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Pfl egende sind keine emotionslosen Wesen Sabine Hahn im Gespräch mit Colombine Eisele
Pfl egende sind keine emotionslosen Wesen
Sabine Hahn im Gespräch mit Colombine Eisele
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Sabine Hahn: Liebe Frau Eisele, wofür brennt Ihr Herz berufl ich? Colombine Eisele: Pfl egepädagogische Arbeit und Weiterentwicklung, insbesondere im hochschulischen Zusammenhang, ist mir ein großes Anliegen. Pfl egewissenschaftliche Erkenntnisse sollten so aufb ereitet werden, dass die Umsetzung in den täglichen Arbeitsalltag leichtfällt. Studierende haben mir auch Leidenschaftlichkeit für den Pfl egeberuf attestiert.
Was soll im Kaminfeuer verbrennen, da sich die Pfl ege davon befreien muss? Unser Beruf hat in den letzten 30 Jahren einen großen Schritt im Professionalisierungsprozess gemacht. Jedoch sollte unsere Berufsgruppe im Zuge dessen auch Haltungen überdenken, anpassen und verändern. Die Kraft der Vorbildfunktion von Pfl egenden in unterschiedlichen Settings ist nicht zu unterschätzen.
Sie sind Diplom-Pfl egepädagogin am Campus Rudolfi nerhaus in Wien. Haben Sie auch schon im Feld der psychiatrischen Pfl ege gearbeitet? Nein. Im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit dem Thema Gewalt und Deeskalationsmanagement habe ich kleine Einblicke in dieses Arbeitsfeld bekommen. Jedoch habe ich nie in einer psychiatrischen Einrichtung oder auf einer psychiatrischen Station gearbeitet.
Sie haben sich mit der Zukunft der dualen Ausbildung beschäftigt und vertreten den Dritten Lernort. Dieser hat sich beispielsweise bei uns in der Schweiz fest etabliert. Der Transfer zwischen Praxis und Theorie scheint sich dadurch verbessert zu haben. Wie erleben Sie dies? Ich kann schon feststellen, dass die Konzepterstellung und die Umsetzung eines Dritten Lernorts am Campus Rudolfi nerhaus den Theorie-Praxis-Transfer, aber auch den Praxis-Theorie-Transfer unterstützt. 2015 haben wir den Dritten Lernort erstmalig durchgeführt und haben mit Hilfe von Fragebögen die Praxisanleiter_innen gefragt, ob sie eine Veränderung, im besten Fall natürlich Verbesserung, feststellen konnten. In der Auswertung konnten wir erkennen, dass dem so ist. Insbesondere im Rahmen des PraxisTheorie-Transfers konnten wir am Lernort Campus beobachten, dass die erlebten Situationen besser in einem defi nierten Kontext bearbeitet werden können, der es schaff t, das Erlebte mit evidenzbasiertem Wissen zu verknüpfen.
Colombine Eisele, Diplom-Pfl egepädagogin (FH) am Campus Rudolfi nerhaus in Wien, ist seit 1992 im pfl egerischen Berufsfeld und seit 2004 in Aus-, Fort- und Weiterbildung tätig.
Der Dritte Lernort benötigt einen hohen Ressourceneinsatz seitens der Administration und der Lehrenden. Er ist hochkomplex und mit den Lernorten Campus und Praxis stark vernetzt, sodass Planung und Materialbeschaffung einen großen Teil der Umsetzung beanspruchen. Ich möchte betonen, dass dieser Aufwand sich lohnt und, wenn man so will, auszahlt. Insbesondere die Rückmeldungen der Studierenden am Ende des Studiums bestätigt uns in unserem Tun.
Ja, dies erleben wir auch so. Mit einem guten TheoriePraxis-Bezug kann auch die Theorie-Praxis-Lücke verkleinert werden und hier der Transfer stressfreier stattfi nden. Nun zeigt sich aber, dass durch Verdichtung der Arbeit, Personalmangel, die Ökonomisierung und die Zunahme an Komplexität der Stress für Pfl egefachpersonen generell ansteigt. Stimmt diese Aussage mit Ihrer Erfahrung überein? Ja. Organisationen des Gesundheitswesens wollen kosteneffi zient arbeiten. Eine steigende Ökonomisierung bedeutet eine aufwändige Administration und Rationalisierungen beim Personal bzw. Material insbesondere im
Langzeitpfl egebereich. In Pfl egesettings stehen jedoch die Bedürfnisse der Betroff enen im Mittelpunkt. Das zentrale Ziel pfl egerischen Handelns ist eine individuelle patientenorientierte Pfl ege. Pfl egefachpersonen haben hierfür hervorragende Instrumente zur Verfügung, um Menschen ohne Schaden zu betreuen. Es prallen also zwei gesellschaftliche Werte aufeinander, die in Einklang gebracht werden sollten. Meines Erachtens ist dies zum einen auf gesellschaftlicher Ebene durch Verbesserungen der Arbeitsbedingungen anzustreben. Zum anderen ist eine Stärkung der Berufsverbände wünschenswert, sodass der Pfl egeberuf und Pfl egefachpersonen präsenter werden. Darüber hinaus kann jede Pfl egefachperson für sich Strategien kennenlernen, entwickeln und anwenden, um im Spektrum eines individuellen Gefühlsmanagements gesund agieren zu können.
Ja, das mag stimmen, aber gerade junge Pfl egende scheinen gemäß neuesten Befragungsergebnissen von Schaff ert und Robin (2019) in einem schlechteren Gesundheitszustand (Rücken und Nackenprobleme) zu sein, verglichen mit Gleichaltrigen. Kann es sein, dass Themen wie die Arbeitsbelastung und der persönliche Umgang damit in der Ausbildung zu kurz kommen? Unterschiedliche Curricula werden sicherlich in verschiedenen Ausprägungen für die individuellen Pfl egeniveaus diese Themen bearbeiten. Wir bieten am Campus Rudolfi nerhaus den Studiengang Gesundheits- und Krankenpfl ege in Kooperation mit der Fachhochschule Wiener Neustadt an. Bei der Entwicklung und der Überarbeitung unseres Curriculums legten wir Wert darauf, nicht nur die Arbeitsbelastung zu thematisieren. Unser Anliegen ist es auch, den Studierenden Strategien an die Hand zu geben, um mit diesen Situationen umgehen zu können. Wir machen nicht nur körperliche Angebote wie ein FeldenkraisSeminar. Auch das Thema Gesundheitsförderung nimmt einen wichtigen Platz ein, sodass Studierende beispielsweise zum Zeitmanagement Konzepte kennenlernen. Praxisrefl exionen und Supervisionen als fi xe Bestandteile unseres Studienplans thematisieren regelmäßig verschiedene Aspekte von Arbeitsbelastungen und sollen die Studierenden in ihrem persönlichen Umgang unterstützen. Das Thema Gefühlsmanagement wurde als didaktisches Konzept erarbeitet und wird insbesondere im Rahmen des Praxis-Theorie-Transfers umgesetzt.
Raum bekommen
Die Studierenden sollen dabei Raum bekommen, ihre Erfahrungen zu äußern, sie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpfen und Strategien erhalten, die sie in ihrem Praxisalltag anwenden können. Im Zuge dessen übernehmen nicht nur die Lehrenden sowie Pfl egepädagog_innen Vorbildfunktion. Auch den Umgang mit Gefühlen oder in speziellen Situationen von Pfl egepersonen in verschiedenen pfl egerischen Settings sind wichtige Aspekte des Modelllernens. Unglücklicherweise gibt es im Berufsfeld Pfl ege immer noch vereinzelt die Haltung, Gefühlsmanagement sei unnötig.
Was sind aus Ihrer Sicht wichtige fachliche und persönliche Voraussetzungen, die eine Pfl egefachperson erfüllen sollte, um mit der berufl ichen Belastung umgehen zu können? Fachkompetenz ist als wichtige Voraussetzung zu erwähnen, die ein umfangreiches Wissen zu Krankheiten, Diagnostik und Therapie inklusive Medikamentenwirkungen beinhaltet. Dabei ist aber zu beachten, dass dieses Wissen den zu betreuenden Menschen angepasst ist. Eine Pfl egeperson muss nicht unbedingt Krankheitsbilder der Gefäßchirurgie kennen, wenn sie auf einer psychiatrischen Station arbeitet.
Ein vielleicht sogar wichtigerer Aspekt ist das pfl egerische Fachwissen, sodass eine Pfl egeperson möglichst immer evidenzbasiert pfl egerische Handlungen durchführt. Hier können EBN-Stabstellen und innerbetriebliche Fortbildungen hilfreich sein. Wichtig ist dabei, dass forschungsbasiertes Wissen „an den Patienten gebracht“ und kompatibel für die auf Station arbeitenden Pfl egepersonen aufb ereitet wird.
Sozialkompetenz als eine zentrale Fähigkeit professioneller Pfl ege beinhaltet unter anderem Können in Bezug auf Kommunikation und Konfl iktlösung. Die Begegnung mit einem Gegenüber und die Gestaltung einer Pfl egebeziehung basiert auf einem Bewusstsein über die eigenen Gefühle und einem erfolgreichen Gefühlsmanagement. Eine hohe Refl exionsfähigkeit ist meines Ermessens nach ebenso notwendig. Jedoch sollten Pfl egepersonen insbesondere bei der Refl exion von schwierigen Situationen nicht allein gelassen werden. Es ist zu wünschen, dass verstärkt Fort- und Weiterbildungsangebote gemacht werden, die insbesondere Themen wie moralischer Stress und Gefühlsmanagement bearbeiten, sodass Pfl egepersonen die Möglichkeiten erhalten, sich mit diesen Themen vertieft auseinanderzusetzen. Die Angebote sollten von Pfl egemanagement und Geschäftsführungen unterstützt werden.
Sie haben sich ja ausführlich mit moralischem Stress befasst. Was hat moralischer Stress mit Arbeitsverdichtung, Ökonomisierung und Fachkräftemangel zu tun? Oder: Wie entsteht moralischer Stress? Ein Hauptauslöser sind Situationen, bei denen ethische Dilemmata off ensichtlich werden. Dabei bestimmen Rahmenbedingungen den Handlungsspielraum und hindern Pfl egepersonen, ihrem innewohnenden Wertesystem entsprechend zu agieren. Gefühle wie Wut und Angst können dadurch entwickelt werden, die möglicherweise auf den Patienten oder die Patientin projiziert werden. Somit kann die Pfl egequalität im Zusammenspiel mit vorhandenem Zeitmangel negativ beeinfl usst werden. Im schlimmsten Fall können Pfl egepersonen ein Burn-out entwickeln.
Information, Schulung und Beratung als originäre pfl egerische Aufgaben fi nden zumeist im Rahmen von Gesprächen statt. Sie fi nden jedoch viel zu selten statt.
Patient_innen und Angehörige haben Fragen, Ängste und Nöte, auf die Pfl egepersonen im Moment reagieren und dementsprechend auch basierend auf ihrem kommunikativen und fachlichen Wissen antworten sollten. Vor allem der Zeitmangel wird oft als Grund angeführt, diese Begegnung nicht entsprechend gestalten zu können. Solche Situationen verlassen Pfl egepersonen oft unbefriedigt, da sie das Gefühl haben, nicht stimmig reagiert zu haben bzw. nicht passend auf die Fragen eingegangen zu sein.
Über längere Zeit lösen Gewissenskonfl ikte das Phänomen des moralischen Stresses aus. Pfl egepersonen sind keine emotionslosen Wesen. Pfl egepersonen empfi nden Gefühle wie Freude, Lust, Angst, Ekel oder Wut. Diese Gefühle können ebenso Einfl uss auf moralischen Stress haben und damit Pfl egebeziehungen negativ beeinfl ussen. Beispielsweise gehören dazu freiheitseinschränkende Maßnahmen, die medikamentös oder mithilfe von Bettrahmen oder Fixationen durchgeführt werden. Aber auch eine Situation, in der Patient_innen weiter therapiert werden, obwohl ein würdevolles Sterben menschlicher wäre, führt zu einem solchen Dilemma.
Was haben Sie für sich selbst aus der Thematik moralischer Stress gelernt? Im Zuge der Vorbereitung der damaligen Fachtagung am Campus Rudolfi nerhaus 2017 zu moralischem Stress habe ich mich dem Thema angenähert. Ich wurde an viele Situationen aus meiner berufl ichen Tätigkeit am Patientenbett erinnert. Gefühle wie Erkennen und Verstehen oder Wut und Ekel erlebte ich wieder. Da die deutschsprachige Pfl egewissenschaft dieses Thema erst neu entdeckt hat, gibt es auch relativ wenig Literatur. Es ist mir deutlich geworden, dass moralischer Stress ein Thema ist, dem auf Managementebene begegnet und das auch interdisziplinär bearbeitet werden kann.
Im Ausbildungskontext sind die Auszubildenden und Studierenden zu bedenken. In Verbindung mit dem Coolout-Phänomen und der Mitgefühlserschöpfung kann moralischer Stress zu einer erheblichen berufl ichen Traumatisierung führen. Diese Erkenntnis hat mich als Pfl egepädagogin stark getroff en, da der Lernort Theorie zur Hälfte im Rahmen einer dualen Ausbildung auch verantwortlich ist, einer berufl ichen Traumatisierung und einem ungünstigen Start ins Berufsleben entgegenzuwirken. Moralischer Stress, den Lehrende und Pfl egepädagog_innen erleben, ist im Rahmen einer Ausbildung und eines Studiums wahrzunehmen. Jedoch ist wenig bis nichts dazu publiziert.
Der zentrale Wunsch ist die Durchführung eines vernetzen, gut geplanten Unterrichts, der (hochschul-)didaktischen Ansprüchen entspricht, inhaltlich aktuelles Wissen vermittelt und methodenvariabel gestaltet ist. Dabei ist das Ziel, dass die Lernenden und Studierenden fach- und sozialkompetent ihr Wissen und ihre Fähigkeiten weiterentwickeln. Arbeitsbelastungen, Gefühle und Rahmenbedingungen beeinträchtigen dabei die optimale Arbeit mit Lernenden und Studierenden.
Ja, Frau Eisele, zum moralischen Stress und anderen Stressoren sowie dem Umgang damit hat die Ausbildung in Praxis, an Hochschulen sowie dem Dritten Lernort noch einiges aufzuarbeiten. Das ist dringend notwendig, wenn wir junge Kolleginnen und Kollegen möglichst lange im Pfl egeberuf halten wollen. Vielen Dank für das anregende Gespräch zu dieser wichtigen Thematik.
Prof. Dr. Sabine Hahn (PhD)
Mitherausgeberin der „Psychiatrischen Pfl ege“, Diplomierte Pfl egefachfrau Psychiatrie, Pfl ege- bzw. Gesundheitswissenschaftlerin; leitet im Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule die Abteilung Pfl ege und die angewandte Forschung & Entwicklung Pfl ege
sabine.hahn@bfh.ch
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