leerrohr, oder wir ziehen bis vor Bundesgericht. So haben die Firma Mia Engiadina und die Gemeinden nun Glasfasern, die durch den Vereinatunnel nach Landquart führen und die wir zuunterst im Tal mit Tirol verbinden. Möglich geworden ist das, weil nun auch die Rhätische Bahn in unserem Rohr eine sichere Leitung hat und uns dafür ihre eigene Verbindung nach Landquart zur Verfügung stellt. »

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Lawinenverbauung unter dem Piz Chastè zwischen Susch und Lavin.

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Lawinenlandschaft Herbstnebel über Lavin. Im Winter geschützt von den Rechen aus Stahl. Denn vom Piz Chapisun auf fast 3000 Metern über Meer donnerten vor der Zeit der Verbauungen die Lawinen ins Dorf. Das muss die Menschen schon im 12. Jahrhundert geprägt haben. Sie nannten ihr Dörflein ‹ Lawinis ›. Denn der lebensbedrohenden Winterlandschaft zum Trotz blieben sie über all die Jahrhunderte da. Weder Pest noch Brand- und Kriegsverheerungen konnten sie vertreiben. Und selbst in der alles verändernden Neuzeit, die die Alpenbevölkerung massenhaft aus den Tälern trieb, blieb das Dorf bestehen. Der Trotz gegen die Lawinen kräftigt auch den Widerstand gegen die Rede, es sei nun das Ende der volkswirtschaftlich teuren, potenzialarmen Täler nahe. Die Menschen gehen auch nicht weg, weil sie einen Schatz in ihrer Laviner Kirche haben – aufgemalt über dem Chor wacht der Heiland mit vier Augen und wirft seinen sorgenden Viererblick jederzeit überall hin. Rufen die neoliberalen Besserwisser ‹ Alpine Brache ›, wissen sie nicht, mit welchem seiner vielen Ohren der Heilige zuhört, und also nützt es nichts. 1808, 1827, 1851, 1863, 1888 – das waren die Lawinenwinter im 19. Jahrhundert. Wie viele Bergbauern und -bäuerinnen im Engadin damals umkamen, weiss niemand, denn es gab noch kein Lawinenforschungsinstitut, das wie heute alle Opfer zählt. Man hatte Mitleid mit den zerstörten Dörfern, und wie nach den Dorfbränden spendete man. Die grosse Mehrheit der Schweizer hatte im 19. Jahrhundert aber anderen Kummer mit der Natur: Unwetter und Hochwasser. Regelmässig wurden Teile des Mittellandes überschwemmt. Mit Generalmobilmachungen gegen das Wasser traten die Ingenieuroffiziere an und entwarfen auch einen Schlachtplan fürs Gebirge: Wer die Alpen schützt, wer ihre Wälder pflegt, der rettet das Schweizerland vor dem Hochwasser. Man gab nämlich den kahlen Hängen, die auch die Unterengadiner für Land-, Weideund Holzgewinn über weite Strecken gerodet hatten, die Schuld an den Überschwemmungen. Die fehlenden Bäume tränken das viele Wasser nicht mehr, und dieses wälze sich darum ins Unterland, alles überschwemmend. Forstpolizeigesetz und Verbauungen Auch wenn das so nicht stimmte und das Engadiner Wasser eh in die k. u. k. Monarchie floss, war es eine wirksame Propaganda für die erste Berggebietspolitik der Eidgenossenschaft. Ab 1876 ging das schweizerische Forstpolizeigesetz rigoros gegen Brandroder, Holzer und Waldbauern in den Alpen vor. Deren Kantone wehrten sich gegen die Zumutung, dass ihr Hunger das Elend des Unterlandes bedeute – Holz war auch im Unterengadin eines der wenigen Exportgüter. Der Widerstand war vergeblich ; dafür zahlte der Bund den Aufwuchs von Bannwäldern, die Lawinen- und Wasserverbauungen. Oberhalb von Martina zuunterst im Unterengadin liess Johann Wilhelm Fortunat Coaz, der eidgenössische Oberförster, die ersten Lawinenverbauungen in den

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Alpen bauen – er hatte sie selbst entworfen: 19 Mauern von 400 Metern Länge und 500 Meter Holzpfähle hoch oben am Hang. Heute sichern allein über dem Engadin 71,5 Kilometer Verbauungen in Wällen, Mauern, Rechen und Netzen die Dörfer und Strassen. Coaz, Bürger von S-chanf, lehrte vor 150 Jahren, dass die Gefahr verbaut werden kann ; und es war Coaz, dem Naturforscher, Erstbesteiger mehrerer Berge im Unterengadin und Mitgründer des Nationalparks, wichtig, die Gefahr zu vermeiden – indem man « sie bei ihrem Anbruche bekämpft ». Die Lawinen sollen oben bleiben und nicht hinunter ins Tal donnern. Ursache, nicht Wirkung – das kollektive Gedächtnis des Unterengadins weiss, wie Räume, Landschaften und Menschen vor natürlichen und selbst fabrizierten Gefahren zu sichern sind. Dieses Wissen ist robust verbaut in Stahl und Beton hoch oben – die Zukunft hat es nötig. Denn glauben wir den Klimaforschern, stehen den Alpentälern gewaltige Prüfungen bevor, wenn das Klima den Permafrost auflöst und die Hänge beweglich macht. Wer sich ein Bild davon machen will, dem empfehle ich die lange Wanderung von S-charl durch die Val Minger, dann über dessen Pass hinunter in die grossräumig verschüttete Val Plavna, wo unter den Gerölllawinen langsam das Moos hervorkriecht als Pionierpflanze nach der Katastrophe. Autoverliebtheit und Energiestadt Wer im Unterengadin lebt, fährt Auto. Das Postauto ist für die Feriengäste da. Hunderte fahren am Morgen aus Südtirol oder Tirol herbei zur Arbeit und am Abend wieder nach Hause. Die Mobilität im Tal ist klimafeindlich, auch die Vereinabahn bringt huckepack das Auto ins Tal. Gewiss: Wie im Unterengadin ist es überall in den Alpen. Stumm, taub und uneinsichtig wie die autoverliebten Unterengadiner ist auch ihre kantonale Regierung in Chur und erst recht das Parlament – es gibt keinerlei Anzeichen für eine griffige Klimapolitik; wenn schon, sollen die in Bern handeln. Und die sagen: Wenn schon, sollen die in der Welt draussen handeln. Wir aber schauen zu. Immerhin: Seit 2018 ist Scuol ‹ Energiestadt › und hat versprochen, die im Unterland entwickelte Idee der 2000-Watt-Gesellschaft auch im Unter­engadin voranzubringen. Ein Beispiel ist umgesetzt: Die Architekten Fanzun haben in der neuen grossen Siedlung Monolit in Scuol ein Pionier- und Forschungsvorhaben für den nachhaltigen und sorgsamen Umgang mit Energie installiert. Noch bessere Werte als Scuol erreicht übrigens die ‹ Energiestadt Val Müstair › mit einem erstaunlich hohen Anteil an Sonnenenergie und einer gut ausgebauten Förderung jener Haushalte, die Energie sparen wollen. Den zu uns Heutigen passenden Katastrophenschutz aber haben die Laviner schon lange gebaut. Auf dem Weg nach Guarda stehen kleine Hüttchen aus Stein am Wegrand. Donnern die Lawinen herunter, kann dort hineinspringen, wer hurtig genug ist. Und über ihm deckt die Katastrophe die Welt zu.

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Vivian L’es gnü be a l’improvista e sainza remischiun, il Vivian. Mo quai chi’d es crodà nun es crodà be per cas, e quai chi sta amo in pè nu sta in pè be per cas. E fingià vain l’uman a far uorden cul uorden.

Vivian Unerwartet und unerbittlich ist er gekommen, der Vivian. Aber was gefallen ist, ist nicht zufällig gefallen, und was noch steht, steht nicht zufällig. Und schon kommt der Mensch und macht Ordnung mit der Ordnung. ‹ Vivian ›. Rut Plouda. Abgedruckt in ‹ Ikarus über Graubünden. L’Icarus grischun ›, Peter Donatsch, Chasper Pult ( Übersetzung ), Rolf Vieli. AT Verlag, Aarau 1995.

Mia Engiadina Jon Erni kommt aus Tschlin. Er zog ins Unterland, wurde Manager in der IT-Branche, war zuletzt Direktor für das Grosskundengeschäft bei Microsoft: « Die Digitalisierung verändert die Distanzen radikal. Es spielt keine Rolle mehr, ob ich in Zürich sitze oder in Tschlin. Der Schlüssel ist die Glasfaser, die grosse Datenmengen transportiert. Wir bauen einen digitalen Werk­ zeug­kasten für die Bildungs-, Ferien-, Gesundheits- und Arbeitsregion auf. Das Netz bleibt im öffentlichen Besitz. Die private Firma Mia Engiadina Marketing bündelt und verkauft die Angebote. Internetdienste, Abonnements für Fernsehen und Telefon. Ziel sind tausend Kunden. Wer will, dem bauen wir die Glasfaser zum Haus. Kostet ein Service 100 Franken, gehen 60 Franken davon an die Infrastrukturfirma der Gemeinden, 40 Franken an unsere. Die Investitionen betragen je nach Ausbau zwischen 10 und 20 Millionen. Das Netz stützt bestehende Unternehmen: Eine Ingenieurfirma braucht es für ihre Datenmengen, das Spital braucht es, Private werden es immer mehr wollen. Das ist im Unterengadin nicht anders als in Zürich. Wir bauen auch neue Dienste auf: ‹ Third Place › heisst temporäres Arbeiten in unserer Ferienregion. Da-

für sind wir auch sichtbar, mit einem Laden in Scuol mit Coworking-Arbeitsplätzen. Der Leuchtturm aber wird der ‹ InnHub › in La Punt. Einer der Investoren hat den Kontakt zum Architekten Norman Foster hergestellt. Wir baten ihn um Rat. Er ist ja schon lange mit dem Engadin verbunden. Da sagte er: ‹ Wir entwerfen das Haus. › Für uns ist das ein Glücksfall, denn Foster ist ja weitherum bekannt. Der ‹ InnHub › wird ein Zentrum der Begegnung und der Digitalisierung. Nicht nur für IT-Firmen. Auch die Turnschuhfirma On, eine kleine Pension, ein Yoga-Studio, ein Lebensmittelladen aus dem Tal machen mit. Die für das Vorhaben nötigen vierzig Millionen sind gesichert. Wichtig ist, dass wir Möglichkeiten schaffen. Wir brauchen die Aufbruchstimmung. Das Unterengadin ist eine Region am Rand, wie viele andere. Wir setzen unser Vorhaben denn auch in einen globalen Zusammenhang. Mia Engiadina ist unter der Nummer 10 581 bei der Uno-Charta für nachhaltige Entwicklung 2016 – 2030 registriert. Diese Charta will die Ungleichheit innerhalb eines Landes mildern. Sie will wirtschaftliche Entwicklung und eine würdige Beschäftigung für alle – vor allem für die junge Generation. Sie will eine solide Infrastruktur mit kostengünstigem Zugang zu IT und Mobilität. »

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Majestas Domini in der Kirche von Lavin, Anonymus aus Norditalien pinxit, um 1500.

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Tgnair in ögl

Im Auge behalten

Adüna tgnair in ögl

Immer im Auge behalten

la grimezza da las chosas la not

den Grimm der Dinge in der Nacht

la schmagna da la zappaduoira our in chadafö

das Drängen des Fleischwolfs in der Küche

la bratscha da l’affecziun in prümavaira

die Fangarme der Zuneigung im Frühling

la lama da l’uffant vegl aint il scrign

die Klinge des alten Kindes in der Truhe

il rebomb da la frasa T’algordast amo ?

den Widerhall des Satzes: Weisst du noch ?

‹ Tgnair in ögl / Im Auge behalten ›. Abgedruckt in ‹ In mia vita da vuolp / In meinem Leben als Fuchs ›. Leta Semadeni. Chasa Editura Rumantscha, Chur 2010.

Kunstlandschaft Mein liebstes Kunsthaus ist die Kirche Lavin. In der Mitte ihrer Chordecke thront der Heiland. Er hat drei Gesichter, drei Frisuren, drei Nasen, drei Münder und vier Augen. Der Wandermaler hat ihm um 1500 die riesigen Füsse so gezeichnet, als wolle er, dass sein Heiland ein Schwimmer würde. Um ihn herum sitzen die vier Evangelisten, ihre Symbole tanzen lassend – Feuer, Wasser, Luft und Erde besänftigen einen Engelschwarm. Wir sehen die Kirchenväter Gregor, Ambrosius, Hieronymus und Augustinus selig lächeln, auch die Apostel und das Schweisstuch Jesu dürfen nicht fehlen, und die zehn Jungfrauen erinnern an ihr Schicksal. Dramatisch wird auch die Geschichte von St. Georg aufgeführt – Lavins Schutzheiligem. Er wird an einem Baum aufgehängt, dann gerädert und schliesslich mit Blei abgefüllt – dennoch verleugnet er den Herrn nicht. Auch die zwei Bischöfe, die die Malerei spendiert haben, haben ihre Porträts im Bild. Welch eine propagandistische Lust ! Was ist das Mosaik von Giotto mit seiner Majestas Domini in der Kuppel des Baptisteriums im Dom Santa Maria von Florenz gegen den Heiland von Lavin ? Welch ein Drama ! Was soll Hollywood da noch bieten ?

Drei Jahrzehnte nachdem die Maler weitergezogen waren, predigte Philipp Galet aus der Val Müstair die Reformation. Seine Gläubigen räumten die Kirche aus, verhökerten die Altartafeln, Skulpturen und Marienbilder nach Tirol oder zündeten sie an. Der Heiland verschwand samt den zwei Bischöfen, dem gepeinigten Georg, den Tieren, den Evangelisten und ihrem Gefolge im Kalk. Erst 1956 durfte er unter dem weissen Vergessen hervorkommen und wieder vieräugig schauen. Streng protestantische Laviner weigerten sich allerdings, die Kirche fortan zu betreten – aus Angst, sie würden dank der Kraft der Kunst im Kirchenschlaf katholisch werden. Lavin ist keine Ausnahme. Das Unterengadin ist eine der grossen Kirchenlandschaften der Alpen. Und für einen Agnostiker wie mich, der zudem kein frühkindlich religiöses Trauma zu beklagen hat, ist die Kirchenwanderung eine reiche Quelle, die Landschaften des Tals zu begreifen. Die älteste Kirche steht in Ramosch, entstanden vor der ersten Jahrtausendwende. Sie gab den Auftakt. Zusammen mit reisenden Baumeistern bauten die Unterengadiner im auslaufenden Mittelalter und der frühen Neuzeit →

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→ von Zernez bis Martina über ein Dutzend Kirchen. Darunter die von Scuol mit dem wunderbar klingenden Schiff. Oder die Kirche von Guarda mit einem Grundriss, als hätte Architekt Antoni Gaudí im kleinen Dorf gewirkt, oder das verwunschene Kirchlein von Giarsun, in dem die Sonne am späten Nachmittag ein Lichtspiel aufführt, wie es sonst nirgends zu sehen ist. Oder die Bergkirche in S-charl und viel später erst das gegen Sitte und Brauch verstossende Holzkirchlein bei Zuort in der Val Sinestra. Architekturgeschichte erwandern Wer europäische Kunst- und Architekturgeschichte des hohen und späten Mittelalters in drei Tagen studieren will – Kultur weit weg von den Fürsten und Bischöfen –, soll zu Fuss von Zernez bis Tschlin die Bau und Bild gewordenen Obsessionen, Tragödien und Hoffnungen besuchen. Er kommt formal auf seine Rechnung. Die Räume studierend sieht er, wie die Baukünstler nach und nach gelernt haben, Proportionen, Perspektive und Raumwirkung zu beherrschen. Er wird Baugeschichte lernen – die Konstruktionen der Gewölbe, Dächer, Schiffe und Türme betrachtend – und staunen, wie im ausgehenden Mittelalter die Baumeister weit draussen das Baukönnen der Städte ausprobiert haben – langsam und mühsam. Er findet auf diesem Kirchenweg ein umfangreiches Repertoire an heute rasant verschwindendem Wissen zu Kalkputz, Farbwirkung und Fügen von Holz. Und auch für die Gendereifrigen ist gesorgt – sie sollen von Lavin aus das Doppelstündchen ins Kirchlein von Sur En wandern, wo sich patriarchalische Herrschaft zeigt: Nur die Bänke für die Männer haben Rückenlehnen. Und wer hören will, wie diese vielfältige Kirchenlandschaft tönt, der steige von Sent aus in drei Stunden auf den Mot da Set Mezdis. Punkt zwölf Uhr erklingt dort oben siebenchörig die Kirchenglockenlandschaft zwischen Ftan und Tschlin – ein Musikgenuss seltener Schönheit. Täglich, gratis, freiluft. Eine solche Wanderung mit abschliessendem Konzert auf dem Hügel der sieben Mittage ist auch eine gute ideologische Fundierung, um einen bemerkenswerten Auftritt im Unterengadin einordnen zu können. Vor ein paar Jahren haben die Kurdirektoren zu spekulieren begonnen, dass die Kunst den Tourismus im Tal stützen könnte. Kunstbeflissene Menschen gelten nicht nur als wetterfest, sondern auch als wohlhabend, je näher der zeitgenössischen Kunst, umso reicher. Vom Bergell, das regelmässig im Sommer ‹ Arte Bregaglia › ausrichtet, über den Malojapass bis nach Sent im Unterengadin sprudelt die zeitgenössische Kunst dem Inn nach. Joseph Beuys hat uns ja beigebracht, wie in der Kunst finanzielles und kulturelles Kapital sich verpflichten. Im Engadin ist diese Verbindung in den sorgfältig und kostbar umgebauten Bauernhäusern geborgen, die Vermögende als Feriensitze halten. Hochkarätiges hängt in den Stuben und in den umgebauten Sulèrs. Ist man über Neujahr da, besucht man sich, man tauscht, man handelt und geniesst die kulturellen und allenfalls auch die materiellen Zinsen aus der Verbindung von Geld mit Wissen und Geschmack. Das Tal der Galerien Das brachte Hanspeter Danuser, den legendären Kurdirektor von St. Moritz, schon vor dreissig Jahren auf die Idee, der zeitgenössischen Kunst einen Teppich zu bereiten. Er lancierte einen Kunstzug von der Biennale Venedig via Bozen, Vinschgau, St. Moritz an die Art Basel und war Mitinitiant eines St. Moritzer Kunstspektakels. Seinem Wirbeln ist unter anderen auch zu verdanken, dass sich im Oberengadin namhafte Galerien mit einer Filiale niederliessen – Hauser & Wirth, Vito Schnabel, Stefan Hildebrandt,

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Robilant + Voena oder Karsten Greve. In Zuoz haben schon vor zwanzig Jahren der kürzlich verstorbene Kunstsammler Ruedi Tschudi und Elsbeth Bisig ihre Galerie eingerichtet, in einem vom Architekten Hans-Jörg Ruch kostbar umgerüsteten alten Bauernhaus. Ein paar Jahre später folgte Monica De Cardenas, auch sie in einem von Ruch umgebauten Engadinerhaus. Die eng mit Kunst verbundene Industriellenfamilie Bechtler hat ihren Sitz inmitten zeitgenössischer Werke im Hotel Castell von Zuoz. Anfang 2019 hat Grażyna Kulczyk in Susch ihr ‹ Muzeum › eröffnet. Die ‹ Polin ›, wie sie im Unterengadin heisst, steckt auf der Landkarte ein Fähnlein ein mit ihrer Sammlung zu Kunst und Frau und Konzeptkunst. In einem von den Architekten Chasper Schmidlin und Lukas Voellmy anspruchsvoll um- und in den Berg hineingebauten Ensemble in einer ehemaligen Bierbrauerei und einem früheren Kloster ist sie nun öffentlich zugänglich. Dazu Künstlerateliers und Forschungsplätze für die Eingeweihten. Auch im unteren Unterengadin ist einiges in Bewegung. So hat der Hotelier Carlos Gross in seiner Pensiun Aldier ein kleines Museum über Alberto Giacometti eingerichtet – Fotografien, Drucke, Künstlerbücher, eine Sammlung und Präsentation, der man die Schönheit der Passion eines Sammlers gut anmerkt. Unweit vom kleinen Hotel hat der Architekt Duri Vital für den italienischen Kunsthändler Gian Enzo Sperone in der Chasa dal Guvernatur ein Haus eingerichtet, in dem hoch gehandelte zeitgenössische Kunst aufgehängt ist. « Wie in New York », sagt der Galerist, der dort auch handelt. Unter anderem Werke des Künstlers Not Vital. Vital selbst hat in Ardez ein Kulturarchiv eingerichtet und in Sent einen verwunschenen Park zu einem Kunstgarten erweckt. Der Turm auf dem Schlosshügel Kürzlich hat Not Vital für 7,9 Millionen Franken das Schloss Tarasp gekauft, das er mit Unterstützung der Gemeinde Scuol von 200 000 Franken im Jahr in Schuss hält. Auch um das Schloss herum und im Teich zu seinen Füssen steht schon allerhand Kunst – ein Sonnenturm, glänzende Grosszungen, schwimmende Glanzkörper. « Es ist für mich ein grosser Tag », sagte Vital, als ihm der bisherige Schlossherr Prinz Philipp von Hessen die Schlüssel überreichte, « ich werde aus dem Schloss einen Ort der kulturellen Bedeutung und der menschlichen Begegnungen machen und damit einen Beitrag zur Attraktivität der Gemeinde und zur Gesamtwirtschaft der Region leisten. » Schliesslich ist ein Besuch bei einem langsam gewachsenen Ort der Weltkunst gut, eine halbe Stunde zu Fuss von Tarasp hinunter zum Inn: Nairs. Im Badehaus des schlafenden Grand-Hotel-Palastes wird zeitgenössisches Kunstschaffen probiert, produziert und vermittelt. Künstlerinnen aus aller Welt erforschen ‹ in Residence › die Landschaft, erkunden ihre Geschichte, untersuchen mit Kunst den Inn, bringen seine Musik zum Klingen und ergründen sich selbst in dieser Welt. Die von ihrer Dreitagewanderung durch das Dutzend Kirchen Gestärkten applaudieren der Kunst im Tal. Sie nehmen staunend zur Kenntnis, wie die Karawane der Namen und Inszenierungen aus dem fröhlichen Babylon des Kunstmarktes den Rand der Welt entdeckt. Sie freuen sich, wie die Randulins der Weltkunst Engagement, Ruhm und Geld nach Hause bringen. Sie sitzen unter dem katholischen Bilderhimmel von Lavin. Mit etwas Schielen können sie die vier Augen des Heiland so übereinanderlegen, dass er gütig aus zwei Augen auf sie herabschaut, aus nurmehr einer statt drei Nasen schnauft und aus einem Mund nur spricht: « D en Teppich für die Kunst aber haben wir vor langer Zeit schon durchs Tal gelegt. »

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Freude am Fremden Madlaina Lys ist Künstlerin, Keramikerin. Zusammen mit Flurin Bischoff, auch er ein Künstler, führt sie ausserdem die Blumengärtnerei von Lavin. Die beiden erhielten 2018 vom Kulturpreis Graubünden eine Anerkennung. Madlaina Lys:  « D er Vereinatunnel hat viel verändert. Vorher war es ruhig hier. Danach kamen mehr Menschen vom Norden. Die Luft von aussen tut uns gut. Ich schätze die Anregungen, die neuen Freundschaften. Das Dorf ist dennoch oft leer. Wichtig ist mir das Gleichgewicht zwischen Menschen, die hier leben, und Menschen, die hier ihre Ferien verbringen. » Flurin Bischoff:  « S eit ein paar Jahren strömt die Weltkunst durchs Tal wie ein Ufo. Die Passagiere fliegen herbei, machen Wirbel und sind weltmännisch – und fliegen weiter. »

Unten am Inn Christof Rösch und Sarah Fehr leiten als Co-Direktion das Kunst- und Kulturzentrum Nairs im alten Badehaus des ehemaligen Grand Hotels Kurhaus Tarasp in Scuol, unten am Inn. Rösch kam in den 1990er-Jahren als Künstler und Architekt ins Unterengadin. Zusammen mit Urezza Famos baute er das Zentrum auf. Der Kulturpreis des Kantons Graubünden hat ihn 2017 mit einer Anerkennung für sein Engagement ausgezeichnet: « Das kulturelle Klima war hart. Die ersten Jahre habe ich viel Energie im Widerstand verpufft. Das hat nichts gebracht. Dann begann ich, mit denen zusammenzuspannen, die an unserer Arbeit interessiert waren. Urezza Famos, die hier aufgewachsen ist, hat sehr viel getan, damit alles gut geraten ist. Geholfen hat, dass ich als Künstler auch Unternehmer bin. Es macht Eindruck, wenn einer seine Rechnungen pünktlich bezahlt, und wir haben in Nairs ja etwa 4,5 Millionen Franken verbaut. Mich beschäftigt die Kunst als Zukunftswerkstatt. Als Labor der Region, der Landschaft, der Architektur, des Handwerks, der Wirtschaft. Wir haben in zahlreichen Ausstellungen und Symposien untersucht, wie Zukunft hier aussieht. Nicht mit IT und Standortökonomie, sondern mit Kultur. In Kunst und Kulturarbeit muss ja nicht alles einfach zu konsumieren und leicht zu integrieren sein. So sind unsere Künstler, die bei uns auf Zeit wohnen und ar-

beiten, ab und zu auch sperrig. Aber viele schufen Werke, Anregungen und Bilder mit bleibendem Wert. Etwa die Leuchtschrift am Haus zum Thema Eigenes und Fremdes, das hier ja eine grosse Geschichte hat und dennoch viel Skepsis erfährt. Dann gab es auch etliche Projekte über verlorenes Handwerk. Das Kalken etwa – ein grosses Vorhaben bis hin zur Produktion. Wir zeigen: Es geht. Das ist angewandte Zukunft. Sie findet natürlich mehr Zuspruch, als wenn ein Musiker am Inn zeitgenössische Musik aus dem Klang des Flusses schöpft. Mit dem Kunstpublikum, das durchs Engadin reist, habe ich gute Verbindungen. Aber wir machen etwas ganz anderes: Forschen, Entdecken, Fördern junger Künstle­ rinnen, geduldiges Graben in der Region, alles weit weg vom grossen Geld – Basisarbeit eben. Neugierig sehe ich Mia Engiadina. Letztes Jahr haben sich vier Künstler in Sent und Guarda niedergelassen, auch weil die Digitalisierung die Distanzen radikal verändert hat. Nairs lebt in der Zukunft. Wir wissen, was wir mit dem schlafenden Grand Hotel, unserem Nachbarn, anfangen werden, und warten, bis den Spekulanten der Schnauf ausgeht. Wir sind beteiligt an den Plänen für die grandiose Trinkhalle auf der andern Seite des Inns. Kanton und Bund müssen unbedingt grosszügig einsteigen, bevor dieses Denkmal ganz zerfällt. Nairs kennt Fantasie und Geldnot, Anerkennung aus der Fremde und immer mehr auch aus der Nähe. »

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Jürg Wirth ist mit seiner Herde Rätisches Grauvieh auf dem Heimweg ins Bain Puril Uschlainginas am Dorfrand von Lavin.

Bauernlandschaft Der Bauer Jürg Wirth treibt seine kleine Herde Rätisches Grauvieh heimwärts in den Stall am Rand von Lavin. Seine Kühe haben Hörner, sind berggängig und geben weniger Milch als die der Marke Swiss Brown, die etliche seiner über 200 Kollegen in ihren Ställen haben – das Unterengadin ist eine Bauernlandschaft, wie es sie so dicht in den Alpen selten mehr gibt. Und anders als vielerorts besteht kein Mangel an jungen Bauern und Bäuerinnen. Vier Fünftel sind Biobetriebe – wobei: Das Berggebiet war seit je kein Labor der Agrochemiker. Wenn Bauer Wirth seine Kühe im Stall haben wird, wird er deren Milch verkäsen, die Schweine fressen die Schotte, und der Käse reist später zu Abonnenten ins Unterland und in die Hotels des Tals. Und ins Bistro Staziun im Bahnhof Lavin, denn dort ist Wirth auch Wirt, Ornithologe ist er überdies und Journalist – kurz: Vielgestaltig wie die Landschaften, die er als Bauer bestellt, ist sein Alltag. Denn er ist auch Mitglied der Arbeitsgruppe, die dem sperrigen Namen ‹ Landschaftsqualitätsprojekt › auf die Beine hilft. Das Unterengadin – das Tal entlang des Inns von Brail bis Vinadi zusammen mit der Val Müstair und Samnaun misst 1190 Quadratkilometer. Über neunzig Prozent sind Wald, Berge, ewiger Schnee: Wildnis. Der kleine Rest ist Kulturlandschaft, vergandend.

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Die Bauernbetriebe sind – verglichen mit den Betrieben im Unterland – mit durchschnittlich 24 Hektar munzig. Ihre Felder im breiten Talboden sind klein. Von der Talschulter aus gesehen erinnert die Wiesenlandschaft an ein Mosaik aus Grün, Gelb und Braun in allen Tönen. Büsche, Hecken, einzelne Bäume. Von Zernez bis Vinadi liegen auf der nächsthöheren Stufe an den Sonnenhängen in der Nähe der Dörfer Terrassen, auf denen die Bauern vor hundert Jahren noch Kartoffeln und Getreide angebaut haben. Die heute meist vertrockneten Wasserläufe und eingewachsenen Heuschleif- und anderen Wege sind als Spuren noch da. Daneben Brunnen, Zäune, einzelne Bäume und kleine Baumgruppen, Gebüsch und Gehölz. Dazwischen lichte Weidewälder, die an Pärke erinnern. Und weiter oben Maiensäss- und Alpweiden. Dazu viel dunkler Wald. So viel zum Postkartenbild. Dessen Unterhalt verlangt aber Arbeit, die schon seit fünfzig Jahren nicht mehr rentiert, schweisstreibend ist und mühsam. Zuversichtlich verkündet darum das ‹ Landschaftsqualitätsprojekt Engiadina Bassa, Samnaun, Val Müstair ›: « Von den 227 Bauernbetrieben haben 220 bereits im ersten Jahr einen Vertrag abgeschlossen », einen Vertrag, um diese Vielfalt zu erhalten und dafür als Landschaftsgärtner entlöhnt zu werden. Herausgeberin des →

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Lügl a Ramosch Trais randulinas Battan lur alas Vi dal tschêl d’instà Minchatant tremblan Trais sumbrivas Sülla fatschad’alba Da ma chà.

Juli in Ramosch Drei Schwalben Schwirren Über den Sommerhimmel Manchmal zittern Drei Schatten Auf der weissen Fassade Meines Hauses.

‹ Lügl a Ramosch / Juli in Ramosch ›. Abgedruckt in ‹ Unterwegs /  In Viadi ›. Luisa Famos. Übersetzt von Luzius Keller. Limmat Verlag, Zürich 2019.

Gesundheit für alle Philipp Gunzinger kam als Direktor des Bogn Engiadina nach Scuol. Der Ökonom leitete als Direktor das Gesundheitszentrum sowie das Wirtschaftsforum Unterengadin Val Müstair. Er formt die Gesundheit zu einer der Zukünfte des Unterengadins. « D er Tourismus in der Region hat unter dem Eurokurs ungemein gelitten. Die Konsequenzen waren ein Ertragsdrama und Hotelinfrastrukturen, deren Erneuerung sich fast nicht mehr finanzieren lassen, zumal die Zweitwohnungen als Geldquelle nahezu versiegt sind. Das hat auch dazu beigetragen, dass es nur noch wenige neue Hochbauten gibt. Die Gemeindefinanzen sind angespannt und das Steueraufkommen sinkt. Dadurch können auch Ersatz­investitionen in touristische Infrastrukturen nur noch schwer finanziert werden. Rund zwei Millionen Franken pro Jahr benötigt das Bogn Engiadina, und auch die Bergbahnen brauchen Geld für künftige Investitionen. Im Unterengadin wurden grosse Gemeindefusionen umgesetzt – heute gibt es noch fünf Gemeinden: Val Müstair, Zernez, Scuol, Valsot und Samnaun. Selbst wenn die Region einst nur noch aus einer Gemeinde bestehen würde, wären die Einsparungen nicht mehr substanziell. Ich arbeite an der Zukunftslinie Gesundheit. Im Fokus steht das Gesundheitszentrum Unterengadin. Unter diesem

Dach sind das Regionalspital, das Bogn Engiadina, die Pflegeinstitutionen, die Spitex-Dienste sowie die anderen Bäder und Sportanlagen in Scuol organisatorisch eng verbunden. Ziel ist es, eine umfassende, regionale Gesundheitsversorgung langfristig zu sichern und ein Angebot im Gesundheitstourismus zu machen. Menschen, die eigens dafür in die Region reisen, generieren schon heute fünf bis zehn Prozent des Spitalumsatzes. Spitex-Leistungen für Hotelgäste sind ebenso im Angebot wie eine internistische, onkologische oder eine psychosomatische Rehabilitation. Über dreihundert Menschen arbeiten im Gesundheitszentrum, davon etwa achtzig Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Das Gesundheitszentrum ist als ganzjährige Arbeitgeberin attraktiv. Einen Ärztemangel haben wir derzeit keinen. Verdiente Ärzte, die andernorts in grossen Institutionen tätig waren, kommen zu uns. Sie schätzen die Kleinheit. Sie können hier auch Teilzeit arbeiten. Auch die Digitalisierung ist von grosser Bedeutung. Die Medizin entwickelt sich unglaublich schnell, und wenn am Ospidal Behandlungen durch das Universitätsspital unterstützt werden, braucht es die Telemedizin und leistungsstarke Datenleitungen. Auch die Tradition des Heilwasser-Tourismus durfte seit den 1990er-Jahren dank der Angebote des Bogn Engiadina eine neue Blütezeit erleben. Da ist noch einiges möglich. »

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Ludwig Hatecke, der Metzger von Scuol, macht aus dem Fleisch der Engadiner Kühe Köstlichkeiten aller Art.

→ Berichts ist unter andern die ‹ Pro Terra Engiadina ›. Diese Stiftung mit Geld aus Gemeinden, Kanton und Bund arbeitet seit zehn Jahren an einer bemerkenswerten Zukunftswerkstatt für Landschaft und Lebensraum. Sie erforscht diese mit naturwissenschaftlichen Projekten. Sie wechselt die Flughöhe, stiftet Diskurse mit Bauern, mit Gästen und mit Kindern an und hat es auch gerne praktisch mit Kursen zum Bau von Trockenmauern. Alle sind dabei: Bauernverband, Bauern, Gemeindepolitiker, Naturund Landschaftsschützerinnen, Leute vom Nationalpark, Touristiker und als Leiterin Angelika Abderhalden, eine Natur- und Landschaftsforscherin aus Zernez. Immer mehr intensiv genutzte Flächen Landschaftsqualität hin oder her – für den Bauern ist schön, was mit wenig Arbeit viel abwirft. Mit seinem Produktionsauge räumt er auch im Unterengadin ab und zu Felder und Wiesen aus, fordert dem immer grösser werdenden Traktor und nicht der Landschaft angemessene Strassen und wählt die Sorte für die Fettwiese so, dass er ihr Gras früh schneiden kann. Das aber bedroht das Leben der Braunkehlchen, Baumpieper und Feldlerchen, die ihre Nester in den Wiesen bauen, brütend, noch während der erste Schnitt fällig wird. Um die Hälfte ging ihr Bestand im Engadin zurück. Doch nur wo die Vögel zwitschern, flöten und tirilieren, ist die Vielfalt schön. Sie ist verschwunden, wo es still ist in der Landschaft. Wie steht es darum ? Roman Graf, Forscher bei der Vogelwarte Sempach, hält nüchtern fest: « S owohl in der Nutzung und Vegetation als auch in der Avifauna haben wir deutliche Veränderungen festgestellt. So haben die Vegetationstypen magerer Standorte zugunsten der Fettmatten und -weiden deutlich abgenommen. Das Matte-Weide-Verhältnis verschob sich zugunsten der beweideten Flächen. Die vergandende Landfläche nahm zwar um 21 Prozent zu, hat aber noch immer einen relativ bescheidenen Anteil an der Gesamtfläche ( 8,4 Prozent ). Extensiv genutzte Flächen haben um 15 Prozent abgenommen, davon profitierten in erster Linie die intensiv genutzten Flächen. Die Schwerpunkte dieser Entwicklung liegen in siedlungsnahen Fluren im Unter- und im Talboden im Oberengadin. In 71 Prozent

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der beurteilten Flächen wurde eine Vorverschiebung des Mahdzeitpunkts konstatiert. » Aber auch: « Unsere Beobachtungen deuten darauf hin, dass der Strukturreichtum, insbesondere jener der Hecken und Gebüsche, in der montanen Stufe deutlich zugenommen hat. » Immerhin. Beiträge für die Landschaftsqualität Es bleibt also noch allerhand zu tun. Dass die Arbeit für die Schönheit der Vielfalt bezahlt werden muss, hat auch die ‹ Agrarpolitik 2014 – 2017 › herausgefunden. Erstmals vergibt sie Landschaftsqualitätsbeiträge: 142 Millionen Franken schweizweit, gut zwei Millionen davon fliessen ins Unterengadin. Für 46 Arbeiten gibt es konkret in Franken bemessene Beiträge: – fürs Ausmähen von Hohlwegen, historischen Wegen, Heuschleifwegen, inaktiven Bewässerungsgräben oder Karstlöchern Fr. 22.50 pro Are, inklusive Bonus; – für neue Hochstammbäume sind es Fr. 250.− pro Are; – für die Anlage von Blumenwiesen ( -streifen ), Krautsäumen oder Pufferstreifen und Buntbrachen gibt es pro Are Fr. 62.10; – wer einen neuen Holzbrunnen aufstellt, kann zwischen Fr. 1067.− und 1981.− erwarten; – ein neuer Bündnerzaun wird pro Laufmeter mit 55 bis 80 Franken subventioniert. Der Bericht beschreibt auch das Ziel: « Die Vielzahl an landschaftsprägenden Strukturen und Eigenheiten wird gepflegt und nimmt nicht ab. » Zum Nutzen der Vögel und für Lust an der Schönheit. Doch auch die Bauern haben ihre Beteiligung quer durch das Projekt in Geld umgemünzt und schauen, dass die Vogelfreunde nicht überborden. Das Leitbild will « Harmonie der Landschaft ». Es gibt sie nur « im Sinne eines Gleichgewichts von Produktion, Anbau und Nutzung, natürlichen Elementen und Infrastrukturen ». Was das bedeuten kann, zeigen die Meliorationen. Die immer grösseren Landmaschinen verlangen für dieses beschworene « Gleichgewicht » ausholende Kurven, tiefe Koffer und breitere Strassen. In Ramosch haben sie die Terrassenlandschaft beeinträchtigt. 23 Millionen Franken sind verbaut worden – zehnmal mehr, als für die ‹ Landschaftsqualität › jährlich zur Verfügung steht.

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Die Zukunft des Hotels Julia und Kurt Baumgartner, Hotelière und Hotelier des ‹ Belvédère ›, des ‹ Belvair › und des ‹ GuardaVal › in Scuol: Kurt Baumgartner:  « Die Herausforderungen für die mehrheitlich klein strukturierte Hotellerie im Unterengadin sind beträchtlich. Etliche haben aufgehört, einige werden demnächst aufhören, auch weil die Nachfolge ungeregelt ist. Neue Betriebe haben einen schweren Start, weil die Finanzierung eine Herkulesaufgabe ist. Die Bau- und noch mehr die Betriebskosten sind so hoch, dass die Erträge einfach nicht ausreichen. Wir investieren gegen zwei Millionen Franken pro Jahr, nur um à jour zu bleiben. Dieses Jahr unter anderem in die Abfallentsorgung und in die In­ frastruktur, von der der Gast fast nichts sieht. » Julia Baumgartner:  « Architektur ist wichtig, ich kümmere mich persönlich mit dem Innenarchitekten darum. Es ist aber nur beschränkt messbar, ob ein Gast häufiger kommt, wenn ich einen schönen, teuren Stuhl in sein Zimmer stelle. Speziell gestaltete Hotels sind möglich, aber der Markt ist hart und die Kundschaft oft so anspruchsvoll, dass die Erwartungen fast nicht bezahlbar sind. »

Kurt Baumgartner: « Mitentscheidend ist die Grösse. Unter 150 Betten ist es einfach schwieriger, aber Grösse garantiert den Erfolg noch nicht. Wer in der Zukunft bestehen will, muss in seinem Ferienhotel einen Ganzjahresbetrieb anbieten. Im Unterengadin haben wir mit der Landschaft und dem Nationalpark gute Voraussetzungen für das Sommer- und Herbstgeschäft. In der Zukunft bestehen heisst auch, genügend Geld und viel Wissen für die Digitalisierung zu haben. Die Gäste erwarten schnelles Internet. Rasant steigt der Anteil derer, die mit dem Handy buchen und jederzeit alle Angebote vergleichen. Ein grosser Teil der Betriebe ist weit davon entfernt, diese Anforderungen stemmen zu können. Den Hoteliers fehlt vor lauter Belastung im Tagesgeschäft das Fachwissen zur Digitalisierung. Und ich sage als liberal denkender Unternehmer: Es geht nicht, wenn unsere bürgerlichen Politiker nach Markt rufen, neunzig Prozent der Kosten eines Hotels aber staatlich reguliert sind. Gesamtarbeitsverträge, Umweltgebote, Raumplanung. Wenn wir die Hotellerie im Berggebiet halten wollen, müssen wir ein Gegengewicht schaffen in Form substanzieller Unterstützung einzelner Betriebe. »

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Tschlin weit unten im Unterengadin, oben auf der Terrasse ist das schönste Schellen-Ursli-Dorf, obschon der Bub in Guarda seine grosse Schelle geläutet haben soll.

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Ünsacura

Einst

meis cumün es la rait da mias vias mia chà es l’öv da mias uras mia val es suogliada dad istorgias invisiblas

mein Dorf ist das Netz meiner Strassen mein Haus ist das meiner Stunden mein Tal ist bedeckt von unsichtbaren Geschichten

ma uossa cur ch’eu tuorn suna be eu

wenn ich jetzt zurückkehre bin nur ich

e mia val dad ünsacura nu’m tocca plü

und mein Tal von einst gehört mir nicht

‹ Ünsacura / Einst ›. Abgedruckt in ‹ Ultim’ ura da la not /  Letzte Stunde der Nacht ›. Gianna Olinda Cadonau. Edition Mevina Puorger, Zürich 2016.

Alte Dorflandschaft Tschlin – verschachtelte Dächer, eng aufeinanderhocken­ de Häuser, jedes mit anderem Volumen. Platz, Gasse, Haus mit fantasievoller Malerei auf der Fassade, Haus mit Erker, Haus mit Auffahrt und Abfahrt, Palast mit geschmiedetem Balkongeländer, Bauernhaus mit grossem Stall, daneben eine Träne der Architektur aus der neuen Zeit. Und zwei Kirchtürme. Kein Dorfbild hat einen sonnigeren Platz im kollektiven Gedächtnis der Schweiz als das des Unterengadins. Die nationale Architekturpolitik würdigt es: Zernez, Lavin, Guarda, Bos-cha, Ardez, Sur En, Sent, Vnà und Tschlin haben Ortsbilder von nationaler Bedeutung. Kein Tal verfügt über eine solche Ressource. Einer der ersten Theoretiker dieses Dorfbilds war Nicolin Sererhard. Ein Engadiner Pfarrer, der im 18. Jahrhundert im Prättigau predigte und als Chronist herumreiste, jedem Dorf in seiner ‹ Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner dreyen Bünden › ein Feuilleton schreibend. Seine vergleichende Landschaftskunde ist köstlich. Als früher Funktionalist erklärte er Erscheinungen aus dem Gebrauch. Sererhard widmete sich unter anderem der Transportlogistik in den Dörfern und berichtete, dass es nirgends so gute Strassen gebe wie im Engadin, « sogar die­ienige, die nur in Alpen und Wildnuss führen ». Anders im Prättigau auf der anderen Seite des Vereina. Dort gingen die Bauern mit dem Vieh zum Futter, von Stallscheune zu Stallscheune, im Engadin aber brachten sie das Futter zum Vieh. Auch wenn sie Maiensässe und Alpen bestiessen, hatten sie hier ihre Höfe im späten 16. Jahrhundert zu zentralisieren begonnen, Stall, Wohnhaus, Nebengebäude – alles unter einem Dach, die Scheune zur Sonne orientiert, weil das Getreide so gut trocknet. Die Wohn- und Nebenräume zur Gasse. Das Transport- und Raumproblem lösten die Bauernarchitekten so, dass die Garben- und Heufuhr von der Gasse durch ein grosses Tor in die Scheune kam, der Mist aber dampfte auf einem Haufen hinter dem Haus. Die eng stehenden Hausvolumen – Platz brauchte man für die Äcker und Weiden –, die engen Gassen, die Plätze, die Ausrichtung der Fassaden mit vorgelagerten Stuben und Erkern, die den Blick freigeben auf die Brunnen. Diese Dorfbilder vermitteln uns Heutigen das so fremd gewordene und doch so heimelig-warme Raumgefühl. Die geschlossene Eigenart des Engadiner Dorfs eignete und eignet sich für ideologische Feldzüge. Der Heimatschutz brauchte dieses Dorfbild schon im frühen 20. Jahrhun-

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dert im Kampf gegen die Hotelkästen und für die geistige Landesverteidigung. Er unterstützte während des Zweiten Weltkriegs eine spektakuläre Aktion: Iachen Ulrich Könz restaurierte in einem Zug dreissig Häuser in Guarda. Zeitgleich trat Schellen-Ursli auf, aus einer Idee von Könz’ Frau Selina geworden. Deren Buch trug das idyllische Dorfbild auch in meinen Kinderkopf, und es trug das Bild mit den 32 Auflagen seither in Tausende weiterer Kinderköpfe. Neulich hat ein fantasievoller Spielfilm, der mit dem ursprünglichen Uorsin nur Spuren gemeinsam hat, in den Köpfen von meinesgleichen Enkeln das Bild befestigt. Postkartenbild und neuzeitlicher Schmarren Idylle ist aber auch handfest und profitabel: Der Schutz einiger Ortskerne hat für Exklusivität gesorgt. Viele Häuser erlebten eine Transformation vom Gebrauchszum kostbaren Wohn- und auch Ferienhaus. Ein Umbau, der weitergeht. Es entstehen auf gestalterisch und handwerklich oft hohem Niveau transformierte Orte für die exquisite Lebensführung vom Schwimmbad im Stall mit Gegenstromanlage bis zur Kunstgalerie, die keinen Vergleich mit New York oder Zürich scheuen will. Die räumliche Schönheit des alten Engadiner Dorfs beschämt die Uniform des neuen. Wie das Dorf erweitern ? Mit strengem Plan probierten es die Architekten nach den Feuersbrünsten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Lavin, teilweise auch Sent, zeigt Italianità und Blechdächer. Baupolizeiliche Erkenntnisse formten Dorfbilder, die es durchaus auch zu Postkartenehre bringen. Mit dem bauernlosen Einfamilienhaus taten sich die Engadiner schwerer. Anstelle der aus Funktion und Arbeit gewordenen Architektur treten der Bodenhändler, der Geldverleiher, der Strassennormer, der Baupolizist, der Dorfplaner, der Baumeister und die gestaltungswillige Architektin. Statt der Erfahrungen eines Kollektivs bestimmen Angebot, Nachfrage und individueller Geschmack, notdürftig gebändigt von Baugesetzen. Und so werden die Dörfer genormt, montiert und in Serie weitergebaut. Am Rand wächst der Speckgürtel mit den überall gleichen Einfamilienhäusern. Da ein Capriccio fürs ‹ Ideale Heim ›, dazwischen ein Schmarren. In Ardez aber eine Perle fürs ‹ Hochparterre ›. Am Rand des Dorfs entstand in langwieriger Planung eine Idee, wie angrenzend zur Idylle weitergebaut werden kann. Mit einem Plan, der Verdichtung ermöglicht und zeitgenössischer Architektur nicht die Luft abdreht.

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Handwerker mit Ideen

Harzig gehts vorwärts Marisa Feuerstein ist Architektin in Scuol. Früh ist ihr zusammen mit einer Gruppe ein Wurf gelungen: die Jugendherberge Scuol. Ihr Atelier ist ein Frauenbüro. Mit ihr zusammen arbeiten die Architektin Danielle Schuchard und die Zeichnerin Fadrina Bischoff: « Das Ja zur Zweitwohnungsinitiative habe ich gut verstanden – wir haben in den Alpen viel zu viel und zu viel Schlechtes gebaut. Aber nun läuft praktisch nichts mehr ausser Umbauten. Und da und dort ein Einfamilienhaus. Mich trifft das nicht so, denn ich bin auf der grünen Wiese nicht so gut wie beim Bauen im Bestand. Die Bauverwaltung ist sehr gemächlich. Die Bauherren und Architektinnen wissen nicht, was wie wo machbar ist. Nebst der Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative heisst das bei uns auch: Wie wird das Baugesetz aussehen, das nach den Fusionen zwischen Zernez und Tschlin zu den drei Gemeinden Scuol, Valsot und Zernez gilt ? Und weil das nicht klar ist, geht vieles harzig. Meine Zukunftsforderung: Wir müssen im Unterengadin endlich öffentliche Dienste schaffen, die es uns Frauen erleichtern, Beruf und Familie zu verbinden. Bei uns im Tal hinken wir weit hinterher. Als alleinerziehende Mutter, Architektin und Unternehmerin kann ich ein Lied davon singen. »

Urs Padrun war der erste Bauzeichnerlehrling von Peter Zumthor in Haldenstein. Wie dieser studierte er nach dem Lehrabschluss Innenarchitekt an der Schule für Gestaltung Basel und liess sich als Architekt in Guarda nieder, dem Dorf, aus dem sein Vater ausgewandert war. Seine Werkliste ist beachtlich: Er baute das Genossenschaftshaus in Ftan oder jüngst ein vielfältig genutztes Ensemble im Zentrum von Zernez. Auch einen Kreiselwettbewerb ohne Kunst in der Mitte konnte er gewinnen und eine Planung für die Dorferweiterung mit Käserei in Ftan: « Ich bin froh, dass die Raumplanung nun etwas greift und das Bauzonenwachstum hoffentlich aufhören wird. Es stehen genügend Häuser in der Bauzone, die umgebaut und verbessert werden können. Etliches wird man auch abbrechen, weil es miserabel ist. Ich habe einige Zweitwohnsitze entworfen, immer in alten Häusern. Natürlich ist so ein Umbau radikal, weil das Haus ja nicht als Ferienhaus gedacht und gebaut war. Aber meine Bauherrschaften haben einen hohen kulturellen Verstand und Anspruch. Baukultur ist im Unterengadin sonst eher rar. Wir Architekten haben wenig miteinander zu tun, es gibt keinen Diskurs, und die Behörden sind oft überfordert, weil es an Grundlagen fehlt, architektonische Qualitäten zu beurteilen. Ich habe das Gefühl, dass die, die entscheiden, froh sind, wenn hier überhaupt noch gebaut wird. Darum wird das allermeiste bewilligt. Manchmal macht der Kanton Druck, dass Wettbewerbe ausgeschrieben werden. Dann beteilige ich mich. Im Unterengadin funktioniert die Baukette vom Ent­wurf zu den Handwerkern ausgezeichnet. Ich arbeite ja oft ohne Verträge, und es ging immer gut. Für eine gute Zukunft brauchen wir ein starkes, konkurrenzfähiges Bauhandwerk. Hier sind wir Spitze, auch wenn die Preise denen in Zürich in nichts nachstehen. Der Schreiner Curdin Müller, der Baumeister Fedi oder der Schmied Thomas Lampert spielen in der obersten Liga. Mit dem Schmied zusammen baue ich zurzeit eine Schmitte in Giar­sun. Das wird ein Zeichen für die Kraft und Zuversicht des Handwerks in unserem Tal. »

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Sieben Häuser, Wege, Plätze, 56 Wohnungen: die neue Dorflandschaft der Überbauung Monolit in Scuol.

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Im Kern der durchgesteckten Wohnungen befindet sich die Küche.

Situation: Überbauung Monolit mit Wegen und Plätzen.

Sieben Häuser stehen über einer mächtigen Tiefgarage.

Das Cheminée an der Rückwand der Küche.

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Der Bergblick bestimmt den Grundriss. Vom Wohnzimmer über den Balkon ins Gebirge.

Regelgrundriss Haustyp L.

_1.OG

Regelgrundriss Haustyp M.

Übersichtspläne | Typ M _1.OG MFH Sotchà, 7550 Scuol

Neue Dorflandschaft An Scuols östlichem Dorfrand steht das bedeutendste Wohnbau- und Dorferweiterungsprojekt des Jahrzehnts im Unterengadin. Sieben weisse Häuser, geordnet in einem Quartierplan mit Plätzen und Gassen, verbunden über zwei Wege mit dem Dorf. Hansueli Baier aus Chur ist der Bauherr des Monolit, wie die Dorferweiterung heisst. Seine Acla-Gruppe ist eng mit dem Unterengadin verknüpft, unter anderem gehört ihr das Einkaufszentrum Acla da Fans am Eingang zu Samnaun mit Restaurants, Tankstelle und Läden für zollfreies Einkaufen. Er erläutert den Beginn des neuen Dorfteils: « Die Brache des Werkhofs der Baufirma Bezzola Denoth kam in unsere Hand. Es ging um die Konversion einer Brache, wie im Unterland, wo die Textil- oder Schwerindustrie verschwunden ist. Unser Plan: Erstens gibt es hier oben kein Land für eine städtebauliche Entwicklung, und zweitens wird die Verdichtung nach innen, das Bauen im Bestand, auch auf dem Land ein Thema. In der Überbauung Monolit kostet eine Familienwohnung jetzt um die

2000 Franken pro Monat. Von 800 000 Franken an aufwärts das Eigentum. Die Kosten der Überbauung – ohne Land – betragen 42 Millionen. 60 Prozent der Wohnungen sind für Einheimische, 40 Prozent sind Zweitwohnungen. Das Ganze ist so kalkuliert, dass die Ferienwohnungen die Miete der Erstwohnungen mittragen. Die Zweitwohnungsinitiative kam 2012 kurz nach unserer Baubewilligung. Heute könnte man das Projekt so nicht mehr bauen. » Die Architektur stammt von Fanzun, dem mit achtzig Mitarbeitenden grössten Büro in Graubünden. Gian Fanzun: « Das Gelände war terrassiert und gross wie drei Fussballplätze. Wir haben die grossen Höhenunterschiede und die versiegelten Flächen aufgebrochen und das Terrain wieder in die Form des langsam abfallenden Schuttkegels gebracht. Die Leitidee: ein fürs Unterengadin neues, grosses Quartier zu schaffen, das formal in sich und mit dem Dorf zusammenhält. Ein Stück zeitgenössisches Dorf, mehr als eine Ansammlung von Häusern. Das funktioniert mit dem Aussenraum. Er ist Luft- und Freiraum für die →

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Baukartell Auf dem Gelände des Monolit war einst der Werkhof der Firma Bezzola Denoth, eine der Firmen, die in den Skandal um jenes Baukartell verwickelt war, das die Weko aufgedeckt hat. Die Preisabsprachen haben ihrer Buchhaltung offenbar wenig geholfen – es gibt sie schon länger nicht mehr. Die Firma Foffa Conrad, die sie übernommen hatte, ist mittlerweile auch nicht mehr selbstständig. Statt eines Kartells gibt es nun Verflechtungen: Foffa Conrad gehört über die Beteiligung der Nicolaus Hartmann & Cie zur Testa-Gruppe aus St. Moritz. Das Baukartell ging längs und quer durchs Tal. Doch der Architekt Urs Padrun sagt: « Der Skandal hat mich nicht betroffen, denn mein Baumeister gehörte nicht dazu. Viele aber wussten es, und mich hat am meisten gewundert, dass der Kanton so tat, als wisse er nichts. Wer, wenn nicht seine Verwaltung, konnte die Preise vergleichen ? » Die Architektin Marisa Feuerstein fügt hinzu: « Der Kartellskandal war ein gros­ser Betrug, und viele wussten es. Schuld sind die Baumeister. Nun gibt es ein Baumeistermonopol. Wir haben zwischen Zernez und Tschlin etwa dreissig Schreiner, da erlebe ich, wie viel besser Vielfalt ist. »

Sass grisch – grauer Fels. Jeder Monolit heisst nach einem Fels.

→ grossen Volumen und Durchgangsraum für Bewohner und Nachbarn. In der Mitte der Siedlung kreuzen sich die Wege zur Schule, zum Gemeindehaus und zum Dorf­rand. Die Verbindungen werden auch von den Bewohnern aus den benachbarten Quartieren gebraucht. Der Aussenraum ist autofrei. Alle Autos der 56 Wohnungen sind auf 93 Parkplätzen in einer zentralen Garage versorgt. So sind alle Häuser unterirdisch miteinander verbunden – oben ein öffentliches Wegnetz, unten ein privates. » Alte Dorfbilder nachbauen ist müssig Bauherr Hansueli Baier ergänzt: « Ein Areal und seine Häuser entwickeln heisst, auch in Scuol marktfähig zu sein. Das ist eine ganz andere Ausgangslage als in den alten Engadiner Dörfern. Früher bestimmten Sitten und Bräuche, Arbeitserfahrungen und die Obrigkeit die Architektur. Heute sind es der Markt, der Individualismus und das Geld. Die alten Engadiner waren vorbildliche Verdichter. Sie rückten zusammen, weil sie das flache und dorfnahe Land für ihr Überleben brauchten. Heute geht es um die Lage zur Sonne, zur Aussicht, und es geht trotz der Verdichtung darum, so zu bauen, dass die Leute das Gefühl haben, sie wohnen nicht allzu nah aufeinander. Noch vor zwei Generationen kannten die Unterengadiner solche Privatheit nicht. Heute ist sie ein fester Wert. Darum ist es auch müssig, die alten Dorfbilder in irgendeiner Art nachbauen zu wollen – so gut sie mir gefallen. Viele Einheimische haben ihre Engadiner Häuser gerne verlassen und haben nun zeitgenössischen Komfort – auch in unserer Überbauung wohnen einige von ihnen. Aufgabe war, den Komfort einzurichten und die Schönheit, die Eigenart des Orts in die Häuser zu holen, die Aussicht, die Landschaft. » Leta Steck, die Bauleiterin, erklärt das architektonische Prinzip: « Die Sonne legte den Grundriss aller Wohnungen in den sieben Häusern fest. Sie haben einen durchgesteckten, von der Ost- zur Westfassade reichenden Wohnraum. Modular dazu die Schlafräume und Nass-

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zellen angeordnet. Keine aus der Fassade oder dem Dach greifenden Balkone oder Gauben. Der Ausbaustandard ist für Miet-, Eigentum- und Ferienwohnung praktisch gleich. Holz, Stein, mineralische Putze, Schreinerküchen, grosse Fenster, zentral steuerbare Technik in der Wohnung. Die massigen Häuser haben kalkweisse, murale Fassaden. Das erinnert an das Engadiner Dorfbild. Im alten Dorf ist jedes Volumen anders. Wir planten drei Haustypen. Das Haus S für small, M für medium und L für large. Gebaut haben wir sechs Häuser vom Typ L und ein Haus Typ M. Sechs vom Typ S werden folgen. » Modernste Energietechnik Gian Fanzun ist stolz auf das Energiekonzept: « Standard ist Minergie A, ein Haus genügt sogar Minergie P. Hier läuft ein Forschungsvorhaben in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule Rapperswil und dem Bundesamt für Energie. Drei Minergie-A-Häuser verfügen über Erdsonden. Das Referenzhaus hat eine ins Dach integrierte Photovoltaikanlage ( PV ), die Strom liefert. Ein anderes hat photovoltaisch-thermische Kollektoren. Ein drittes hat eine PV-Anlage und verglaste Kollektoren. Die aus den thermischen Kollektoren gewonnene Energie wärmt das Brauchund das Heizwasser vor, gekoppelt mit einer Wärmepumpe. Der Überschuss wird im Boden gespeichert. Dabei wird untersucht, wie Erdsondenfelder regeneriert werden können. Nach mehreren Jahren werden wir wissen, welche Systeme und Kombinationen wie viel bringen. » Hansueli Baier blickt nach vorn: « Wir wollten mit den Eigentümern der Nachbargrundstücke ein richtig grosses Quartier bauen. Das klappte nicht. Monolit wird mit sechs Doppeleinfamilienhäusern abgeschlossen. Zum Quartier gehört auch das neue Personalhaus des Hotels Belvédère mit 26 Studios. Ein nächstes Vorhaben zusammen mit dem Büro Fanzun und dem Hotelier Kurt Baumgartner ist ein neues Resort mit 500 Betten am Rand des Dorfs beim Bahnhof und der Bergbahn. »

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Tiefrotes Treppenhaus mit Bergblick-Fenster. Themenheft von Hochparterre, Mai 2019 —  Im Unterengadin — Neue Dorflandschaft

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Architekturlandschaft Der Unternehmer Otto Augustin und der Architekt Beat Consoni setzten 1984 einen Stein für die zeitgenössische Architektur im Unterengadin: Das ‹ Center Augustin ›, ein ambitioniertes, städtisch anmutendes Wohn- und Geschäftshaus am Stradun, der Hauptstrasse Scuols. Es hat den Menschen von Scuol missfallen, und sie haben die Bauordnung so verändert, dass kein solches mehr möglich würde. Dennoch – Architekten und Bauherren liessen nicht locker. In Scuol, aber auch anderswo im Unter­ engadin stehen einige Perlen der Architektur aus diesem Jahrhundert, entworfen meist von Architektinnen und Architekten, die im Tal wohnen und arbeiten. Hotels, kleine Siedlungen, Umbauten, Einfamilienhäuser.

1  Center Augustin, Scuol, 1984 Mit Sinn für Ordnung und Schönheit hat Beat Consoni in den Achtzigerjahren versucht, der Hauptstrasse von Scuol mit diesem Wohn- und Geschäftshaus ein Gesicht zu geben. Eine Galerie zur Strasse, der Rest in einem Betongebirge hinten dran versorgt. Vergeblich – links und rechts, vorne und hinten wuchert seither ein fröhliches Babylon zur Strasse hin. 2  Brunnen, Lavin, 2001 Eine Reihe neuer Dorfbrunnen von Flurin Bischoff steht zwischen Chaflur und Lavin. Statt Holztröge von einst sind es Betonplastiken von heute. Die Kühe trinken schon längst nicht mehr daraus, und alle Häuser haben Waschmaschi­nen. So steht der Brunnen weiss, zwecklos schön und erlabt die Wanderer, die in Lavin ankommen. 3  Haus Parolini, Scuol, 2002 Einfamilienhaus, Engadinerhaus dennoch. Den Widerspruch hergestellt haben Jüngling Hagmann Architekten für die Familie Parolini mit Fenstern übereck und Fenstern mit Trichtern, mit muralem

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Verputz und ungewohnter, vom Sonnenschein bestimmter Dachform. So entstand in all der eintönigen Einfami­lienhaus­landschaft einmal eines, das aus dem Bedürfnis nach einem Bergblick eine Form entwickelt hat. 4 Keramikleuchter Madlaina Lys aus Lavin ist Keramikerin. In der Tradition der grossen und verspielten Kronleuchter stehen ihre leuchtenden Objekte, zusammengebaut aus Hunderten Keramikplättchen. Sie filtern Licht und Schatten wolkenhaft, ans Mobile erinnernd. Sie hängen in Museen, Eingangshallen, grossen Stuben. 5  Jugendherberge, Scuol, 2007 Marisa Feuerstein, Men Clalüna, Anna­ belle Breitenbach, Jon Armon Strimer haben den Wettbewerb für dieses Haus gewonnen. Geworden ist ein markanter Kubus mit abgewinkelten Fassaden, Trichtern zu den Zimmern mit zwei bis sechs Betten, grossen Fenstern zu Gemeinschaftsräumen, Lichtschlitzen für die Gänge. Die Herberge hat eine Lobby, die einem Fünfsterne-Palast zur Ehre gereichte.

6  Nationalparkhaus, Zernez, 2008 Architektur pur ist die spektakulärste Treppe des neueren Bauens in den Alpen. Sie bestimmt das Nationalparkhaus in Zernez von Valerio Olgiati. Selbstbewusst wie die Paläste einst spricht sein weis­ses Betonhaus: Wo ich bin, ist der Ort. Die Landschaft ist anderswo. 7  Chasa Reisgia, Ftan, 2010 Genossenschaften unter Bauern sind in den Alpen altbekannt, unter Mietern sind sie neu. In Ftan hat Urs Padrun dafür ein Ensemble aus zwei Blöcken mit 13 Wohnungen gebaut. Mit Sichtbeton als Reverenz an die Schwere des Engadinerhauses, mit Holz für Brüstungen, Fenster und Innenausbau als Erinnerung an die kostbaren Stuben und mit einem Platz als zentralem Ort im Aussenraum.

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8  Hotel Belvédère, Scuol, 2011 Ein alter Palast. Angefügt hat ihm der Architekt Renato Maurizio einen Rucksack. Auf der andern Strassenseite baute er in städtisch anmutenden Blöcken in Rot und Braun Zimmer und Wohnungen. Und weiter oben im Hang ein weiteres Hotel. Alles zusammen ist das Ensemble Belvédère. Spektakulär seine Verbindung zum Bogn Scuol. Vom hintersten Zimmer der Anlage führen Treppen und Gänge unter der Erde und in Galerien über mehr als hundert Meter zum Bad. 9  Bahnhof Zernez, 2011 Der Bahnhof Zernez hat seit ein paar Jahren eine weite Säulenhalle aus weissem Beton. Von ihr aus geht die Unterführung zu den Zügen, an ihrer Kante warten die Busse nach Südtirol und Livigno, an ihrem Kopf sind Wartsaal und Bähnlerbüro. Wie alle grösseren Bahnhöfe wurde Zernez erneuert wegen des Gesetzes, das die Gleichstellung Benachteiligter fordert. Alle müssen jederzeit selbstständig den Zug erreichen können. Die RhB nutzt die dafür nötigen Grossumbauten für anständig gemachte Architektur, oft geplant von Maurus Frei Architekten aus Chur. 10  Hotel Arnica, Scuol, 2012 Tourismus und zeitgenössische Architektur sind nicht gut befreundet. Dass es doch klappt zwischen den beiden, zeigt das Hotel Arnica am Rand von Scuol. In einer Ellipse hat Teo Biert grosszügige Zimmer untergebracht und im Unter­ geschoss eine Sauna mit spektakulärem

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Berg­blick. Ein Beispiel auch, wie aus Arvenholz auch anderes als das geblümelte Tröglein gebaut werden kann. 11  Chasa Marangun, Chasa Zupò, Ardez, 2012, 2015 Am Anfang guter Architektur steht oft ein vernünftiger Areal- oder Quartierplan. Der für die Erweiterung von Ardez kam von Robert Obrist aus St. Moritz, dem ver­ storbenen Doyen der Bündner Ortsplaner. Die Architekten Schneider Eigensatz aus Zürich und ihre einheimischen Verwandten als Bauherren nahmen Obrists Ball auf: gross bauen. Neu darf neu sein und soll sich doch ins Dorf fügen und in die Landschaft. Sechs Wohnungen haben Platz in einem Haus. Keine Sgraffiti und Trichterfenster, dafür zwei massige weisse Körper. Bemerkenswert ist schliesslich die Konstruktion: innen ein Holzgerüst, aussen eine doppelte Mauer. 12  Chasa Sulai, Scuol, 2013 Die Angestellten des Tourismus brauchen Wohnungen. Sind sie schlecht, gehen sie anderswohin. Für das Hotel Belvédère bauten Fanzun Architekten als Übergang der Siedlung Monolit zum Dorfkern von Scuol einen weissen Block mit 26 Studios mit Bad und kleiner Küche. In Reih und Glied stehen die Trichterfenster zu ihnen Parade. 13  Röven, Zernez, 2016 Wer es anders will als gewohnt, hat es auch im Unterengadin schwer, so auch eine Genossenschaft, die in Zernez

eine kleine kooperative Siedlung fürs Wohnen im Alter bauen wollte. Erst nach langem Hin und Her konnte ihr Architekt Urs Padrun mitten im Dorf in ‹ Chüra e Vita › fünf Wohnungen für betreutes Wohnen, Spitex und eine Pflegegruppe im gleichen Haus realisieren. 14  Zentrum Nairs, Scuol, 2016 Im alten Badehaus des Kurhauses am Inn befindet sich Nairs, das Zentrum für Kunst und Kultur. Nach jahrelangem Improvisieren haben es Christof Rösch und Urs Padrun renoviert: Kunsthalle und Ateliers getrennt, im Keller ein Theaterund Konzertsäli, für den Ganzjahresbetrieb wintertauglich gemacht. Der Umbau ist ein Muster dafür, wie gut es wird, wenn Schmalhans das Budget regiert. Nur das Nötige, das dafür schön gemacht. 15  Museum, Susch, 2018 In und um die alte Bierbrauerei neben der Kirche von Susch hat die polnische Kunstsammlerin Grażyna Kulczyk ihr ‹ Muzeum › für zeitgenössische Kunst eröffnet. Die Architekten Chasper Schmidlin und Lukas Voellmy haben anspruchsvoll um- und in den Berg hineingebaut. Nebst Ausstellungsräumen gibt es Arbeitsund Wohnräume für Künstlerinnen und Forscher und für das ‹ Women’s Center of Excellence ›. Bevor Kunst gefeiert und Bier gebraut wurde, war hier ein mittelalterliches Kloster, dessen Strukturen die Architekten möglichst bewahrt und mit unaufgeregten An- und Zubauten für die Kunst umgenutzt haben.

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Im Unterengadin

« Hoch in den Bergen, weit von hier, da wohnt ein Büblein, so wie ihr … » Es heisst Schellen-Ursli. Seine Dichterin Selina Chönz und ihr Zeichner Alois Carigiet haben das Schönbild des En­gadiner Dorfes in Hunderttausenden Köpfen befestigt. Nach dort oben hat die Schweizer Gesellschaft vor gut zwanzig Jahren den Vereinatunnel vom Prättigau ins Unterengadin gebaut und dafür 812 Millionen Franken bezahlt. Das grösste Bauwerk Graubündens hat das Tal verändert. Dieses Heft erkundet, wie die Dörfer und Landschaften heute aussehen und wie sich die Erinnerungs-, Bauern,- Lawinen-, Kunst-, IT-, Schön- und Gebrauchslandschaften verändert haben. Mit freundlicher Unterstützung von:

Amt für Raumentwicklung Graubünden Corporaziun Energia Engiadina Acla-Gruppe Fanzun Architekten Graubünder Kantonalbank, GKB Beitragsfonds Pensimo Management Belvédère Hotels Mia Engiadina

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