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Fallbericht: Herausforderungen bei Demenz in den eigenen vier Wänden – Die häusliche Situation eines Ehepaares Manuela Grünzig, Christine Schiller, Thomas Klatt, Meyer Gabriele, Stephanie Heinrich

Danksagung

Besonderer Dank gilt allen Interview-Teilnehmenden und den Pflegeexpertinnen bzw. Pflegedirektorinnen der teilnehmenden Krankenhäuser. Vielen Dank an Nadja Heuberger für die sorgfältige Transkription und an Diana Staudacher für das gewinnbringende Lektorat des Artikels. Danke an Sandra Preinknoll für die Unterstützung während der Interviews. Weiter bedanken wir uns bei den Kolleginnen und Kollegen der Erstautorin für die konstruktiven Diskussionen im Forschungskolloquium.

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Autorenschaft

Beitrag zur Konzeption oder zum Design der Arbeit: MB, SS, HM, AZ Beitrag bei der Erfassung, Analyse oder der Interpretation der Daten: MB, HM, AZ Manuskripterstellung: MB Kritische Überarbeitung von wichtigen intellektuellen Inhalten des Manuskripts: MB, HM, SS, AZ Genehmigung der letzten Version des Manuskripts zur Publikation: MB, HM, SS, AZ Bereitschaft, für alle Aspekte der Arbeit Verantwortung zu übernehmen: MB, HM, SS, AZ

ORCID

Melanie Burgstaller https://orcid.org/0000-0003-0031-2840

Melanie Burgstaller, MA

Institut für Angewandte Pflegewissenschaft IPW-FHS Fachhochschule St. Gallen Rosenbergstrasse 59 9001 St. Gallen Schweiz melanie.burgstaller@fhsg.ch

Was war die größte Herausforderung bei Ihrer Studie?

Die Moderation der Fokusgruppen so zu gestalten, dass alle Teammitglieder und Berufsgruppen sich zu gleichen Teilen einbringen konnten.

Was wünschen Sie sich bezüglich der Thematik für die Zukunft?

Dass eine personenzentrierte Pflege von Menschen mit Demenz im Spital möglich wird.

Was empfehlen Sie zum Weiterlesen/Vertiefen?

Houghton et al. (2016). Healthcare staffs' experiences and perceptions of caring for people with dementia in the acute setting: Qualitative evidence synthesis. Siehe Literatur.

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Originalarbeit

Herausforderungen bei Demenz in den eigenen vier Wänden

Die häusliche Situation eines Ehepaares

Manuela Grünzig, Christine Schiller, Thomas Klatt, Gabriele Meyer, Stephanie Heinrich

Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Medizinische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Zusammenfassung: Hintergrund: Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sind aufgrund der Komplexität einer Demenz vor besondere Herausforderungen gestellt. Die Familien benötigen Informationen sowie Beratung, um sich in der unübersichtlichen Versorgungslandschaft zurechtzufinden und bedarfsgerechte Angebote in Anspruch nehmen zu können. Fragestellung / Ziel: Der Fallbericht zielt darauf ab, die häusliche Situation eines Ehepaares aufzuzeigen, bei dem der Ehemann an einer Demenz bei Parkinson-Krankheit leidet und erhebliche Herausforderungen innerhalb der Familie und im Versorgungssystem bestehen. Methode: Im Rahmen des Dementia Care Nurse Projektes erfolgte eine Fallbegleitung. Anhand unterschiedlicher Assessmentinstrumente wurden die verschiedenen Informationen der Familie zusammengetragen und beschrieben. Ergebnisse: Die Problemfelder und der Hilfebedarf der betroffenen Familie sind vielfältig und reichen über Kostenerstattung, Beantragung von Pflegeleistungen bis hin zum Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen sowie Reduktion der Belastung der pflegenden Angehörigen. Schlussfolgerung: Die Familie, insbesondere die pflegende Ehefrau, konnte wirksam bei den Herausforderungen der Demenzerkrankung unterstützt werden, indem z.B. professionelle Dienste einbezogen und Leistungsansprüche geklärt wurden. Aus Projektperspektive sind unabhängige Beratungsstrukturen im Sinne eines Case Management Ansatzes notwendig, um die häusliche Situation zu stabilisieren.

Schlüsselwörter: Demenz, Versorgung, Häuslichkeit, pflegende Angehörige, Case Management

Challenges in dementia care at home – The situation at home of a married couple

Abstract: Background: People with dementia and their relatives are faced with major challenges due to complex dementia symptoms. Families need information and counselling in order to find adequate dementia care services tailored to their needs. Aim: This case report's objective is to exemplify the domestic situation of a married couple who is faced with significant challenges within the family and the care system due to the husband's dementia and Parkinson´s disease. Methods: The Dementia Care Nurse project included case monitoring; by means of different assessments relevant information was recorded and the family's situation described. Results: The family's problems and their need for support were multifaceted and entailed reimbursement of costs, application for care services as well as management of challenging behaviours and reduction of the caregiver's psychosocial burden. Conclusions: The family, particularly the spouse caregiver, was effectively supported in meeting the challenges of dementia, e.g. by drawing on professional services and sorting out entitlement to benefits. From the perspective of the experience in the project, independent counselling structures such as a case management approach are indispenable in order to stabilise the domestic situation. Keywords: dementia, home nursing, informal caregivers, Case Management

Einleitung

Demenz ist durch Beeinträchtigungen der zeitlich-örtlichen Orientierung, der Kommunikationsfähigkeit, der autobiografischen Identität und der Persönlichkeit gekennzeichnet. Der Verlauf ist zumeist progressiv. Durch typische Verhaltensänderungen wie Agitation, Aggressionen, Enthemmung, Wahn oder Stimmungsschwankungen seitens der Erkrankten werden die betroffenen Familien vor oft große Herausforderungen gestellt (Cheng, 2017; Chiao, Wu & Hsiao, 2015; Mouriz, Caamaño Ponte, García Tuñas, Dosil & Facal, 2019). Die zunehmende Unselbstständigkeit bedingt einen Rollenwechsel von Partnern und Partnerinnen zu pflegenden Angehörigen und verändert das Beziehungsgefüge. Neben positiven Pflegeerfahrungen, kann es jedoch auch zu Beeinträchtigungen der Gesundheit und des Wohlbefindens der pflegenden Angehörigen kommen (Quinn et al., 2019). Die Versorgung des Menschen mit

Was ist zu dieser Thematik schon bekannt?

Menschen mit Demenz und ihre Angehörige sind aufgrund der Komplexität einer Demenz vor Herausforderungen gestellt.

Was ist neu?

Dementia Care Nurses stellen eine wirksame Unterstützung dar, um eine gute Versorgung in der Häuslichkeit herzustellen.

Welche Konsequenzen haben die Ergebnisse für die Pflegepraxis?

Unabhängige Beratungsstrukturen im Sinne eines Case Management Ansatzes sind notwendig, um insbesondere die ambulante Versorgung von Menschen mit Demenz zu stabilisieren.

Demenz hat oft höchste Priorität, so dass die eigenen Bedürfnisse zunehmend in den Hintergrund rücken (Hochgraeber, Dortmann, Bartholomeyczik & Holle, 2014).

Um die Ratlosigkeit nach der Diagnosestellung zu überwinden, geeignete Hilfemaßnahmen zu finden und eigene Ressourcen zu stärken, benötigen die betroffenen Familien aufsuchende und kontinuierliche Beratungsstrukturen (Stephan et al., 2018). Behandelnde Hausärzte und Hausärztinnen, die Betroffene oft jahrelang kennen, fühlen sich insbesondere beim Management herausfordernder Verhaltensweisen (Jennings et al., 2018) und der Kommunikation (Wangler, Fellgiebel & Jansky, 2018) überfordert. Außerdem fehlt ihnen Wissen über regionale Beratungsstellen und Unterstützungsangebote in Wohnortnähe, die bei Problemen Hilfestellung leisten können (Stephan et al., 2018).

Seit 2009 hat in Deutschland jeder Mensch, der Leistungen aus der Pflegeversicherung erhält, einen Rechtsanspruch auf eine unabhängige Pflegeberatung. Das Wissen darüber ist allerdings bei den betroffenen Familien unzureichend verbreitet (Eggert & Väthjunker, 2015). Unabhängige Beratungsstellen, wie Pflegestützpunkte, sind in Deutschland nicht flächendeckend vorhanden. Die Einrichtung von Beratungsmöglichkeiten im Sinne von Case Management Strukturen wird empfohlen.

Ziel dieses Fallberichtes ist es, die häusliche Situation eines Ehepaares aufzuzeigen, bei dem der Ehemann an einer Demenz bei Parkinson-Krankheit leidet und erhebliche Herausforderungen innerhalb der Familie und im Versorgungssystem bestehen.

Das Paar bzw. die Familie wurde im Rahmen des vom Land Sachsen-Anhalt durch EU-Mittel gefördertem Projekts „Dementia Care Nurse – Qualifikation für erweiterte Kompetenzen von Pflegenden zur vernetzten quartierbezogenen Versorgung von Menschen mit Demenz“ in Form einer aufsuchenden Hilfe begleitet. Im Vorfeld schloss das Projekt eine umfängliche Qualifizierungsmaßnahme für Pflegefachpersonen mit Bachelor-Abschluss ein (Heinrich, Grünzig, Klatt, Schiller & Meyer, 2018). Die qualifizierten Dementia Care Nurses erlangten Kenntnisse und Kompetenzen in 226 Unterrichtseinheiten u. a. zum Krankheitsbild Demenz, zu Beratung und Anleitung, zum Umgang mit Menschen mit Demenz, zu Unterstützungsangeboten sowie zur Umfeldgestaltung und Vernetzung, um in der Praxis tätig zu werden.

Zu Beginn der aufsuchenden Hilfe findet im Hausbesuch ein umfassendes Anamnesegespräch mit Erhebung der soziodemografischen, krankheits- und pflegespezifischen Daten statt. Dafür wird ein eigens entwickelter Anamnesebogen sowie der Kriterienkatalog der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (Kollak & Schmidt, 2015) genutzt. Je nach Bedarfslage werden weitere Assessmentinstrumente, z. B. zur Schmerz- oder Sturzerfassung eingesetzt. Im Anschluss erfolgt die Erstellung eines Hilfeplanes sowie eine fortlaufende Protokollierung der Fallbegleitung.

In dem Fallbericht werden folgende Fragestellungen behandelt: y Welche Herausforderungen zeigen sich in der Versorgung des Betroffenen mit Demenz? y Welche Hilfemaßnahmen wurden ergriffen, um die häusliche Situation zu stabilisieren? y Welche Barrieren und Probleme ergeben sich innerhalb des Versorgungssystems?

Zuweisung zum Projekt

Familie Sommer [Name geändert] hatte Kontakt zu einem Pflegeberater der privaten Krankenversicherung. Im Rahmen der Pflegeberatung traten verschiedene Problemfelder auf, welche nicht ausreichend gelöst werden konnten. Deswegen verwies der Berater Familie Sommer im Oktober 2018 an das Dementia Care Nurse Projekt. Der erste Hausbesuch erfolgte bereits vier Tage später. Im ersten Gespräch war nur Frau Sommer anwesend, da sich Herr Sommer in der Tagespflege befand.

Informationen über den Patienten und die häusliche Situation

Herr Sommer ist 70 Jahre alt und lebt seit 1996 mit seiner Frau in einem kleinen Ort in einer ländlichen Region. Im Jahr 2004 hatte Herr Sommer eine starke Erkältung, von der er sich nicht erholte. Aufgrund der nicht abklingenden Symptome fand eine weiterführende Diagnostik statt, woraufhin eine Leukämie und eine Parkinson-Erkrankung im Jahr 2005 diagnostiziert wurden. Seit 2015 stellte Frau Sommer zusätzlich zunehmende kognitive Veränderungen fest. Herr Sommer wurde vergesslicher und zeigte bisher unbekannte Wesenszüge. Im Februar 2017 suchte das Paar eine Gedächtnisambulanz auf, die eine Demenz bei Parkinson-Krankheit diagnostizierte.

Das Ehepaar hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die weit entfernt vom Elternhaus leben. Es besteht regelmäßiger telefonischer Kontakt. Ein Treffen der Familie findet etwa alle drei Monate statt. Frau und Herr

Sommer sind seit 50 Jahren verheiratet. In der Vergangenheit sind beide viel und gerne verreist. Durch einen schweren Unfall des Sohns sammelte Familie Sommer bereits früh Pflegeerfahrungen. Frau Sommer kümmert sich seit der zunehmenden Pflegebedürftigkeit liebevoll und im Rahmen ihrer Möglichkeiten um ihren Ehemann. Sie ist körperlich und geistig agil.

Das Haus, in dem das Ehepaar wohnt, hat vier Etagen mit drei Treppen. Im Erdgeschoss befindet sich ein kleines Badezimmer ohne behindertengerechte Toilette, eine Küche sowie ein Wohnzimmer. Im ersten Obergeschoss liegen das Schlafzimmer sowie das Hauptbadezimmer mit einer ebenerdigen Dusche.

Situationsbeschreibung

Zum Zeitpunkt des Kennenlernens versorgt Frau Sommer ihren Ehemann selbstständig ohne professionelle Hilfen. Vor der Mobilisation am Morgen erhält Herr Sommer zunächst ein Antiparkinsonmittel, um die morgendliche Muskelstarre und Bewegungsarmut zu lindern. Je nach Tagesform des Ehemannes ist es möglich, ihn beim Waschen einzubeziehen, den größten Teil der pflegerischen Tätigkeit übernimmt jedoch Frau Sommer. Die morgendliche Grundpflege ist deswegen für beide sehr anstrengend. Einerseits liegt durch die Parkinsonerkrankung eine Steifigkeit vor, andererseits kann Herr Sommer die komplexen Handlungen aufgrund seiner Demenz nicht ausführen und zuordnen. Nach Beendigung des morgendlichen Rituals bereitet die Ehefrau das Frühstück vor. Herr Sommer nutzt diese Zeit, um sich von der morgendlichen Grundpflege zu erholen. Die Einnahme der Mahlzeiten führt Herr Sommer selbstständig durch, wobei er teilweise daran erinnert werden muss. Zwischen 8 Uhr und 8.30 Uhr wird Herr Sommer vom Fahrdienst der Tagespflege abgeholt.

Während Herr Sommer von Montag bis Freitag in der Tagespflege ist, organisiert Frau Sommer den Haushalt. Sie kümmert sich um alle häuslichen sowie finanziellen Angelegenheiten der Familie. Frau Sommer geht bei allen Aufgaben sehr strukturiert und geordnet vor. Ein von ihr angelegtes Dokumentationssystem zur Haushaltsführung ist übersichtlich und verständlich.

Gegen 16 Uhr bringt der Fahrdienst der Tagespflege Herrn Sommer zurück. Danach geht das Ehepaar, je nach Zustand von Herrn Sommer, gemeinsam spazieren oder Einkäufe erledigen. Während des Spazierengehens ist Frau Sommer oft besorgt, da das Gangbild ihres Ehemannes sehr unsicher ist und er jegliche Hilfsmittel wie Gehstock oder einen Rollator ablehnt. Für Herrn Sommer sind Hilfsmittel mit zu viel Scham besetzt. Durch seine starke Persönlichkeit lässt er sich ungern Hilfestellungen oder Ratschläge von seiner Frau geben. In der Öffentlichkeit ist Herr Sommer in seiner Orientierung eingeschränkt. Er verhält sich nicht situationsadäquat.

Am Abend bereitet Frau Sommer das Abendessen vor. Nach den gemeinsamen Mahlzeiten und abendlichen Aktivitäten wie Fernsehen, erfolgt die Abendtoilette Herrn Sommers durch die Ehefrau. Herr Sommer trägt ganztägig Inkontinenzmaterialien. Die Schutzhosen werden nur unwillig von ihm toleriert. Zur Nacht gibt es deswegen häufig Probleme und Konflikte, da er sich die Inkontinenzmaterialien auszieht. Durch die starke Unruhe, das häufige Wasserlassen und seine Alpträume, schläft Frau Sommer kaum durch. Häufig beträgt die Schlafdauer nur wenige Stunden.

Insgesamt ist Herr Sommer sehr unruhig. Gegenüber seiner Ehefrau ist er vorwurfsvoll, fordernd und teilweise aggressiv. Es ist keine Krankheitseinsicht vorhanden. Seine Alltagshandlungen sind stark eingeschränkt, da er diese häufig zeitlich, örtlich und situativ nicht einordnen kann. Eine selbstständige Alltagsbewältigung durch Herrn Sommer wäre nicht möglich. Durch die weite Entfernung der Kinder zum Elternhaus, ist Frau Sommer in allen pflegerischen Tätigkeiten und sonstigen Aufgaben auf sich gestellt.

Zu Beginn der Projektteilnahme hat Herr Sommer bereits eine schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit, welche einem Pflegegrad drei entspricht und einen Grad der Behinderung von 70 Prozent.

Situation der Ehefrau zum Zeitpunkt des Erstkontaktes

Im ersten Hausbesuch wirkt Frau Sommer sehr belastet. Die starken körperlichen und psychischen Beanspruchungen, die durch die Pflege ihres Ehemannes entstehen, erschöpfen Frau Sommer sichtlich. Vor allem die fordernde und vorwurfswolle Art und Weise des Ehemannes gegenüber Frau Sommer verkraftet sie nur sehr schwer.

Frau Sommer besucht zum Zeitpunkt des ersten Kennenlernens bereits eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige. Aufgrund der ungünstig gelegenen Uhrzeit der Selbsthilfegruppe am Nachmittag kann Frau Sommer die Gruppe nicht regelmäßig besuchen. Zu oft müsste sie ihren Ehemann alleine zu Hause lassen. Weitere Maßnahmen zur eigenen Gesunderhaltung führte Frau Sommer zum Zeitpunkt des ersten Treffens nicht durch.

Die Einstufung der Familie Sommer als Case-Management-Fall erfolgte anhand des Kriterienkatalogs der Deutschen Gesellschaft für Care und Case Management (Kollak & Schmidt, 2015), wie die Tabelle 1 zeigt.

Hauptprobleme und Hilfemaßnahmen

Im ersten Hausbesuch der Familie Sommer zeigen sich bereits differenzierte Problemlagen. Die Abbildung 1 liefert einen kurzen Überblick über den zeitlichen Verlauf.

Problemfeld 1: Ausbleibende Rückzahlungen der Krankenkasse

Bei privaten Krankenversicherungen gilt das Prinzip der Kostenerstattung, d. h. der Patient zahlt zunächst anfallende Rechnungen und bekommt diese im nächsten Schritt durch die Beihilfe und Krankenkasse erstattet. Familie Sommer reichte Rechnungen ordnungsgemäß und fristgerecht bei der Krankenkasse ein. Trotzdem wurden mehrere Rechnungen von Mai bis September nicht erstattet. Familie Sommer wartet seit über fünf Monaten auf eine Kostenrückerstattung von knapp 3000 Euro (ca. 3400 CHF).

Zunehmende Wesensveränderungen und Vergesslichkeit

Diagnose: Demenz bei ParkinsonKrankheit

Erster Kontakt mit der Ehefrau im Hausbesuch

Kontaktaufnahme zur Behörde bzgl. Höherstufung der Schwerbehinderung

Kontaktaufnahme mit Krankenkasse bzgl. ausbleibender Rückzahlungen

Zustandsverschlechterung des Betroffenen, deswegen Einweisung ins Krankenhaus

Beantragung der Pflegegraderhöhung

Gemeinsames Gesprächs mit Kindern & Ehepaar

Kontaktaufnahme zum Pflegedienst

Vorerst stabile Situation

2015

2017

2018

O K T O B E R

N O V E M B E R

D E Z E M B E R

Probleme im Ersthausbesuch:  Ausbleibende Rückzahlung der Krankenversicherung  Fehlende Rückmeldung zur Höherstufung der Schwerbehinderung  Kostenbeteiligung der Pflegekasse für Toilettenumbau fraglich  Pflegegradhöherstufung, bisher 3 Ablehnungen

Rückmeldung bzgl. Höherstufung der Schwerbehinderung; Widerspruch, da unzufriedenstellendes Ergebnis

Zustimmung der Pflegekasse zur Kostenbeteiligung für Umbaumaßnahmen der Toilette

Rückzahlung der offenen Rechnungen seitens der Krankenkasse

Hilfe bei der Morgentoilette durch den Pflegedienst Entlassung aus KH: > neue Medikation erhalten > Zunahme der Pflegebedürftigkeit > Zunehmende körperliche und psychische Belastung der Ehefrau

Bewilligung Pflegegraderhöhung von 3 auf 4

Höherstufung der Schwerbehinderung von 70% auf 80% Bewilligung Merkzeichen

Tabelle 1. Kriterienkatalog anhand des Fallbeispiels Familie Sommer

Kriterien

Alter

Bestimmte Erkrankungen Situation des Patienten

70 Jahre

Chronisch lymphatische Leukämie, zuletzt 2006 Parkinson Demenz

Familienstand Verheiratet, zwei Kinder

Körperliche Situation Stark schwankender Blutdruck Unsicheres Gangbild; lehnt Gehhilfe ab Größe: 1,78 m, Gewicht: 72 kg Wechselnde Steifigkeit Kleinschrittigkeit Psychische Situation Teilweise desorientiert Antrieb: gemindert, oft sehr unruhig Zeitweise aggressiv Nimmt ungern Hilfe in Anspruch allgemein ablehnende Haltung

Fähigkeit zur Selbstsorge Einnahme der Medikamente: teilweise selbstständig, Stellen und Kontrolle durch Ehefrau erforderlich Nahrungsaufnahme: selbstständig mit Aufforderung Körperpflege und Kleiden: teilweise selbstständig mit Unterstützung der Ehefrau Kontinenz-Status: harninkontinent; teilweise stuhlinkontinent

Soziale Situation Ehefrau organisiert Pflege und Versorgung; Kinder leben entfernt

Hauswirtschaftliche Einkäufe: nur gemeinsam mit Ehefrau, sofern Aufgaben sein Befinden es ermöglicht Mahlzeitenzubereitung: durch Ehefrau Reinigung des Haushaltes: durch Ehefrau Finanzielle Situation Ausreichende Rente; privatversichert Anzahl der benötigten Seit 02 / 2018 Tagespflege: 5d / Woche genutzt Dienstleistungen

Zunächst erfolgte eine Prüfung der eingereichten Unterlagen von Familie Sommer und eine Sichtung der AGBs der privaten Krankenversicherung. Danach wurde das konkrete Vorgehen zur Erstattung gemeinsam besprochen, Fragen geklärt und Frau Sommer ermutigt, den erneuten Kontakt zur Krankenkasse aufzunehmen. Nach mehreren Telefonaten zwischen Frau Sommer und der Krankenkasse sowie schriftlichem E-Mail-Verkehr erfolgte die Rückzahlung der offenen Rechnungen wenige Wochen nach dem ersten Hausbesuch.

Problemfeld 2: Fehlende Rückmeldung bezüglich der Höherstufung der Schwerbehinderung

Familie Sommer hatte den Antrag zur Erhöhung des Grades der Behinderung (GdB) im Juni 2018 eingereicht. Bis zum ersten Hausbesuch gab es jedoch keine Rückmeldung der zuständigen Behörde. Es war unklar ob der Antrag überhaupt eingegangen war und in welchem Bearbeitungszwischenstand dieser sich befand.

Es wurde Kontakt zur zuständigen Behörde durch die Dementia Care Nurse aufgenommen, um zu erfahren, wie der aktuelle Bearbeitungsstand war. Am Telefon berichtete die zuständige Sachbearbeiterin, dass die Bearbeitungszeit für die Höherstufung des GdB im Mittel zwischen vier bis sechs Monaten liege. Der Antrag lag zum Zeitpunkt des Telefonates bereits der Gutachterin vor. Ende November erhielt Familie Sommer die erste Rückmeldung der Behörde. Rückwirkend wurde eine Höherstufung des GdB von 70 % auf 80 % bewilligt. Aufgrund der Ablehnung aller beantragten Merkzeichen, wurde gemeinsam mit Frau Sommer ein umfassendes Widerspruchsschreiben formuliert.

Durch die Einreichung eines Widerspruchs änderte sich die Zuständigkeit innerhalb der Behörde und die vorliegende Situation von Familie Sommer musste neu erklärt werden. Nach mehreren Telefonaten und der Zustellung fehlender Unterlagen, wurden letztendlich Mitte Dezember die beantragten Merkzeichen bewilligt.

Problemfeld 3: Kostenbeteiligung der Krankenkasse beim Umbau der Toilette

Die meiste Zeit verbringt Herr Sommer im Erdgeschoss des Hauses, dort befindet sich das Wohnzimmer und die Küche. Da das Bad im Erdgeschoss nicht barrierefrei ausgestattet war und der Weg in die zweite Etage dauerhaft zu anstrengend gewesen wäre, beantragte Frau Sommer einen Zuschuss bei der Pflegekasse für einen Toilettenumbau. Durch die großräumigen und unkoordinierten Bewegungen, die Herr Sommer aufgrund der Parkinson-Erkrankung zeigt, ist eine montierbare Toilettensitzerhöhung aus Plastik nicht geeignet. Familie Sommer hatte zu viel Angst, dass ein Toilettenaufsatz den starken Belastungen durch die unvorhergesehenen Bewegungen nicht standhalten würde. Deswegen holte sich Frau Sommer einen Kostenvoranschlag von einer Sanitätsfirma für eine erhöhte Keramiktoilette ein. Diese Vorkalkulation reichte Familie Sommer ein. Es erfolgte zunächst eine Ablehnung, da es sich um keine reguläre Leistung der Pflegekasse handelte.

Erneut wurde der Kontakt zur Pflegekasse aufgenommen. Nach mehreren Telefonaten und einigem Schriftverkehr übernahm die Kasse die entstandenen Kosten für den Toilettenumbau.

Problemfeld 4: Herausfordernde Verhaltensweisen und zunehmende Belastung der Ehefrau

Im Laufe der Fallbegleitung verschlechterte sich der körperliche und geistige Zustand von Herrn Sommer. Frau Sommer berichtete von starken Stimmungsschwankungen, die teilweise von Stunde zu Stunde variierten. Weiterhin stand der stark schwankende Blutdruck im Vordergrund, der vermehrt zu Stürzen führte. Herr Sommer lief unruhig durch das Haus, sprach sehr verwaschen, wirkte andererseits apathisch und abwesend, so dass seine Ehefrau Kontakt zur Hausärztin aufnahm. Die Hausärztin verwies Familie Sommer direkt an den behandelnden Neurologen,

der eine Krankenhauseinweisung in eine Spezialklinik für Menschen mit Parkinson-Erkrankung veranlasste. In der Klinik wurde die Diagnose Überdosierung mit Dopamin festgestellt.

Nach knapp fünf Wochen Klinikaufenthalt erfolgt die Entlassung in die Häuslichkeit. Der Zustand von Herrn Sommer stabilisierte sich. Trotzdem nahm die körperliche und psychische Belastung für Frau Sommer zu. Zur Nacht musste Herr Sommer zum Teil von seiner Ehefrau gelagert werden, da seine Muskelsteifigkeit ihn am Umdrehen hinderte. Weiterhin entstanden Probleme in Bezug auf die Inkontinenzversorgung zur Nacht. Häufig musste Frau Sommer die Bettwäsche nachts wechseln, da Herr Sommer das Inkontinenzmaterial auszog oder die Urinflasche ausschüttete. Es gab Nächte in denen Frau Sommer kaum drei bis vier Stunden schlief. Darüber hinaus nahm die verbale Aggressivität von Herrn Sommer gegenüber seiner Ehefrau zu, insbesondere machte er seine Ehefrau für den Krankenhausaufenthalt verantwortlich. Auch verweigerte er sich bei der Grundpflege und übernahm auch nach Anleitung keine eigenen Tätigkeiten.

Aufgrund der Zustandsverschlechterung wurde über mehrere Optionen, u. a. eine Entlastung durch einen ambulanten Pflegedienst als auch eine stationäre Versorgung, gesprochen. Da Frau Sommer jedoch keine grundsätzlichen Entscheidungen allein treffen wollte, fand als nächstes ein gemeinsames Gespräch mit allen Familienmitgliedern, dem Ehepaar, den beiden Kindern und der Dementia Care Nurse, statt. Die Dementia Care Nurse schilderte im Gespräch die Situation und zeigte Optionen der Versorgung auf. Frau Sommer stellte daraufhin ihre persönliche Sichtweise der häuslichen Situation dar. Innerhalb der Unterhaltung sprachen sich alle Parteien gegen einen Umzug ins Pflegeheim aus. Zunächst sollten alle Mittel der häuslichen Versorgung, vor allem durch Einbezug eines ambulanten Pflegedienstes, ausgeschöpft werden. Frau Sommer äußerte mehrmals Bedenken hinsichtlich eines Pflegedienstes, da sie ungern fremde Menschen in ihr eigenes Haus lassen würde und nicht wisse, wie ihr Ehemann darauf reagieren würde. Auch Herr Sommer war verunsichert.

Nach der gemeinsamen Abwägung und letztlichen Entscheidung für einen ambulanten Pflegedienst, organisierte die Dementia Care Nurse den Kontakt zu einem Pflegedienst und sprach den Bedarf ab. Seit Ende November erhält Familie Sommer täglich Unterstützung (Montag bis Freitag) bei der morgendlichen Grundpflege. Es dauerte eine Weile bis sich beide Seiten an die Versorgung gewöhnten. In den ersten Wochen gab Frau Sommer dem Pflegedienst Hilfestellungen, so dass die Veränderung für Herrn Sommer nicht zu groß war. Mittlerweile sind die Abläufe routiniert, Herr Sommer toleriert den Pflegedienst und Frau Sommer ist über die Entlastung dankbar.

Aufgrund der schwierigen Versorgung der Inkontinenz von Herrn Sommer zur Nacht, klärte die Dementia Care Nurse Familie Sommer über die Nutzung von Urinalkondomen auf. Da die Familie bereits mit einem Urotherapeuten zusammenarbeitete, konnte dieser als Versorgungspartner hinzugezogen werden.

Aufgrund der psychischen Belastung von Frau Sommer wurden im Hausbesuch weitere Entlastungsmöglichkeiten, wie sportlicher Ausgleich oder eine psychologische Begleitung angesprochen. Frau Sommer wurde motiviert, weiterhin die Selbsthilfegruppe zu besuchen. Der ungünstige Zeitpunkt des Gruppentreffens konnte jedoch nicht beeinflusst werden.

Hinsichtlich der teils aggressiven verbalen Äußerungen von Herrn Sommer erfolgte eine Analyse der entsprechenden Situationen. Es wurde gemeinsam mit Frau Sommer reflektiert, ob vordergründig objektive Faktoren wie Schmerz, Durst, Unwohlsein oder psychosoziale Faktoren, wie Persönlichkeit und Verhaltensreaktionen auf Stress, das Verhalten bedingen. In Auseinandersetzung mit der Biografie erklärte Frau Sommer, dass ihr Mann eine sehr starke Persönlichkeit habe und in Stresssituationen dominant und fordernd reagiere. Sie konnte daraufhin sein Verhalten besser einschätzen und schien es besser zu akzeptieren.

Problemfeld 5: Ablehnung der Erhöhung des Pflegegrades

Zum Zeitpunkt des Kennenlernens war die Erhöhung des Pflegegrades (PG) bereits dreimal abgelehnt worden. Mit der Zustandsverschlechterung von Herrn Sommer erfolgte die Neuantragstellung.

Im Zuge des Krankenhausaufenthaltes erstellte der behandelnde Oberarzt der Klinik einen ausführlichen Brief zur Krankheitsgeschichte und zum Zustand von Herrn Sommer. Zur Vorbereitung auf die Begutachtung erhielt Frau Sommer durch die Dementia Care Nurse einen Selbsteinschätzungsbogen des Medizinischen Dienstes sowie ein Pflegetagebuch. Gemeinsam mit Frau Sommer wurde das Begutachtungsverfahren besprochen. Nach der Entlassung von Herrn Sommer aus dem Krankenhaus fand die Begutachtung, unter Begleitung des Pflegedienstes, statt. Ende November erhielt Familie Sommer den positiven Bescheid über die Höherstufung von Pflegegrad drei auf Pflegegrad vier.

Fallabschluss

Im Zeitraum der Fallbegleitung von Oktober bis Dezember erfolgten 32 Kontakte, die sich aus vier Hausbesuchen, 24 Telefonaten und vier E-Mailkontakten ergaben. Zusätzlich war eine intensive Vor- und Nachbereitung der Kontakte notwendig. Die gezeigten Problemfelder waren nicht immer offensichtlich und erhellten sich zumeist erst im Prozess der Fallbegleitung. Die Kontakte fanden überwiegend mit der pflegenden Ehefrau Frau Sommer statt, der Ehemann war größtenteils in der Tagespflege und nur zu zwei Terminen anwesend. In Bezug auf die gesamte Familiensituation, war das gemeinschaftliche Gespräch mit den Kindern und dem Ehepaar sowie der Dementia Care Nurse hilfreich.

Nachdem die wesentlichen Problemfelder bearbeitet wurden und aus Sicht der Familie eine stabile Versorgungssituation vorlag, kam es zunächst zum Fallabschluss. Sofern in Zukunft Veränderungen eintreten sollten und neue Bedarfe entstehen, ist es der Familie möglich, jederzeit erneut Kontakt zum Dementia Care Nurse Projekt aufzunehmen.

Perspektive der Angehörigen

Um die Perspektive der Angehörigen darzustellen, fand im Zuge des Fallberichtes ein Interview mit Frau Sommer statt. Ziel war es herauszufinden, welche Bedarfe und Barrieren Frau Sommer als pflegende Angehörige im Versorgungsprozess wahrgenommen hat.

Im Gespräch berichtet Frau Sommer u. a., dass sie eigentlich sehr gerne eine Unterstützung zur Nacht gehabt hätte. Ihr bereiteten, durch den starken Harndrang und die Unruhe ihres Ehemannes, die Nächte große Probleme. Oftmals fehlten ihr viele Stunden Nachtschlaf, die sie am Tag aufgrund der Vielzahl an Aufgaben nicht nachholen konnte. Eine Hilfe in Form einer Nachtpflege wäre in ihren Augen sehr nützlich gewesen.

Ein weiteres Anliegen Frau Sommers war es, auf die fehlende Wertschätzung und Anerkennung für pflegende Angehörige hinzuweisen. Obwohl Frau Sommer sich umfänglich um ihren Mann kümmert, begrenzt sich die Anerkennung auf die Zahlung eines Pflegegeldes. Als Frau Sommer einen Pflegedienst benötigte, reduzierte sich sofort das Pflegegeld. Frau Sommer empfand dies als Minderung ihrer Wertschätzung seitens der Pflegekasse.

Diskussion

Der vorliegende Fallbericht zeigt die vielfältigen Problemfelder und hohen Anforderungen, die an pflegende Angehörige und an Menschen mit Demenz gestellt werden. Für eine angemessene Beratung und Unterstützung der betroffenen Familien sind aufsuchende und flexible Strukturen sowie Personen erforderlich, die insbesondere über krankheits- und pflegespezifisches, sozialrechtliches Wissen, regionale Kenntnisse als auch kommunikative Kompetenzen verfügen (Karlsson et al., 2015). In diesem Sinne sind neben Kenntnissen zum Case Management Prozess aufgrund der besonderen Situation bei Demenz, geprägt durch kognitive und verhaltensbezogene Veränderungen sowie pflegerische Bedarfe, spezifische Kompetenzen unabdinglich, die im Rahmen der Qualifizierung zur Dementia Care Nurse vermittelt wurden. Wie im Fallbericht unterstützt die Dementia Care Nurse in Abstimmung mit der Angehörigen die Entscheidungsfindung bei komplexen somatischen, psychischen und pflegerischen Problemstellungen. Die Herausforderung für die Dementia Care Nurse besteht darin, das Pflegearrangement derart zu gestalten, dass dieses sich an die Person mit Demenz anpasst und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu Hause ermöglicht. Dabei sind unter anderem der Einbezug pflegerischer Fertigkeiten und praktischer Erfahrungen, Kenntnisse über nicht-medikamentöse Interventionen und auch personzentrierte Konzepte erforderlich.

Wie durch den Fall erkennbar wurde die Zusammenarbeit mit pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Professionellen gefördert und eine Vernetzung im Versorgungsgeschehen entwickelt (Minkman, Ligthart & Huijsman, 2009; Somme et al., 2012). Komplexe Problemlagen innerhalb der Familien sollen so besser erkannt und zielgerichtet zwischen den einzelnen Akteuren koordiniert werden.

Aus Projektperspektive gibt es nach wie vor Barrieren und Hindernisse, welche die Versorgung erschweren. In einigen Regionen gibt es beispielsweise kein Nachtpflegeangebot. Dabei leiden Menschen mit Demenz sehr häufig unter einem gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus oder wie im Fallbeispiel unter nächtlichen herausfordernden Verhaltensweisen (Deschenes & McCurry, 2009). Besonders pflegende Angehörige leiden unter der gestörten Nachtruhe, da das Schlafdefizit oftmals am Tag nicht nachgeholt werden kann. Im teilstationären Bereich der Tagespflege gibt es ein wachsendes Angebot, dennoch stellen lange Fahrtwege, Ortsteile, die nicht angefahren werden oder festgelegte Öffnungszeiten ein Problem dar.

Weitere Barrieren sind undurchsichtige Strukturen und lange Bearbeitungszeiten seitens verschiedener Behörden. Wie im Fallbeispiel dauert die Begutachtung zur Erhöhung des Grades der Behinderung zwischen vier bis sechs Monaten. Werden Unterlagen vergessen oder der zum Teil schwer verständliche Antrag falsch ausgefüllt, kann es zu noch längeren Bearbeitungszeiten kommen.

Ferner sind die verschiedenen Sozialgesetzbücher zu Pflege, Krankheit, Rehabilitation und Teilhabe schwer zu verstehen. Für Laien ist es oft schwierig, passgenaue Leistungen in Anspruch zu nehmen. Dabei ist der Prozess von der Kenntnis der Leistung, der Beantragung, der regionalen Verfügbarkeit, der Abrechnung bis hin zur Qualität kaum zu durchschauen. Spezielle Leistungen der Pflege- und Krankenversicherung, wie beispielsweise die Zuordnung von Verhinderungs- und Kurzzeitpflege, die Gewährung einer Rehabilitation für Menschen mit Demenz und Angehörige, der Einsatz des Entlastungsbetrages, die Übernahme von Fahrtkosten etc. sind für Angehörige oft unverständlich (Stephan et al., 2018; Weber, Pirraglia & Kunik, 2011; Wolfs, Vugt, Verkaaik, Verkade & Verhey, 2010).

Auch stellt der zunehmende Personal- und Zeitmangel im ambulanten Sektor ein großes Problem dar. Dabei benötigen Menschen mit Demenz als auch pflegende Angehörige kontinuierliche Ansprechpartner / -innen, um Vertrauen aufbauen zu können (Bieber et al., 2018; Sutcliffe, Roe, Jasper, Jolley & Challis, 2015). Betroffene sind oft sehr feinfühlig und bemerken kleinste Veränderungen im Verhalten des Pflegenden, z. B. bei Stress und Zeitmangel. Unsere praktischen Erfahrungen zeigen beispielsweise, dass Pflegebedürftige zum Teil täglich von verschiedenen Pflegenden versorgt werden. Das führt kurz- und langfristig zu Verunsicherungen und unvorhergesehenen Verhaltens-

weisen, insbesondere bei Menschen mit Demenz. Ohnehin ist es für betroffene Familien schwierig, fremde Menschen in die eigene Häuslichkeit zu lassen. Ein ständiger Personalwechsel verstärkt die Ängste deswegen zusätzlich (Górska et al., 2013).

Trotz Verbesserungen im Rahmen der Pflegeversicherung zeigt dieser Fallbericht, dass weiterhin Barrieren und Lücken im Versorgungssystem bestehen können. Es wird deutlich, dass vorhandene Strukturen den hohen Bedarf in Bezug auf Beratung und Fallbegleitung speziell zum Krankheitsbild Demenz nicht decken. Das Projekt greift diese Versorgungslücke auf und versucht durch die qualifizierten Dementia Care Nurses die häusliche Versorgung zu unterstützen und vor allem pflegende Angehörige in ihrer organisatorischen und pflegerischen Kompetenz zu stärken. Wie die Ergebnisse aus europäischen Studien zeigen (Kerpershock et al., 2019), werden kontinuierlich ansprechbare Kontaktpersonen nachgefragt, um eine individuelle und passgenaue Versorgung zu gestalten.

Ausblick

Frau Sommer besucht seit Ende Dezember einmal wöchentlich einen Aqua-Trainings-Kurs zur Entspannung. Seit Januar finden weiterhin monatlich ein bis zwei Telefonate mit der Dementia Care Nurse statt, diese unterstützt Frau Sommer und gibt ihr Sicherheit. Mitte Februar wurde Frau Sommer mit dem Verdacht auf Myokardinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert, der sich jedoch nicht bestätigte. Seitdem wird Frau Sommer ambulant durch einen Kardiologen betreut. Die Phasen der Steifigkeit, des Vergessens und der verbalen Aggressivität von Herrn Sommers nehmen zu, so dass der Pflegedienst Familie Sommer jetzt auch an den Wochenenden unterstützt. Derzeit lebt Herr Sommer noch in der eigenen Häuslichkeit. Durch die zunehmende pflegerische Belastung und den eingeschränkten Gesundheitszustand der Ehefrau, ist jedoch unklar, wie lange die Versorgung in der Häuslichkeit noch möglich sein wird.

Informierte Einwilligung

Die Ethikkommission der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg erteilte ein positives Votum zur Durchführung des Dementia Care Nurse Projektes. Vor der Fallbegleitung wurde das informierte mündliche und schriftliche Einverständnis des Paares eingeholt. Der Fallbericht wurde der Familie vor Einreichung des Manuskripts vorgelegt und von dieser zustimmend bewertet. Alle konkreten persönlichen Hinweise zur Familie wurden anonymisiert.

Literatur

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Historie

Manuskript eingegangen: 14.06.2019 Manuskript angenommen: 02.09.2019 Onlineveröffentlichung: 17.12.2019

Förderung

Europäischer Sozialfonds (ESF) und Land Sachsen-Anhalt, Verbund Autonomie im Alter.

Autorenschaft

Substanzieller Beitrag zu Konzeption oder Design der Arbeit: MG, SH Substanzieller Beitrag zur Erfassung, Analyse oder Interpretation der Daten: MG Manuskripterstellung: MG Einschlägige kritische Überarbeitung des Manuskripts: GM, CS, TK Genehmigung der letzten Version des Manuskripts: GM Übernahme der Verantwortung für das gesamte Manuskript: MG, GM

ORCID

Stephanie Heinrich https://orcid.org/0000-0002-3162-6503

Manuela Grünzig, MSc

Institut für Gesundheitsund Pflegewissenschaft Medizinische Fakultät der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg Magdeburger Str. 8 06112 Halle (Saale) Deutschland manuela.gruenzig@uk-halle.de

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Was war die größte Herausforderung bei Ihrer Studie?

Die Kooperationspartner zu motivieren, die Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Angehörigen zur Teilnahme am Projekt zu vermitteln.

Was wünschen Sie sich bezüglich der Thematik für die Zukunft?

Flächendeckende Implementierung des Dementia Care Nurse Konzeptes, d.h. der Qualifizierungsmaßnahme als auch des bedarfsgerechten Beratungsangebotes.

Was empfehlen Sie zum Weiterlesen/Vertiefen?

Bieber, A., Bartoszek, G., Stephan, A., Broda, A., Meyer, G. (2018). Formal and informal support of patients with dementia at home: A mixed methods study within the Actifcare project. ZEFQ 139: 17 – 27. Video-Clip des ActifCare-Projekts: https://www.youtube. com/watch?v=IEmvud8qFKo

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