Lapidarium. Ins Wort gehauen. Ins Bild gefasst.

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LAPIDARIUM. Ins Wort gehauen. Ins Bild gefasst. Gaby Bergmann / Georgi Gospodinov. Ausstellung und Künstlerbuch (Deutsch-Bulgarisch)

STEIN


L a p i d a r i u m G e o r g i G o s p o d i n o v

Stein Willst du Sinn sein – Fragte ich den Stein.

Искаш ли да станеш мисъл – питах камъка.

Willst du Da sein – Fragte ich den Stein.

Искаш ли да станеш смисъл – питах камъка.

Willst du Wort sein – Fragte der Stein.

Искаш ли да станеш дума – пита камъкът.

Ich bin Stein – sagte der Stein Und versank in sich selbst.

Аз съм камък – каза камъкът и потъна в себе си.

Ich bin da – sagte der Stein Und versank in sich selbst.

Аз съм смисъл – каза камъкът и потъна в себе си.

Ich bin Wort – sagte ich steinern Und versank in ihm.

Аз съм дума – казах каменно и потънах в него...


LAPEDARIUM Kurz gefasst. Abstract Der Gedicht-Zyklus Lapidarium des bulgarischen Literaten Georgi Gospodinov ist poetische Alltagschronik und in Wort gehauene Sprachphilosophie. In knapp 50 lapidaren Gedichtminiaturen stellt der Autor Stationen menschlichen Lebens und Liebens aus, zwischen Plattenbausiedlung und Dorffriedhof, Tomatensoße und liebem Gott, Geburt und Tod. Darunter eingestreut sind kurze naturphilosophische Skizzen. Lapidarium ist so eine persönliche Lebensgeschichte in Versen. Die Kurz- und Kürzest-Gedichte sind den scheinbar banalen Ereignissen des normalen Lebens gewidmet. Gleichzeitig eröffnen sie eine unaufdringlich kosmische Dimension jenseits jeglicher Esoterik, wenn etwa eine Träne in den Himmel fällt und die Milchstraße sauer werden lässt. Auf einer noch tieferliegenden Ebene – in der Art und Weise, wie der Zyklus strukturiert ist – stellt Lapidarium zudem eine Auseinandersetzung mit den Ordnungsmodellen der Welt dar. Anders formuliert: mit der Frage, wie der Mensch die Vielzahl seiner Wahrnehmungen und Erlebnisse strukturiert, sie in eine Erzählung vom Leben überführt. Der Band bedient sich dabei der Bedeutung des Begriffs Lapidarium als einer archäologischen Sammlung von historischen SteinInskriptionen. Hier setzt auch mein Konzept einer bildlichen Umsetzung des Gedichtbandes an: Über die inhaltlich-figurative Auseinandersetzung mit den einzelnen Gedichten hinaus geht es insbesondere darum, in Bild-Zyklen die Ordnungsprinzipien des Gedichtbands zwischen Archiv und Enzyklopädie, zwischen linearer Erzählung und zyklischer Wiederholung herauszuarbeiten. Ziel ist eine Ausstellung der Bild-Interpretationen im Herbst 2014 oder Frühjahr 2015 mit einer Lesung der Texte im Beisein das Autors, der sein Kommen zugesagt hat. Ergänzend wird ein Katalog als Künstlerbuch mit den Gedichten zweisprachig Bulgarisch-Deutsch erscheinen.


Lapidarium. Der Text In einer Annotation zu dem Gedichtzyklus führt der Autor weitere Bedeutungsebenen des Lapidarischen an, die für seine Poesie wichtig sind, der präzise und unsentimentale Schreibstil etwa. Dies gilt aber auch für die Auseinandersetzung mit dem Stein als einem Material für die Schrift, das anders als Papier über seine Immobilität Ewigkeit verspricht. Hier kommt ein Aspekt zum Tragen, der Gospodinovs literarische Tätigkeit im Ganzen charakterisiert: die Frage nach der „angeborenen Richtigkeit“ der Namen. In poetischer Form thematisiert der Dichter damit eine der Grundfragen der menschlichen Kultur, Kommunikation und Kunst: nämlich die Frage, ob die Dinge und ihre Benennungen über eine innere Verbindung aneinander gebunden sind. Und ob in der Kunst die konventionellen Bedeutungen überwunden oder erweitert werden können. Die Stein-Inschriften im historischen Lapidarium konservieren individuelle und kollektive Geschichte. Gleichzeitig ist das in Stein geschriebene Wort tot, es verliert seinen vitalen, sich verändernden Charakter, ist fixiert auf eine festgeschriebene Bedeutung, die niemals die Fülle seiner lebenden Bedeutung erfassen kann. In vielen der Gedicht-Miniaturen werden diese Fragen der Benennung und die Möglichkeiten der Sprache für die Expression und Abbildung der Welt diskutiert, werden komplizierte Fragen der Sprachphilosophie präzis und poetisch dargestellt, dem Leser zugänglich gemacht. Die Gedichte spielen mit der visuellen Form der Buchstaben in einer Art der visuellen Poesie. Sie hinterfragen die traditionellen Funktionsweisen der linguistischen Bezeichnung, indem sie neue Beziehungen zwischen dem Wort und dem Gegenstand stiften. Schließlich nutzt der Zyklus das Titel gebende Konzept des Lapidarium, um auf poetische Weise die Bedeutung von Ordnungssystemen für unsere Weltwahrnehmung zu problematisieren. Neben den musealen Lapidarien als Sammlungen von Stein-Inschriften und Skulpturen sind in diesem Zusammenhang die mittelalterlichen Stein-Enzyklopädien in Buchform von Interesse, in denen das mythische und naturwissen-

schaftliche Wissen über Edelsteine gesammelt wurde. In der Fortsetzung antiker Traditionen der Naturkunde bewegten sich diese mittelalterlichen Lapidarien an der Grenze zwischen Esoterik und Wissenschaft. Lapidarien boten allegorische Deutungen von Steinen, indem sie etwa deren heilende Eigenschaften beschrieben. Sie waren gekennzeichnet durch ein kompilatives Prinzip der Sammlung und Zusammenstellung, in dem jedes Element gleichberechtigt neben dem anderen steht. Erst in der Neuzeit setzt sich mit dem uns heute geläufigen Wissenschaftsbegriff eine teleologische Vorstellung von Naturgeschichte durch, welche die lineare Erzählung einer Evolution, eines linearen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung erzählt. Lapidarium ist damit eine praktisch-poetische Auseinandersetzung mit der hochkomplexen Wissenschaft von den Zeichen- und Klassifikationssystemen – und dennoch voll prallen Lebens.


Makrokosmos

Es ist bewiesen dass sich das Weltall erweitert Folglich entfernen wir uns voneinander


Herbst Meine Mutter kocht hinter dem Hochhaus Den Sommer zu Tomatensauce ein.

Есен Майка ми вари зад блока лятото на лютеница

Mikrokosmos des Alltags


Der Autor. Gattungsübergreifende Beschäftigung mit Erzählformen Georgi Gospodinov schreibt Lyrik und Prosa, Drehbücher und Theaterstücke. Zurzeit arbeitet er an einem Operntext. Er hat sich in seinem nun rund zwei Jahrzehnte umfassenden, genreübergreifenden Schaffen durchgängig mit der Frage der Darstellung von Welt in Sprache und Wissenschaft beschäftigt. Er greift auf eine Spannbreite von Erzählverfahren zurück, zwischen facettenreicher Zersplitterung, labyrinthischer Desorientierung oder zyklischer Geschlossenheit. Sein populärstes Buch Natürlicher Roman (Estestven roman, 1999) ist aus der Sicht eines Fliegen-Auges strukturiert. Einzelne der präsentierten Facetten beschäftigen sich explizit mit der antiken Naturphilosophie sowie der Tradition des neuzeitlichen Klassifizierens, etwa bei Carl Linné. In seinem Theaterstück Die Apokalypse kommt um 6 Uhr abends (Apokalipsysyt idva v 6 vecherta, 2006) lässt der Autor seine Figuren einen mittelalterlichen Totentanz aufführen. Und sein neuester Roman Physik der Schwermut (Fizika na tygata, 2011) ist nach dem Prinzip eines Labyrinths strukturiert. Georgi Gospodinov gehört zu den meist übersetzten Autoren der bulgarischen Literatur. Seine Lyrik ist allerdings bis dato in deutscher Sprache nur in einer best-off-Anthologie zugänglich, die Texte aus verschiedenen Jahren kombiniert und es dadurch nicht erlaubt, die Komposition der einzelnen lyrischen Bücher nachvollziehbar zu machen. Lapidarium in seiner Gänze wird nun erstmals durch die Slavistin Henrike Schmidt übersetzt und soll als Grundlage für das hier vorgestellte Ausstellungs- und Kunstbuch-Projekt dienen.


Künstlerisches Konzept Der Gedichtband soll hier als sprachliches, konzeptionelles und künstlerisches Gesamtkunstwerk vorgestellt werden. Neben den Motiven der einzelnen Gedichte – Lust, Liebe, Tod – soll insbesondere das oben skizzierte Strukturprinzip des Bands als Lapidarium zwischen Archiv und Enzyklopädie, Allegorie und Klassifikation herausgearbeitet werden. Lapidarium ist 1992 erschienen und damit das erste Buch des heute weltbekannten bulgarischen Autors. Es stellt bereits einen ersten Höhepunkt seines Schaffens dar. Seine Veröffentlichung als eigenständiges Künstlerbuch verspricht neue Einblicke auch in die späteren Werke und insbesondere die Romane, die bereits in deutscher Sprache erschienen sind. Schließlich macht der Autor selbst immer wieder deutlich, dass er die einzelnen Werke seines literarischen Schaffens als Komponenten eines übergreifenden Hypertextes begreift, dessen Motive immer wieder neu ineinandergreifen. Schließlich und endlich ist Lapidarium auch ein Zeitzeugnis, ein Text der postsozialistischen Wende. Entstanden in den frühen 1990er Jahren legt es Zeugnis ab von einer Zeit des Wandels in der bulgarischen Kultur und Gesellschaft, nach Jahrzehnten der sozialistischen Ära und Dominanz. Es erlaubt Lesern und Betrachtern einen Blick zurück auf das östliche Europa der Wendezeit und bringt damit insbesondere dem deutschen Publikum eine weitgehend unbekannte Zeit der jüngeren europäischen Geschichte facettenreich nah.

Ich arbeite in meinen visuellen Interpretationen an beiden Bereichen des Lapidariums: der poetischen und künstlerischen Darstellung des Gegenstands einerseits, und des Prinzips der Serialität in Verbindung mit historischen Verfahren der Klassifikation andererseits (mythische, religiöse, wissenschaftliche Erzählungen von der Entstehung der Welt). In figurativen Umsetzungen einzelner Texte arbeite ich insbesondere mit deren Metapherund Bildmaterial. In Schriftbildern präpariere ich die Textur der Gedichte in der Auseinandersetzung mit dem Kyrillischen heraus. In Bildfolgen und Zyklen greife ich auf einer abstrakteren Ebene die Kompositionsprinzipien des Gedichtbandes auf. Bild-Metapher und Schrift-Bild, Figuration und Abstraktion, farbige und schwarz-weiße Abbildungen, Groß- und Kleinformate schließen sich somit zu einem Ganzen zusammen.


** Die Frau des Jägers

Die Frau des Frauenjägers Hält es nicht aus und flüchtet Der Jäger bärtig bricht zusammen.

Das Wild flieht gelangweilt

Жената на ловеца

Жената на ловеца на женине издържа, и хвана пътя. Брадяса, омърлуши се ловеца...

и дивечът си тръгна отегчен.



Ausstellung mit Lesung. Katalog als Künstlerbuch. Umsetzung

Meine Erfahrung

Im Rahmen des Projekts ist eine Ausstellung geplant, begleitet von einem als Künstlerbuch gestalteten Katalog. Das Buch wird die gesamten Texte des Gedichtzyklus zweisprachig bulgarisch-deutsch enthalten und durchgehend bildlich gestaltet sein. Dabei werden die bildlichen Darstellungen nicht einfach als Illustrationen neben die einzelnen Texte gesetzt, sondern sie umgreifen den Band im Ganzen. Die Einwilligung von Autor und Übersetzerin liegt vor. Die Ausstellung ist geplant für Winter bis Frühjahr 2014/2015. Sie wird in Beisein des Autors, der sein Kommen zugesagt hat, und im Rahmen einer Lesung seiner Texte eröffnet. Durch die Kombination von Ausstellung und Künstlerbuch kann ein breites Publikum erreicht werden. Durch die visuellen Interpretationen der Gedichte können diese erfahrungsgemäß für Menschen zugänglich gemacht werden, die sich sonst nicht primär für lyrische Gattungen interessiert. Mit Georgi Gospodinov arbeite ich mit einem prominenten bulgarischen Autor zusammen, dessen Popularität es darüber hinaus erlaubt, stärkere Aufmerksamkeit für die Literaturen des Östlichen Europa zu schaffen, die in der deutschen kulturellen Öffentlichkeit auch Jahrzehnte nach der Wende noch stark unterrepräsentiert sind.

Als gelernte Lithografin und Illustratorin liegt der Schwerpunkt meiner freien Arbeiten seit 20 Jahren im Bereich des experimentellem Siebdruck und der Auseinandersetzung mit Form, Schriftbild und Farbe. Die Beschäftigung mit Text-Bildlichkeit prägt meine künstlerischen Projekte. 2011-2012 habe ich mehrere Bildzyklen mit visuellen Arbeiten zu den avantgardistischen Gedichten des russischen Lyrikers Sergej Birjukov erstellt, in enger Zusammenarbeit mit dem Autor selbst und unterstützt durch die Übersetzerin und Slavistin Henrike Schmidt. Dabei hat mich besonders die Arbeit mit der kyrillischen Schrift und ihrem Formenreichtum beschäftigt. Jedoch habe ich mich auch mit den spezifischen religiösen Sprachkonzepten der orthodoxen Religion auseinandergesetzt, etwa den Ligaturen und der spezifischen Bildtheorie der Ikone. In Kooperation mit weiteren Institutionen wie der Universität Hamburg, dem Forum Neue Musik an der Christianskirche sowie der Altonale sind aus dieser Zusammenarbeit zwei Ausstellungen mit Lesung und Konzert entstanden (Galerie KunstNah, Kulturetage Altona; Christianskirche Altona). Über diese Veranstaltungen ist es gelungen, ein breites Publikum für experimentelle Dichtung und russische Literatur zu interessieren und zu begeistern. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Bilder sind in Literaturzeitschriften in Russland und Finnland abgedruckt worden. 2013 habe ich im Rahmen der Literatur-Altonale in einer Promenade des Mots Marseillés das poetische Lexikon des französischen Schriftstellers Gille del Pappas bebildert, gemeinsam mit dem Künstler Paolo Moretto. Für 2014 ist eine ähnliche Literaturpromenade für das Altonale Partnerland Dänemark geplant. Die künstlerische Arbeit mit poetischen Texten, zwischen der figurativen Umsetzung ihrer Themen und Motive und dem formalen Experiment mit ihrem Schriftbild, steht also bereits seit Jahren im Mittelpunkt meiner Kunst. Und ich freue mich darauf, sie mit einem literarisch wie theoretisch so anspruchsvollen Autor wie Georgi Gospodinov fortzuführen und um den Aspekt eines Künstlerbuchs zu erweitern. Dabei werde ich literaturwissenschaftlich von der Hamburger Übersetzerin Henrike Schmidt unterstützt.





(p)ostkarte(ll). institut für angewandte kulturforschung (p)ostkarte(ll). verein für angewandte kulturforschung e.v. Henrike Schmidt Kulturetage Altona Große Bergstraße 160 22767 Hamburg schmidt@postkartell.org www.postkartell.org

hand to eye | visuelle kommunikation

Gaby Bergmann Kulturetage 1.OG Große Bergstraße 160 | D- 22767 Hamburg T.: 040. 87 60 79 12 M.: 0151. 65 14 99 11 www.handtoeye.de | gaby.bergmann@handtoeye.de


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