Taylor Wessing #006 Raum
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Bernd Uhde Christo und Jeanne-Claude Claudia Spielmann Damien Daufresne Eiko Borcherding Peter Buechler Katrin Bethge Janine Seelen Swaantje Güntzel Fernando Bellver Jan Köhnholdt Ralf Hoppe Silvia Quandt Victor Vasarely
Unterwegs zwischen den Räumen des Innen und des Außen von Belinda
Grace Gardner
Der Raum unserer ersten Wahrnehmung, der Raum unserer Träume, der Raum unserer Leidenschaften [...] ist ein leichter, ätherischer, durchsichtiger Raum, oder es ist ein dunkler, steiniger, versperrter Raum: es ist ein Raum der Höhe, ein Raum der Gipfel, oder es ist im Gegenteil ein Raum der Niederung, ein Raum des Schlammes [...]. (Michel
(1)
Foukault)
Das Eine kann nicht ohne das Andere sein. Der Raum tritt aus der Fläche, die Geschichte aus der Zeit, die Welt aus der Wahrnehmung hervor, und umgekehrt, entspringt Wahrnehmung aus der sinnlichen Erfahrung von Welt und Wirklichkeit. In seinen berühmten Ausführungen über »Andere Räume« unterscheidet der französische Philosoph Michel Foucault zwischen dem »Raum des Innen« und dem »Raum des Außen«.(2)
Journey between Internal and External Spaces
by Belinda Grace Gardner
The space of our primary perception, the space of our dreams and that of our passions [...] is a light, ethereal, transparent space, or again a dark, rough, encumbered space; a space from above, of summits, or on the contrary a space from below of mud [...].(1) One cannot exist without the other Space arises from flatness and history from time; the world springs forth from perception, and vice versa, perception evolves from the sensual experience of the world and of reality. In his famous essay »Of other Spaces,« the French philosopher Michel Foucault distinguishes between »internal space« and »external space.«(2) The former is the space of dreams and of passions. The latter is defined by him as the »space in which we live, which draws us out of ourselves, in which the erosion of our lives, our time and our history occurs.«(3) Heterogeneity is intrinsic to both, a convergence of contrasts, which determines internal and external spaces in equal measure. In the mental sphere of personal experience, the spaces of emotion unfold in all their contradictions: oscillating between heaven and earth, they extend from the mind‘s flights of fancy to the dark depths of the soul, simultaneously ethereal and weighty, stagnant and flowing, of both ephemeral and more compact consistency.
Raum LANDSCHAFT 4 / 5
»In civilizations without boats, dreams dry up, espionage takes the place of adventure, and the police take the place of pirates.«
Bernd Uhde, ›Golden Bay, Neuseeland‹, 2015 100 × 150 cm, Ditone Print, Auflage 5 plus 2 AP
Ersterer ist der Raum der Träume und der Leidenschaften. Letzteren benennt er als jenen Raum, »in dem wir leben, durch den wir aus uns herausgezogen werden, in dem sich die Erosion unseres Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte abspielt«(3). Beiden ist das Heterogene eigen, ein Zusammenwirken von Gegensätzlichkeiten, die die inneren wie äußeren Räume gleichermaßen bestimmen. Die Räume der Emotionen dehnen sich in der mentalen Sphäre des persönlichen Erlebens in aller Widersprüchlichkeit aus: zwischen Himmel und Erde oszillierend, von geistigen Höhenflügen bis in die dunklen Untiefen der Seele hinabreichend, zugleich feinstofflich und schwer, stockend und fließend, von ephemerer wie von kompakterer Gestalt.
Auch in unseren konkreteren kollektiven Lebensräumen begegnen wir ein Spektrum verschiedener Erscheinungsformen. Dies sind die Räume des alltäglichen, häuslichen und gesellschaftlichen (Miteinander-)Seins, die öffentlichen Orte in der Natur und in den Städten, die »Verkehrsplätze« der Straßen und der Züge und die »provisorischen Halteplätze« der Cafés, Kinos und Strände.(4)
Christo und Jeanne-Claude, ›Over The River‹, 1992 38 × 244 cm und 106,6 × 244 cm (Diptychon); Bleistift, Holzkohle, Wachsmalstift, Pastell, technische Zeichnung und Landkarte
A range of different manifestations also characterizes our tangible collective living spaces. These are the communal spaces of everyday, domestic, and social existence, the public spaces in nature and the cities, the »sites of transportation,« exemplified by streets or trains, and the »temporary sites of relaxation« provided by cafés, cinemas, and beaches.(4) Furthermore, Foucault identifies »utopias« as »sites with no real place« and as »fundamentally unreal spaces.«(5) These are countered by »heterotopias« or »real places [...] that are formed in the very founding of society— a kind of effectively enacted utopia in which the real sites [...] that can be found within the culture, are simultaneously represented, contested, and inverted.« (6) In his view, »Places of this kind are outside of all places, even though it may be possible to indicate their location in reality.« (7) Among these are gardens, museums, libraries, fairgrounds,(8) and the ship, which Foucault regards as »the greatest reserve of the imagination« and thus as »the heterotopia par excellence,« for, »In civilizations without boats, dreams dry up, espionage takes the place of adventure, and the police take the place of pirates.«(9)
Christo und Jeanne-Claude, ›The Mastaba of Abu Dhabi‹, 1980 38 × 244 cm und 106,6 × 244 cm ( Diptychon); Bleistift, Holzkohle, Wachsmalstift, Pastell, technische Zeichnung und Landkarte
›Mastaba‹ ist das ägyptisch-arabische Wort für ›Steinbank‹ und beschreibt einen altägyptischen Typ von Grabbauten, ähnlich einer Pyramide. ›Die Mastaba von Abu Dhabi‹ wird aus 410.000 aufeinandergestapelten, mehrfarbigen Ölfässern bestehen; sie bilden ein buntes Mosaik, das die islamische Architektur widerspiegelt. Mit einer Breite von 300 m, einer Tiefe von 225 m und einer Höhe von 150 m – im Vergleich: die Cheopspyramide von Gizeh misst 138 m – wird sie vom Volumen her die größte, zeitgenössische Skulptur der Welt sein und dazu Jeanne-Claudes und Christos einziges dauerhaftes, öffentliches Monumentalkunstwerk.
Raum : LANDSCHAFT 6 / 7
Darüber hinaus identifiziert Foucault die »Utopien« als »Platzierungen ohne wirklichen Ort«(5) und als »wesentlich unwirkliche Räume«(6). Diesen stehen die »Heterotopien« als »wirkliche Orte« und »tatsächlich realisierte Utopien« gegenüber, »die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind [...], in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«(7). Dazu gehören Gärten, Museen, Bibliotheken und Festwiesen(8) sowie das »Imaginationsarsenal« der Schiffe, »die Heterotopie schlechthin«, so Foucault, denn: »In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.«(9)
We hold spaces within ourselves and navigate through spaces; we evolve in spaces, dwell and move around in spaces, detach ourselves from these, and search for wider expanses, which we can newly explore as spheres of play and action. We ourselves are spaces: the bodies that we inhabit harbor microscopic worlds, for which we, in turn, serve as habitats. We create constructed spaces that protect and sustain our physical and psychological existence, while our mental spaces open up to us the impalpable, but no less real realms of the imagination, of hope, of visions, of memories, and their actualization. From there we embark on our exploration of the spaces that unlock the world to us, leading us to the immeasurable dimensions of the cosmic spaces of the universe, which we seek to traverse with the help of maps, calculations, telescopes, and flying machines.
8 / 9 Raum : ARCHITEKTUR
Claudia Spielmann, ›Venice Beach I‹, 1998 69 × 94 cm, Tusche auf handgeschöpftem Papier
Claudia Spielmann, ›Waldlied‹, 2018 98 × 126 cm Tusche, Acryl auf handgeschöpftem Papier mit Folie
Claudia Spielmann, ›Tokoname Story I‹, 1994 69 × 94 cm, Tusche auf handgeschöpftem Papier
Wir bewahren in uns Räume und bewegen uns durch sie hindurch, entfalten uns darin, verharren und agieren in ihnen, lösen uns von ihnen und suchen nach weitergefassten Sphären, die wir als Spiel- und Aktionsräume aufs Neue erproben können. Wir selbst sind Räume: Unsere Körper, in denen wir zuhause sind, bergen mikroskopische Welten, denen wir wiederum als Habitat dienen. Wir schaffen uns gebaute Räume zum Schutz und Gedeihen unserer physischen und psychischen Existenz, während uns unsere seelischen Räume die ungreifbaren, aber nicht minder realen Areale der Phantasie, der Hoffnung und der Visionen, der Erinnerung und der Vergegenwärtigung eröffnen. Von dort starten wir unsere Erkundung der Räume, die uns die Welt erschließen, bis hin zu den schier unermesslichen Dimensionen der kosmischen Räume des Universums, die wir mithilfe von Kartierungen und Kalkulationen, Fernrohren und Flugmaschinen zu durchmessen suchen.
In the spaces of possibility, which as »places outside of all places« can nonetheless be situated and localized through the power of the imagination, utopia and heterotopia intersect. This also applies to the pictorial spaces of art, in which the realities, places, and placements, the internal and the external, idea and materialization, illusions and palpable facts are conflated. The artist‘s mind brings forth the world-encompassing spaces, in which we can visually immerse ourselves and in which we can travel through the ethereal vehicles of our sensations. Here, the three-dimensional space arises from the two-dimensional plane, and the phantasmagorical emerges from the principles of the
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Damien Daufresne, aus der Serie UNDERTOW‹, 2010 24 × 36 cm (Blatt), 40 × 50 cm (Rahmen) Fotografie, Auflage 10
Eiko Borcherding, ›o. T.‹, 2022 126 × 90 cm, Bleistift auf Papier
rational, while inside and outside, above and below, heaven and earth, pictorial space and outer space are inverted and merge into one other. In the work of art, this paradoxical site of condensation, containment, and utmost freedom of movement, the spaces of individual dreams and passion expand into the collective spaces of shared experience and experientiality. In this sense, works of art are also spaceships, which carry us to the inner essence of our existence, and from there propel us skywards all the way to the stars.
1 Michel Foucault. ›Of other Spaces: Utopias and Heterotopias.‹ From: Architecture /Mouvement/ Continuité, Oct., 1984; (›Des Espaces Autres,‹ March 1967), transl. from the French by Jay Miskowiec: https://web.mit.edu allanmc/www/foucault1.pdf (accessed Feb. 27, 2023), pp. 1–9, pp. 2–3. 2 Ibid., p. 3. 3
Raum : WELTRAUM
Ibid. 4 Cf. ibid. 5 Ibid. 6 Ibid. 7 Ibid., pp. 3–4. 8 Cf. ibid., pp. 6–7. 9 lbid., p. 9.
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»In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.«
In den Möglichkeitsräumen, die als »Orte außerhalb aller Orte« durch die Kraft der Vorstellung dennoch geortet und verortet werden können, treffen Utopie und Heterotopie zusammen. Das gilt auch für die Räume der Bilder, in denen sich die Wirklichkeiten, Orte und Platzierungen, das Innere und das Äußere, Idee und Materialisierung, Illusionen und greifbare Gegebenheiten verschränken. Die künstlerische Imagination lässt die welthaltigen Räume entstehen, in die wir visuell eintauchen und die wir mit den ätherischen Vehikeln unserer Empfindungen bereisen können. Hier erwächst das Plastische aus der Fläche und das Phantastische aus den Gesetzmäßigkeiten des Rationalen, verkehren sich innen und außen, oben und unten, Himmel und Erde, Bildraum und Weltraum, und gehen ineinander über.
Im Kunstwerk, paradoxer Ort der Verdichtung, Rahmung und äußersten Bewegungsfreiheit, weiten sich die Räume der individuellen Träume und Leidenschaften in die kollektiven Räume gemeinschaftlicher Erfahrung und Erfahrbarkeit: In dieser Hinsicht sind Bilder auch Raumschiffe, die uns zum inneren Wesen unseres Daseins tragen und von dort hoch hinaus bis zu den Sternen katapultieren.
2
4 Vgl. ebd.
5 Ebd.
6 Ebd., S. 39.
7 Ebd.
8 Vgl. ebd., S. 42–44.
9 Ebd., S. 46.
Peter Buechler, ›Pullhead, inside/out‹, 2022 57 × 47 × 17 cm, gefundenes Hutmodel auf Biedermeierportrait
Peter Buechler, ›Waterfalls with Chain‹, 2023 34 × 39 cm, Öl auf gefundenem Gemälde, montierte Kette (782 cm)
1 Michel Foucault. ›Andere Räume‹. Übers. aus d. Franz. v. Walter Seitter. Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hrsg. v. Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter. Leipzig: Reclam, 1992 (4. Aufl.). 34 –46. S. 37–38.
Ebd., S. 38. 3 Ebd.
Raum : REFLEXION 14 / 15
Raum : LANDSCHAFT 16 / 17
Katrin Bethge, ›Berg 2‹ und ›Berg 1‹, 2015 50 × 70 cm, Fineliner (India Tinte) auf Fabriano Papier
Raum : ARCHITEKTUR 18 / 19
Janine Seelen, ›3.4.2022, 9:40h‹, 2022 100 × 70 cm, Ölpastell auf Papier
Janine Seelen, ›9.2.2021, 22:40 h‹, 2021 100 × 70 cm, Ölpastell auf Papier
Janine Seelen, ›8.10.2021, 7:57h‹, 2021 200 × 154 cm, Kohle und Ölpastell auf Leinen
Swaantje Güntzel, SMART 1 / crash site‹, 2022 51 × 35 cm, Öl auf Leinwand
Swaantje Güntzel beauftragte einen chinesischen Kopisten, ein Werk des Malers Donato Creti (1671–1749) aus der Serie ›Astronomische Beobachtungen‹ (1711) zu replizieren und ein verändertes Detail in die Neuproduktion zu integrieren. Der Kopist ergänzte die Darstellung des Mondes durch einen kleinen Schatten der auf die Absturzstelle der Mondsonde SMART 1 ESA) verweist, die nach mehrjähriger Mission 2006 dort gezielt zerstört wurde. Die Umrisse orientieren sich an einer Aufnahme der Absturzstelle, die von der Mondsonde ›Lunar Reconnaissance Orbiter‹ der NASA beim Vorbeiflug erfasst wurde.
Swaantje Güntzel, Andreas Zierhut ›Sterntaler‹, 2022 120 × 80 cm, Diasec, Auflage 5 plus 2 AP
Zeitgenössische Interpretation des Märchens ›Sterntaler‹ (Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm). Die Künstlerin schaut in den Abendhimmel, in dem neben stilisierten Sternen eine in Reihe fliegende Kette von Starlink Satelliten (SpaceX) zu sehen ist. Das Werk ist eine Kollaboration zwischen Swaantje Güntzel und dem Darmstädter Fotografen Andreas Zierhut.
Foto: Andreas Zierhut
Raum : WELTRAUM 20 21
22 / 23 Raum : WELTRAUM, LANDSCHAFT
Fernando Bellver, ›Asakusa‹, 2015 50 × 40 cm, handsignierter FineArt-Print Auflage 90
Fernando Bellver, ›Yabukoji – Roppongi‹, 2015 50 × 40 cm, handsignierter FineArt-Print Auflage 90
Fernando Bellver, ›Yoyogi‹, 2015 50 × 40 cm, handsignierter FineArt-Print Auflage 90
Fernando Bellver, Suite ›Pferde‹, 1989 100 × 100 cm, handkolorierte, signierte Radierung, Auflage 10
Jan Köhnholdt, ›TRANSIT‹, 2021 45 × 33 cm (Rahmen), Farbstift auf Papier
Jan Köhnholdt, ›AGUA FELIZ‹, 2021 45 × 33 cm (Rahmen), Farbstift auf Papier
Raum : REFLEXION 24 25
Jan Köhnholdt, ›CORONA BEACH‹, 2020 45 × 33 cm (Rahmen), Farbstift auf Papier
26 / 27 Raum : REFLEXION
Ralf Hoppe, ›She loves you, yeah …‹, 2019 25 × 25 × 13 cm, Acryl, Elektronik, LED, Kabel, Schalter, Acrylfarbe, Lack, Gold; Unikat aus einer Serie von 5 Arbeiten
Victor Vasarely, Tsillag, 1986 Papier: 50 × 45 cm, Platte: 34,5 × 34,5 cm Museumsauflage auf Japanpapier, signierte Farblithographie (LXX)
Silvia Quandt, ›Good Morning‹, 1983 Papier: 52 × 62 cm, Platte: 42 × 42 cm signierte Farblithographie (LXX)