Aber sonst ist alles reine wahrheit

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Unerhörtes erzählt man sich im Dorf von den Untaten des Bären: Die Unterwäsche der Großmutter soll er von der Leine gestohlen haben, und auf die Haustiere habe er es abgesehen - doch die ausgeschickten Jäger haben ein mehr freundschaftlichaugenzwinkerndes Verhältnis zu dem Räuber. Auch der alte Adam, der ein Feld bewachen soll, beeilt sich keineswegs, die Kartoffcldiebc zu stellen und zu bestrafen. Mit doppelbödigem Humor erzählt der armenische Autor von dörflichen Originalen, hinter deren Kauzigkeit und Schlitzohrigkeit Lebensweisheit und Güte stehen.

Schutzumschlag: Hans-Joachim Pctzak

Als Meister psychologischer Gestaltung g erweist sich Matewosjan, wenn er die seelischen Konflikte eines Halbwüchsigen 1 schildert, der mit sich ringt, ob er dem ] von allen verachteten Außenseiter seiner | Klasse bcistchcn oder sein instinktives Mitgefühl mit dem Schwachen unterdrükken soll. In einer anderen Erzählung wirft eine Mutter ihrem Sohn sein Mitgefühl mit anderen, seine Güte vor, denn in die- | ser Welt müsse man hart und böse sein können. Matewosjan siedelt fast alle seine Erzählungen in dem fiktiven Dorf Zmakut an. In der Verbundenheit mit der Natur sieht ! er eine wesentliche Quelle für ein harmonisches Zusammenleben, aber er vermittelt keine dörfliche Idylle. Zmakut ist für Matewosjan ein Teil der großen Welt, es trägt alle ihre Probleme und Konflikte in sich. Von Hrant Matewosjan (geb. 1955) erschienen in der DDR bisher »Das Schelmenstück der Hammeldicbe« (1969), »Die Büffelkuh« (in: Erlesenes 2, 1975) und »Mutter fährt den Sohn verheiraten« (in: Erlesenes 3, 1978).


HRANT MATEWOSJAN

... aber sonst ist alles reine Wahrheit Erzählungen Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth

VERLAG VOLK UND WELT BERLIN


Mit einer Nachbemerkung von Eva Strittmatter

ISBN 3-353-00305-3 1. Auflage © Verlag Volk und Welt, Berlin 1988 (deutschsprachige Ausgabe) L. N. 302, 410/7/88 Titel der armenischen Originalausgaben: Mer Vazke und Carere, © Verlag Sovetakan grogh, Jerewan 1978. Ogostos, © Verlag Hajastan, Jerewan 1967 Russische Ausgaben: Derev’ja, © Verlag Izvestija, Moskau 1983, daraus entnommen: Deine Sippe, Das grüne Tal, Der Fremdling, Unter klarem Himmel alte Berge. Tvoj rod, © Molodaja gvardija, Moskau 1982, daraus entnommen: Der Bär, Der Wächter. Zelenaja dolina, © Verlag Sovetakan grogh, Jerewan 1981, daraus entnommen: Brot Printed in the German Democratic Republic Alle Rechte Vorbehalten Einbandentwurf: Hans-Joachim Petzak Satz, Druck und Einband: Druckwerkstätten Stollberg LSV 7201 Bestell-Nr. 648 868 9 00760


Das grüne Tal

Der Blitz schlug mit trockenem Prasseln gegen den Felsen, prallte ab und verschwand in der grünen Erde. Der Felsen war hart, und der Blitz hatte nicht mal ein paar Splitter von ihm abspalten können. Die grüne Erde unterm Felsen war das Grab aller Blitze, die dieses Tal getroffen hatten. Der Felsen beerdigte die Frühlings- und Sommerblitze für immer da unten, und bei jedem Blitzschlag dankte ihm die große, breitästige Eiche in ihrer Eichensprache dafür, daß er die Blitze auf sich zog, in die Erde schleuderte und sie, die Eiche, so vor dem sicheren Tod bewahrte. Als der Blitz noch über den Himmel raste, unschlüssig, ob er gleich zustoßen sollte oder erst etwas später, hatte die Stute ihr Fohlen mit zartem Wiehern zu sich gerufen, denn sie wußte, daß der Blitz gleich einschlagen und ihr Fohlen erschrecken würde, doch das Fohlen glaubte, die Mutter wolle ihm Milch geben, es lauschte in sich hinein, zuckte mit den Ohren, lauschte noch einmal, um sich zu vergewissern, ob es überhaupt Milch trinken wollte, stellte fest, es wollte noch nicht trinken, es hatte jetzt eher Lust, an Gras und Blumen zu schnuppern, um sie kennenzulernen - in diesem Augenblick aber schoß der Blitz herab. Das Fohlen bäumte sich auf und stürzte zur Mutter, doch sein Schreck war so groß, daß es die Mutter nicht sah und in eine ganz andere Richtung rannte. Die Mutter wäre selber zu ihrem Foh-


len gegangen, doch ein Strick um den Hals hielt sie fest, hinderte sie daran. Und so rief sie das Kleine mit zartem Wiehern. Das Fohlen war erst einen Monat alt, und in seinem kurzen Leben war das der erste Blitz. Es versteckte sich unterm Bauch der Mutter und horchte von dort mit gespitzten Ohren, wie der Regen auf das Eichenlaub trommelte. Dann warf es einen Blick hinaus, sah den Felsen, den Heckenrosenstrauch, die Eiche, blinzelte verständnislos, und schon hatte es vergessen, daß es vor einem Blitz erschrocken war; ihm schien, es sei zur Mutter gekommen, um Milch zu trinken. Mit dem schwarzen Schweifende wedelnd, drängte es sich wieder unter den Bauch der Mutter. Die alte Stute stellte ein Bein zur Seite und lockerte die Haltung, um dem Fohlen das Saugen zu erleichtern. Dieses Fohlen war besonders schön, so reich mit Sternchen übersät, als wäre es voller Rauhreif. Seine Beine waren dünn und lang. Das rechte Hinterbein war zur Hälfte weiß, als trüge es einen weißen Strumpf. Der Hals war lang und schmal, der Kopf klein, und auf der Stirn hatte es einen weißen Fleck, auch wie ein Sternchen. Zur Tränke in diesem Tal kamen Ziegen und Damhirsche, Schafe mit ihren Lämmern und auch dieses Pferd, das in seinem Leben schon viele Fohlen gehabt hatte, aber noch nie ein so schönes. Es war das schönste Tier im grünen Tal. Seine Mähne und sein Schweif waren schwarz. Was für Augen es hatte, wußten wir nicht, denn es riß vor uns aus, und wir konnten uns ihm nicht weit genug nähern, um seine Augen erkennen zu können. Aber sicherlich waren auch sie sehr schön, denn alle Pferde haben schöne Augen, die ihre ganze Umgebung spiegeln. In den Augen dieses Foh-

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lens spiegelten sich die Eiche, die Blumen, der Heckenrosenstrauch, seine Mutter und das ganze grüne Tal. Es war ein bißchen dumm, das Fohlen, dumm aber, weil es noch sehr klein war. Ein Regentropfen rann sein Bein hinunter, es scheute, schlug aus und lief von der Mutter weg. Die Mutter rief es nicht zurück, der Regen hatte aufgehört, noch einen Blitz würde es heute nicht mehr geben, und die Sonne am Himmel schien bereits mit Macht. Das grüne Tal funkelte nur so, überflutet von Sonnenlicht. Im Regen gewaschen, glitzerten die Blätter an der Eiche. Auch der Heckenrosenstrauch glänzte. Ebenso der feuchte Pferderücken. Und der Rücken des Fohlens. Und der Bach, der am grauen Felsen entsprang und durch das ganze grüne Tal floß. Aber der Bach roch nach Blitz, und das Fohlen sprang zurück. Auch der Heckenrosenstrauch roch nach Blitz. Das Fohlen scheute ein wenig, blieb stehen, schaute aus der Entfernung hin und rückte dann wieder Schritt für Schritt vor, um noch einmal zu schnuppern. Das alte Pferd kannte alle Düfte und Gerüche dieses Tals. Es kannte die Gerüche und Düfte aller Täler und Hügel hierzulande, doch die Gerüche dieses Tals kannte es besser, denn es wurde oft hier angebunden. Der Geruch des Blitzes mußte gleich verschwinden, die Sonne würde ihn mitsamt dem Tau verdunsten lassen. Auch der Thymiangeruch hielt sich nicht ständig in diesem Tal, der Wind wehte ihn von den Hügeln heran, zusammen mit dem Geruch nach feuchter Schafwolle. Das Pferd rupfte Gras und dachte, daß auf der anderen Seite der Hügel Schafe weideten, da doch der Wind den Geruch von feuchter Schafwolle herüberbrachte, daß folglich auch Hunde und ein Hirt dort sein mußten. 7


Jenseits der Hügel weiden Schafe, dachte das alte Pferd, das feuchte Gras im Tal schmeckt gut, das Wasser im Bach ist süß, die Sonne wärmt, das Fohlen ist schreckhaft und wächst inmitten der guten und warmen Ruhe dieses schönen Tals heran. Das Pferd hob den Kopf: die Eiche stand ruhig, von der Wärme ermattet, der graue Felsen dämmerte vor sich hin, das Fohlen schnupperte am Heckenrosenstrauch. Die Sonne wärmte, und das Gras schmeckte gut nach dem Regen. Das Pferd senkte den Kopf, rupfte zwei, drei Büschel Gras, doch etwas versetzte es in Unruhe, und es hob erneut den Kopf. Reglos inmitten des grünen Tals stehend, mit hocherhobenem Kopf, horchte das alte rote Pferd in die Stille, blickte lange ins Tal. Alles war noch genauso wie eben: ruhig stand die Eiche, still dämmerte der Felsen, das Füllen aber sprang umher, tollte um den Heckenrosenstrauch. So hätte das rote Pferd ruhig weiden können, aber noch ehe es mit den Lippen die Erde erreicht hatte, riß es den Kopf jäh wieder hoch und verharrte mit gespitzten Ohren, um alle heimlichen Stimmen des Tals zu erhaschen. Dann blähte es die Nüstern und verharrte noch eine Weile, um auch alle fremden Gerüche des Tals wahrzunehmen. Schmetterlinge gaukelten, Bienen summten, das Bächlein rauschte, auf der Jagd nach einem Schmetterling sprang das Fohlen mit gestrecktem Hals um den Heckenrosenstrauch, doch nicht diese Stimmen und nicht diese Bilder beschäftigten das alte rote Pferd. Das Tal barg eine Gefahr. Kein Laut von dieser Gefahr drang durch die Luft. Die Gefahr war auch nicht zu sehen, und der Wind trug ihren Geruch nicht herbei, doch das alte Pferd konnte nicht mehr ruhig weiden.


Das alte rote Pferd wurde allmählich böse, weil im Tal ein Feind war, weil es diesen Feind nicht sah und nicht hörte und nicht feststellen konnte, wo er sich befand. Mitten im grünen Tal stehend, blickten sie nach allen Seiten und horchten in die Stille - der graue Felsen, die gewaltige, breitästige Eiche, das alte rote Pferd und der Heckenrosenstrauch. Dem Felsen im grünen Tal drohte keine Gefahr, denn der Blitz hatte an diesen Tagen bereits eingeschlagen und war vorbei. Für die Eiche war gleichfalls alles gut, denn der Felsen hatte sie wiederum vor dem Blitz bewahrt, überdies wärmte die liebe Sonne sie zärtlich. Und auch für den Heckenrosenstrauch war alles gut, denn an seine zwei blendendweißen Blüten reichte das Fohlen nicht heran. Das alte Pferd aber war vor gespannter Erwartung schon schweißnaß. Das Tal war dem Pferd untreu geworden: In ihm verbarg sich ein Feind, doch das Tal verriet den Feind nicht, verriet weder seine Stimme noch seinen Geruch. Das alte rote Pferd konnte sich nicht entschließen, zum Fohlen zu gehen, denn es fürchtete, mit seinen Schritten den heimlichen Tritt des Feindes zu übertönen. Das alte rote Pferd traute sich nicht zu atmen, denn es fürchtete, mit dem Geräusch seiner Lungen den Atem des Feindes zu übertönen. Das alte rote Pferd unterdrückte sogar das Wimpernzucken, um nicht den einen Augenblick zu verpassen, da der Feind vielleicht von einer Stelle zur andern sprang. Und so standen sie reglos im Tal - der Felsen, die Eiche, der Heckenrosenstrauch, das Pferd. Der Felsen dämmerte vor sich hin. Die Eicheln auf dem Baum, umschlossen von einem festen, schützenden Panzer, 9


füllten sich mit Saft, und die Eiche freute sich, daß alles so gut bestellt war. Der Heckenrosenstrauch bot seine Blütenkelche der Sonne dar und saugte ihre Wärme auf. Die alte rote Stute aber zitterte vor Entrüstung. Noch nie, noch kein einziges Mal hatte das Tal sie derart im Stich gelassen. Vielleicht hinderte der Geruch des Blitzes sie, jenen anderen Geruch wahrzunehmen, den Geruch des Feindes, der nah war, ganz nah. Sie schnupperte, doch die Witterung des Feindes verschwand hinter dem Ozongeruch, der nach dem Blitz zurückgeblieben war. Das Fohlen betrachtete etwas aufmerksam und sah sich nach seiner Mutter um. Dann betrachtete es wieder etwas und sah sich wieder um. Doch die Mutter erkannte nicht, wohin ihr Fohlen blickte. Von da, wo sie stand, war das nicht zu sehen. Das Fohlen schaute auf etwas und drehte dann den Kopf der Mutter zu, die stand reglos und ihre Augen glühten. Das Fohlen sah sich noch einmal nach der Mutter um und machte einen Schritt auf das zu, was es so neugierig betrachtete. Und da witterte die Mutter den unerträglichen, widerlichen Geruch eines Wolfes. Sie wieherte, stürzte zum Fohlen hin und sah, wie ein Wolf sich mit gleitendem weitem Sprung vom Boden löste, auf ihr Kleines zu. Die Wolfshunde jenseits des Hügels, die die Schafe bewachten, vernahmen zwar das kurze aufgeregte Wiehern eines Pferdes. Sie wurden unruhig, doch dann blieb alles wieder still, und sie gaben sich zufrieden. Die rote Stute wollte zu ihrem Fohlen stürzen, warf sich mit aller Kraft in seine Richtung, fiel zu Boden. Sie war ein altes Pferd, war in ihrem langen Leben oft genug hingefallen, doch diesmal kam es sehr unerwartet. io


Sie fiel und sprang sofort wieder auf. Doch gefallen war sie, weil sie angebunden war. Der Strick würgte sie weiter, ließ sie nicht zu ihrem Kind. Das Fohlen wollte zur Mutter, lief große Kreise, um zu ihr zu gelangen, doch der Wolf schnitt ihm jedesmal den Weg ab, und so lief es immer weiter von der Mutter weg. Der Strick aber würgte die Mutter. Endlich hatte sich das Fohlen überlegt, daß es über den Wolf hinwegspringen müsse. Das tat es auch, aber der Wolf packte es von unten am Bein, und es fiel. Es schrie erschrocken und sprang auf. Das schrille Wiehern des Fohlens war auch jenseits der Hügel zu hören und ließ die Wolfshunde aufmerken, vor allem der Hund Topusch spitzte die Ohren. Das Fohlen schrie und sprang auf, und in diesem Moment stemmte sich die Mutter mit den Hinterbeinen ab, warf sich mit ihrer ganzen Masse, ihrer ganzen Kraft dem Wolf und dem Fohlen entgegen, so daß der Strick, der sie gehalten hatte, riß und ihr um die Beine peitschte. Die Mutter rannte los, mit all ihrer Kraft, mit all ihrer Wut und all ihrer Liebe. Sie war eine sehr schnellfüßige Stute, aber noch nie in ihrem Leben war sie so schnell geflogen. Auch jenseits der Hügel war zu hören, wie ihre Hufeisen dumpf auf den Boden trommelten. Dann verstummten alle aus dem Tal herüberdringenden Stimmen, und die Hunde und der kleine Hirt beruhigten sich wieder. Der Wolf ließ vom Fohlen ab und wich den Hufen des alten Pferdes aus, glitt darunter hervor. Das Pferd ging auf ihn los, er lief noch ein wenig. Das Pferd griff ihn an, und der Wolf lief noch weiter zurück. Mit dem Maul fast die Erde berührend, rückte das Pferd langII


sam, drohend gegen ihn vor, da legte sich der Wolf flach auf die Erde und schickte sich an, aufzuspringen, um das Pferd in die Nüstern zu beißen. Nun drehte ihm das Pferd das Hinterteil zu. Das Pferd drehte ihm das Hinterteil zu, und der Wolf sprang nicht, sondern lief einen Halbkreis und befand sich wieder vor dem Maul des Pferdes. Die Stute nahm das Fohlen unter den Bauch und drehte dem Wolf das Hinterteil zu, und wieder lief der Wolf um sie herum und stellte sich vor ihr Maul. Dem Pferd gelang es, sich ganz schnell umzudrehen, und es versetzte dem Wolf einen Huf tritt. Ein weiter Sprung, und wieder stand der Wolf vor dem Maul des Pferdes; diesmal wich es ihm nicht schnell genug aus, und der Wolf verbiß sich in seine Nüstern, doch es gelang dem Pferd, ihn mit den Vorderhufen wegzustoßen. Der Wolf lief jedoch nicht weg, er setzte sich und sah das Pferd an. Und das Pferd sah den Wolf an. Der Wolf begriff, das Pferd würde sein Fohlen bis zuletzt beschützen, und das Pferd begriff, der Wolf würde nicht so einfach Weggehen. Das Pferd war schaumbedeckt, aber auch der Wolf war erschöpft. Überraschend schoß er wieder hoch, sprang nun ständig zu und versuchte, das Pferd bei den Nüstern zu packen, doch das Pferd drehte ihm immer wieder das Hinterteil zu und ließ das Fohlen nicht unter seinem Bauch hervor. Schon war es finster, die Bewegungen der beiden wurden langsamer, der Wolf umkreiste das Pferd fast kriechend, kaum trugen ihn die Beine noch, und auch das Pferd drehte sich langsam, schwerfällig, ab und zu stolpernd, sich mühsam auf den Beinen haltend. Vor ihren Augen war es dunkel geworden, beide sahen einander kaum noch. Vor Ermattung waren sie auch fast ertaubt.

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Der kleine Hirt stieg auf den Hügel und betrachtete den Sonnenuntergang. Gegen den roten Schein hob sich dunkel die einzige Eiche im Tal als schöner Schattenriß ab. Aber was der kleine Hirt dort unten sah, war so widerwärtig, daß er vor Zorn nach Luft schnappte: Ein Wolf hatte sich in das Maul des alten roten Pferdes verbissen, und das rote Pferd konnte ihn nicht zertrampeln, es mußte jeden Augenblick zu Boden sinken. »He, ist da wer? He!« schallte es von den Hügeln, die das Tal von der anderen Seite begrenzten. »Ein Wolf hat das Pferd angefallen, gleich reißt er es, he, wo bleiben die Hunde, laßt die Hunde los, he ...« Der kleine Hirt öffnete schon den Mund, um zu schreien, konnte es aber nicht, er hatte plötzlich die Stimme verloren. Er schwenkte nur die Arme, ohne ein Wort hervorzubringen. Die Hunde spitzten die Ohren und blickten hinunter ins Tal. Da sahen sie alles und jagten los. Topusch, Bob, Sewo, Bogar, Tschalak, Tschambar... Schwarzschnauze Topusch war der erfahrenste von ihnen, schweigend pflegte er über einen Wolf herzufallen, schweigend würgte er ihn. Auch jetzt lief er schweigend allen voran. Bogar war der jüngste der Meute, er fürchtete sich ein wenig vor Wölfen und bellte immer schon von weitem, damit die Wölfe wegliefen und es zu keiner Rauferei kam. Auch jetzt bellte er im Laufen, immer wieder überholte er Topusch, doch er traute sich nicht, sich von den anderen zu lösen und an der Spitze zu bleiben. Und so blieb er immer wieder stehen und wartete auf Topusch, lief einige Zeit neben ihm her, überholte ihn erneut und wartete wieder. Als das Pferd schon jeden Augenblick stürzen mußte, vernahm der Wolf wie im Traum das HundeI

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gebell. Er wollte nicht glauben, daß die Hunde ihn verbellten, das Schicksal konnte es doch nicht so böse mit ihm meinen, daß ein ganzer Tag schwerer Arbeit verloren war. Mußte er wirklich hungrig und ohne Beute zu seinen Jungen zurückkehren? Die Kräfte der Pferdemutter waren schon erschöpft, ihre Nüstern für den Schmerz ertaubt, ihre Ohren wie mit Watte verstopft, und vor ihren Augen war es tiefschwarz, da vernahm sie plötzlich fernes Hundegebell, und sie glaubte sofort, daß die Hunde wegen ihres Fohlens heulten, das Schicksal konnte es doch nicht so böse mit ihr meinen, daß es ihr Kind so sterben ließ. Die alte Stute wußte, daß ihr das Bellen nur darum so fern vorkam, weil sie müde war und schlecht hörte. Sie wußte, daß sie noch eine Weile ausharren mußte, bis die Hunde heran sein würden. Aber wie schwer fiel ihr das Atmen, welch eine Last wurde ihr dieses Leben! Das Hundebeilen explodierte unmittelbar über dem Ohr des Wolfes, aber auch er wollte noch immer nicht glauben, daß ein so schwer errungener Erfolg mit solch einem Fehlschlag enden sollte. Seine Jungen zu Hause waren hungrig, was sollte er nun tun? Im Hals fühlte er plötzlich heftige Stiche, das eine Ohr schmerzte, und er ließ vom Pferd ab. Eine Pfote war fest gegen die Erde gedrückt. Um sie loszureißen, brauchte er Kraft, aber woher die nehmen? Herrgott, er wollte schlafen, schlafen. Er wollte sterben, endlich von allem ausruhen. Er preßte sich an die Erde - vor allem die Kehle schützen, damit die Hunde sich nicht in der Kehle verbeißen konnten. Die Hunde verbissen sich in seinen Rücken, zerrten ihn am Hals, an den Ohren, doch der Wolf schützte nur seine Kehle, sammelte Kraft und ruhte sich unter der Hundemeute aus. 14


Er schnappte nach einer Pfote, ein Hund sprang heulend zurück. Er erhob sich, und die Hunde, die ihn umringt hatten, warteten ab, was er tun würde. Der Wolf sah sich um, es waren sehr viele Hunde, und es war schwer, unwahrscheinlich schwer, sich von ihnen zu lösen und nach Hause zu trotten, wo die Jungen auf ihn warteten. Zähnefletschend sah der Wolf die Hunde an, und die Hunde sahen ihn an, so sahen sie einander an, der Wolf wußte noch nicht, was er tun sollte, und auch die Hunde wußten nicht, was sie tun sollten. Da sprang ein Hund, während ihm ein Schauer über den Rücken lief, den Wolf an. Der Wolf hielt nur mit Mühe stand und begriff: Am gefährlichsten war der schwarzschnäuzigeHund. »He, Junge, he... oder wer da ist... lauf, hilf den Hunden, lauf, hilf ihnen den Wolf erledigen, he...«, riefen sie vom gegenüberliegenden Hügel. Das Pferd konnte kaum noch stehen. Sein Kopf war schwer geworden und sank zur Erde hinab. Das Pferd spürte, das Fohlen saugte an ihm, doch es konnte sich nicht einmal darüber freuen. Sein Kopf fiel hinab, seine Vorderbeine knickten ein, aber das Fohlen saugte noch immer an seiner Mutter. Das Pferd brach zusammen. Das Fohlen stand daneben und wartete, daß die Mutter aufstehen würde, aber sie stand nicht auf. Das Fohlen stieß der Mutter das Mäulchen in den Bauch, aber sie stand nicht auf, rührte sich nicht einmal. Das Fohlen Setzte sich auf die Erde neben die Mutter, seine Vorderbeine schmerzten und versagten ihm den Dienst, und begann zu saugen. Und die Mutter gab noch Milch, ein letztes Mal gab sie ihrem bereits verwaisten Fohlen, dem schönsten aller ihrer Fohlen, Milch, dem kleinen Fohlen, das mit Sternchen übersät war, dessen


Schweif und Mähne schwarz und lockig waren, das einweißes Beinchen und auf der Stirn ein Sterndien hatte und ein bißchen dumm war, dumm, weil es noch klein war. Der Wolf aber, der Wolf schaffte es doch noch wegzulaufen. Hätte er nicht weglaufen können, dann wären seine Jungen verwaist, hilflos zurückgeblieben und bestimmt umgekommen. Aber der Wolf schaffte es wegzulaufen. Das war keine Flucht. Das war ein langer, listiger Rückzug, Schritt für Schritt, Sprung für Sprung. Sooft die Hunde den Wolf einholten und drauf und dran waren, ihn zu zerfleischen, drehte er sich um, fletschte die Zähne, seine Haare sträubten sich, und das hielt die Hunde zurück, der Wolf aber entfernte sich inzwischen um weitere zwei, drei Sprünge. Der schwarzschnäuzige Wolfshund konnte also den Wolf nicht an der Gurgel packen, und der Wolf wiederum konnte ihn nicht beißen und erschrecken, er verfolgte den Wolf gar nicht mehr, denn er hatte ein Büschel Wolfshaar geschluckt, war zurückgeblieben, hustete, würgte und reinigte sich angewidert die Kehle. Der Wolfshund verfolgte den Wolf nicht, und von den übrigen Hunden drohte weiter keine Gefahr, denn sie waren keine Meister wie der schwarzschnäuzige Wolfshund. Die Hunde hatten vom Wolf abgelassen und dann seine Spur verloren, aber noch lange kreisten und jagten sie bellend durch das grüne Tal, wo der Felsen schon schwarz war, wo die Eiche ruhig stand, wo der Heckenrosenstrauch seine beiden Blütenkelche dem Tau darbot und auf der Erde der Körper des alten roten Pferdes lag. Das Fohlen stand bei seiner Mutter, nun schon ein 16


wenig beunruhigt, so als hätte es bereits begriffen, was geschehen war. Die Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten ein letztes Mal hell das grüne Tal, und da war ein schwarzer, ein tiefschwarzer Kreis Erde um das alte rote Pferd. In diesem schwarzen Kreis lag der Körper des alten roten Pferdes. Darin hatte der Zweikampf zwischen Pferd und Wolf stattgefunden, das Pferd hatte ihn gestampft. Die zerstampfte schwarze Erde bot eine Vorstellung, wie lange das alte Pferd sich hier gedreht und den Wolf gezwungen hatte, es zu umkreisen. Und dieser schwarze Kreis blieb drei Jahre lang schwarz. Drei Jahre lang wuchs hier nichts, und das weiße Skelett unseres alten guten Pferdes lag einsam in dem schwarzen Kreis. Dann aber trug das Grün wieder den Sieg davon - zunächst sprossen rings um das Skelett Hälmchen aus der Erde, auch ein paar Blumen, dann schoß üppiges Gras in die Höhe, und schon war das grüne Tal wieder über und über grün. Wenn man das grüne Tal vom Hügel aus betrachtet, ist es weithin grün; majestätisch steht die Eiche neben dem Felsen, der Felsen aber lauscht, während er vor sich hin dämmert, wie die Wolken dahinziehen; der Heckenrosenstrauch ein wenig abseits genießt seine Ruhe und bietet der Sonne fünf Blütenkelche dar, und ein Pferd weidet im grünen Tal, übersät von Sternchen, das rechte Hinterbein ist unten weiß, die Beine sind lang, der Hals ist lang, Mähne und Schweif sind dunkel, und auf der Stirn hat es ein weißes Sternchen. Bei jedem Schritt, den es macht, streckt sich sein rechtes Hinterbein ein wenig und zittert, denn dort hat es eine alte Narbe. l

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Das Pferd hebt den Kopf mit dem Sternchen auf der Stirn, und in seinen Augen spiegeln sich der Felsen, die Eiche, der blühende Heckenrosenstrauch, das grüne Tal und die weißen Wolken am blauen Himmel. »Das ist alles ?« »Ja, alles.« »Nein.« »Warum nein?« »Die Pferdemutter soll nicht sterben.« »Wie kann ich dir sagen, daß die Pferdemutter nicht gestorben ist? Sie war schon tot, das Fohlen aber stand traurig daneben. Als der Hirt, der >He, Junge, he!< gerufen hatte, als dieser Hirt vom gegenüberliegenden Hügel kam, war die Pferdemutter bereits kalt, da saßen der alte Hirt und der kleine Hirt eine Weile neben dem Körper des roten Pferdes und überlegten, wie sie das Fohlen ohne die Mutter aufziehen sollten.« »Und - haben sie es aufgezogen?« »Ja. Mit der Milch eines anderen Pferdes.« »Die Mutter soll aber nicht sterben.« »Wie kann ich dir sagen, daß die Mutter nicht gestorben ist, wo ich doch den ganzen Sommer über das Fohlen mit der Milch anderer Pferde ernährt habe.« »Soll ich sagen, wie’s war?« »Na, sag schon.« »Der kleine Hirt ist eher auf den Hügel gestiegen und hat den Wolf rechtzeitig bemerkt.« »Der kleine Hirt ist so spät auf den Hügel gestiegen, daß es für jede Hilfe schon zu spät war.« »Und warum ist es gestorben, das Pferd?« »Als der alte Hirt und der kleine Hirt neben dem Körper des toten roten Pferdes saßen, sagte der alte 18


Hirt zu dem kleinen Hirten, das Herz der Stute sei vor Angst um ihr Fohlen zersprungen und außerdem vor Wut. Vor Wut und Abscheu.« »Abscheu vor dem Wolf?« »Ja, vor dem Wolf.« »Ich will aber, daß die Hunde den Wolf erwürgen.« »Ich kann dir doch nicht sagen, daß die Hunde den Wolf erwürgt haben, denn unsere Schwarzschnauze Topusch hatte Wolfshaare verschluckt und wäre selber beinah drauf gegangen.« »Der kleine Hirt, warst du das?« »Ja, und das Pferd hat uns gehört, und das Fohlen war das Fohlen von unserem Pferd.« »Und jetzt ist das Fohlen groß geworden und im grünen Tal angebunden?« »Ja, es ist groß geworden und im grünen Tal angebunden.« »Und erinnert es sich noch an seine rote Mutter?« »Vielleicht erinnert es sich, Pferde haben ja ein gutes Gedächtnis.« »Erzähl doch alles noch mal von vorn.« »Der Blitz schlug mit trockenem Prasseln gegen den Felsen, prallte ab und verschwand in der grünen Erde. Der graue Felsen war hart, und der Blitz hatte nicht mal ein paar Splitter von ihm abspalten können. Die Eiche nebenan erschrak ein bißchen, denn gewöhnlich schlagen Blitze in Eichen und verbrennen sie. Noch mehr erschrak ein langbeiniges, von Sternchen übersätes kleines Fohlen... es erschrak so sehr, daß es zur Mutter laufen wollte, doch vor Angst sah es sie nicht und lief nicht zur Mutter, sondern in die falsche Richtung, und das alte rote Pferd rief es mit zartem Wiehern...«


Deine Sippe

I-)u gefällst mir nicht, du Jämmerling, gefällst mir ganz und gar nicht, mein Sohn, mein Blut, mein Erstgeborener, meine Hoffnung - du taugst nichts, kennst keine Wut. Dein Großvater Ischchan, also mein Vater, hatte mal ein Pferdchen - klein, reinblütig, unansehnlich, unschön, nicht mal für die Armee wollten sie’s nehmen, hatten es für unbrauchbar erklärt, aber wenn ein anderes Pferd es überholte, platzte es vor Wut, flog dahin wie besessen, mit hell rasselnden Lungen, flammensprühenden Nüstern, es explodierte richtig vor Wut, so klein es auch war. Bei Ischchan mußte einfach alles böse sein - der Hund an der Kette, die Kinder, die Brennessel am Zaun und die Schlange im Vorgarten. Du aber taugst nichts. Wen immer ich frage, alle loben sie dich und lachen - gut seist du und gewissenhaft, sagen sie, na ja. Ihr Lachen aber trifft mich wie ein Messerstich ins Herz, verwundet mich, mein Sohn. Mein Vater, also dein Großvater, hat keine weisen Sprüche von sich gegeben, zum Denken hatte er sowieso keine Zeit, er war ein Mann der Tat, immerzu beschäftigt, aber einmal hat er meiner Stiefmutter ganz nebenbei ein Ding verpaßt, daß es war, als hätte er ihr das Haushaltsgeld hingeschmissen, und jetzt wiederhole ich seine Worte: Man darf weder so honigsüß sein, daß sie einen bei lebendigem Leibe verschlingen, noch so bitter, daß sie einen am liebsten gleich wieder aus-

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spucken. Dich haben sie lebendig verschlungen, mein Sohn, und immerzu verschlingen sie dich wieder. Du berufst dich auf das Gewissen, aber weißt du, für wen ein Gewissen gut ist? Für ein Raubtier. Bei dir aber geht es nicht um ein Gewissen, du bist einfach ein Jämmerling, das ist’s. Ganz Wanker war dem Ischchan dankbar, und was meinst du, wofür? Er konnte allen schaden. Das konnte er wirklich, du weißt es ja, die Angst vor ihm hielt wie ein Wirbelsturm alle im Bann von Wanker bis Bortschalu, von Bortschalu bis Kassach, jeden Augenblick konnte bei jedem x-beliebigen der Blitz einschlagen. Und alle empfanden es als große Gnade seitens Ischchans, daß der Blitz nicht einschlug; eine andere Gnade, einen anderen Nutzen hat er auch nie jemandem erwiesen. Allen Gutes getan hat dein anderer Großvater, mein Schwiegervater Awetik. Fremden überließ er die Bienen, den Garten, den Stiel für die Axt - einfach alles, er ging für den verheirateten Bruder zur Armee, bürgte für einen verurteilten Neffen. Eine Gottesgnade war er fürs ganze Dorf, was aber sagte sein jüngerer Bruder Gikor von ihm? »Wieso bürgt er für Sarkis, und mir kann er nicht mal einen anständigen Kastenwagen besorgen?« (Der Förster hatte von Gikor für eine gefällte Eiche einen ganzen Kastenwagen verlangt, er wußte schon, an wen er sich wandte, mit was für einer Sippschaft, was für einer Brut er zu tun hatte.) Dein Großvater Awetik, also mein Schwiegervater, hatte ja nichts anderes verdient, denk bloß nicht, auf sein Verhalten hätte man anders reagieren können! Hat sich je einer bei seiner Stute bedankt? Von wegen! Die Last abgeladen und mit der Peitsche eins auf den Bauch - hü! Die Last ist unser, um die schaumbedeckte Stute kümmert sich ihr Herr.

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Gewissen hin, Gewissen her, nichts als Gewissen, Gewissen innen. Gewissen außen, das ganze Gewissen ist Mumpitz, mein Sohn, du mein Sorgenkind, mein Unglück, meine Aufregung, mein lebenslanges Kreuz, mein Leid. Wenn ihr ein Mädchen seht, bleibt ihr mit feuchten Augen stehen, wenn ihr einen jungen Burschen seht, starrt ihr ihn mit offenem Mund an, über ein krankes Lamm vergießt ihr Tränen. Habt ihr ein Männerherz in der Brust, oder spielt da ein Barde auf seiner Sas? Dein Großvater Awetik ist langsam und verträumt, was weiß ich, ob er gut ist oder nur feige! Und wie kommt es, daß sich das bißchen von deren dünnem Blut - Wasser wäre wohl richtiger - gegen Ischchans wütendes, brodelndes Blut behaupten konnte, gegen dieses schmeichlerische, schlaflose, lebendige und rachsüchtige Räuberblut eines Vielfraßes, wie hatte ein jämmerlicher Tropfen von Awetiks Blut ein solches Blut unterkriegen können? Oder ist es so angenehm, mit untergeschlagenen Beinen dazusitzen, verträumt zu lächeln und zu glauben und zu hoffen, die Welt sei gut? Einen Ziegenbock seht ihr für einen Strauch an und einen Wolf für einen Ziegenbock. Aber ein Ziegenbock ist kein Strauch, ein Wolf kein Ziegenbock! Entweder - oder. Ihr aber sitzt da und wartet auf euer Paradies. Ihr möchtet, daß in der Abendluft Glocken erklingen, daß in der Stille ein Klosterquell murmelt und daß man euch in der müden Dämmerung schwer beladen dahin bringt, wo euch an diesem Abend Christi die Last abgenommen wird, fremder Dank den Atem benimmt, euch die Kehle zuschnürt. Danke, mein Pferd, du hast den Kindern einen Wintervorrat an Brot gebracht, wir wissen das sehr zu schätzen, nun aber hau ab, auf Wiedersehn!


Mensch und Tier unterscheiden sich durch das Gedächtnis, zwischen Mensch und Tier steht das Gedächtnis, weißt du das nicht? Hast du ein Gedächtnis, dann brennst du, bist du ein Mensch mit seinen Plänen, mit seiner Unrast, hast du aber kein Gedächtnis - da weidet eine Kuh, sie hat kein Gedächtnis. Gestern wurde ihr Kalb geschlachtet, aber sie weiß es nicht mehr. Da steht ein Baum, hätte der ein Gedächtnis, dann hätten auch seine lieben Verwandten eins. Die werden umgebracht, an der Wurzel abgehaun, benachteiligt, verhöhnt - sie laufen vor so einer Erinnerung davon, werden davonlaufen, alles vergessen und wieder benachteiligt werden, und wieder werden sie sich nicht erinnern, denn sie haben Angst, mit Fäusten auf die loszugehn, die sie verhöhnen und einen Raub mit einem größeren Raub heimzuzahlen. Ihr sagt - Liebe, sagt, wir lieben, ihr liebt. Was sollt ihr sonst auch tun, ihr liebt, weil es euch an Mut fehlt, zuzu beißen, zu schlagen, andre übers Ohr zu haun, zu hassen. Ihr fürchtet euch, zu hassen, eure Liebe weckt ihr mit einem Tuch, damit habt ihr euch die Augen verbunden, weil ihr Angst habt, jemandem ins Gesicht zu sehn und ihn dann zu hassen - am Ende sieht einer, daß ihr haßt, und erschlägt euch. Keine Bange, es stirbt sich nicht so leicht, und wenn ihr nicht wollt, sterbt ihr nicht, sollen sie sich nur ruhig an eurem Kopf die eigene Faust lädieren, dann wollen wir sehn, ob sie noch mal Streit suchen. Zeigt wenigstens einmal, daß ihr Männer seid, sollen sie euch nur zu bezwingen suchen und ihre ganze Kraft an euch auslassen, ihr aber beugt euch nicht, und wenn sie noch soviel Kraft drauf verwenden, mal sehn, ob sie noch einmal versuchen, euch unterzukriegen, sich noch einmal an euch herantraun. Meinem Vater hätten sie *3


eine Flamme in die Augen halten können, er hätte mit keiner Wimper gezuckt. Mein Vater hat nie was vergessen, hat nie jemandem was durchgehn lassen. Wie das Gold, das er an immer neuen Orten versteckte, so kam auch seine Erinnerung mal zum Vorschein, mal blieb sie verborgen, aber verloren ging sie nie - niemals. Irgendwo in seinem kleinen Körper hielt sie sich gut versteckt, wenn es aber an der Zeit war, holte mein Vater seine alten Erinnerungen hervor, und sie funkelten und blitzten wie ein blankgeputzter Säbel. So war mein Vater. Da hast du deine Verwandten - die einen und die andern. Jetzt sag, von wem du abstammst 1 Daß sie über meinen Vater allerlei Unsinn schwatzten, er habe angeblich, na du weißt schon, was ... das geschieht nur aus Angst, sie streicheln ihn, kraulen ihn, damit er ihnen nicht zufällig eins auswischt. Sie sind ja zufrieden, heilfroh sind sie, daß er nicht bei ihnen gestohlen, nicht einen von ihnen totgeschlagen, nicht sie zum Teufel gejagt hat. Na, du kennst das ja alles. Wie er angeblich der Katze einen Strick umgebunden und sie in den Oberstock geworfen hat, wo sie sich in den Teppich krallte, den er dann mit ihr herausgezogen, stibitzt hat. Oder wie er angeblich gerufen hat: »Kinder, Kinder, fangt das Huhn! Das verflixte Biest ist weggelaufen!«, um mir nichts, dir nichts ein fremdes Huhn, das fremde Kinder auf einer fremden Straße gefangen hatten, nach Hause zu bringen. Oder wie er angeblich hier seine Kuh verloren hat, hier wollte er sie verloren haben, und in Marneuli, in Georgien, hat er dann jemand beim Kragen gepackt. »Da ist sie ja, meine Kuh, da ist sie, ich hab sie gefunden!« Na ja, all das hat es gegeben, der Teppich hängt heute noch im Haus meines Bruders, die Kuh aber ist uns später wie24


der abhanden gekommen, weil du nicht auf sie aufgepaßt hast, denn du bist vom Stamme Awetiks, nicht vom Stamme Ischchans. Während du ein Buch gelesen hast, ist die Kuh verschwunden. »Grade eben war sie noch da.« - »Wann - grade eben?« - »Na grade eben.« - »War grade eben morgens, mittags oder abends?« Eine genaue Zeit existiert ja nicht für dich und deinesgleichen, ihr habt überhaupt kein Zeitgefühl. Die Zeit ist für ihn geschaffen worden, für meinen Vater, für Ischchan, er ist vor der Zeit davongelaufen wie vor einem tollwütigen Hund, und die Zeit hat ihn nicht eingeholt. Alles ging schnell, schnell, eins, zwei, so wie die Schwalbe ihr Nest baut, Eier legt, Junge ausbrütet und, halb aus dem Nest hängend, mit halboffenen Augen schläft, alles fix, fix, schnell, schnell, und kaum ist’s kühl geworden, formiert sie sich mit ihren Jungen, bereit zum Abflug. Ischchan gehörte zu Andraniks Truppe. Andranik zog ab, mit ihm seine Truppe, wer nicht mitging, blieb hier. »Ach, Andranik, Andranik!« Die seufzten immer noch: »Ach, Andranik!«, da trieb dein Großvater schon eine Herde von Koschakar nach Towus und eine von Towus nach Koschakar und verkaufte nebenher gestohlenes Vieh. Die ehemaligen Andranik-Anhänger jammerten immer noch: »Ach, Andranik!«, Andraniks Leute wurden der Reihe nach aufgegriffen, als Banditen behandelt, dein Großvater aber war schon in die Genossenschaft eingetreten und transportierte mit seinen Ochsen genossenschaftliche Steine. Er war kein Andranik-Anhänger und erst recht kein Bandit - er war kein Räuber und würde auch nie einer sein, er war in der Genossenschaft, jawohl. Einen Ochsen hatte er sich genommen, als er fremde Herden trieb, und den hatte er auch behalten, der andere Ochse war


von jeher unser, er stammte noch aus Großvater Beglars Zeiten, den hatten wir schon, bevor ich und mein Bruder auf die Welt kamen. Der dritte Ochse war er selber. Zusammen mit den Ochsen schleppte er die genossenschaftlichen Steine. Iwan Arsumanow legte ihm die Hand auf die hagere Schulter, heftete den bleiernen Blick auf seine Stirn und sagte: »Wieso haben sie dich eigentlich noch nicht aufgehängt, Ischchan?« Da zuckten bei meinem Vater die Brauen, er war zwar nicht groß, eigentlich sogar klein, aber wer merkte das schon? Muskulös und hager war mein Vater, aber daß er klein war, fiel keinem auf; wo immer er war, wo immer er sich aufhielt, er füllte alles mit seiner Person aus. In Rage geraten, beherrschte sich mein Vater mit Mühe, suchte unter Arsumanows Hand nach einer bequemeren Haltung, der aber sagte: »Dich haben sie immer noch nicht auf gehängt?« Mein Vater erwiderte: »Warum sollten sie? Bin ich eine Dörrbirne, daß ich aufgihängt werden muß, Junge?« Arsumanow: »Ich rede vom Galgen, Ischchan, vom Galgen!« Mein Sohn, mein Sohn... dich hätten sie schon wegen Andranik festgenommen, in Koschakar hätten sie dich für das Wegtreiben der Herde totgeschlagen, genauso in Towus, und dem Iwan Arsumanow wärst du bestimmt ins Netz gegangen. Du hättest den Arsumanow auf die Hand geschlagen, hättest seine Hand weggestoßen, und das hätte der dir nie verziehn. Das Volk verstummte, neugierig, wie es weitergehen würde, deinem Großvater aber trat der Schweiß auf die Stirn. »Nein, Iwan, über mich hat das Vollzugskomitee einen Sonderbeschluß gefaßt.« Der Großvater tat so, als griffe er sich unters Hemd, um den Beschluß herauszuziehn. Iwan Arsumanow sagte: »Holst du den Revolver raus oder 26


den Beschluß?« - »Aber Junge, werd ich deinetwegen zum Revolver greifen? Den Beschluß hol ich raus, natürlich den Beschluß.« Dein Großvater lachte. »Über mich hat das Vollzugskomitee einen Sonderbeschluß gefaßt«, fuhr dein Großvater lachend fort. »Ich soll gewissermaßen als Anschauungsmaterial erhalten bleiben, damit man mich den Schülern zeigen kann: Da, seht nur, was für Leute es vor der Iwanarsumanower Revolution gegeben hat!« Und dein Großvater verschlang Arsumanow mit den Augen: Was willst du eigentlich von mir? Na schön, es gab den Andranik, und ich bin mit ihm gegangen, heute gibt’s die Genossenschaft, jetzt gehör ich zu euch, bin ein Arsumanower, bin in der Genossenschaft. Und Arsumanow schlug mit derselben Hand, die er dem Großvater auf die Schulter gelegt hatte, noch mal auf dieselbe Schulter, als klopfe er Staub heraus, und lachte, wie’s schien, über den Staub. »Du bist wie ein staubiger Sack, noch so ein Staubiger Großvater.« Und das Volk lachte, und der richtige Staubige Großvater, Asso, der unglückliche Askanas, lachte ebenfalls. Ja, auch der lachte. Mein Vater hatte so viel Gold vergraben, wie beim Staubigen Großvater Unrat vor der Tür lag, aber mit den anderen lachte auch der Staubige Asso über Ischchan, denn er hatte ihn schon lange auf dem Kieker, jetzt aber hatten sie den Ischchan in die Enge getrieben, offensichtlich war es Zeit, ihn fertigzumachen. Stahl bricht schwer, aber er bricht, Kupfer läßt sich biegen, ohne daß es bricht. Du hättest deine stolze Schulter unter Arsumanows Hand weggezogen, und der unbeirrbare Arsumanow in seinen jungen Jahren hätte dir unweigerlich einen Denkzettel verpaßt. Mein Vater, dein Großvater Ischchan aber - nein, der hielt ihm seine genossen-

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schaftliche staubige Schulter hin, damit er drauf klopfen konnte, damit sozusagen Staub hochwirbelte, mochten sie dann niesen und verschwinden. Iwan Arsumanow lacht, und das Volk lacht mit ihm, und er sagt: »Na, Ischchan, diesmal bist du noch davongekommen.« Iwan lacht, nicht grade von Herzen, übers ganze Gesicht, sondern nur andeutungsweise - halb ist es ein Lachen und halb ein Zeichen, daß Ischchan trotzdem hängen wird, wie sehr er sich auch dreht und windet. Mit seinen eichelfarbenen Augen blickte er ruhig in die Runde, aber wenn einen sein Blick traf ... Dein nervöser Großvater beherrschte sich immer noch unter seinem Griff. »Was willst du, ich hab einen Sonderbeschluß vom Vollzugskomitee!« Dieser Iwan Arsumanow redete sogar Altersgefährten seines Vaters und seiner Onkel mit »junger Mann« an. Wo sollte er schon hin, dein Großvater, was sollte er tun? Mein Sohn, mein Sohn. Dein Großvater stand da, überließ ihm die Schulter, kalter Schweiß tropfte ihm von der Stirn, und er versuchte, alles in einen Spaß umzumünzen: ein Beschluß vom Vollzugskomitee. Der andre aber wollte von Spaß nichts wissen: Ziehst du etwa den Revolver? Meine Stiefmutter erzählt, er sei danach nach Hause gekommen, habe die Tür hinter sich zugemacht und sich wie ein angestochenes Stück Vieh auf dem Boden gewälzt. Ich hab’s nicht gesehn, sagt sie, andre haben’s auch nicht gesehn, die Leute wußten nur eins: »Bin ich etwa eine Birne, daß man mich auf hängen muß?« Oder aber: »Das Vollzugskomitee hat beschlossen, mich noch ein bißchen am Leben zu lassen, mich und meine Ochsen auszunutzen und mich erst später zu liquidieren.« Oder sie wußten von dem geklauten Teppich, von der Geschichte mit der Katze oder vom fremden Huhn,


von der Kuh und von tausenderlei ähnlichen Dingen. All das stimmt, ja doch, das war alles so, aber andererseits - was weiß ich, ob es wirklich so war oder nicht. Daß aber dieser baumstarke Mann vor allem Volk, vor allen Dörflern der Umgebung, denen aus Wanker, aus Akner und Achpat, reich geworden wäre, das hat niemand gesehn, davon hat niemand gehört. Gehört hat man nur von dem fremden Huhn und von solchen Geschichten. Ja, und da erzählt die Stiefmutter, er sei nach Hause gekommen und habe sich auf dem Boden gewälzt wie ein Stück Vieh, das nicht schreit, weil seine Sehnen durchschnitten sind, sich aber auf der Erde wälzt, weil sein Rückgrat noch nicht gebrochen ist. Warum war der Iwan Arsumanow wohl hergekommen? Er sollte mit dem Banditenunwesen Schluß machen. Er war hergekommen, hatte das Seine getan, nun ja, und sich dann noch ein, zwei Tage im Dorf herumgetrieben. Das Herz könnte einem zerspringen bei soviel göttlicher Ungerechtigkeit - warum nur gibt der Herr dem einen geradezu Schlangenverstand und macht den andern beschränkt und unbeweglich wie ein Stück Holz? Hör dir das an: Zum Milizchef dringt das Gerücht, in den Bergen von Koschakar seien Banditen gesehen worden. Der Milizchef rüstet seine Leute aus, nimmt auch Dörfler mit, die eine Waffe halten können, und begibt sich mit dieser Truppe nach Koschakar. Dort sollen die Banditen sein. Der Milizchef guckt durch den Feldstecher und sieht: eine freie Ebene, ein Bandit sitzt neben einem Hirten, ißt was, und ringsum weidet die Herde. Eine freie Ebene - was kann günstiger sein, die Miliz befindet sich ebenda, und der Bandit sitzt bei den Schafen, sieht, wie er cingekreist wird, und kann nirgendwohin weglaufen. Es ist heiß,


die Schafe haben sich zusammengeschart, der Bandit hat das Gewehr beiseite gelegt, er ißt zu Mittag. Der Milizchef läßt den Feldstecher sinken, nimmt das Gewehr von der Schulter und zielt auf das Brot, das der Bandit in der Hand hält. Die Jungen sagen: »Schieß nicht.« Der Milizchef: »Warum nicht?« Die Jungs: »Weiß Gott, aber schieß lieber nicht, du verscheuchst ihn nur!« Der Milizchef: »Ihr wißt es nicht, ich aber weiß es. Was sollen sie auf dem freien Feld schon ausrichten - zwei Mann gegenüber einer solchen bewaffneten Macht!« Die Jungs sagen wieder: »Schieß nicht!« Aber der Milizchef ballert los und schreit: »Ergebt euch, gegen uns habt ihr keine Chance!« Der Bandit husch! - zu den Schafen, verdrückt sich auf dem freien Feld, vor den Augen dieser Schlafmützen in derben Stiefeln, vor den Augen dieser Lahmärsche durch die Schafherde. Klar, daß man ihnen Begünstigung vorwarf - zwei Mann konnten doch nicht vor fünfzig davonlaufen. Nun ging eine Beschwerde nach der andern ab nach Moskau, nach Jerewan, nach Tiflis und nach Rostow an Arsumanow. Du aber, mein Sohn, hättest natürlich gesagt: Wenn die Kugel aber nun ein Schaf trifft oder wenn ein Kalb Fußschmerzen kriegt oder wenn ich mich hinter dem Hirten verstecke und die Kugel trifft den Hirten? Aber was soll das schon, mein Vater jedenfalls hat den Banditen um seine Pfiffigkeit und um seinen Mut beneidet. Arsumanow kam angefahren und hat alles aufgeklärt. Natürlich war da weder Verrat noch Begünstigung im Spiel - es standen einander einfach das freie Feld, die Schlafmützigkeit und Begriffsstutzigkeit einerseits und die Schlauheit und schnelle Auffassungsgabe andererseits gegenüber. Der Bandit hatte im Nu }°


begriffen, daß die Schafe für ihn günstig verteilt weideten. Nun jedoch zu Arsumanow. Wie er angekommen war, wie er die Kleidung gewechselt und sich unter die Banditen gemischt hatte, wußte niemand. Auch nicht, wie lange er unter ihnen blieb und was sie da zusammen machten. Aber als einer von den Banditen nachts nach der Waffe griff, legte er ihn sofort um; die schießen wollten, blieben dort liegen, die sich aber ergaben, brachte Arsumanow ins Manazer Gefängnis; er machte mit den Banditen reinen Tisch. Bevor er aber nach Moskau zurückkehrte, wollte er ein, zwei Tage in der Heimat ausspannen. Er hatte eine schwache Stimme, war kaum zu verstehen, es hieß, das komme von der Schwindsucht, aber er war nicht schwindsüchtig, nein, er hob einfach nicht die Stimme. Zu einem andern hätten unsere Dörfler bestimmt gesagt: »Sprich so, daß man dich versteht, hast du etwa die Zunge verschluckt?« Aber schließlich war das Arsumanow, der brauchte bloß mit der Wimper zu zucken, und alle verstummten. Er sagt was zu meinem Vater, mein Vater versteht ihn sehr gut, mein Vater kriegt einen schweißnassen Rücken, fragt aber doch zurück: »Was sagst du?« Und Arsumanow wiederholt: »An den Galgen gehörst du, Ischchan, an den Galgen!« »Sprich nur lauter, sag es lauter, damit die Leute es hören und ihre Freude haben.« So sagt Ischchan und lacht, dabei ist ihm das Herz in die Hosen gerutscht. Meine Stiefmutter erzählt, er sei gekommen, habe sich auf die Erde geschmissen und sich hin und her gewälzt. Deine nichtleibliche Großmutter, meine Stiefmutter, war ein dummes Weib, aber sehr lebenstüchtig und erst recht gerissen. Ich mag sie nicht, denn mir ist nicht recht, daß sie mich unter Entbehrungen aufgezogen


hat, aber allein danach sollte man eine Frau nicht beurteilen. Meine Stiefmutter geht sofort los und verbirgt das Gewehr an einer anderen Stelle, holt es aus seinem Versteck hinterm Balken hervor und versteckt es im Stall. Mein Vater, so erzählt sie, sei auf den Balkon getreten, habe eine Weile gesucht, habe das Gewehr nicht gefunden und sei in den Hof hinuntergegangen. Mit unhörbaren Schritten, wie ein Mondsüchtiger sei er gegangen, nein, nicht gegangen, geschlichen, und seine Augen seien wie blind gewesen, nichts habe er gesehn. Auf dem Pfad zwischen Haus und Stall sei er stehengeblieben und habe sich umgeblickt, erzählt sie, der dunkle Schlund des Stalls - die Tür stand ja offen - habe meinen Vater angezogen, mit Macht angezogen. Das Pferd habe geschnaubt, gezittert und sei dann ganz still geworden. Die Stiefmutter stand im Schatten, ohne sich zu rühren, und dachte nur an das eine: Hat sie nun Stroh übers Gewehr geworfen oder nicht? Mein Vater kam aus dem Stall und blieb auf dem Pfad zwischen Haus und Stall stehen, blickte sich um, sah aber niemand. Das Gewehr war weg. Meine Stiefmutter spürte ihr Ende nahen, in ihren Ohren dröhnte es, die Ohren taten ihr richtig weh davon. Der dunkle Schlund des Stalls habe meinen Vater angezogen, und wie! erzählte sie. Meine Stiefmutter biß sich in den Finger, man kann schon sagen, sie starb fast, das Pferd im Stall war mucksmäuschenstill. Mein Vater aber stand noch immer auf dem Pfad zwischen Haus und Stall, das Gewehr war nicht mehr hinterm Balken, es war im Stall versteckt und zog ihn an, zog meinen Vater, der in der nächtlichen Stille dastand, ohne was zu hören oder zu sehen, magisch an. Genau so hat Hamasasp meinen Vater im Traum gesehn. Am nächsten

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Morgen hat er den Traum seinem Bruder anders erzählt, hat was zurechtgeschwindelt, dennoch hat dieses Achpater Gesocks meinen Vater im Traum eben so gesehn. Sein und seines Bruders verstorbener Vater, der Müller, sei aus dem Schatten getreten, habe sich von einem Baum gelöst, Hamasasp bei der Hand genommen und hinter sich hergezogen. Komm, habe er gesagt, wir wollen zusammen einen Happen Brot essen, komm... Hamasasp habe gewußt, daß alles ein Traum, daß sein Vater tot war, doch der habe ihn nicht losgelassen und ihn in den Schatten gezogen, so sehr sich Hamasasp auch gesträubt, so wütend er den Vater zurückgestoßen habe, der Müller habe ihn hinter sich hergezogen, mein Vater Ischchan aber habe Hamasasp auch noch vorwärtsgestoßen. Geh, habe er gesagt, schließlich ruft dich der Vater und nicht sonstwer, geh, geh schon. Der Müller habe den Sohn festgehalten und ihn leise schnaufend vorwärtsgezogen. Warum aber, kannst du mir’s sagen, mußte der Achpater Hamasasp so was von meinem Vater träumen? Was hatte mein Vater da zu suchen, was hatte er mit dem Müller gemein? Überhaupt nichts, schließlich hat den Müller nicht mein Vater getötet, wozu sollte er später den Sohn zu ihm hinstoßen und sagen: Geh schon zum Vater, geh doch! Es hat sich ja herausgestellt, daß die Rizonz-Söhne den Müller umgebracht haben und daß der Müllersohn Hamasasp Arschak kaltgemacht hat, nicht selber freilich, dazu hat er jemand anderes angestiftet. Das ist eine alte Geschichte. Und jetzt sollte mein Vater drinhängen. Zwischen meinem Vater und den Achpatern gab es zwar mal eine blutige Geschichte, aber die liegt schon zehn, fünfzehn Jahre zurück, da waren alle Rechnungen längst beglichen, alles war in Ord33


nung. Meine Tante dachte nicht mehr an ihren Mann und mein Vater nicht mehr an seinen Schwager, dabei waren sie Freunde gewesen. Sie beteten um Vergebung für ihre Sünden, ehrten so die Toten, beweinten jeder die Seinen, lebten aber, nur der Müller - du, Müller, wolltest nichts selbst begleichen, und für das Blut unseres Schwagers hat die Regierung einen andern zahlen lassen -, weit weg haben sie ihn verschickt, so wurde hier abgerechnet, und jetzt stehst du aus deinem Grab wieder auf, ziehst deinen Sohn Hamasasp in dieses Grab hinein und läßt dir auch noch vom Vielfraß Ischchan helfen, schweigend und schnaufend strebt ihr beide aus der sonnenüberfluteten Lichtung in den Schatten, ins Dunkel. In kaltem Schweiß gebadet, war Hamasasp erwacht und hatte den Traum seinem Bruder erzählt, aber hätte er nur meinen Vater gesehen, wie der auf dem Pfad zwischen Stall und Haus stand der Rotfuchs zitterte im Stall, hinterm Flechtzaun stand sprachlos die Stiefmutter und biß sich in die Hand, mein Vater aber stand schweigend auf dem Pfad wie ein Geier und sah regelrecht das im Stall versteckte Gewehr. Mein Vater schwankte, und da hielt es die Stiefmutter nicht länger aus, sie schrie auf. Die Leute sagen, er sei zu sich gekommen, wie wenn ein Schlafwandler aufwacht. »Was ist denn das, Mädel?« habe er gesagt. Obwohl er neben der Stiefmutter stand, habe er sie erst jetzt bemerkt. »Was hat denn das Pferd, Darpasserin?« - die Stiefmutter stammte nämlich aus Darpas - »Warum bist du so naß, was ist passiert?« In dem Augenblick erscheinen schwatzend und lachend, etwas angeheitert, die Arsumanowschen Jungs, von Kopf bis Fuß in Lederzeug, das nur so knarrt und knirscht. Sie gehn an unserem Haus vorbei, bemerken 1 4


meinen Vater und bleiben stehn. Arsumanow bleibt stehn, seine Kumpel umringen ihn und bleiben auch stehn. Hinter ihnen, ein Stück weiter weg, steht Asso, ein Schwager unserer Verwandten, der Mann unserer Warduhi Askanas, ein ausgemachter Spaßvogel. Iwan Arsumanow sagt: »Ischchan, das Vollzugskomitee hat also über dich einen Sonderbeschluß gefaßt: Du seist keine Birne, die aufgehängt wird, stimmt’s?« Seine Kumpel lachen verhalten, genauso wie er, und der Mann unserer Warduhi Askanas lacht auch, aber es klingt jämmerlich: »Hihihi!« Ein Brot in der Hand, von dem er immer wieder abbeißt, die Peitsche unterm Arm, sagt mein Vater: »Ich komm von der genossenschaftlichen Arbeit, Iwan, und geh wieder zur genossenschaftlichen Arbeit.« Alle Kumpel von Arsumanow lachen, auch unser Asso lacht, meine Stiefmutter aber macht dem Asso Zeichen: Wie kannst du dich unterstehn zu lachen, du Unglückswurm, du kriegst gleich dein Fett! Und den gescheiteren von den Arsumanowern bedeutet meine Stiefmutter: »Geht im guten eurer Wege, ehe was Schlimmes passiert, und nehmt diesen Esel mit!« Von wegen! »Die Genossenschaft kommt wohl nicht aus ohne dich, bricht zusammen!« sagt Arsumanow, und seine Leute lachen. Den Mund voll Brot, sieht mein Vater beiseite. »Ich eß grade, Iwan, laß mich in Ruhe mein Brot essen.« Ich hab’s nicht gesehn, ich war damals noch ein kleines Mädchen, so wie heute deine Nanar, ich stand in einem dünnen Fähnchen vor den Ochsen. Die Stiefmutter hat es mir später erzählt. In schwarzes Leder gekleidet, mit ihren Lederjacken, die knarrten und knirschten, begleiteten sie Iwan Arsumanow lachend und schwatzend zum Zug nach Rostow oder auch nach


Moskau, mein Vater in seiner Wattejacke aber verließ den Hof, spuckte ihnen hinterher und ging mit der Peitsche unterm Arm zu seinen Ochsen. Das hat mir später die Stiefmutter erzählt, und die hat sehr bereut, daß sie das Gewehr woandershin gebracht hat. Mein Vater hatte mir eine Gerte in die Hand gedrückt und mich vor den Wagen gestellt, die Ochsen fraßen, er hatte jedem einen Armvoll Gras hingeworfen, damals war grade ein abscheulicher Herbst. Ich war so klein wie heute deine Nanar, durch die Schlucht fuhr ein Zug, ich wußte, daß Iwan Arsumanow drin war, und dachte mir: Wenn er mich doch wenigstens ins ferne Moskau mitnähme! Seine Frau hatte mich mal gesehen und freundlich gesagt: »Schau nur, Iwan, was für ein hübsches Mädchen, die kleine Waise.« Seine Frau war unfruchtbar, sie hatten keine Kinder. Meine Großmutter pflegte mich in ihr Tuch zu wickeln, weißt du, so: erst legte sie es um den Kopf, dann zog sie die Tuchenden unter den Armen durch und band sie auf dem Rücken zusammen - dieses Tuch war meine Rettung. Allen tat ich arme Waise leid. Nur Ischchan war blind und sah nicht, daß ich barfuß ging, nichts Richtiges anzuziehn hatte und in dem widerwärtigen Herbst an den Knien fror. Er arbeitete ja, hatte dauernd zu tun, wie sollte er da auf so was achten. Meinen Bruder hatte er zu einem Tischler in die Lehre gegeben, mich hatte er vor den Wagen gestellt, den er belud, riesige Steine wuchtete er aus der Erde und schleppte sie zum Wagen. Die Ochsen waren abgemagert und halb am Verrecken. Erst später, im Gefängnis, hat er gesehn, daß ich keine Schuhe hab, und hat geweint; wenn ich ihm Essen brachte, hat er gesehn, daß ich barfuß im Schnee lauf, und ist in Tränen ausgebrochen: Du Ärm36


ste! Bevor er ins Gefängnis kam, hatte er ein paar Goldmünzen zurückgelegt, die holte er unter den Schuppenbalken hervor und vergrub sie unter einem Baum, holte sie unterm Baum hervor und versteckte sie im Rauchabzug vom Herd. Gold sollte er haben? Was für Gold? Das sei nicht sein Gold, das gehöre dem Besitzer der Towuser Schafe und dem Besitzer der Koschakarer Kühe, deren Gold sei das, denen habe es immer gehört und gehöre es auch jetzt, er aber habe nur eine Wattejacke, zwei Arme und einen stinkenden Mund. Er lädt Steine auf und wettert, wettert... Gleich wird er platzen, denk ich mir. Die ganze Sippschaft, die Lebenden und die Toten, und die Arsumanower, alle hat er durcheinandergebracht und beschimpft sie auf Teufel komm raus. Und arbeitet. Die Deinen, die Hiesigen, dein Vater, dein Großvater, deine Onkel, die schimpfen nicht, aber verstehen sie denn was von der Arbeit, daß sie schimpfen könnten? Wenn sie wenigstens einmal in Wut geraten, wenigstens einmal einen Stein von der Straße aufheben würden, sie brauchten ja nicht damit auszuholen, wenn sie ihn nur aufheben würden, als wollten sie ausholen - aber nein... ob einer sie abstechen, ob einer sie zusammenschlagen will - soll er doch. Die Deinen sind so, als wenn sie Bäume wären, ja, genau so sind sie. In dem schweren Jahr, in dem kalten Herbst, als jeder, wenn er ein Mensch war und kein Baum und kein Stück Vieh, rauben mußte, um versorgt in den Winter zu gehen, haben sie deinen Vater zum Hirten gemacht, zwölf Jahre war er damals alt, aber er war kein Hirt und kein zwölfjähriger Junge, er war ein Baum. Wie ein Baum stand er da und zog ein dummes Gesicht. Nichts kann er - weder als erster angreifen noch wei37


nen oder auch nur die Beine in die Hand nehmen und weglaufen, kurz, er kann sich nicht widersetzen, wie ein Baum steht er da, macht ein dummes Gesicht und sieht zu, wie ihm vor der Nase das Vieh fortgeschleppt wird. Und wer schleppt es fort, wer treibt es weg, weißt du’s? Mein Vater in einer Wollkapuze, damit ihn keiner erkennt. Der Bengel aber ist ein Baum, ein Strauch, ein Stein, ein Gottesknecht. Mein Vater sieht, nein, das ist kein Baum, kein Strauch, das ist ein Mensch, der vor ihm steht, also sagt er zu deinem Vater: »So ein großer Bengel und steht hier rum, hilf mir lieber!« Aber dein Vater steht da und macht nur große Augen. Und schweigt, sagt kein Wort. Aus Angst oder weil ihn das Gewissen plagt? Wie alles ausging, weißt du ja: Mein Vater erkannte in der Herde den Büffel seiner Schwester Manischak, blieb stehen und spuckte wütend aus. »Bist du nun erwachsen oder ein dummes kleines Kind? Wie kann einer bloß so ein Jammerlappen sein, pfui Teufel! Von wem stammst du ab, du Blödling, wer ist dein Vater?« Dabei war es der Sohn desjenigen, der zehn Jahre für den Bruder gedient, der dem Förster versprochen hatte, ihm anstelle seines Neffen einen Kastenwagen zu baun, der in Kassach von Howhannes Tumanjan für einen erschlagenen Türken als Pfand zurückgelassen worden war und bei der Heimkehr vom Tod seines Bruders Hakop, also des Mannes von Ischchans Schwester, erfahren hatte, worauf er sofort die Sorge für die Waisen und die Witwe aufgebuckelt bekam, um sie nicht wieder loszuwerden, denn Sorge sucht sich schon den passenden Buckel. Hinzugekommen war dann die Sorge, wie er den Söhnen seines Bruders Ossep eine Stelle verschaffen und sie auf eigene Beine stellen konnte, und ... und ... und ..., daher l*


heiratete er auch spät, er lebte ja nicht sein eigenes Leben, er gehörte nicht sich selbst, er gehörte andern, eigentlich hätte er überhaupt nicht heiraten sollen, denn was, um Himmels willen, konnte aus dem Sohn werden, den er mal zeugen würde - ein Opferlamm, ein einsamer Baum, eine Vogelscheuche -, höchstens die Vögel würden vor dem erschrecken, sonst bestimmt niemand. Wenn dem kleine Kinder eine Mütze weggeschleppt haben, dann ist sie weg, haben sie sie nicht weggeschleppt, dann hat er sie noch auf. Meine Tante väterlicherseits, ich hab es schon gesagt, hatte Pech mit ihren Männern: Den einen haben die Achpater Unmenschen umgebracht, den andern hat auf der Tenne ein Pferd zerquetscht, aber auf der anderen Seite hat sich Ischchan um seine unglückliche Schwester gekümmert, auf der anderen hat Awetik, dein hiesiger Großvater, für die Frau seines ums Leben gekommenen Bruders gesorgt und die ganze Feldarbeit für sie gemacht, Awetiks Sohn aber, dein Vater also, hat in dem schweren Jahr die Herde gehütet und zugesehn, wie ihm das Vieh vor der Nase weggetrieben wurde. »Von wem stammst du ab, du Blödling? He? Schön dumm bist du, Ehrenwort, das reinste Kalb, hätt ich eine Tochter, ich würde sie dir zur Frau geben, Teufel noch mal!« Aber eine Tochter hatte er, ich war es, klein wie jetzt deine Nanar, meine Großmutter wickelte mich immer in das Tuch, zog die Tuchenden unter den Armen durch und band sie auf dem Rücken zusammen - das Tuch war meine Rettung in diesem abscheulichen Herbst. Mein Vater wuchtete Steine auf den Wagen neben dem alten Friedhof von Chatscher, ich aber stand vor dem Wagen, durch die Schlucht fuhr ein schöner Zug, fuhr in die Stadt Moskau, in die Stadt Jerewan, in die Stadt

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Tiflis, meine herzliebe Mutter aber lag hier auf dem Friedhof. Meine Stiefmutter hatte eine richtige Eulennatur, wenn sie sich mitten in der Nacht aufplusterte und losheulte, hieß das, irgendwo floß Blut. Übers Gartentor gelehnt, fragte sie mich: »Wo ist Vater?« Es war kalt, nachts überzogen sich die Pfützen mit Eis, mein Vater hatte mich nach Hause geschickt und gesagt: »Geh schon!«, selber aber war er mit den Ochsen zur Schlucht gegangen, die Ochsen sollten dort über Nacht im Warmen bleiben. Die Stiefmutter sagte: »Unser Pferd spielt verrückt!« Das Pferd hatte sich plötzlich losgerissen, war vom Hof gestürmt und im Nebel verschwunden. Die Stiefmutter sagte: »Warum hast du Vater allein gelassen, sie wollen ihn doch umbringen.« Arsumanows Kumpel kamen beschwipst die Straße lang, erblickten meine Stiefmutter, erkannten sie und lachten. »Einstweilen schenken wir dir das Leben deines Mannes, Darpasserin, nutz ihn, wohl bekomm’s!« Meine Stiefmutter fragte nebenher, als wär es nicht wichtig: »Ihr habt wohl den Iwan zum Zug gebracht?« Sie aber hatten im Bahnhof einen zur Brust genommen, während sie auf den Zug warteten, und gaben ihr lachend zur Antwort: »Wir haben ihn begleitet, weg ist er, bis er wiederkommt.« Da sagte die Stiefmutter zu mir: »Alles Schwindel. Iwan war bei ihnen.« Die Stiefmutter sagte: »Iwan ist hier, im Dorf ist der Iwan.« Sie sagte: »Sie werden deinen Vater umbringen.« Doch der Vater kam zurück, lautlos tauchte er aus dem Dunkel, räusperte sich, und die Stiefmutter schickte mich nach Wasser, flüsterte mir zu: »Sag Vater nichts vom Pferd.« Ich war aber noch im Garten, da hörte ich schon seine Stimme: »Wo ist das Pferd, Darpasserin? Ich 40


frag dich: Wo ist das Pferd?« Wahrscheinlich sagte sie, sie habe es jemand gegeben, denn ich hörte: »Du lügst, gewissenloses Frauenzimmer, wem hast du’s denn gegeben?« Ich wartete, bis mein Krug voll war, in der Nähe hatten sich Bengel zusammengerottet, sie lärmten herum, als würden sie sich um was raufen, ich begriff nicht, was sie machten, und hatte Angst. Eine barfüßige Waise, ohne Kleid, nur in Großmutters Tuch gewickelt. Plötzlich riß sich dort eine Katze los und rannte brennend davon. Sie hatten sie mit Petroleum übergossen und angezündet. Hatten sie angezündet und waren auseinandergelaufen, hatten sich in den Häusern versteckt, und ich war auf der kalten, dunklen Straße allein mit dieser Katze - sie rast hierhin und dahin, möchte vor sich selber davonlaufen, stürzt zum Friedhof, ist für einen Moment verschwunden und läuft plötzlich wieder an mir vorbei, feurig lodernd und weinend wie ein Kind. In wessen Schober ist sie wohl geschlüpft, wohin ist sie verschwunden, wo ist sie erloschen? Ich steh da wie betäubt. Bestimmt ist sie verendet, denk ich mir, und gleich wird sie wie ein Gespenst, wie ein böser Geist erscheinen und sich auf mich stürzen. Da steh ich nun, ganz in mich verkrochen, kann mich nicht rühren und warte, daß eine Tür aufgeht. Und tatsächlich, eine Tür ging auf, Großmutters Tür, und heraus trat mein Stiefbruder. Gott sei Dank, dachte ich, jetzt gehn wir zusammen nach Hause, aber der Junge ging nur bis zur Quelle, kreischte auf und rannte heulend zurück, als hätte ihn ein Ungeheuer gepackt. Gar nichts war passiert, er war einfach ein Angsthase, die Straße brauchte nur leer zu sein, und schon rannte er schreiend nach Hause, spillerig und 41


gelb, mit aufgerissenen Augen. Ich frag ihn: »Wovor bist du denn erschrocken, du Maus?« Ihm war das Herz in die Hosen gerutscht, er warf sich auf die Liege und zog die Beine an. Meine Stiefmutter pflegte von ihm zu sagen: »Er begreift alles, deshalb hat er Angst.« Er begriff aber überhaupt nichts und hatte doch Angst. Aber wie sonst konnte die Darpasserin das Kind rechtfertigen, das sie mitgebracht hatte, wie sonst konnte sie es verteidigen? »Er begreift alles, da hat er eben Angst, du und dein Bruder aber, ihr begreift nichts, also habt ihr auch keine Angst.« Ich und mein Bruder, wir haben keine Angst, wir dürfen keine Angst haben, wir sind Waisen, uns tröstet niemand, unsere aufgesprungenen Lippen benetzt niemand mit Wasser, und die einzige, an deren weiche Schulter wir uns mit unsern verwaisten Köpfen hätten schmiegen können, lag auf dem Friedhof, hatte uns hungernd und frierend zurückgelassen, war selbst dahingegangen. Meine Stiefmutter hatte Rührei mit Tomaten für ihr Kind gemacht, ich aber war kein Kind, mich bewirtete sie mit der guten Nachricht: »Vater ist das Pferd suchen gegangen, in seinen Tod ist er gegangen. Wenn doch wenigstens dein Bruder schneller heimkäme, dann könnte er den Vater nach Hause holen, die wollen deinen Vater umbringen.« Mein Bruder war damals in Manaz bei einem Tischler in der Lehre. Natürlich würde er weder todmüde noch hungrig wie ein Wolf nach Hause kommen, und auch das Gespenst der brennenden Katze würde ihm nichts anhaben, denn er begriff ja nichts. »Wenn er kommt, schick ich ihn den Vater suchen.« Doch es gibt noch einen Gott im Himmel: ihr kluges Kind zog eine Grimasse und übergab sich: Gott hatte ihm einen Wurm ins Rührei geworfen, denn er hatte gesehn, was für 42


einen Unterschied die Stiefmutter zwischen der Stieftochter und ihrem gelben Mickerling machte. Mein Bruder kam nach Hause und plumpste schwer wie ein Sack mit nassem Kalk auf einen Stuhl, ihm fielen vor Müdigkeit die Augen zu. »Warum weinst du denn, Mädel?« Ich weine aber, weil ich mit bloßen Füßen auf dem kalten Boden stehe, weil mein Stiefbruder schreckhaft und gelb ist, weil mein böser Vater sich in. der Nacht wer weiß wo rumtreibt und weil nun mein leiblicher Bruder das Rührei ißt, meine Stiefmutter hat es ihm vorgesetzt, Gift hat sie ihm vorgesetzt, unser Stiefbruder aber verdreht die Augen und wird gleich wieder brechen. Doch sein Magen ist leer, er kann nichts mehr von sich geben, der Junge ist ein einziges zitterndes Herz und verstörte Augen. Indessen sitzt in dieser schrecklichen Nacht, schwer wie aus Lehm, mein richtiger Bruder neben mir - warum weine ich da? Auf der Straße hatte mich ein tödlicher Schauer überlaufen, aber da war ich allein gewesen und hatte mich nicht mal getraut aufzuschrein, jetzt sitzt mein Bruder neben mir, und ich kann meinen Tränen freien Lauf lassen, deshalb weine ich. Plötzlich schlägt sich die Stiefmutter auf die Schenkel, klopft sich drauf und ruft erschrocken: »Blut, Blut, Blut!« Ruft es noch dazu in ihrem Darpasser Dialekt. Wie ein angeschossener Vogel reißt sie lautlos den Mund auf, doch ich höre deutlich: »Den Ischchan haben sie erschlagen - erschlagen haben sie den Ischchan.« Wie herzlos war sie doch! Da jagte mein Bruder dem Stiefbruder einen Schreck ein. Warum nenne ich den Unglückswurm nur Stiefbruder? Mein Bruder jagte dem Bruder einen Schreck ein. Sie waren gleichalt, aber der eine war ein ängstliches Seelchen und der andre 41


schwerer, nasser Lehm. Und der aus Lehm sagte: »Der Teufel ist in deine Mutter gefahren!«, der andre aber sah in dem nächtlichen Haus ohnehin alles so: Der Teufel hatte die Flamme bewegt, schweigend war er durch die Ecken gehuscht, durch die Ecken und hinein in die Darpasserin. Hätte einer in diesem Augenblick »Hu!« geschrien, dann hätte der arme Junge seinen Geist aufgegeben, denn es gibt noch einen Gott auf Erden, der hatte dem Kind eine Mutter gegeben, für ihn war sie ja die Mutter, nur für mich war sie eine Stiefmutter, um ihn kümmerte sie sich, seine Ängste beschwichtigte sie, sie hat ihm auch noch ein Mädchen aussuchen und für ihn um ihre Hand anhalten müssen, hat später die Schwiegertochter so lange an den Zöpfen zerren müssen, bis der Sohn an ihr eine gehorsame Frau hatte. Für mich aber reichte Großmutters Tuch, sogar das war noch zuviel, denn die Haut eines Waisenkinds ist dick. In dieses Tuch gehüllt, steh ich neben den Ochsen vor dem Wagen. Und plötzlich ruft Ischchan: »Na los, Asso, mach schon, hol dich der Teufel!« Das war aber bereits am nächsten Tag. Am nächsten Tag oder an einem der nächsten Tage. Das Pferd hatte er gefunden, hergebracht, im Hof angebunden, mein Bruder war zu seinem Tischler gegangen, der Stiefbruder schlotterte im Garten vor Angst, doch er fürchtete sich vor Ischchan und ging nicht zur Stiefmutter, um sich an ihren Rockzipfel zu klammern, die Stiefmutter aber stand wieder am Gartentor und greinte. »Ischchan müssen sie erschlagen, erschlagen werden sie den Ischchan.« Ich also steh bibbernd vor den Ochsen, und mein Vater lädt Steine auf den Wagen. Er lädt auf. Und fiebert am ganzen Leibe, Arsumanow hat ihn verletzt und 44


ihn so zurückgelassen. Plötzlich ruft er, einen Stein in der Hand, noch nicht aufgerichtet: »Na los, Asso, mach schon, hol dich der Teufel!« Auf einmal seh ich, wie zwischen zwei Grabsteinen eine Gewehrmündung zum Vorschein kommt, zitternd, eigentlich nicht mal zitternd, sondern hin und her schwankend. Wie ein Ast schaukelt, wenn ein Habicht von ihm auffliegt, so schaukelte das Gewehr zwischen den beiden Grabsteinen. Wer immer dasein mochte, bestimmt war ihm das Herz in die Hosen gerutscht, und seine Hände konnten das Gewehr nicht f esthalten. Wie wir näher hinsehn, ist es der Staubige Großvater, der Mann unserer Warduhi. »Los, los, los!« Ohne sich aufzurichten, geht mein Vater auf ihn zu. »Einen guten Platz hast du dir ausgesucht, tüchtig, Asso, schieß doch, Himmelarmund ...« Asso richtet sich zu voller Größe auf, und das Gewehr in seiner Hand hüpft regelrecht. »Schieß doch, keine Bange, schieß!« »Den Hals soll sich brechen, wer dich ausgeschickt, sich auf dich verlassen hat, schieß endlich, Asso-dshan.« Er packt den Gewehrlauf, zieht ihn zwischen den Grabsteinen hervor und schlägt diesen Riesen, der doppelt so groß ist wie er, mit dem Kolben, wie mit einem Knüppel, zu Boden, haut dann abwechselnd mit dem Kolben und dem Fuß zu, mit dem Kolben und mit dem Fuß, beschimpft Asso, flucht auf Teufel komm raus. »Na, ist der Ischchan tot? Merkst du, wie tot der Ischchan ist?« Flucht, was das Zeug hält, und nichts wie los zum Dorf. Der Darpasserin zischt er noch durch die Zähne zu: »Sag ihnen, sie sollen kommen und ihr Aas mitneh-

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men, sonst verreckt er hier, das wär schade, dann hätte Wanker keinen Hanswurst mehr.« Ich hab das nicht gehört. Ich stand bei den Ochsen vor dem Wagen, der arme Askanas brüllte wie ein krankes Vieh, Ischchan hatte einen Stein vor die Räder gelegt, die Ochsen hatten den Wagen verrückt, jetzt war kein Stein mehr vor den Rädern, gleich mußte der Wagen losrollen, die Ochsen zerquetschen und mich dazu, daß sich mein schweres Schicksal erfüllt. Ich aber steh wie versteinert, stocksteif vor den Ochsen. Aus der Stadt, durch die Schlucht, fährt indessen fröhlich pfeifend der Zug nach Moskau, und mein Herz sagt mir, daß Arsumanow überhaupt nichts von Ischchan will und daß nicht er den unglückseligen Asso ausgeschickt hat. Und mein Herz sagt mir: Hätte mich doch Arsumanow zu seiner guten Frau in die Stadt Moskau mitgenommen, dann müßte ich nicht vor diesem Wagen rumstehen. Später dann, als ich schon meinen eigenen Haushalt hatte und die Stiefmutter sah, daß ich nicht auf ihr verstecktes Gold erpicht war, nicht darauf hoffte, da hat sie mir alles erzählt. An dem Tag hatte mein Vater lange im Haus rumgewirtschaflet und war schließlich eingeschlafen. Die Stiefmutter erzählte: »Für einen einzigen Moment hat er die Augen zugemacht.« Sie erzählte: »Er hat gesagt: >Da haben sie ja dem Richtigen ein Gewehr anvertraut. Mit der einen Hand hält er die Hosen fest, und mit der anderen.. .< Und dann sind ihm für einen Moment die Augen zugefallen.« Nein, das hat er später zu Askanas’ Mutter gesagt, zu Muttchen Woski, einer guten, unglücklichen Frau. Sie war die einzige im Dorf, die meine geschwollenen 46


Füße sah und mein Waisenlos, aber was konnte sie schon machen, sie borgte sich ja selber tagtäglich Brot, mal bei dem einen und mal bei dem andern, manchmal hab auch ich von dem Brot was abbekommen, meistens aber hat ihr niemand was gegeben, denn obwohl sie nur pumpen wollte, war es fast so wie Betteln, und sogar wenn sie’s zurückgegeben hätte - wer hätte ihr Brot schon essen mögen. Im Vorbeigehn hat mein Vater, zu ihrem Schuppen gewandt, gesagt: »Auf dem Chatscherschen Friedhof liegt er, holt euch euern Krieger, mit der einen Hand hält er das Gewehr, mit der andern zieht er sich die Hosen hoch.« Meine Stiefmutter erzählt: »Für einen Moment hat er den Kopf aufs Kissen gelegt, einen Moment hat er geschlafen oder auch nicht, plötzlich aber ist er aufgesprungen, wie von einer Natter gebissen. >Herrje, die Einsiedlerklause!<« Die Stiefmutter ist sofort zur Tür raus, zu meiner Großmutter. »Nany-dshan, er hat >Einsiedlerklause< gesagt! O weh, Nany-dshan, das führt zu nichts Gutem!« In der Einsiedlerklause hat es, bevor mein Bruder und ich geboren wurden, mal ein großes Blutbad gegeben, und das Volk traut sich nicht, darüber zu reden, denn wer immer davon gesprochen hat, war bald darauf tot, kam durch einen Unglücksfall oder sonstwie unerwartet ums Leben. Meine Großmutter aber sagte zur Stiefmutter: »Versteck das Gewehr nicht, mein Sohn hat seinen Feind gefunden, komm ihm nicht in die Quere!« Mein Vater hatte für einen Moment die Augen geschlossen und wie im Traum gesehn: Der Achpater sitzt auf einem Stein und horcht, wann Assos Schuß knallt und Ischchans Leben beendet ist. Er horcht in 41


seinem Achpat - oberhalb von Akner und Wanker, am andern Ende der erstarrten Manazer Schlucht -, er hat dem Staubigen Askanas das Gewehr in die Hand gedrückt und sitzt jetzt in seinem Achpat, ist zur Einsiedlerklause gegangen, hat sich auf einen Stein gesetzt und wartet auf den Schuß. Ein abscheulicher Herbst war’s. Die Bäume kahl, schwarze Krähen flattern umher, in den Bergen ist Schnee gefallen, die Senken und Schluchten sind totenstill - wenn einer in Wanker eine Nuß mit den Zähnen knackt, hört man’s in Achpat. Das hat mir dann schon meine Großmutter erzählt. Als alles vergessen war, hinter uns lag, und mein Wissen kein neues Unheil über mein Waisenhaupt bringen konnte, hat mir Großmutter das alles erzählt, weinend, während sie mir die Haare zu einem Zopf flocht. Mein Großvater war Geistlicher gewesen, also war Großmutter eine Popenfrau, in ihrem Haus gab es die Heilige Schrift. Als meine Tante, Großmutters Tochter Manischak, in Achpat Witwe geworden und mein Großvater gestorben war, kleidete sich Großmutter in Schwarz, zog sich ins Haus zurück und wartete schweigend, daß der Tod sie holen käme, aber sie hat noch lange gelebt und wußte immer gut Bescheid über alles, was hier geschah - wer wen drangsaliert, wer sich wessen Frau bemächtigt hat, wer wo im Hinterhalt liegt, wessen Vieh jemand abstechen will und wen woher eine Kugel treffen wird. Unseren Schwager aus Achpat, den Mann meiner Tante Manischak - wie er hieß, hab ich vergessen, das war noch vor meiner Zeit, der Zeit meines Bruders und unserer Stiefmutter und sogar noch bevor meine Mutter in unser Haus kam -, unseren Achpater Schwager also hatten der Müller und dessen Sohn Hamasasp erschlagen. Daß er Hamasasp hieß, ist nicht


geschwindelt, das stimmt. Durch ganz Wanker, dann durch Akner und über den schwarzen Acker am Großen Stein ist mein Vater gelaufen und hat in Richtung Achpat geschrien: »Hamasasp, Hamasasp, Hamso... Hamasasp, Hamas ...« Ich stehe vor dem Wagen neben den Ochsen, in der Hand eine leichte Kindergerte. Vor den Rädern ist kein Stein, der Wagen, den Ischchan beladen hat, drückt auf die Ochsen, gleich wird er sie, die Ochsen, zerquetschen und mich dazu. Na, denk ich mir, der Ischchan wird mich umbringen. Ich denk mir, ich geh in die Stadt, verzieh mich jetzt einfach und frage mich durch, bis ich rausfinde, wo mein Bruder in der Lehre ist, finde ihn, wir fassen uns bei der Hand und gehn weg, kehren für immer diesem Ischchan, diesem Wanker und dieser Stiefmutter den Rücken. Der arme Askanas stöhnt und stöhnt, und plötzlich seh ich, er will aufstehn wie ein frühlingsmageres Stück Vieh hat er den Hintern von der Erde gehoben, aber auf die Beine kommt er nicht, er fällt wieder um. Schließlich setzt er sich. Hat sich aufgesetzt und guckt, guckt, sieht aber nichts und sagt: »Da haben wir’s«, sagt zu sich selber: »Da haben wir’s.« Dann bemerkt er mich. »Töchterchen?« Er bricht in Tränen aus und schluchzt wie ein Kind. »Hast du gesehn, was dein Vater mit mir gemacht hat?« Was war ihm denn andres übriggeblieben, meinem Vater? »Der schreckt vor nichts zurück, kennt keine Scham.« Er weint und will aufstehn, aber das tut weh, und so weint er wieder. 49


Er sagt mir, leg einen Stein vor die Räder, und das hab ich gemacht, aber stell dir vor, deine Nanar hätte einen Stein davorlegen sollen. Sitzend, wie ein Kind, kam er angekrochen, riß sich zusammen und legte selber den Stein hin. Und weinte so häßlich. Dann mußte er noch die Ochsen losbinden, mußte sich noch damit plagen, sitzend die von Ischchan fest zugezogenen Knoten zu lösen, und weil ihm das nicht gelang, mußte er noch mal bitterlich weinen, und dann mußte ihm der Ochse noch auf einen Fuß treten, und er mußte noch mal aufheulen, darum sag ich auch, daß Tiere ein gutes Gewissen haben, bei einem Mann aber, noch dazu einem Waschlappen, sind Mitleid und Gewissen nichts wie Rotz. Als wenn ein Schuß losgegangen wäre, kam ganz Wanker auf die Straße gestürzt und rannte los - es sah so aus, als wäre ein Krähenschwarm von schwarzen Ackerflächen aufgeflattert. »Hamasasp, Hamasasp, Hamasasp.« Übers Pferdemaul gebeugt, blind für alles ringsum, sprengte Ischchan über die Äcker, stürmte weiter, das Pferd peitschend. Der Tod ist gewöhnlich blind und sieht nur den von ihm Gezeichneten, rollt dahin wie ein blinder Stein - rollt über den Kopf des einen hinweg und trifft - bums! - einen andern. Ischchan hatte nur die Einsiedlerklause vor Augen und den dort auf einem Stein sitzenden Hamasasp. »Hamasasp, Hamasasp, Hamasasp..., sagt dem Hamso, er soll weglaufen... Hamas...« Wie eine aufgeschreckte Herde rennt das Volk über die Äcker. Die Leute haben alles satt: die Dieberei, den Verrat, die Morde - sie rufen »Hamasasp«. Von Akner schallt es bis Achpat: jo


»Sag dem Hamso, er soll weglaufen, weglaufen... Hamasasp, Hamasasp ...« Auch ich möchte mitrennen und schreien, auch ich möchte in die Einsiedlerklause. Was aber soll mir die Klause, was hätte ich arme Waise da zu erwarten? Indessen quält sich dieser Unglückliche hier und weint, zittert zu Füßen der Ochsen und weint, und Ischchan hat ihn nicht einmal bemerkt, hat durch ihn hindurchgesehn, als wäre er für ihn Luft, und ist weitergeritten. Das Volk hinter Ischchan her: »Sagt dem Hamasasp ... dem Hamasasp... dem Hamas...« Sie haben’s ihm gesagt. Sein Vater hat es ihm im Traum gesagt, und schon vorher hat er sich selbst gesagt, daß Ischchan eines schönen Tages kommen wird. Sie beide, Ischchan und Hamasasp, haben beim Bau der Eisenbahn gearbeitet, später zusammen bei Andranik gekämpft - es waren wirre Zeiten - und sich dann noch irgendwo gemeinsam geschlagen. Und die ganze Zeit haben sie einander beobachtet. Mein Vater hat ihn durchschaut, und er hat über meinen Vater Bescheid gewußt. Als die Leute aus Akner heraus sind, noch unterwegs nach Achpat, bleiben sie auf einem Hügel wie festgeschmiedet stehen ganz so, als pralle Wasser gegen einen Damm. Hamas schießt aus der Einsiedlerklause, er tötet das Pferd unter meinem Vater und schreit, das Gewehr schwenkend: »Komm nicht näher, Ischchan, ich kenn kein Erbarmen!« Mein Vater, so sagen sie, sei lautlos und wie ein herabstürzender Stein in der Schlucht verschwunden, und als er trampelnd bei der Einsiedelei herauskam, sei es gewesen, als hörte man den Ruf der Nachteule. Hamasasp, sagen sie, habe aufgebrüllt und sei über die Hügel davongelaufen, mal auftauchend, dann wieder verschwindend. 5*


Hamasasp rennt also auf Achpat zu. Der Priester aber hat sich im Kloster eingeschlossen. Dort sieht man heute noch die Spur von der Kugel meines Vaters über der Tür. Ja, Hamasasp rennt zur Kirche, und der Priester sagt von drinnen zu ihm: »Dich kann höchstens Howhannes Tumanjan in Dsech noch retten, sonst niemand.« In dem Augenblick dreht sich mein Vater um und schickt noch eine Kugel zum Müllerhaus - Hamas’ Bruder erstarrt dort, der Junge ist sanft und harmlos, denn, hat der Herrgott einen Bruder schon als argen Bösewicht zur Welt kommen lassen, so macht er aus dem andern ein Unschuldslamm. In all diesen Dingen hat sich Großmutter gut ausgekannt, schließlich war sie eine Popenfrau, und in ihrem Haus gab es die Heilige Schrift. Meine Großmutter sagte zur Stiefmutter: »Die Einsiedelei? Mein Ischchan hat unsern Feind gefunden, komm meinem Sohn nicht in die Quere!« Meine Tante väterlicherseits, Manischak, war in Achpat verheiratet, verheiratet als sechzehn-, siebzehnjähriges Mädchen, neben ihr liegt der Erstgeborene und schläft. An den Namen des Mannes erinnere ich mich nicht mehr, aber ich weiß von ihm nur Gutes: er hatte einen leichten Gang, den Hemdkragen offen, frühmorgens ist er in den Haselnußhain bei der Mühle gegangen, Nüsse schütteln. Später sollte mit dem Kind auf dem Arm seine Frau nachkommen, das Kind würde mit den Nüssen spielen, und sie würden alle im Gras verstreuten Nüsse aufsammeln. Als die Frau kommt, sieht sie ihn unterm Baum liegen, blutüberströmt, schon tot. Mit ihrem Eheleben hatte meine Tante Manischak überhaupt kein Glück, ihren hiesigen Mann, Hakop, den Bruder deines Großvaters, hat an einem weit zurückliegenden Festtag in stechender September-

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sonne auf der Tenne ein Pferd getötet. Was aller Welt Freude bringt, verkehrt sich für uns in bitteres Leid. Was aber ist geschehen, wie ist es passiert? Er ist auf einen Baum geklettert, sitzt auf einem Ast, gleich wird er ihn schütteln, und trockene Nüsse werden runterprasseln, raschelnd ins Gras fallen. Über der Einsiedelei liegt ein klarer, rotbrauner Herbst. Er soll ein harmloser, naiver Bursche gewesen sein mit weichem Haar und blauen Augen, der gern Spaß machte und ein bißchen feig war. Die, die alles in einen Spaß ummünzen, sind ja alle feige, sie haben Angst, gottbewahre! ernst zu erscheinen oder traurig oder, noch schlimmer, schwerfällig, haben Angst, nicht zu gefallen, deshalb machen sie Späße, immer nur Späße. Schon will er am Baum rütteln, doch plötzlich blickt er sich um - und was sieht er? Kosaken umzingeln still und leise die Einsiedlerklause. Auf der Straße bei der Mühle steht ein Planwagen, daneben steht mit gefälltem Bajonett ein russischer Kosak. Etwas unterhalb der Höhle warten der Müller mit seinem Sohn Hamasasp, das Kosakenheer aber schleicht von Strauch zu Strauch, von Stein zu Stein, sie umzingeln die Einsiedlerklause. Na ja, da haben sie irgendwelche Bücher gefunden, und was sonst noch war, weiß ich nicht. Der Kosak hat in seinem Rußland gesessen, woher sollte er wissen, was bei uns in der Einsiedlerklause vor sich geht - der Müller und sein Sohn Hamasasp haben sie hergebracht, haben ihnen die Stelle gezeigt, selber aber haben sie sich raushalten wollen und nur vom Pfad aus zugesehn. Die Jungs schießen oder schießen auch nicht, was weiß ich, doch der Offizier wirft für alle Fälle eine Granate. Und noch eine hinterher. Dann gehen sie rein, zünden eine Kerze an und sehn beim Schein dieser Kerze: Die einen 53


stöhnen, andere stellen sich tot, noch andere liegen schon in ihrem Blut. Dann gibt der Offizier einen Befehl, und die Soldaten zerren alle raus, werfen sie auf den Planwagen. Und fahren weg. Zurück bleibt wie ein böser Traum die schweigende Schlucht. Der Müller und Hamasasp machen kehrt und wollen schon gehn, da sehn sie: auf dem Baum sitzt einer, starr vor Angst, und guckt sie an. Sie treten näher, holen ihn vom Baum runter; was sie dort geredet haben, weiß ich nicht, aber dann... bums - schlugen sie ihn mit dem Kopf an einen Stein. Schluß, aus. Die Schlucht ist herbstlich bunt, und unter dem Haselnußbaum liegt blutüberströmt unser Schwager, schon tot. »Ja, wer bist denn du, wer ist denn da vom Baum gefallen, oje, oje, oje?« fragt Hamasasp aus der Schlucht von der Mühlentür, als wüßte er nicht, wen er gerade erschlagen hat und wer jetzt gleich vor Leid verstummen wird, das Kind auf dem Arm. Wenn unser Junge auf den Baum geklettert ist, wo sind dann die runtergeschüttelten Nüsse, und wenn er nicht auf den Baum gestiegen ist, warum liegt er dann darunter? fragt sich Ischchan, aber das war schon später. Er fragt sich und schaut sich um: Da ist die Einsiedelei, da die Mühle und da auch der Pfad, wo der Planwagen der Kosaken stand. Damals sagte meine Großmutter zur Stiefmutter: »Hamasasp hat mitbekommen, daß Ischchan den Müller getötet hat, geh, Schwiegertochter, und hol das Gewehr aus dem Versteck.« Wie sich mein Vater in Achpat, diesem Dorf der Vielfraße, umdreht und aufs Haus des Müllers schießt, kriecht Hamas’ Bruder unter die Liege. Feige, schwächlich, ein Hasenherz, vergeht er vor Angst. Vor Ischchan 54


hat er Angst und vor seinem Bruder Hamas auch. Er ist unter die Liege gekrochen und nicht zu bewegen, wieder vorzukommen. Meine Großmutter flocht mir den Zopf und weinte, sie bedauerte den Unglücklichen, der nichts getan habe, womit er sich den Tod verdiente, dessen einzige Schuld darin bestanden habe, daß er zufällig auf dem Baum saß und sah, was für ein Verbrechen der Müller und sein Hamas begingen, und sie bedauerte die Jungs aus Musch, Tiflis und Karabach, die armenischen Jungs, die später im Dorf in einer Reihe hingestreckt gelegen und niemand gehabt hätten, der sie hätte beweinen, beerdigen können. Meine Großmutter weinte und erzählte, wie der unglückliche Hamas vor Ischchan geflohen sei und fast die Lungen ausgespien habe, so habe es ihn gewürgt, und auf dem ganzen Steinhang von Tschatindag habe sich kein Stein gefunden, hinter dem er sich hätte verstecken können, die Erde habe sich auch nicht unter ihm aufgetan, um ihn aufzunehmen, damit er fest die Augen zukneifen und sich die Ohren zuhalten konnte, um Ischchans Schritte nicht mehr zu hören. Sie erzählte, daß Ischchans angeschossenes Pferd drei Tage und drei Nächte stark geblutet hätte, daß es stöhnend zwischen Schakalen und Wildkatzen herumrannte, die Leute sich aber aus Angst vor Ischchan nicht getraut hätten, das unglückliche Tier zu töten, um es von seinen Qualen zu erlösen. Und wie dann Hamas’ Mutter gekommen sei und ihn angefleht habe: »Ischchan-dshan, drei Tage lang hat Hamas dir gehört, warum gibst du mir nicht jetzt mein Kind zurück, damit ich es beweine und ihm in die toten Augen sehe, jetzt gib ihn mir doch!« Plötzlich habe sie sich meinem Vater ins Gesicht gekrallt: »Blutsauger!« Und dann erzählte sie noch, wie unsere Ochsen 55


beim Friedhof gewartet hätten, daß man sie anspannt, einen Tag hätten sie gewartet, noch einen und noch einen, dann habe der aus Koschakar entführte Ochse unseren eigenen alten überredet. Was lassen wir uns mit denen ein, mit den Menschen, habe er wohl gesagt, die können uns gestohlen bleiben, komm, ich führ dich an ein Fleckchen, wie du dir kein schöneres erträumst. Und dann habe er ihn über Berge und durch Schluchten in sein altes Koschakar geführt. Als Leute gekommen seien, hätten sie die beiden in der warmen Schlucht friedlich daliegen und wiederkäuen gesehen. Sowie die Ochsen ihre Herren erblickten, hätten sie ihnen gemächlich den Kopf zugedreht und würdevoll dreingeschaut. Wegen alldem hat meine Großmutter geweint, und sie hat es mir in einem Singsang erzählt, während sie mir die Haare kämmte. Und sie hat gesagt, als läse sie aus dem Heiligen Buch vor: »Mein Sohn hat unseren Feind gefunden, komm meinem Sohn nicht in die Quere!« Die Kugel meines Vaters hat den Querbalken der Kirchentür getroffen, und der Priester, der sich da eingeschlossen hat, sagt von drinnen zu Hamasasp: »Dich kann höchstens Howhannes Tumanjan in Dsech noch retten, sonst niemand.« Ach, du Krähe, verrecken sollst du mit deinem schwarzen Schädel, ist der Howhannes Tumanjan vielleicht ein Grabstein für dich oder ein ewiger Baum, daß ihr vor lauter Nichtstun Verrat begeht und allerlei andere Verbrechen, wenn man euch aber das Gewehr an die Schläfe setzt, rennt ihr weg, um euch hinter Howhannes Tumanjan zu verstecken. Wer ist er für euch, der Howhannes Tumanjan? Etwa eine Kirche? Howhannes Tumanjan ist ein Dichter, ja, Howhannes Tumanjan hat sich euretwegen, ihr 56


Schlechten, vor Kummer und Gram verzehrt. Howhannes Tumanjan, heute nur noch eine Handvoll Haut und Knochen, befiehlt jetzt in Rußland seine Seele dem lieben Gott, unter einer dünnen Decke liegt er; die Russen, heißt es, haben ja keine Decken wie wir, ihre Decken sollen ganz dünn sein, sie legen noch einen Uniformmantel drüber. Tumanjan stirbt im fernen Rußland an all euern Untaten, mit gramverzerrter Seele, die Deinen aber leben hier, sie leben und sterben nicht, die Deinen - dein Großvater und mein Schwiegervater Awetik, sein Bruder Jessai, der Bruder Harutjun, den Hakop hat ja das Pferd zerquetscht, und Ossep hat sich auf dem Feld erkältet, ist nach Haus gekommen und gestorben. Jessai ist später ertrunken, den Awetik hat das Alter ins Grab gebracht. Von den Euern ist keiner einen heldenhaften, keiner einen schönen, wahrhaft menschlichen Tod gestorben, daß es einen ergreifen könnte, kein einziger. Und über all den Trotteln stand ihr Vater mit seinen hundert und ich weiß nicht wieviel Jahren. Wie Bäume stehn sie da, an der Wurzel faul. Sie begreifen weder das Böse auf dieser Welt noch das Gute, sind wie ein Baum, ein Strauch, was soll ich sagen, eine Art Zugvieh, eine Art Unkraut, das Leid dieser Welt ist nicht das ihre, berührt sie nicht, und wessen Joch es auch sein mag, sie halten sofort den Hals hin: Ja, ja, wenn ihr Hunger habt, freßt uns; braucht ihr Ochsen, spannt uns an; habt ihr eine Axt in der Hand, schlagt zu, wir sind ja Bäume. Wie ein gehetztes Tier stürzt Hamas zu den Euern, in die Schlucht. In Darpas veranstalten die Brüder meiner Stiefmutter eine Schießerei. Von überallher Pfiffe und Geschrei, Hamas stürzt zu den Euern in die Schlucht. Angeblich hat der Dsecher Priester zu ihm

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gesagt: »Versteck dich im Wald von Koschakar, wenn dich kein Wolf frißt, rettest du deinen Kopf.« »Nur im Waldesdickicht kannst du dich verstecken, wenn dich aber der Wald nicht rettet, misch dich unter Awetiks Herde.« Nicht weil Awetik viele Schafe hätte, kannst du dich dort verstecken, untertauchen, sondern weil Awetiks Sippschaft selber aus Schafen besteht, geh nur zu ihnen. Die Waisen am Rockzipfel, tritt da meine Tante Manischak ihrem Bruder entgegen: »Was war, ist vorbei, Ischchan-dshan, ich hab schon allen verziehn, vergiß auch du alles Böse.« Mit kläglichem Lächeln kommt dein Großvater Awetik zu meinem Vater heraus, aber daß er etwas sagt, ihn um was bittet, dazu reicht’s bei ihm nicht, denn er hat ja das ganze Jahr nur mit seinen Bienen, mit Holz und mit der Axt zu tun, wie sollte er da die menschliche Sprache erlernen? Und dann noch dein Großvater Jessai. Und dein Großvater Harutjun. Und als wär’s immer noch nicht genug, kommt ihr Vater, blind, völlig blind, mit seinem Stock klopfend, und stellt sich vor Ischchan hin. »Was ist denn passiert, Awetik, ich seh ja heute so schlecht?« Und da ist auch schon, Strauch unter Sträuchern, dein Vater, da hast du sie, die Schafherde, versuch’s nur, inmitten all dieser Trottel zum Gewehr zu greifen. Ja, warum, was ist los, was ist passiert? Muß man soviel verzeihn, immer wieder verzeihn und vergessen - in wessen Namen eigentlich? Soviel Böses ist ringsum, und alles soll man verzeihn? Soviel verzeihn, verzeihn, verzeihn... Verzeihn, verzeihn, vergessen, verzeihn, verzeihn, und dabei gibt es soviel Böses. Wer aber ist schuld? Du, mein Sohn, du, meine Hoffnung, mein Kummer, meine Sorge, du bist schuld. »Hol dich der und jener.« Mein Vater läuft, schnei-


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det Hamas den Weg in den Wald ab, geht selbst bergauf, durch den Wald. Hamas aber kriecht über den offenen Hang, kriecht auf allen vieren. Hinter den Darpasser Quellen wird die Schlucht doch schmaler, weißt du noch? Da kommen sie sich näher, mein Vater und er, mein Vater schießt über die Gärten hinweg und zwingt ihn vor der Doppelten Quelle zur Umkehr. Mein Vater will ihn zur Einsiedlerklause hinlenken, aber der Schweinehirt Tschobanenz schießt auf Hamas und tötet ihn. Tötet ihn mit nur einem Schuß bei der Darpasser Mühle. Mein Vater, sagen sie, hätte nie daran gedacht, ihn zu töten. Mein Vater wollte ihn angeblich nur abhetzen. Du weißt ja, wenn ein Vieh Gift gefressen, wenn eine Schlange einen Menschen gebissen hat, dann jagt man sie, zwingt sie, so zu laufen, daß ihnen die Seele aus dem Leib fährt und der Schweiß in Strömen fließt, aber mit dem Schweiß geht auch das Gift aus dem Körper, und der Mensch fühlt sich leicht und frei und fliegt dahin wie im Traum. Doch der Schweinehirt aus unserer Verwandtschaft schießt auf Hamas, und der fällt bei der Darpasser Mühle tot um. Und die blauäugigen Söhne von Tschobanenz lachen und sagen zu meinem Vater: »Er tat einem ja leid, wie lange hätte er denn mit dieser Angst im Herzen leben können?« Und später, als mein Vater schon krumm, zu einer Trittstufe, zu einem Hügelchen geworden war, da sagte er als Trittstufe, als Hügelchen, als Stein, als Baumstumpf, als Flechtzaun für den Fuß von Arsumanows Rüben: »Na los, tritt auf mich und spring dann auf.« Der Rüben war schwer, ein Pferd bog sich unter seinem Gewicht durch, wie sollte der springen, aber dein Großvater bückte sich ganz tief und wurde zu einem 59


Stein, damit der andere auf ihn draufstieg, sich, auf dem Rücken deines Großvaters stehend, die Zügel in der Hand, abplagte und doch nicht aufs Pferd hinaufkam, denn auf Ischchans Schenkel zu treten, um sich von da aufs Pferd zu schwingen, war er nicht imstande. Aber das hast ja schon du mir erzählt. Diesen Ischchan hast du gesehen, mein Sohn... Aber schließlich ist er mein Vater. Mein Vater, ja, der konnte sich bücken, konnte zu einem Stein werden und sagen: »Na los, los, tritt schon auf mich drauf, spring.« So ist nun mal das Leben. Ich verteidige meinen Vater nicht, Nutzen hat er mir keinen gebracht, auch nachdem er mich im Gefängnis barfuß gesehen hatte und in Tränen ausgebrochen war, hat er mir keine Schuhe gekauft, Nutzen an seiner Statt hätte mir dein sausendes, rachsüchtiges Blut bringen sollen, aber auch daraus ist nichts geworden, nein, nichts geworden. Aber ich sage: Ist es etwa gut, daß die Deinen, die Deinen hier, sich nicht beugen und nicht aufrichten, daß sie nicht leben, sondern verträumt, gütig, faul einfach so vor sich hin wachsen, und wenn man sie abgehaun hat, dann hat man sie eben abgehaun, hat man sie aber nicht abgehaun, dann sind sie noch am Leben, und wenn man ihnen die Mütze vom Kopf gerissen hat, dann ist sie weg, hat man sie ihnen aber nicht heruntergerissen, dann haben sie sie noch auf dem Kopf.


Der Fremdling

In unserer Klasse gab es einen Samad, einen Madat und einen Amrchan*, aber »Türke« oder »Fremdling« nannten wir Artawasd. Warum, das wußte ich damals nicht. Heute weiß ich es. Ehe er zur Welt kam, waren seiner Mutter zwei Söhne nach dem ersten Lebensjahr gestorben, und da hatten ihr alte Frauen geraten, dem nächsten Kind einen türkischen oder kurdischen, jedenfalls irgendeinen ungewöhnlichen, fremden Namen zu geben. Als lasse sich der Tod betrügen, als fände er nicht heraus, daß sich hinter dem fremden Namen ein armenisches Kind verbirgt. Wie dem auch sei, der Tod sollte betrogen und mit leeren Händen weggeschickt werden. Also gaben die verzweifelten Eltern dem nächsten Kind den vermeintlich türkischen oder kurdischen Namen Artawasd. Und warteten gespannt, was nun geschehen würde. Eines Tages bat ein Mann, der gerade vorbeikam, die Mutter um ein Glas Wasser, und nachdem er es, an ihren Flechtzaun gelehnt, getrunken hatte, prophezeite er dem Säugling auf ihrem Arm ein langes Leben. Die Mutter wiegte den Kopf und sagte, sie hätten dem Kind einen fremden Namen gegeben, denn ... Doch der Mann lächelte nur gewinnend und meinte, das sei gar kein fremder Name, sondern ein echt armenischer. Das Neugeborene auf dem Arm, erstarrte die Mutter vor Entsetzen, der Vater *

türkische Namen

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aber stöhnte fassungslos auf und setzte sich unter den Apfelbaum. So war das. Der Name erwies sich tatsächlich als armenisch. Dennoch starb das Kind nicht, es blieb am Leben. Und diesen Artawasd nannten wir in der Klasse Türke oder Fremdling. Seine Mutter war Putzfrau in der Bibliothek, sie fegte dort den Fußboden, holte Wasser, wischte Staub auf den Büchern und stellte sie verkehrt herum wieder ins Regal, denn sie konnte weder lesen noch schreiben. Einmal nahm sie aus der Bibliothek ein altes Spruchband mit, auf dem mit Kalk geschrieben stand »Tod den faschistischen Eroberern!«. Sie brachte das grellrote Stück Stoff nach Hause, wusch es und nähte daraus ein Hemd. Der Vater des Fremdlings war herzkrank, er jammerte und stöhnte unentwegt, doch er starb nicht. Für die Front taugte er nicht, und so saß er zu Hause bei seinem Sohn. Er war der einzige Mann im Dorf, und das war ihm peinlich. Aber sooft er unseren Müttern das Beil aus der Hand nahm, um für sie die Männerarbeit zu verrichten, brauchte er nur zwei-, dreimal zuzuschlagen, und schon verzog er das Gesicht und griff sich ans Herz. So lebte er stöhnend und jammernd. Der Fremdling hatte einen Vater, der ihm bei den Schulaufgaben half, unsere Väter aber kämpften an der vordersten Front. Von der kalten Morgenluft waren meine Hände aufgesprungen; so gut es ging, versorgte ich unsere Kühe mit Heu und mistete den Stall aus; den Federhalter konnte ich schon nicht mehr halten - sowie ich danach griff, stach es in meinen Fingern. Alle hatten wir damals aufgesprungene Hände, doch ich sage »meine Hände« und »meine Finger«, denn ich erinnere 62


mich an meine Schmerzen. Mein Körper weiß nur noch vom eigenen Schmerz. Als der Fremdling in dem neuen, roten Hemd die Klasse betrat, dachten wir alle, das sei ein Mädchen. Dann aber sahen wir, daß es der Fremdling war und daß er ein rotes Hemd trug, während wir anderen in der Klasse alle braun waren, weil unsere hausgewebten Wollsachen alle die gleiche Farbe hatten. Wir pflegten flußabwärts zum Sägewerk zu gehen, von wo wir mit einem Armvoll Eichenrinde zurückkamen. Damit färbten unsere Mütter die Wolle braun. Alle saßen wir in der Klasse braun da, nur der Fremdling war in einem roten Hemd gekommen! Einen Augenblick verstummten wir, uns schoß durch den Kopf, daß sein Vater dauernd jammerte, aber nicht starb, während seine Mutter ein Spruchband aus der Bibliothek gestohlen hatte, um dem Sohn ein Hemd zu nähen. Ich schluckte Speichel und sagte nicht, daß seine Mutter den Stoff geklaut hatte. »Du hast dich als Mädchen rausgeputzt«, sagte ich. Der Fremdling senkte die langen Wimpern, richtige Mädchenwimpern, und schluckte ebenfalls Speichel, ich sah den Adamsapfel an seinem dünnen Hals auf und ab hüpfen. Da setzte ich mich an meinen Platz, um möglichst weit weg von ihm zu sein und nicht mehr über ihn zu lästern. Aber sein rotes Hemd zog doch die Augen auf sich. »Du bist eine Fahne«, sagten die Jungs. »Eine Heldenfahne«, sagten sie. Dann vernahm ich Madats spröde Stimme: »Die Heldenfahne seines Vaters.« Mit niedergeschlagenen Augen stand der Fremdling reglos da. Die Geschichtslehrerin kam, alle gingen an 63


ihre Plätze, doch der Fremdling in seinem roten Hemd blieb, ohne aufzusehen, vor der Klasse stehen. »Warum gehst du nicht an deinen Platz?« fragte ihn die Geschichtslehrerin. »Er hat ein rotes Hemd an«, riefen die Kinder. »Ja, ja«, sagte die Geschichtslehrerin. Langsam, als bahne er sich einen Weg durch zähen Schmutz, ging er unter unseren Blicken an seinen Platz und setzte sich genau vor mich. »Er hat ein rotes Hemd an«, sagten alle zur Biologielehrerin. »Ich seh’s.« »Die Heldenfahne seines Vaters.« »Nein«, sagte die Biologielehrerin, »die Fahne eures Neids.« Wie sehr sich seine Mutter auch bemüht hatte, das Spruchband auszuwaschen, die weißen Buchstaben traten auf dem Rot doch wieder hervor. Denn Seife besaß niemand, die Mutter wusch in heißem Wasser mit Asche. Ich sollte das gar nicht erwähnen. Wer weiß, ob nicht wieder eine Zeit kommt, da es keine Seife geben wird und man die Wäsche wie damals mit Asche waschen muß. Und wo dann im selben Wasser gebadet wird. Du weißt nicht, wie es möglich sein kann, daß es keine Seife gibt, und wie man mit Asche wäscht, du weißt nicht, was Krätze ist, du begreifst nicht, warum wir zum Sägewerk liefen und von dort einen Armvoll Eichenrinde mitbrachten, du weißt nicht, was eine Laus ist, und du wirst nicht verstehn, warum wir alle kahlgeschoren wurden. Und nie, niemals wirst du dir vorstellen können, wie es ist, wenn man ständig grobes Wollzeug am Körper spürt, denn wir konnten doch die 64


Wollsachen, die uns dauernd kratzten und auf der Haut juckten, nicht einfach ausziehen und wegwerfen. Du weißt nicht, was Krieg ist, und wie gut, daß du all das nicht weißt! Der Fremdling setzte sich also genau vor mich. Ob ich es wollte oder nicht, ich hatte seinen roten Rücken vor Augen. Mochte seine Mutter den roten Fetzen auch noch so hartnäckig gewaschen haben, es war ihr nicht gelungen, die Spuren von Kleister und Kalk völlig zu beseitigen. Während ich seinen Rücken betrachtete, entdeckte ich Reste des Buchstabens F. Daneben sah ich noch ein E. Da suchte ich nach anderen Buchstaben und bemerkte auf seiner mageren Schulter noch ein halbes D. Er spürte wahrscheinlich meinen Blick, denn er krümmte sich, versuchte sich ganz klein zu machen. Da schämte ich mich und nahm mir vor, nicht länger auf seinen Rücken zu starren. Auf seinen gekrümmten Rücken, auf die schmalen Schultern, auf den dünnen Hals mit der Grube im Nacken. Aber da sah ich plötzlich klar und deutlich ein G. - FREMDLING. Fremdling, sagte ich in Gedanken. »Fremdling«, flüsterte ich kaum hörbar, um es zu sagen und auch wieder nicht zu sagen. »Der Fremdling hat ein rotes Hemd an«, verkündete die Klasse der Erdkundelehrerin. »Wenn der Krieg aus ist, werdet ihr alle solche Hemden tragen«, sagte die Lehrerin. Auf dem Rücken des Fremdlings steht »Fremdling«, sagte ich für mich, denn laut wollte ich es nicht sagen. In der Pause raufte ich mich mit Madat. Natürlich rauften wir uns nicht richtig, obwohl es eine Rauferei war, denn Madat saß auf mir und versuchte mir einen schmutzigen Schneeball in den Mund zu stopfen. Ich 65


preßte die Lippen aufeinander und drehte den Kopf weg, aber das brachte ihn erst recht in Fahrt, und nun wollte er mir den schmutzigen Schneeball unbedingt in den Mund stopfen. Ihm reichte nicht, daß er rittlings auf mir saß, das war für ihn kein voller Sieg, daher unternahm er alles, um mir seinen schmutzigen Schneeball in den Mund zu stopfen, und wurde wütend, weil ihm das nicht gelang. Dann kam die Lehrerin für Wehrerziehung. Wir traten in einer Reihe an, drehten die Köpfe nach links und erstarrten unter ihrem Blick. So standen wir stramm, und langsam wich von unseren Gesichtern die Erregung der Pause, verstummten in uns das Lachen und die Späße. Schon waren alle Stimmen und Laute verstummt, es gab kein Lächeln und keinen Blickwechsel mehr, auf dem Hof stand eine sehr ernste und leicht verängstigte Reihe bleicher Kinder. Der Bruder dieser Lehrerin war an der Front gefallen, daher fühlten wir uns ihr gegenüber ein wenig schuldig. Wir verehrten sie, hatten aber zugleich etwas Angst vor ihr. Denn sooft sie uns ansah, sooft sie den Blick auf uns heftete, schien uns, als hätten wir ihren Bruder getötet. Von Woche zu Woche, von einer Unterrichtsstunde zur anderen, ja sogar im Laufe eines Tages, innerhalb einer Stunde, von der Mathematik zur Wehrerziehung wurde ihr strenger Gesichtsausdruck strenger, verhärtete sich, und wir begriffen, was für ein wunderbarer Mensch ihr Bruder gewesen war, für sie der allerbeste Mensch auf Erden, wie sie ihn geliebt hatte und wie schwer nun ihr Leid war. Ich schluckte an meinem Speichel und dachte: Wenn sie doch meine Mutter wäre statt der meinen, die nicht lesen und schreiben kann! Dann brauchte ich weder vor 66


der Mathematik Angst zu haben noch vor der Wehrerziehung. »Was hast du gesagt?« flüsterte sie. Ich schluckte am Speichel und dachte nur, daß... »Nichts«, stieß ich leise hervor, nahm Haltung an und bedauerte schon, daß ich sie gerade noch hatte zur Mutter haben wollen. Die Mädchen traten aus der Reihe, also hatte sie etwas geflüstert oder ihnen nur einen Blick zugeworfen, aber so, daß sie begriffen, sie hatten den Befehl erhalten, aus der Reihe zu treten. In der schmutzigen Übergangszeit zwischen Winter und Frühjahr hatten sich die Mädchen mit roten, orangefarbenen und grünen Kleidern geputzt - jetzt scharten sie sich zu einem fröhlichen Haufen und betrachteten unsere braune Reihe halb verächtlich, halb liebevoll. Heute noch erinnere ich mich an den einträchtigen Blick dieser vielfarbigen Augen. Ja, er war einträchtig, denn wenn sich Mädchen zusammenscharen und einen ansehen, wird ihr Blick sonderbar - dann ist es kein Blick mehr, sondern eine Art Duft, der Duft von Sternen oder ein Kamillenduft oder der Duft einer anderen Blume, denn der Blick ist rein, und die Mädchen sehen einen halb verächtlich, halb liebevoll an. Die Lehrerin zuckte mit den Brauen, und unsere Jungenriege stand stramm. Langsam hob sie das Gesicht, ihr ernster Blick wanderte über unsere Reihe, und die Reihe verstand sie. Eine Sekunde währte noch das Schweigen - dann ertönte eine spröde Stimme - es klang, als schlüge Stein auf Stein: »Eins!« »Zwei!« Ich schmetterte die Zahl meinem linken Nebenmann zu. Mein Blick streifte das Braun unserer 67


angetretenen Reihe, von der am Ende ein einziges rotes Hemd abstach. »Acht!« »Neun!« »Zehn!« »Elf!« »Zwölf.« Waren das alle? Nein. »Dreiz...«, rief die schüchterne Stimme des Fremdlings. In den Augen der Mädchen flimmerte so etwas wie ein Lächeln auf, und die Lehrerin ließ ihren strengen Blick wieder von einem Ende der Riege zum andern schweifen. Tiefe Stille herrschte. Ich hörte mein Herz schlagen, hörte sogar, was der erste jetzt über den dreizehnten dachte. Mir schien, als wären die Schläge meines Herzens die Herzschläge des ersten in der Reihe und als dächte er über den dreizehnten dasselbe wie ich. »Hurraaa!« gellte es fern auf dem Spitzen Hügel, wo die achte Klasse übte, und durchs ganze Große Tal rollte das Echo: »... aaa!« Sie hatten Gefechtsausbildung. Ihre Gewehre sahen von weitem echt aus, ihre Stimmen verschmolzen zu einem einzigen gewaltigen Getöse. Man hätte meinen können, auf dem Spitzen Hügel sei ein richtiger Kampf im Gange, der sich übers ganze Große Tal bis zum Schneeglöckchenhügel erstreckte. Wir sahen die Jungen der achten Klasse nicht, wir sahen nur den verschneiten Hügel und hörten ihre Stimmen, die zu einem einzigen gewaltigen Getöse verschmolzen, während die Jungen sich offenbar im Großen Tal auseinandergezogen hatten und den Schneeglöckchenhügel angriffen. Doch der 68


Schneeglöckchenhügel blieb stumm. Vor Anstrengung tränten mir die Augen. Doch der Schneeglöckchenhügel war immer noch weiß, dort rührte sich nichts, und wir versuchten zu erraten, was dort vor sich ging. Ob der Feind weiß gekleidet ist? dachten wir* und schauten uns die Augen nach dem Hügel aus. Der Feind aber war von hinten gekommen, vom Spitzen Hügel, und näherte sich ihnen schweigend und schnell. Die aus der achten Klasse schrien ihr »Hurra!«, das heroische Gebrüll verstopfte ihnen die Ohren, und sie wußten nicht, wie traurig und dumm es jetzt klang. Und weil die Jungs aus der Achten so dumm und kurzsichtig waren, malte sich auf detrr Gesicht der Lehrerin Gereiztheit. Als wären wir die naiven und dummen Bengel der Achten, die einen leeren Hügel angriffen, befahl sie uns kalt: »Stillgestanden! Abzählen!« An meinem Ohr knallte es trocken, als schlüge Stein auf Stein: »Eins!« »Zwei!« schleuderte ich meine Zahl dem linken Nebenmann zu. »Drei!« Gleich wird sie uns in zwei Gruppen einteilen, die geraden Zahlen kommen in die eine, die ungeraden in die andere. Ob der Fremdling wohl eine gerade oder eine ungerade Zahl hat? Wenn er doch eine ungerade hätte! »Dreizehn«, erklang die scheue Stimme des Fremdlings. »Vierzehn!« Aber sie alle - die Besiegten aus der Achten und die Sieger aus der Siebenten, deren Stimmen im Großen Tal zu einem einzigen Getöse verschmolzen, waren 69


ihre Schüler. Die Nummer eins, Madat, war der Sohn ihres gefallenen Bruders, die Stimme des Fremdlings klang erschrocken, der Lärm im Großen Tal war jäh verstummt, wir in unseren engen hausgewebten Hosen sahen sicherlich wie mittelalterliche Ritter aus, die Jungs der Siebenten und die der Achten aber waren jetzt bestimmt todmüde übereinandergepurzelt und schluckten Schnee. All das - aber vielleicht hatte sie einfach das F auf dem Rücken des Fremdlings gesehen - zauberte ein schwaches, kaum merkliches Lächeln auf das Gesicht der Lehrerin. Und wieder dachte ich: Wenn sie doch meine Mutter wäre! So stand es um uns - für uns zählte ein halbes Lächeln von ihr mehr als die Fürsorge unserer Mütter, die uns zu essen gaben, uns badeten und kleideten. »In zwei Gruppen einteilen!« Wir, die geraden Zahlen, traten in unseren weichen Riemchensandalen geräuschlos vor. Drei Schritte vor und einen Schritt nach links. Und der erste zu sein, selbst in einer so kleinen Siebenmannreihe, machte mich stolz. »Erste Gruppe im Laufschritt zum Warmen Born! Da steht eine blühende Weide, jeder reißt einen kleinen Zweig ab, dann geht es zurück. Wiederholen!« Das Herz schlug mir bis zum Halse. Weil ich laufen wollte, weil die vielfarbigen Augen der Mädchen auf uns blickten und auch, weil ein milder gelbgrüner Frühling nahte. »Ich will den Fremdling nicht, nehmen Sie ihn aus meiner Gruppe«, sagte Madat mit spröder Stimme, und es klang, als schlüge Stein auf Stein. Langsam hob sie das Gesicht und flüsterte, sagte es fast nur mit den Augen: 7°


»Was für einen Fremdling?« Wir drehten uns alle um und sahen den Fremdling an. Er stand wie nach dem Kommando »Stillgestanden!«, doch ich hatte wieder den Eindruck, als stünde er zusammengekrümmt da und als stünde er so da, weil er den Spitznamen »Fremdling« hatte, weil sein Vater unentwegt jammerte und nicht starb, weil seine Mutter das Spruchband gestohlen hatte und weil er jetzt in dem roten Hemd wie eine Vogelscheuche aussah. Wir alle starrten ihn an, auch die Lehrerin. Sie starrte ihn an und wartete, was der Sohn ihres Bruders sagen würde. »Der Fremdling, Arto«, knurrte Madat. »Was für ein Arto?« Sie wollte, daß der Sohn ihres Bruders den Namen des Fremdlings vollständig und deutlich aussprach. Hätte ich eben jetzt gesagt: »Hieße er nicht Fremdling, dann stünde auch auf seinem Rükken nicht >Fremdling<« - dann wäre das der beste Witz unserer Schulzeit geworden. Daran hätten wir uns noch lange erinnert, wohl ein Jahr lang. Aber in dem Augenblick, da ich selbst Anführer einer Gruppe war, die Mädchenschar auf uns blickte und ein gelbgrüner Frühling nahte - in diesem Augenblick mochte ich den Fremdling. Und ich hielt den Mund. »Artawasd«, knurrte Madat. Er sagte es mit Überwindung, es paßte ihm gar nicht, daß er genötigt wurde, den Namen auszusprechen. »Artawasd«, sagte er trocken, und es klang, als schlüge Stein auf Stein, »ja, Artawasd, und wenn er dreimal Artawasd heißt, nimm ihn raus aus meiner Gruppe.« Die Lehrerin faßte ihn schweigend ins Auge und sagte nichts, aber es war klar, uns allen war sehr wohl


klar, was sie sagen wollte. Sie wollte sagen, daß sie jetzt nicht Madats Tante war, sondern Lehrerin für Mathematik und Wehrerziehung. Madat wurde unsicher, sah aber der Lehrerin noch immer ins Gesicht, schließlich war sie wirklich seine Tante, außerdem war er ein mutiger Junge. »Nehmen Sie ihn raus«, verbesserte sich Madat, »nehmen Sie ihn aus meiner Gruppe.« »Entschuldige«, die Lehrerin lächelte ironisch, »wer hat dir denn gesagt, daß du die Gruppe anführst?« Madat sah die Gruppe an, die Gruppe sah Madat an, und es gab keinen Zweifel, er war der Führer. Er sah die Lehrerin an, blickte sie unverwandt an und sagte nicht »Das sage ich!«, entschuldigte sich aber auch nicht, bat nicht um Verzeihung. Die Lehrerin betrachtete ihn, er betrachtete die Lehrerin, und niemand hätte ihm in diesem Moment Worte der Entschuldigung entrissen, selbst nicht mit einer Zange. Die Lehrerin begriff, daß er wirklich der Führer der Gruppe war und den Fremdling nicht darin haben wollte. Langsam senkte sie die Lider, schloß mit hochgerecktem Gesicht die Augen, und als sie die schweren Lider wieder hob, blinkten Tränen darin, und sie war einfach eine Tante, eine ganz gewöhnliche Tante, die in dem Jungen Madat ihren gefallenen Bruder sah. Wir alle verstanden das, denn wir selbst sahen jetzt einen Anführer und Helden in ihm. Er war ein guter Anführer und wollte eine Gruppe haben, in der jeder gut laufen konnte. Sie aber war eine gute Lehrerin, sie wollte auch weiterhin uns alle und jeden einzelnen von uns lieben und zugleich die militärische Disziplin wahren. Aber wie kommt es nur, daß ich gut bin, er gut ist, wir alle gut sind und trotzdem schlimme Dinge geschehen? 72


Den Kopf auf dem dünnen Hals zur Seite geneigt, sah der Fremdling mit glänzenden großen Augen zu den fernen Bergen hinüber und schien nicht mal mehr zu atmen. »Er kann nicht laufen, wird unterwegs Zurückbleiben«, vernahm ich Madats Stimme. Der Fremdling zwinkerte. Zwinkerte nur. »Soll er doch mit den Mädchen hierbleiben«, vernahm ich. Der Fremdling stand reglos, abwartend. So kann nur ein Lamm dulden, dem gesagt wird, man werde es gleich schlachten, nur das Wasser, dessen Geschmack in seiner Gegenwart gelobt oder getadelt wird, nur die leuchtende Sonnenblume kann so abwarten, ob sie abgerissen wird oder am Stengel bleibt. Der rote Widerschein des Hemdes machte den Fremdling ungewöhnlich rot. Schweigend ließ er sich in seinem Hemd von uns anstarren, schweigend hörte er sich den Streit über sich und seine Untauglichkeit an, und plötzlich kam es mir so vor, als sei er besser als alle anderen, besser auch als die Lehrerin und der heldische Madat, besser als die Mädchen. Und dann dachte ich noch, am allerschlechtesten und gemeinsten sei ich, denn ich hatte nicht verhindert, daß sie ihn so schlecht machten, ich hatte das zugelassen und stand selbst da und suchte seinen Rükken nach Buchstaben ab. Er schluckte, sein dünner Hals spannte sich, und ich merkte, wie mir selber schwül wurde, wie ich um Luft rang, wie es schon nicht ihm, sondern mir den Hals zuschnürte. Es schnürte mir den Hals zu, weil mein Vater jammerte und nicht starb, weil man meiner Mutter ein altes Spruchband gegeben hatte und das jetzt wie Diebstahl aussah, weil der Zufall auf meinem Rücken das Wort »Fremdling« hervortreten ließ und weil es in dieser starken Welt nur mir an Kraft fehlte. 73


»Dann soll Madat an meine Stelle treten und ich an seine«, sagte ich. Die Lehrerin tat, als habe sie nichts gehört. »Dann soll Madat...« Die Lehrerin musterte mich. Dann eben nicht, dachte ich, doch im selben Moment war mir klar, daß sie von mir militärische Disziplin verlangte und ich mich in aller Form an sie wenden mußte: »Ich bitte melden zu dürfen«, sagte ich, trat einen Schritt vor, stand stramm und schlug vor: »Befehlen Sie Madat, die zweite Gruppe zu übernehmen, und mir, die erste.« Sie fragte kaum vernehmbar zurück: »Was hast du gesagt?« Ich wiederholte: »Befehlen Sie mir, die erste Gruppe zu übernehmen, und geben Sie Madat die zweite.« Und zu Madat sagte ich: »Wenn du Artawasd nicht in deiner Gruppe haben willst, tauschen wir eben.« Er streifte mich mit einem nichtsehenden Blick und wandte sich ab. Ich war verwirrt. Ich begriff, warum er so kalt reagierte, und das verwirrte mich. Seine Gruppe bestand nur aus großen Jungen, meine waren alle klein. Er selbst war auch groß, viel größer als ich, und da schlug ich ihm vor, die Knirpse anzuführen. Er war wirklich ein guter Feldherr. Hannibal, dachte ich, Suworow ... Kutusow ... Khan Hassan ... Du wirst sehn, ich nenne dich Kutusow. Aber er hatte schon einen Namen - Madatow, General Madatow. Dann nennen wir dich eben General Madatow, damit du Bescheid weißt. »Wir werden gar nichts austauschen«, sagte die Lehrerin. »Erste Gruppe im Laufschritt zum Warmen Born!«

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»Nein«, sagte er mit spröder, sehr spröder Stimme, »nehmen Sie erst den Fremdling aus meiner Gruppe!« »Was denn für einen Fremdling?« schrie die Lehrerin. »Sie wissen schon«, sagte er. »Wer hat denn gesagt, daß das deine Gruppe ist?« schrie die Lehrerin. »Sie ist es aber«, sagte er. »Lind wenn ich dich jetzt in den Keller schicke und einsperre?« schrie die Lehrerin. Einen Moment war er starr. Dann trat er aus der Reihe und ging auf den Keller zu. »Zurück!« schrie die Lehrerin. Er sah sich nicht mal um. »Stecken Sie mich nur in den Keller, und sperren Sie mich ein«, hörte ich seine Stimme. Er ging immer weiter weg, ging schon die Kellertreppe hinab, fast war er nicht mehr zu sehen. So, genau so war sein Vater, der Bruder der Lehrerin, in sein Verderben gegangen, um nicht zurückzukommen, nie wieder zurückzukommen. »Komm zurück!« bat die Lehrerin. Er stand auf der Treppe, wir sahen nur seinen Kopf, und er hatte sich kein einziges Mal umgedreht. Ob er hinuntersteigt oder zurückkommt? Er kommt nicht zurück, bestimmt nicht. Wir sahen nur seinen Kopf. Seine Tante wandte sich ab, damit sie nicht sah, wie ihn das Dunkel völlig verschlang. »Alles deinetwegen«, hörte ich. Mißbilligende Blicke trafen den Fremdling. Nun, da ihn alle so mißbilligend ansahen, traute er sich schon nicht mehr, unbeteiligt dazustehen, den Blick in die Ferne gerichtet, und zu denken, er sei unschuldig, nein, jetzt stand er zusammengekrümmt wie der schuldbela15


denste Mensch auf Erden und hatte sogar Angst, uns die einzige, klägliche Äußerung seines Protestes zu zeigen, hatte sogar Angst, wir könnten sehen, wie der Adamsapfel an seinem Hals auf und ab hüpfte. Madat hatte schon kehrtgemacht und kam die Stufen wieder herauf - kehrte langsam zu seinen Generalspflichten zurück. Er gefiel mir überhaupt nicht. Und jetzt, da alle mißbilligend auf den Fremdling blickten und sich der Fremdling selbst schuldig fühlte, und nur, weil Madat mir auf einmal nicht gefiel, begriff ich plötzlich, daß nicht den Fremdling Schuld traf. So wie auch das Kaninchen nicht schuld ist, nur weil es sich vor einem Jagdhund zusammenduckt. Keine Spur von Gewissensbissen oder Reue - er kam zurück, nahm stolz und selbstbewußt seinen Platz an der Spitze der Gruppe ein und sagte ruhig: »Bitte, nehmen Sie ihn aus meiner Gruppe.« »Warum?« »Er läuft schlecht.« »Ja«, sagte die Lehrerin. »Also nehmen Sie ihn raus. Er kann nicht so laufen wie wir. Wir wollen seinetwegen nicht verlieren.« Alles war so, genau so. Aber ich begreife bis zum heutigen Tage nicht, wie man sich vor einen Menschen hinstellen und ihm sagen kann, daß er schwach sei, weiche Knie habe und für dies und das nicht tauge. »Er kann nicht so schnell laufen wie ihr, und ihr könnt seinetwegen nicht langsam laufen, das ist klar«, sagte die Lehrerin, »aber was soll ich mit ihm machen?« Madat gab keine Antwort, wie ein Kommandeur musterte er seine Gruppe und starrte den Fremdling verächtlich an, als wolle er ihm mit dem Blick befehlen, aus der Reihe zu treten, und das gefiel mir nicht. 76


»Na, wie ist’s, bestehst du noch darauf?« fragte die Lehrerin. Und das gefiel mir auch nicht. Anscheinend war die Lehrerin zufrieden, daß dieser Madat eine eigene Meinung hatte und darauf beharrte. Sie wandte sich an mich: »Und du? Was sagst du?« Wind flog irgendwohin, ein Adler schwebte am Himmel, vom Felsen stürzte ein kleiner Wasserfall, ein Kalb blökte in der Ferne - was wäre leichter und schöner als ein Geländelauf! Ich wollte schon sagen: Nehmen Sie meine Nummer sieben und geben Sie mir dafür Artawasd, ich machte auch schon den Mund auf, begriff aber plötzlich, daß Madat gerade das wollte. Sein Blick und sein ganzes Äußeres sagten mit unverhohlener Schamlosigkeit, daß er mich besiegen, daß seine Gruppe über meine Gruppe siegen werde und daß er mir jetzt genau so, wie er mir am Morgen den schmutzigen Schneeball in den Mund gestopft hatte, seinen schlechtesten Läufer aufhalsen würde. »Was soll ich denn sagen?« fragte ich. »Soll ich Artawasd in deine Gruppe geben?« »Warum eigentlich?« murrte ich. »Wir haben abgezählt, da soll es auch so bleiben.« Sie sagte kaum vernehmbar: »Stillgestanden! Du bist nicht zu Hause, und ich bin nicht deine Mutter.« Und auch nicht meine Tante, dachte ich, obwohl ich fürchterliche Angst vor ihrer Mathematik hatte und sehr gut wußte, daß sie von mir eine überzeugendere und exaktere Antwort erwartet hatte. »Er läuft schlecht«, sagte ich. Das war natürlich eine Gemeinheit, aber wie konnte ich ehrlich bleiben und mich zugleich rächen? Ich 77


mußte es diesem Madat heimzahlen, koste es, was es wolle. »Vorhin wolltest du ihn doch nehmen«, sagte die Lehrerin. Wie sollte ich ihr erklären, warum ich vorhin noch bereit gewesen war, ihn zu nehmen, jetzt aber nicht mehr? »Jetzt will ich nicht mehr«, sagte ich. »Warum?« »Einfach so«, sagte ich und war mir selbst zuwider. Sich unbeliebt machen ist gar nicht leicht. Ich sah weg. Auf der Straße kehrten müde die offenbar »siegreichen« Jungs aus der Siebenten und die offenbar »besiegten« aus der Achten zurück. Sie alle wirkten geknickt, gingen niedergeschlagen und gebeugt. Ihre Holzgewehre schleiften sie hinter sich her. Manche bückten sich, nahmen sich eine Handvoll Schnee und schluckten ihn hastig. Sie waren maulfaul. Am liebsten hätten sie sich allesamt in den Schnee fallen lassen und wären sofort eingeschlafen. »Na schön, wenn Sie wollen, soll Artawasd in meine Gruppe kommen«, sagte ich. »Also bist du einverstanden?« fragte die Lehrerin. Ich ließ den Kopf sinken. »Warum bist du auf einmal wieder einverstanden?« »Er ist es eben, basta«, sagte Madat. »Du bist nicht gefragt, halt den Mund. Warum hast du eingewilligt?« »Weil... Laufen, was ist schon dabei?« ( Sie betrachtete mich traurig und versonnen. »Ja«, sagte sie kaum vernehmlich. »Das ist weiter nichts ...« Ein Regenguß ging nieder, Wind flog irgendwohin,

7 *


ein Milan schwebte am Himmel, Samen von Löwenzahn segelten durch die Lufl, alles flog, alles verschwand irgendwohin. »Tausch den Platz mit dem Letzten in der anderen Gruppe, Artawasd«, sagte sie traurig. Obwohl wir weiche Sandalen trugen, waren unsere Schritte zu hören, er aber wechselte den Platz mit meinem Letzten so lautlos, daß ich dachte, er habe den Befehl der Lehrerin gar nicht vernommen. Als ich mich umdrehte, um ihm zu sagen, komm zu mir, ich sag’s in aller Freundschaft, stand er schon in meiner Gruppe. »Erste Gruppe im Laufschritt zum Warmen Born, zur blühenden Weide, jeder reißt einen kleinen Zweig ab und kommt zurück. Zweite Gruppe ...« Während sie sich noch eine Aufgabe für uns ausdachte, hatte Madats Gruppe schon die Schlucht durchquert und stürmte auf den Hügel der Einsamen Eiche. Meine Knie zitterten. Hätte sie uns befohlen, den gleichen Weg zu laufen, dann hätten wir sie im Handumdrehn eingeholt und überholt, im Handumdrehn ... »Zweite Gruppe im Laufschritt zum Sägewerk! Jeder bringt eine Handvoll Sägespäne mit.« Ich dachte immer noch, wie gern ich zur blühenden Weide gerannt wäre, daher konnte ich mich nicht so schnell umstellen und mich an den Weg zum Sägewerk erinnern. »Wiederhole den Befehl!« Doch bevor ich den Befehl wiederholte, mußte ich ihn begreifen. Ich sah sie verständnislos an, wie ein Schwachkopf. »Sägespäne?« fragte ich. »Ja, Sägespäne.« Ich verstand immer noch nichts. Aber eigentlich 79


konnte ich nichts dafür. Gar nicht weit von uns standen unsere Mädchen, und was wir bringen sollten, war für sie. Madats Gruppe sollte ihnen blühende Weidenzweige bringen und wir Sägespäne? »Sägespäne?« fragte ich. »Zweite Gruppe fertigmachen!« befahl sie. »Im Laufschritt zum Sägewerk und wieder zurück! Jeder bringt eine Handvoll Sägespäne mit. Befehl wiederholen!« Mir kam es so vor, als sollten wir Eichenrinde herschleppen, mir kam es so vor, als würden wir zerkratzt und erschöpft zurückkommen und als würden unsere Wunden und Schrammen von dem eindringenden Schweiß brennen. »Zu Befehl! Im Laufschritt zum Sägewerk und im Laufschritt zurück! Gestatten Sie, den Befehl auszuführen?« »Jeder bringt eine Handvoll Sägespäne mit.« »Ja«, sagte ich. »Wiederholen.« Ehrlich gesagt, das war eine regelrechte Folter. Ich hatte den Eindruck, mir würden Sägespäne in den Mund gestopft. Und ich wiederholte verdrossen: »Jeder bringt eine Handvoll Sägespäne mit.« »Na denn. Im Laufschritt, marsch, marsch!« Wir stürmten los. Wir flogen dahin. Plötzlich hörte ich meinen Namen. Das störte mich beim Laufen, verdarb mir die Freude daran. Ich drehte mich zur Lehrerin um, beleidigt, nicht mehr nur wegen der Sägespäne. Sie kam mir entgegen und sah mir forschend, irgendwie besonders forschend ins Gesicht. »Ihr braucht euch nicht zu übernehmen und nicht gar so schnell zu laufen«, sagte sie leise. So


»Zu Befehl!« Sie lächelte. »Das ist kein Befehl«, sagte sie leise, »ihr braucht euch nicht zu übernehmen, hörst du? Ihr geht ruhig zum Sägewerk und kommt ruhig wieder zurück. Ihr braucht euch nicht zu beeilen.« »Madats Gruppe ist aber schnell losgelaufen.« »Das ist was anderes«, sagte sie. »Bei euch hat es keine Eile.« »Zu Befehl!« Auf kürzestem Weg lief ich durch den schneebedeckten Schulgarten, sprang über den Flechtzaun und holte meine Gruppe ein. »Jungs ...« Ich wollte ihnen sagen, wer General Madatow war und warum ich Madat Madatow nennen wollte, aber plötzlich stürzte der Fremdling zu Boden. Er war nicht ausgerutscht, war nicht auf Eis getreten, seine Beine hatten sich einfach verheddert, und er war gestürzt. Ich wollte schon böse werden, aber er zog schuldbewußt den Kopf ein und rührte sich nicht vom Fleck. »Macht nichts«, sagte ich. »Tut dir was weh?« »Im Gegenteil.« Die Jungen lachten. »Da war doch gar kein Eis, wo du hättest ausrutschen können«, sagte ich. »Da war keins, und ich bin auch nicht ausgerutscht«, sagte er leise, wie mit Ameisenstimme. »Sprich nicht«, sagte ich, »atme durch die Nase.« »Ich atme ja durch die Nase«, sagte er mit der gleichen Ameisenstimme - jedenfalls stelle ich mir vor, daß sich Ameisen so unterhalten. »Laufen ist doch keine Kunst«, sagte ich. »Ich lauf ja gleich wieder los«, flüsterte er. »Ich weiß«, sagte ich, »aber atme durch die Nase.


Wenn du das nicht tust, wird dein Hals trocken und im Mund kriegst du einen bitteren Geschmack.« »Im Mund ist es nicht bitter«, flüsterte er. Wir kamen auf den Weg, der sich den Fluß entlangzog, und rannten so, daß der Wind in unseren Ohren pfiff. Das rote Hemd des Fremdlings leuchtete auf und verschwand, erschien und verschwand irgendwo hinter meiner Schulter. Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Eine Weile sah ich einen roten Punkt hinter meiner Schulter. Ich sah sein angespanntes Gesicht und die fest aufeinandergepreßten Zähne. Ja, er legte sich ins Zeug, um mich zu überholen oder doch wenigstens neben mir zu laufen, aber ich hatte Spaß daran, wenigstens zwei Schritte voraus zu sein, meinetwegen auch nur einen halben Schritt, auf jeden Fall aber vor ihm. »He, Junge, was machst du denn da?« vernahm ich plötzlich eine Stimme. Es war eine brüchige Greisenstimme, und sie gehörte dem boshaften Bissigen Opa, Großvater Sargis, dem Bruder meines Großvaters. Er trieb seine Kuh zum Baden an den Fluß, eine magere Kuh, die keine Kraft mehr hatte. Großvater Sargis hielt sie am Schwanz fest, damit sie nicht fiel, vielleicht hielt er sich auch an ihr fest, um nicht zu fallen. Der Großvater lachte auf und sagte: »Wohin flitzt ihr denn so? Deutschland wird gleich vor Schreck eine Pfütze machen.« Mit dem Stock versperrte er mir den Weg und packte mich an der Schulter. Ich blieb stehen, denn wenn ich mich losgerissen hätte, wäre Großvater gefallen - so schwach war er. Der Großvater wollte mich hinters Ohr oder in die Wange beißen, aber mich in die Wange zu beißen war gar nicht leicht, denn ich war mager, und der Großvater hatte nur noch einen einzigen Zahn. »Der Bissige Opa ist auch nicht mehr der 8z


alte«, sagte er mit seiner zitternden Greisenstimme, »er kann nicht mal mehr den Enkel beißen.« Ich entwand mich seinen knochigen Armen. Aber die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, er liebe mich, wolle mir mit seinem ausgedorrten schwachen Körper Liebe schenken. Mein Gesicht spürte immer noch, wie sein weicher Bart es kitzelte, in den Ohren hatte ich immer noch seine brüchige, zitternde Stimme, für immer prägte er sich mir ein, der sich selbst so nannte, wie wir Kinder ihn riefen: Bissiger Opa. Ich holte meine Gruppe an dem großen Steinkreuz ein, lief eine Weile neben dem Fremdling her und überholte ihn allmählich. Er wollte aber nicht hinter mir Zurückbleiben, er wollte neben mir laufen, und daher warf er sich mit seiner schmächtigen Brust vorwärts, er rannte so schnell, wie man das nur auf kurzen Strecken durchhält, spannte sich immer wieder zum Spurt, sein Gesicht war verzerrt, die Zähne hatte er fest zusammengepreßt. Trotzdem schaffte er es nicht, blieb zurück, und aus dem Augenwinkel sah ich sein rotes Hemd wieder hinter meiner Schulter. Jetzt war ich mitten in der Gruppe. Tap-tap-tap. Alles in mir jubilierte, mein Herz wollte vor Freude zerspringen, ich hätte am liebsten geschrien, gebrüllt, mit fremder Stimme gekreischt. Ich mußte einfach laufen, so wie die Vögel fliegen müssen. Ich konnte noch schneller laufen, konnte so schnell laufen, daß ich mich von der Erde hätte lösen können und ... Kreischend überholte ich jemanden. Auf mein Gekreisch hin drehte sich ein anderer um, der vor mir lief. Ich holte auch ihn ein, und wir liefen Schulter an Schulter. Entschuldige, ich muß auch dich überholen ... ich rannte schneller, schneller, schneller, mir schien, als hätte ich ihn schon h


überholt... Tap-tap-tap-tap-tap ... Ich sagte mir, daß ich seine Schritte bereits hinter mir höre, aber nein, er lief neben mir, Schulter an Schulter, sogar ein wenig vor mir, ich sah seinen Rücken. Plötzlich entfernte sich der Rücken Zentimeter um Zentimeter. Es war einer von meinen Leuten, und ich konnte nicht dulden, daß er schneller war als ich. Ich nahm alle Kraft zusammen und schoß vorwärts. Ich rannte so, wie man die letzten zwei, drei Meter einer kurzen Strecke läuft, ich krümmte mich zusammen und federte vorwärts, mir schien, ich müsse gleich explodieren, müsse in allen Nähten platzen, aber der Junge vor mir entfernte sich unerbittlich. Da kam es mir so vor, als liefe da vorn gar nicht er, sondern ich, und als strenge nicht ich mich so an, sondern ein ganz anderer, beispielsweise Artawasd, und als wäre es sein Herz, das gleich in meiner Brust zerspringen mußte. Ich verlangsamte den Schritt, der Anführer einer Gruppe darf als letzter laufen, er muß ja darauf achten, daß keiner unterwegs verlorengeht, ich ließ einen vorbei, einen zweiten, dritten, vierten, ich ließ zu, daß das rote Hemd mich einholte und an meiner Seite lief. Ich fragte ihn: »Na, wie steht’s?« Er flüsterte: »Gut.« »Wir sollen eine Handvoll Sägespäne holen«, sagte ich. Er flüsterte: »Eine Handvoll Sägespäne.« »Dir ist wohl nicht gut?« fragte ich. Er antwortete erst nicht und flüsterte dann: »Wenn wir nebeneinander laufen, geht es.«


»Was meinst du, haben wir die Hälfte geschafft?« fragte ich. »Es ist gar nicht mehr weit«, flüsterte er. »Nicht mehr weit? Weißt du denn nicht, wo das Sägewerk ist?« »Mutter wollte mich mal hinschicken, Rinde holen«, flüsterte er, »aber Vater hat mich nicht gelassen.« »Wir haben wohl noch nicht mal die Hälfte hinter uns«, sagte ich. »Es ist nicht mehr weit... gleich sind wir da.« »Nein, wir haben noch einen weiten Weg ...« Plötzlich hatte ich begriffen. »Fühlst du dich nicht gut?« Seine Kehle war wohl ausgetrocknet, denn er schluckte erst, ehe er flüsterte: »Wenn wir zusammen ...« »Ich hab Madat General Madatow getauft«, sagte ich. »Komm, wir laufen ein bißchen schneller.« Mir schien, als wolle ich ihm etwas sehr Wichtiges, sehr Erregendes sagen, vergesse es aber immer wieder. Er holte mich ein, und ich begriff, was ich ihm sagen wollte. »Wir werden immer zusammen sein«, sagte ich. Das war aber unmöglich. Wenn ich langsamer lief, wurde auch er langsamer, lief ich schneller, dann blieb er zurück. Hin und wieder mußte ich mich zügeln. Unsere Jungs stürmten schon über den Hügel der Kurzen Eiche. Mir wurde klar, daß ich beliebig langsamer werden konnte, er würde auch langsamer, bis wir ganz stehenblieben. Ja, der Wasserfall - er springt vom Stein, ja, der Adler - er schwebt am Himmel, ja, das grüne Feld - es wogt im Wind, alles ist in Bewegung, alles freut sich, der Schnee glitzert und funkelt in der Sonne ... aber Großvater Sargis hält sich kaum noch auf den Beinen, und seiner Kuh geht es nicht besser. h


»Was ist denn das?« flüsterte er. »Ich sehe ja gar nichts.« »Und den Schnee, die Sonne?« »Was für eine Sonne?« flüsterte er. »Kneif die Augen ein.« Er warf den schönen Kopf zurück, damit ihm die Sonne beim Laufen ins Gesicht schien. »Du spielst wohl Blindekuh?« fragte ich. Er holte mich ein. »Es ist gar nicht mehr weit, stimmt’s?« flüsterte er. »Ui-ui-ui«, vernahm ich. Auf Steinen am Wegrand saßen Frauen - unsere Mütter. Sie saßen da und wandten uns ihre Gesichter zu, rot wie Sonnenblumen. »Warum zwingt das Mädel bloß die Kinder, sich so abzurackern?« sagten sie. Dabei hatten sie sich selber gerade abgerackert. Eine von ihnen trug noch immer die Gasmaske, und ihre Gesichter waren rot von den Gasmasken. Sie kamen von einer Übung, und ihre von den Gasmasken roten Gesichter waren gewöhnlich noch bleicher als unsere. »Wir holen Sägespäne«, rief ich ihnen im Laufen zu. »Da hast du Sägespäne, kehr um«, sagte eine von ihnen. Wir ließen sie zurück. »Der Teufel soll sie holen mitsamt ihren Sägespänen! Daß ihr die Kinder nicht leid tun!« Aber leid tun konnten sie einem, nicht wir, denn sie mußten uns jeden Abend mit heißem Wasser waschen, uns Rücken und Knie schrubben, uns mit einem Handtuch trockenrubbeln und ins Bett bringen. »Mach den Mund zu«, sagte ich, »atme durch die Nase.« 86


Er hörte auf mich, aber als ich mich wieder umsah, stand sein Mund offen wie bei einem ans Ufer geworfenen Fisch. »Atme durch die Nase!« »Wenn ich durch die Nase atme, wird die Luft ...«, flüsterte er. »Was wird die Luft?« »Bitter.« Er holte mich ein, stieß gegen meine Schulter und blieb wieder zurück. »Dein Hemd muß gewaschen werden«, sagte ich. »Es ist ja gewaschen, aber die Buchstaben gehen nicht raus.« »Den Madat werden wir Fremdling ... den Madat werden wir General Madatow nennen«, sagte ich. »Die haben es jetzt schwer, die müssen jetzt bergauf«, flüsterte er. »Die sind jetzt stehengeblieben und ruhen sich aus.« »Dafür haben wir es auf dem Rückweg schwer.« »Aber sie haben es jetzt schwer«, flüsterte er. »Sie kommen mit Weidenzweigen zurück.« »Sie haben es jetzt sehr schwer«, flüsterte er. »Madat ist jetzt übel.« »Ist dir etwa übel? Sag schon, ist dir übel?« »Wir laufen auf ebenem Weg«, flüsterte er, »sie aber bergauf.« »Sie sind auf dem Rückweg«, sagte ich, »auf dem Rückweg mit Weidenzweigen, wir aber kommen mit Sägespänen an.« »Mit Sägespänen ...« »Und warum mit Sägespänen, kannst du mir das erklären?« »Ich weiß nicht«, sagte er, »die Lehrerin hat es so befohlen.« >7


»Damit sie weiß, daß wir bis zum Sägewerk gelaufen sind. Damit wir unbedingt bis zum Sägewerk laufen. Und dasselbe gilt für die Weidenzweige. - Du hättest doch die Sägespäne von den Frauen nehmen sollen«, sagte ich. »Hör auf mich, dreh um, nimm von ihnen die Sägespäne und bleib da sitzen, wart auf uns, wir sind gleich wieder zurück.« Er geriet vom Weg ab, ziemlich weit, dann fing er sich wieder und holte mich erneut ein. »Dreh um, nimm von ihnen die Sägespäne, bleib da sitzen und wart auf uns, hörst du?« Es sah ganz so aus, als laufe er nicht mehr selbst, sondern als laufe ein anderer in ihm, der sich ihm nicht fügte, und als stieße jener andere ihn vorwärts, verwirre ihn, bringe ihn vom Weg ab, er aber widersetze sich ihm mit letzter Kraft und kehre immer wieder zu mir zurück. »Bleib stehen.« Ich blieb selbst stehen und wandte mich ihm zu. Er stand taumelnd da, hob langsam den schönen Kopf, seine Augen waren entzündet und rot. »Dreh um. Du nimmst von den Frauen die Sägespäne und wartest auf uns.« Sein Blick war trüb, unendlich trüb, ein krankes Kalb schien mich anzusehen, das nicht begriff, was man von ihm wollte und warum man es nicht ruhig sterben läßt. »Ich höre nichts«, flüsterte er, »höre gar nichts ... als wäre ich unter Wasser.« Ich wollte warten, bis er wieder zu sich kam, aber er taumelte nur und sah mich mit trübem Blick an. Da drehte ich ihn um und schob ihn in Richtung Dorf. Er wehrte sich nicht, sagte kein Wort, und ich hatte den Eindruck, als wäre er einverstanden umzukehren.


»Gehen wir jetzt in die Schule?« fragte er. »Du gehst allein, ich aber laufe zum Sägewerk und komme mit den anderen Jungen zurück.« »Ihr werdet alle laufen«, flüsterte er. Vor Wut hätte ich am liebsten geweint. »Ich komm doch zu spät«, sagte ich, »ohnehin habe ich deinetwegen genug Zeit verloren.« »Alle lauft ihr bis dahin.« Sein Gesicht zog sich in Falten, Tränen traten ihm in die Augen. »Alle lauft ihr bis dahin, auch du.« »Ich müßte weinen, statt mir deine Tränen anzusehn!« platzte ich heraus. »Komm, wir kehren beide um«, flüsterte er dumpf, so wie wahrscheinlich Fische unter Wasser miteinander reden, »wir beide, du und ich, kehren zusammen um.« »Warum soll ich denn umdrehn, ich kann doch laufen!« »Alle werdet ihr laufen.« »Bin ich denn dein Vater oder deine Mutter, daß du mir dauernd was vorheulst, geh nach Hause und flenn da.« Ich stieß ihn in Richtung Dorf, er aber flüsterte: »Wir gehen zusammen zurück, zu zweit, du und ich ...« »Hast du etwa allein Angst? Hier gibt es keine Wölfe, keiner wird dich auf fressen, geh schon!« »Nein!« sagte er kurz. »Was dann?« Langsam hob er den Kopf und starrte mich mit trüben Augen an. »Was dann?« wiederholte ich. »Sie werden sagen ... werden sagen ...« Er schlug die Augen nieder. »Was werden sie sagen?« »Sie werden sagen«, flüsterte er, »alle sind sie bis h


zum Ziel gelaufen, nur der Fremdling hat auf halbem Weg kehrtgemacht. Alle, alle sind sie bis dahin gelaufen, nur ich ...« »Willst du denn ...« Meine Stimme versagte. Er hatte ja recht, hatte wirklich recht, aber ich hatte mich schon viel zu lange mit ihm auf gehalten, jede Sekunde zählte für mich, daher fiel mir nichts Besseres ein, als ihm einen kräftigen Stoß zu geben. »Geh zum ... du weißt schon, wohin ...« Er fiel zu Boden, und ich lief endlich los. »Bleib hier sitzen!« rief ich ihm über die Schulter zu. »Bleib hier sitzen, ich bringe dir Sägespäne mit!« Doch er richtete sich auf, erhob sich und kam schwankend auf mich zu. Ich blieb stehen. Wartete auf ihn. Wäre er näher gekommen, ganz nah, ich hätte ihn verdroschen. Aber er kam nicht bis zu mir, seine Beine knickten plötzlich ein, irgendwie sonderbar, und er fiel hin. »Alte Vogelscheuche!« schrie ich. Er versuchte hochzukommen. Er stand auf allen vieren und kam nicht hoch. Er hob nur langsam den schönen Kalbskopf und sah mich an. So blieb er mir im Gedächtnis. Ich lief los. Ich hatte Angst, mich umzusehen. Hatte Angst, wieder seinen taumelnden Gang zu sehen und zu sehen, wie er fiel. Ich entfernte mich immer weiter und redete mir ein, daß mich das Laufen anstrenge, weil ich allein lief, ich täuschte mich selbst, denn es strengte mich überhaupt nicht an, ich flog geradezu dahin, und der Wind pfiff nur so in meinen Ohren. Ich spürte, daß etwas Unschönes geschehen war, und dachte, ich entfernte mich im Laufen immer weiter davon. Schneller, schneller, schneller, sagte ich mir. Schneller, die Lehre-

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rin hat dir die Gruppe anvertraut. Du mußt bis zum Sägewerk laufen. Schneller, schneller, schneller ... Ja, etwas Unschönes war geschehen. Aber es war vorbei, also nur weg von diesem Unschönen, immer weiter weg. Wer nicht laufen kann, soll es eben sein lassen. Ich verlangsamte den Schritt, verlangsamte den Schritt, um kehrtzumachen, aber dann tat es mir leid um die Strecke, die ich schon zurückgelegt hatte, und ich sagte mir, daß ich nur deshalb langsamer geworden war, weil es nun bergan ging. Ich bewältigte den Hügel und lief hinunter, ich durfte nur nicht stolpern, nicht fallen, der Weg trug mich von selbst, aber trotzdem fiel mir das Laufen immer schwerer. Das ist die Geschichte meines kranken Gewissens. Fünfundzwanzig Jahre sind seither vergangen. Ein Richter sagt zum Verbrecher: Für die und die Verbrechen müssen wir dich zu fünfundzwanzig Jahren Haft oder zum Tod verurteilen - wähle selbst. Der Verbrecher überlegt und sagt: Den Tod oder fünfundzwanzig Jahre? Ist das nicht ein und dasselbe? Ich habe kein Verbrechen begangen, nein, und niemand hat mir vor Gericht so eine Frage gestellt, ich wollte dir einfach sagen, daß fünfundzwanzig Jahre eine Zeit sind, die dem Tod gleichkommt, daß in dieser Zeit alles sterben, verblassen, sich verändern kann; deine alte strenge Lehrerin sieht dich blinzelnd an und sagt: Nein, ich erinnere mich nicht, ich hab die Brille vergessen, ich sehe schlecht. Sie müssen schon entschuldigen ... nein, ich erinnere mich nicht. Und du selbst blickst wie gebannt in die Gesichter von Frauen und kannst nicht fassen, daß du dereinst von diesen erloschenen Augen gesagt hast: der Blick vielfarbiger Augen, und daß diese Vielfarbigkeit und also auch das Leben aus diesen Augen 9i


nur einen einzigen Tag geleuchtet haben und dann in andere Augen übergewechselt, hinübergeflogen sind. Alles verblaßt, alles ändert sich, doch nie ändert sich, nie gerät in Vergessenheit, nie verblaßt in dir, was du in der Kindheit erlebt hast, was du selbst getan hast. Und wenn du als Kind in einer Gruppe gelaufen bist, wird in dir immer und ewig das Stampfen eurer Kinderfüße lebendig sein. Tap-tap-tap ... Und wenn die Sägespäne wichtiger waren als ein Kamerad ... ja, ja, wenn du einen auf alle viere gefallenen Kameraden, der dir hinterhersah, im Stich gelassen hast, dann denk nicht, daß du nur den nächsten Hügel zu bewältigen brauchst, um wieder leichter zu laufen, denk nicht, weil du dich nicht umblickst und ihn nicht wieder siehst, weil du nicht siehst, wie er den Kopf hebt und dir hinterherschaut, denk nicht, daß du all das je vergißt. Du siehst dich nicht um, wirst ihn aber immer sehen, du wirst leicht und schnell laufen, und doch wird dein Lauf gehemmt sein. Und dein Gewissen wird dich quälen und dir keine Ruhe lassen. Vom Sägewerk kamen uns mehrere Fuhrwerke mit Brettern entgegen. Gespannführer war der Badalower Großvater, genannt der Bittere. Ich trat beiseite, um den letzten Wagen vorbeizulassen, und war erleichtert. »Großvater Awak«, sagte ich, »der Enkel von Arsen Darbnenz konnte nicht mit uns laufen, er ist auf halbem Weg zurückgeblieben, red ihm gut zu und nimm ihn mit ins Dorf.« »Und wer bist du?« fragte er. Er war so alt, daß er meinen Vater sicherlich nicht kannte. »Ich bin der Enkel von Großvater Awetik«, sagte ich.

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Die Ochsen des Bitteren Opas waren klapperdürr, die Bretter aber frisch und schwer, nur mit größter Mühe zogen die Ochsen ihre Fuhre. Als ein Rad an einen Stein stieß, blieb der Wagen stehen. »Ach, du Hundesohn«, sagte er zu mir und schlug einen Ochsen mit der Peitsche, »hast einen Kameraden auf halbem Weg im Stich gelassen, und ich soll ihn jetzt nach Hause schaffen?« Der Ochse legte sich ins Zeug, und das Rad rollte über den Stein. Der Wagen fuhr weiter, der Weg war frei, aber ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Mein Herz schlug immer dumpfer, ich glaubte in tiefe Stille zu sinken. Die Baumstämme und Stümpfe ringsum standen reglos, weich glitzerte der Schnee, mir war, als sei da etwas Bekanntes, als trüge ich ein Bündel Eichenrinde auf dem Rücken, und die Last habe mich im Schnee versinken lassen. Im Schnee und in mir selbst. Ich hörte, wie fern auf dem Weg ein Ochse gepeitscht wurde also legte sich ein Ochse ins Zeug, also drehte irgendwo ein Rad durch, stemmten die Ochsen mal das eine, mal das andere Bein gegen die Erde, strengten sich an. Auf Erden geschieht mancherlei, ich aber stehe hier nutzlos herum, stehe einfach auf freiem Feld. Ich ging auf den Weg zurück und begriff, daß ich hier die ganze Zeit vom Geruch frischer Bretter und Sägespäne eingehüllt gewesen war, darum war es mir so vorgekommen, als hätte ich ein Bündel Eichenrinde auf dem Rücken. Ich rannte schon wieder, wußte aber im ersten Augenblick noch nicht, wohin. Dabei lief ich natürlich zum Sägewerk. Ich sagte mir, daß ich zum Sägewerk laufe, trotzdem hatte ich dauernd den Eindruck, als liefe ich zum Dorf, auf dem Weg aber läge Artawasd 93


und sähe mich mit trüben Augen an. Nein, ich lief nicht zum Dorf, ich lief zum Sägewerk, wegen einer Handvoll Sägespäne. Auf dem Pfad unweit des Sägewerks erkannte ich die schwarzen Silhouetten unserer Jungen. Ich hätte den Weg abkürzen, über den Schnee, übers Eis des zugefrorenen Flusses laufen und das Sägewerk kurz vor den Jungen erreichen können, aber ich wollte sie einholen und mich unter sie mischen, einer von ihnen werden. Am Sägewerk stieß ich zu ihnen. »Und wo ist der Fremdling, er hat es wohl nicht geschafft?« fragten sie mich. »Nein, er hat’s nicht geschafft«, sagte ich und traute mich nicht hinzuzufügen: Bist selber ein Fremdling, sondern antwortete nur: »Er hat’s nicht geschafft.« Dann bückte ich mich und nahm zwei Hände voll Sägespäne, eine für Artawasd, die andere für mich. Gleich darauf überlegte ich, daß ich Artawasd die Sägespäne aus der rechten Hand geben, daß ich ihm die Hand wie zum Gruß reichen und sagen würde: Da, das habe ich dir mitgebracht, nimm, es ist deins. »Wieviel Handvoll hast du denn genommen?« fragte ich einen Jungen. »Eine natürlich.« »Und für Artawasd nichts?« »Für Artawasd?« »Artawasd ist zurückgeblieben, und du hast keine Sägespäne für ihn mitgenommen?« »Das hätte noch gefehlt!« »Er hat es doch nicht geschafft«, sagte ich. »Nein, ich hab keine genommen!« »Ich aber hab welche genommen, da, gib du sie ihm.« »Wenn du sie genommen hast, dann gib du sie ihm auch!« 94


Ich konnte ihm nicht erklären, warum es mir schwerfallen würde, Artawasd die Hand hinzustrecken, ich konnte mir das selbst nicht erklären. Noch begriff ich nicht, warum ich kein Recht hatte, ihm brüderlich die Hand zu reichen. »Wo mag jetzt Madat mit seiner Truppe sein?« sagte ich. »Wahrscheinlich sind sie auch auf dem Rückweg.« »Sicherlich bei der Weide.« »Hör mal, ich geb dir die Sägespäne für Artawasd, gib du sie ihm«, sagte ich. »Du hast sie genommen, also gib du sie ihm.« »Du überlebst es wohl nicht, wenn du sie ihm gibst?« fragte ich. »Du überlebst es wohl selber nicht?« »Laufen wir langsamer«, sagte ich, »sie sind erst bei der Weide.« »Sie sind schon auf dem Rückweg, vielleicht überhaupt schon zurück.« »Na klar, Artawasd ist ja nicht in ihrer Gruppe«, sagte ich. »In unserer auch nicht.« »Vielleicht hat der Bittere Opa ihn mitgenommen«, sagte ich. »Wir können ja langsamer laufen.« »Wenn du nicht mehr kannst, lauf nicht«, sagten sie zu mir. Ich begriff nicht sogleich, daß ihre Worte mir galten. »Wer soll nicht können? Ich? Na los!« Ich spannte alle Muskeln und wollte ihnen Zurufen: Na los, holt mich ein! Ich spannte meine Muskeln bis zum Äußersten, konnte mich aber nicht von ihnen lösen, ich fühlte eine Leere in meinem Innern, etwa so, als würde ich nach einer Regel der Sanskrit-Grammatik gefragt.

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Solch eine Leere war in mir - deshalb führte alle Anspannung zu nichts. »Wer ist denn wegen Artawasd eine Stunde zurückgeblieben und ist dann wieder zu euch gestoßen?« »Du«, sagten sie. »Ja, ich.« Was wahr ist, ist wahr, sagten sie zu mir, du bist wegen Artawasd zurückgeblieben. Beim Sägewerk bist du wieder zu uns gestoßen. Artawasd hat uns nicht eingeholt, du hast es geschafft. Na ja, ich hab’s geschafft und hab euch eingeholt. Ihr wart zu weit zurückgeblieben, aber eingeholt hast du uns, Artawasd nicht. Er konnte nicht mehr weiter, bin ich etwa schuld daran? Wer sagt denn, daß du schuld bist? Ich bin nicht schuld. Bist du nicht. Im Gegenteil, ich bringe ihm Sägespäne mit. Warum eigentlich? Ich gebe sie ihm. Warum? Ich habe sie für ihn mitgenommen. Was hast du für ihn mitgenommen? Sägespäne! schrie ich, Sägespäne! Sägespäne! Ich habe für ihn Sägespäne mitgenommen, laufen wir doch langsamer ... Und wer ist wegen dem Bissigen Opa zurückgeblieben, wer? sagte ich, und wer hat euch dann wieder eingeholt, wer? Sie gaben mir keine Antwort. »Erst wegen dem Bissigen Opa ...« Sie hörten mich nicht, sie waren schon weit voraus und entfernten sich, entfernten sich immer mehr von mir. Es sah so aus, als träten sie auf der Stelle, es sah so aus, als wäre das gar kein Lauf, sondern eine Karikatur auf einen Lauf, außerdem sah es so aus, als brauchte ich mich nur noch ein wenig, ganz, ganz wenig ins Zeug zu legen, dann hätte ich sie eingeholt. Ich konnte nicht glauben, daß in mir so eine Leere war, die mich nicht laufen ließ, und ich konnte nicht glauben, 96


daß sie wahrhaftig liefen ... doch sie entfernten sich immer mehr, und mit ihnen schwanden das Leben und die Freude und die Lust am Lauf und der rasche Blick vielfarbiger Mädchenaugen, ihr halb spöttischer und halb fröhlicher Blick. Ich beneidete sie heftig und verfolgte voll Haß ihre hartnäckige, leblose und doch so hartnäckige Vorwärtsbewegung. Meine nutzlose Existenz war mit ihrer starken Gruppe nur noch durch den Haß verbunden. »Allein laßt ihr mich zurück, na schön«, flüsterte ich ihnen nach. Aber ihre Rücken waren teilnahmslos. Sie wurden weder schneller noch langsamer, entfernten sich aber unerbittlich; und als ich wieder einmal die Augen hob, waren sie schon verschwunden, waren da nur der leere Weg und der Schnee. Ich blieb stehen. Sie waren also fort. Und ich erkannte, daß mich nichts, rein nichts mehr mit ihnen verband, nicht mal der Wunsch, Erster zu sein, und daß das sogar besser war - da bin ich, und da ist der Weg; Schnee und Stille weit und breit. Und inmitten dieser stummen Schneemassen auf dem menschenleeren Weg stehe ich mutterseelenallein, mein eigener Herr. Wenn ich will, lege ich mich hin, wenn ich will, biege ich vom Weg ab und bringe mich nutzloses Wesen dahin, wo ich ganz und gar nicht hin soll ich weiß selbst nicht, wohin. Ich begriff nicht, wie es geschah, aber plötzlich merkte ich, daß ich wieder lief. Schnee, Schnee, überall Schnee, und mir schien, als liefe ich in diesem Schnee immerzu auf einem Fleck. Ab und an sah ich mich um, als wäre ich zu mir gekommen, begriff wieder nichts, wußte nicht einmal, ob ich schlief oder auf dem Fleck 91


trat. Wie Sonnenuntergang und Dämmerung verschmolzen in mir und verselbständigten sich wieder der Lauf und der Schnee. Schnee, Schnee, immer der gleiche Schnee. Und in diesem schneeweißen Weiß war nichts, das nicht weiß gewesen wäre, so daß ich mir hätte sagen können, da sei etwas Dunkles, irgendein Gegenstand, jetzt habe ich ihn eingeholt und jetzt hinter mir gelassen. Natürlich war da ein Lauf gewesen, wir waren gelaufen ... hatten uns in zwei Gruppen geteilt ... auf fernen Hügeln hatten die aus den oberen Klassen hurra geschrien ... Frauen mit roten Wangen hatten dagesessen und uns angesehn ... dann hatten wir unsere Hände in heiße Sägespäne getaucht. All das hatte es gegeben, aber es lag weit zurück, war früher einmal gewesen und war nun vorbei. Der Fremdling war auf mich zugekommen, hatte sich vor mich gestellt, auch das war vor langer Zeit gewesen, und jetzt träumte ich davon. »Sag deiner Mutter, sie soll das Hemd waschen«, sagte ich, und da begriff ich, daß er leibhaftig vor mir stand. Er schluckte Speichel und keuchte. »Ich habe dir Sägespäne mitgebracht«, sagte ich. »Sägespäne«, flüsterte er. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich dir deine Sägespäne mitbringe.« »Meine Sägespäne ... bringst du mit«, flüsterte er. Er nahm von mir eine Handvoll Sägespäne, preßte die Fäuste an die Brust und wollte zum Sägewerk rennen. Ich faßte ihn um die Schultern, drehte sein Gesicht zum Dorf und lief an seiner Seite, aber für einen Sekundenbruchteil war mir selbst nicht klar, wer wen umgedreht hatte und wohin wir beide liefen.


»Warum mußt du mit mir laufen?« flüsterte er. Ich gab ihm keine Antwort, ihm wie auch mir kam es plötzlich so vor, als liefen wir zum Sägewerk. »Warum läufst du?« flüsterte er. »Du brauchst nicht mit mir ...« »Sprich nicht«, sagte ich, »atme durch die Nase.« »Lauf nicht mit mir.« Diesmal kam es mir so vor, als wollte er nicht mit mir laufen. Mit mir, der ich so schlecht war. Ich lauf hin und komme zurück, hatte er geflüstert, lauf hin und komm zurück. Aber nein, er dachte, ich sei so gut, daß ich ein zweites Mal zum Sägewerk liefe - seinetwegen. »Ja. Du läufst hin und kommst wieder zurück«, sagte ich. »Ich lauf hin und komm zurück«, flüsterte er. »Mach den Mund zu.« Er fiel hin. Dann erhob er sich auf alle viere und fiel wieder um. »Du läufst hin und kommst zurück«, sagte ich. »Wir wissen schon, wie du läufst und zurückkommst.« Ich konnte ihm nicht aufhelfen, und mir gefiel, wie ich mich mit ihm plagte. Mir gefiel, daß ich ihn von der Erde aufhob, daß in seiner Faust meine Sägespäne waren und daß er so einen mageren, schmächtigen Körper hatte. »Wie still es ist«, flüsterte er, »schrecklich.« »Was, zum Teufel, soll dir das Sägewerk«, sagte ich, »wer wird schon nachprüfen, ob wir da waren oder nicht.« »Du bist schon mal hingelaufen, du brauchst nicht mehr mitzukommen«, flüsterte er, »ich laufe hin und komme zurück.« »Ich hab so einen bitteren Geschmack im Mund, wir wollen langsamer laufen.« 99


»Du brauchst nicht mit mir zu laufen«, flüsterte er, »ich bin gleich wieder zurück.« Plötzlich schrie er auf: »Du betrügst mich, du bringst mich ins Dorf!« Ich vertrat ihm den Weg und sagte: »Du gehst nicht zum Sägewerk. Ich laß dich nicht.« »Ihr alle, alle wart ihr beim Sägewerk, bloß ich nicht.« Er schluchzte. Schluchzte, weil er nicht mehr die Kraft hatte, zum Sägewerk umzukehren, weil er sich insgeheim damit abgefunden hatte, mit meiner Handvoll Sägespäne ins Dorf zurückzukehren. Er lief neben mir her, lief aufs Dorf zu, das Gesicht zur Grimasse verzerrt. »Aber du sagst nicht, sagst niemandem, daß du mir die Sägespäne gegeben hast?« Und wieder: »Du sagst niemandem, daß ich nicht beim Sägewerk war?« »Du warst beim Sägewerk«, antwortete ich. Schweigend würgte er an seinen Tränen, dann platzte er wieder heraus: »Du sagst aber nicht, daß ich nicht dort war, sagst es bestimmt nicht?« »Du hast deine Sägespäne in der Faust. Hast sie selber genommen«, sagte ich, aber in ihm, in seinem schwächlichen Körper war kein Platz für die Lüge, weinend wiederholte er immer wieder: »Und wenn sie fragen, woher ich die Sägespäne habe?« »Vom Sägewerk.« »Aber ich war doch gar nicht da!« Er würgte an Tränen. »Ich war nicht beim Sägewerk, woher hab ich dann die Sägespäne?« ioo


Vor uns lag das Dorf. Ich reckte mich und sagte zu ihm: »Du läufst besser als ich.« Das Dorf blickte von den Hügeln auf uns. Mit übergestülpten Ziegeldächern sahen uns unverwandt die Häuser an. Das Dorf schaute und sah, wie zwei seiner Söhne - der Enkel von Großvater Arsen und der Enkel von Großvater Awetik - von irgendwoher gemeinsam zurückkamen, der eine natürlich ein bißchen stärker und der andere ein bißchen schwächer, aber keiner überholte den anderen, sie gingen wie gute Kameraden Schulter an Schulter. Von allen anderen Häusern hob sich die Schule ab, ihre Fenster blinkten in der frühen Abendsonne. Von der Vortreppe der Schule aus beobachteten uns wahrscheinlich unsere Mädchen eine grün-rot-orangefarbene Schar. Unsere Mädchen, orangefarben gekleidet, mit blühenden Weidenzweigen in der Hand, verfolgten jetzt wohl, wie wir matt und langsam als allerletzte antrotteten. »Vom Schulhof aus können sie uns sehen«, flüsterte er. »Du läufst besser als ich«, sagte ich, »leg ein bißchen zu.« Er strengte sich an, konnte aber keinen Vorsprung gewinnen. Er strengte sich wieder an, einen Augenblick war er neben mir, sein roter Rücken leuchtete vielleicht sogar knapp vor mir auf, aber auch in diesem Augenblick war zu merken, daß er mich nur für eine Sekunde eingeholt hatte. Ihm war das selbst klar - über sein Gesicht huschte, sofort wieder erlöschend, so ein klägliches Lächeln, wie man es auf den Gesichtern von Menschen beobachtet, die ihre Niederlage akzeptiert, sich mit ihr abgefunden haben.

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Er flüsterte: »Geh allein.« »Sieh nur, ein einsames Grabkreuz«, sagte ich. »Was sagst du?« flüsterte er. »Ich sage, ein einsames Grabkreuz.« Was konnte ich ihm sonst schon sagen? Schließlich konnte ich doch nicht stillschweigend, als liefe keiner neben mir, als liefe keiner mit letzter Kraft neben mir, schließlich konnte ich doch nicht einfach vor ihm her, unter den Augen der Mädchen, als Sieger durch den ganzen Schulhof zur Lehrerin stürmen. An der Wegbiegung unweit der Schule sah ich mich um - er lief langsam, war fast immer noch da, wo ich ihn zurückgelassen hatte -, mitten im Schnee dunkelten das Grabkreuz und seine kleine Gestalt. Es sah aus, als bewegte sich nichts. Da reckte ich mich und rannte in großen Sätzen auf den Schulhof. Keine Stimmen. Alles menschenleer. Ich lief in die Klasse. Die Tafel war abgewischt. Auch im Lehrerzimmer war niemand. Inmitten der Stille tickte gleichmäßig das Uhrpendel, und auf dem Tisch welkten Weidenzweige. Der Hof war leer, und auf dem Fußboden vor dem Lehrerzimmer war eine Handvoll Sägespäne ausgestreut. »Nein«, flüsterte ich, »nein, nein...« Ich öffnete die Faust. Die Sägespäne darin waren zusammengebacken. Mir wurde heiß, ich rang um Luft, und mir schien, als hätte ich all das schon mal vor langer Zeit erlebt. Ich warf meinen Klumpen Sägespäne auf den Boden. Er zerfiel. Ich bückte mich und scharrte mit beiden Händen die Sägespäne zusammen. Dann lief ich zur Lehrerin nach Hause. Sie gab den Kühen Heu. Vor der Scheune stand 102


Madat, einen Weidenzweig in der Hand, und ließ die Kühe nicht in den Stall - bis die Tante alles Heu auf die Krippen verteilt hatte. Er runzelte die Brauen, sah mich aus den Augenwinkeln an und spuckte durch die zusammengepreßten Lippen. Dir hab ich’s gegeben, und nicht zum letztenmal, hieß das. Da entdeckte mich die Lehrerin, die Arme noch voller Heu, und es wurde totenstill. Sie sah mich an. Nur mich. Ich öffnete die Faust und hörte Sägespäne auf die Erde fallen. In ihrem Blick spürte ich etwas wie Liebe oder Zärtlichkeit, und mit einer unmerklichen Bewegung ihrer Lippen fragte sie: »Und wo ist Artawasd?« Ich spürte, daß sie von mir hören wollte: hier, in der Schule. Aber da war er nicht, er war allein in der Schlucht geblieben, bei dem einsamen Grabkreuz. »Er ist unterwegs«, sagte ich. Ihr Blick wurde kalt. »Ja?« sagte sie, drehte sich um und verteilte weiter das Heu für die Kühe.


Brot

^ater griff sich die Axt und ging den Schuppen ausbessern. Mutter band sich eine Schürze um und ging aufs Feld Kartoffeln roden. Onkel schulterte die Heugabel und ging in die Berge Heu einbringen. Ich saß in der warmen Sonne auf einem Baumknorren in unserem Hof, aß einen Brotkanten und las ein Abenteuerbuch. Es war Sonntag. Die Schularbeiten für Montag hatte ich gemacht. Ob Armenisch, Russisch, Mathematik oder Geographie - die Lehrer gaben mir nur glatte Einsen, in allen Fächern hatte ich Sehr gut. Das Abenteuerbuch war spannend. Mein Vater war ein guter Vater. Meine Mutter liebte mich innig. Mein Onkel war ein kräftiger und schöner Mann. Die Schwalben, die unterm Sims unseres Hauses genistet hatten, waren zusammen mit den Kranichen in andere Länder geflogen. Auf Garten und Wald senkte sich leise raschelnd der Herbst. Ohne unsere Schweine, die sich schon zwei Tage nirgends blicken ließen, wäre jetzt alles auf Erden wunderschön gewesen. Die Axt unterm Arm, die Schürze vorgebunden, die Heugabel geschultert, warfen Vater, Mutter und Onkel mir liebevolle Blicke zu und freuten sich insgeheim, daß ihr Kind heranwuchs: Da hat es die Wange in die Hand gestützt und liest ein Buch. Im Begriff, aufs Feld zu gehen, überlegte Mutter: Ob ich’s ihm sage? Und beschloß, nichts zu sagen, den Sohn nicht zu stören, 104


sollte er doch mal ein gelehrter Mann werden, mochte er ruhig das Buch lesen. Die Axt unterm Arm, überlegte Vater: Ob ich ihn bitte? Und beschloß gleichfalls, nicht zu bitten, mochte der Sohn lesen, mochte er Brot essen und lesen. Ich las und spürte, daß sie mir etwas sagen wollten, tat aber, als merkte ich nichts, als säße ich einfach da und läse ein Buch über alle möglichen Abenteuer, denn es ist schön, unheimlich schön, wenn man liest, wie andere aufbrechen, dem Regen trotzen, kämpfen und Niederlagen erleiden, dann aber siegen, und es ist schlimm, ist einfach abscheulich, wenn man selber losgehen muß, sich abstrampeln, um bis zur Erschöpfung nach den Schweinen zu suchen, sie zu finden oder auch nicht zu finden, weil sie sich im Wald - wo denn sonst? - verirrt haben. Der Schuppen mußte dringend ausgebessert, die Kartoffeln mußten unbedingt gerodet werden, und das Heu drohte schon zu verdorren. Also durften Vater, Mutter und Onkel ihre Arbeit nicht aufschieben, sie mußten den Schuppen ausbessern, die Kartoffeln roden und das Heu einbringen. Also sagte Vater zu mir: »Kann ich dich um einen Gefallen bitten?« Ich wußte, worum er mich bitten würde, doch ich fragte zurück: »Um was für einen Gefallen?« Es war eine Schande, daß ich wußte, worum er mich bitten wollte, aber so tat, als hätte ich keine Ahnung. »Unsere Schweine sind auf der Hellen Lichtung gesehn worden«, sagte Vater. »Wer hat sie gesehn?« fragte ich. »Der Förster.« »Wann?« fragte ich. »Gestern abend.« io 5


Mit Mühe unterdrückte ich die Frage, warum er sie gesehen habe. Ich sagte: »Welches ist denn die Helle Lichtung?« »Du kennst sie doch.« »Etwa die, die so weit weg liegt?« Er antwortete nicht, und mir wurde klar, daß er sich allmählich über mich ärgerte. »Du willst wohl, daß ich sie bei der Hellen Lichtung suche?« »Gar nichts will ich«, sagte Vater kalt. »Unsere Schweine sind auf der Hellen Lichtung gesehn worden. Na und?« sagte ich. Er antwortete wieder nicht, sondern wandte sich ab, um zu gehen. »Na schön«, sagte ich. »Ich geh. Wenn sic aber da nicht sind?« »Dann weiß ich nicht weiter«, erwiderte er. Er war ernstlich verärgert, denn er konnte sie nicht suchen gehen, und ich stellte ihm Fragen wie ein echter Drückeberger und Faulpelz. »Sehr gut«, sagte ich, »ich hab es nicht so gemeint. Gleich gehe ich.« Schön waren die stummen Schwalbennester und die Apfelbäume im Garten, auf denen hier und da noch ein Apfel hing, Mutters sanftes Lächeln und der rotbraune Hund, der sich zu meinen Füßen hingelegt hatte und döste, der rote Kamm auf dem Hahnenkopf und der Süßkirschenbaum, der plötzlich so seltsam piepste. Ich sah näher hin und erblickte ein gelbbäuchiges Vögelchen - trotz des Spätherbstes hatte es auf dem Baum noch eine Kirsche entdeckt und piepste nun vor Verwunderung und Freude. Ich begriff, daß unter der milden Herbstsonne alles schön und traurig war und daß i 106


es nur ein einziges Scheusal gab - mich, denn nun tat ich schon eine geschlagene Stunde so, als müsse ich unbedingt das Buch lesen. Da sagte ich: »Das Buch kann ich auch im Wald lesen.« »Danke, du erweist uns eine große Hilfe«, sagte Vater. »Der Hund soll inzwischen hier auf die Hühner aufpassen, aber du kannst ihn auch mitnehmen, wenn du willst. Danke«, wiederholte er, und ich war leicht beschämt. »Den Hund nehme ich mit«, sagte ich. Sie ließen mich den warmen Wollpullover überziehen, den Mutter mir an langen Winterabenden gestrickt hatte, bestanden darauf, daß ich die leichten Schuhe mit den Gummisohlen anzog, damit ich auch ja nicht abrutschte, und sahen mich liebevoll an, denn der Pullover stand mir sehr gut, und ich war ihr Goldkind. Dann sagten sie: »Bis zum Blinden Born hast du den gleichen Weg wie der Onkel. Dort biegst du auf den Strauchweg ab, der Onkel zeigt es dir, und von da ist’s bis zur Hellen Lichtung nur noch ein Katzensprung.« Der Hund wollte nicht mitkommen. Ich rief ihn noch einmal, da erhob er sich langsam und folgte uns träge. Er kannte nämlich den diebischen Geier aus dem Wald nebenan. Sie waren alte Bekannte. Dieser Räuber schwebte nicht wie alle richtigen Geier frei und hoch am Himmel, sondern näherte sich unsern Hühnern verstohlen, kam von Baum zu Baum geflogen, von Strauch zu Strauch, versteckt in hohem Gras. Der Hund wußte das wahrscheinlich noch und blieb stehen. Doch ich sagte mir, ich nehme ihn zu einer wichtigen Arbeit mit, und pfiff ihm. Lustlos trottete er hinter uns her,

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als wir jedoch das Dorf hinter uns gelassen hatten, überholte er uns und rannte fröhlich jaulend weit voraus. Er hatte Sehnsucht nach dem Wald, nach dem Herumtollen. Zu Hause blieben mein Schreibtisch mit den Büchern, meine Tischlampe mit dem warmen, freundlichen Licht, meine kleine Bibliothek, der weiche Teppich, das Radio und auf der Liege das warme Kamelhaartuch, mit dem ich mich tagsüber zudecken konnte, wenn ich ein Schläfchen machen wollte. Im Wald aber waren Bären, Elefanten, Tiger, Keiler, Teufel, böse Geister, Ungeheuer - alles, was außer unseren Schweinen und meiner hochlöblichen Person noch existiert. Ich ging langsam, blieb merklich hinter dem Onkel zurück. Das Buch hielt ich aufgeschlagen, beim Gehen blickte ich immer wieder hinein. Es sollte so aussehen, als könne ich mich nicht davon losreißen, als sei es gar zu interessant. Beim Blinden Born, wo sich der Weg gabelte, blieb der Hund stehen und wartete auf uns. Der Born hieß »blind«, weil er aus dem Erdinnern feinen Sand mit herausschwemmte, der ihn hin und wieder verstopfte. Born heißt auf armenisch akn, also Auge, Augenarzt, Brille, Brunnen, Born, Quelle, Augen der Brunnen, blindes Auge, blinder Born, dachte ich und gab mir selbst eine dicke Eins. Der Blinde Born war wieder mal mit feinem Sand und Schlamm verstopft. So fest verstopft, daß er wahrscheinlich unter der Erde keine Luft bekam. Mein Onkel guckte und guckte auf die verschlammte Quelle, dann holte er die Wegzehrung aus der Tasche, teilte ein gekochtes Huhn, wickelte die eine Hälfte in ein Fladenbrot, packte das Ganze in eine Zeitung, gab 108


es mir und wies mit dem Kopf zur Hellen Lichtung. Dorthin mußt du gehen, hieß das. »Ich habe Durst«, sagte ich. »Dort kannst du trinken, so viel du magst«, sagte er, »unter der großen Eiche ist eine gute Quelle. Schieb ab!« Freudig bellend raste der Hund vorweg. Für einen Moment ergriff auch mich Freude, und ich lief los. Das Laub unter meinen Füßen raschelte laut. Und nur dieses Rascheln war in meinen Ohren, während ich so lief. Die Blätter reichten mir bis zu den Knien. Sooft ich stehenblieb, wurde alles still, dann hörte ich ein kaum vernehmbares Sirren, mit dem im gelben Herbstlicht Blätter durch die Luft wirbelten. Einmal sprang ein schwarzer Birkhahn schreiend zu meinen Füßen auf, dann wurde es wieder still. Ich sah mich um. Der Onkel kniete am Born und machte sich da zu schaffen. Nach einer Weile, schon tiefer im Wald, sah ich mich erneut um. Erst kam es mir so vor, als sei der Onkel weggegangen, aber das stimmte nicht - über den Born geneigt, schien er etwas herauszuholen, nur war er schon schwer zu erkennen, denn seine Kleidung und der Weg hatten die gleiche Farbe. Ich setzte mich unter einen Baum; und um mir selbst etwas vorzumachen, so zu tun, als sei auch ich beschäftigt, schlug ich das Abenteuerbuch auf. Aber natürlich las ich nicht. Die Nase im Buch, wartete ich darauf, daß der Onkel den Weg verließ, auf dem ich wieder nach Hause gehen könnte. Doch er saß am Born, rauchte und versuchte offenbar, mich im Wald auszumachen. Warum sitzt du bloß müßig rum, dachte ich mir, eure Aufgabe ist es, die verlorenen Schweine zu suchen, meine - Bücher zu lesen, ich lese ja auch, ihr log


aber sitzt müßig rum. Und um mir noch mehr vorzumachen, stopfte ich mir die Finger in die Ohren und sah unentwegt ins Buch. So als läse ich, als täte ich nichts anderes als lesen. Leise drang fernes Rascheln zu mir. Ich hob die Augen vom Buch und nahm die Hände von den Ohren - da war das Rascheln ganz nah und sehr laut. Aber ehe ich erschrecken konnte, erblickte ich den Hund. Er kam auf mich zugerannt, sprang an mir hoch, sprang noch einmal und lockte mich aufwinselnd zur Hellen Lichtung. Damit er aufhörte, hochzuspringen und an meinem Ohr zu winseln, gab ich ihm die Hälfte von meinem Fladenbrot. Er setzte sich zu mir und wartete, was ich ihm noch geben würde. Das weiße Hühnerfleisch aß ich selbst, den Brustknochen warf ich dem Hund hin. Die Halshaut aß ich selbst, die Knorpel warf ich ebenfalls dem Hund hin. Eigentlich hatte ich gar keinen Appetit auf das Huhn, sicherlich deshalb, weil ich die Schweine nicht gesucht hatte. Trotzdem verputzte ich meinen Anteil gewissenhaft - das unwahrscheinlich leckere Hühnerbein nagte ich restlos ab, den Knochen gab ich dem Hund. »Da, nimm!« sagte ich. An der Quelle war niemand mehr. Ich ging dorthin zurück. »Komm!« sagte ich zum Hund. Er sah mich an und rührte sich nicht vom Fleck, denn er glaubte nicht, daß es schon Zeit war umzukehren. »Wie du meinst«, sagte ich zu ihm, »dann bleib hier, das ist deine Sache.« An der Quelle blieb ich stehen - da war weder Schmutz noch Schlamm, jetzt konnte man sie wirklich nicht mehr blind nennen. Das Wasser quoll kräftig und frei, sprudelte geradezu. Der steinerne Boden war IIO


sauber und blau. Ich neigte mich darüber, sah in dem durchsichtigen klaren Wasser meine satte und dümmliche Visage und schämte mich. Aber ich wollte zu gern trinken, und so beugte ich mich übers Wasser. Ehe mir bewußt wurde, daß ich dieses Borns nicht würdig war, trank ich schon. Daß dieser Born, dieses Hühnerfleisch, dieser unser Hund, dieses Waldesrauschen, mein Vater und meine Mutter - daß all das sehr gut war, ich selbst aber mordsschlecht, kam mir nicht in den Sinn, Schluck für Schluck trank ich von dem klaren Quellwasser, ohne mir derartige Gedanken zu machen. Ich trank mich an dem köstlichen Wasser satt und war höchst zufrieden. Aus dem Wald drangen Laute herüber, und mir schien, als kämen sie von unseren Schweinen. Zwar berührte mich das wieder etwas peinlich, aber ich ging weiter auf unser Haus zu - zu meiner Liege, meinem Tisch und meinem warmen Winkel. Als ich das Dorf fast erreicht hatte, blickte ich mich um und sah, daß der Hund mir folgte. »Da bist du ja«, sagte ich, »du wolltest doch nicht mitkommen.« Ob der Geier inzwischen ein paar von unseren Hühnern geholt hatte, merkte ich nicht. Um die Hühner muß sich Mutter kümmern, dachte ich. Soll sie nachsehen, ob der Geier ein Huhn geholt hat oder nicht. Ich habe für morgen Erdkunde gelernt und meine Rechenaufgaben gemacht. Vater saß auf der Liege, ganz am Rand. Also schmerzte ihn wieder mal der Rücken. Aber warum er so froh lächelte, war mir unbegreiflich. »Was bringen sie da gerade im Radio?« fragte er. »Weißt du’s?«


»Komitas.« »Hat er das selber komponiert, oder singt er nur?« »Er hat es selber komponiert, er war doch Komponist.« Der Vater zerfloß wieder in einem Lächeln. Dann sagte er: »Tüchtig, daß du in Geschichte so gut Bescheid weißt.« »Wer hat das gesagt?« »Deine Lehrer. Sie waren da, um mir zu helfen. Hast du für morgen die Schularbeiten fertig?« »Ja.« »Danke«, sagte er. »Und daß du die Schweine nicht gefunden hast, macht nichts. Ich gehe gleich selber los und hole sie.« »Jetzt siehst du doch nichts, es ist schon finster«, sagte ich. »Gestern hat ein Wolf im Wald Muscheghs Schweine gerissen, ich fürchte, er könnte auch unsern was antun.« Er versuchte, von der Liege hochzukommen, schaffte es aber nicht. Und er vermied es lange, sich aufs Kissen zu stützen, aber schließlich tat er es doch. »So schmerzt es nicht«, sagte er. »Hast du nur auf der Hellen Lichtung nachgesehn oder noch woanders?« »Auf der Lichtung«, sagte ich. »Da brauch ich also nicht mehr hinzugehen, schade, ich hatte gehofft, sie sind dort.« »Ich bin mir nicht sicher«, sagte ich, »der Weg war voller Laub, ich weiß nicht, ob es wirklich die Helle Lichtung war, die ich gesehen habe.« »Stand da eine große Eiche am Rand?« »Ja«, sagte ich, »und unter der Eiche war eine Quelle.«


Obwohl Vater sich vor Schmerzen krümmte, stand er auf und suchte nach seiner Mütze. Er war so erschöpft, daß er nicht mal merkte, daß er sie in der Hand hielt. »Schade, daß sie nicht auf der Hellen Lichtung waren, also sind sie noch weiter gelaufen.« »Dein Rücken tut weh«, sagte ich, »bleib doch hier.« Er lächelte gequält. »Wenn ich mich im Dunkeln konzentriere, geht der Schmerz weg.« »Ich komm mit«, sagte ich. Er strich mir übern Kopf. »Du hast dich heute schon müde gelaufen, iß jetzt und geh ins Bett.« »Ich komme mit.« »Nein«, schnitt er mir das Wort ab, »lies das Buch.« Draußen im Dunkeln lief hechelnd etwas unterm Fenster vorbei, es war unser Hund. Er lief in den Wald, um in weiter Ferne nach unseren verirrten Schweinen zu suchen und sie, sobald er sie gefunden hatte, nach Hause zu treiben, damit ich den ganzen Winter über ihr Fleisch essen konnte und für ihren Erlös einen warmen Mantel, Skier, einen flauschigen Schal und auch noch eine Ohrenklappenmütze bekam. Mutter deckte den Tisch. Das Radio spielte leise. In der Ecke brannte die Tischlampe, auf dem großen weißen Tischtuch prangte ein herrlich ausgebackenes helles Weizenbrot. Neben dem Brot standen Kartoffeln, schön knusprig gebraten. Im Ofen zuckten kurze Flammenzungen. Leise gluckerte der Teekessel, neben der Tasse blitzte der silberne Teelöffel, und die braune Nußkonfitüre wirkte in dem milchigen Licht, das sich übers Zimmer ergoß, geradezu festtäglich. Die Nacht "3


war mild und schwarz, und traurig klang das einsame, verborgene Zirpen des Heimchens bald vom Ofen und bald von meiner Liege herüber. Alles war wunderschön und war für mich geschaffen - ich aber war all dessen nicht würdig. »Ich will nichts zum Abend essen«, sagte ich, ging ins Bett und drehte mich zur Wand. Mutter kam zu mir. Ich kniff die Augen zu. Sie stopfte mir die Decke unter und murmelte zärtlich: »Todmüde ist das Kind.«


Der Bär

Efs geschah gegen Abend. Ein Bär kam aus der Schlucht und trottete auf die Zelte zu. Allen - Hunden, Kühen, Melkerinnen, Pferden, Schweinen - erstarrte das Blut in den Adern, der Bär aber ging seelenruhig wieder in seine Schlucht, nahm nur von der Großmutter unseres Lehrers die Unaussprechlichen mit - na eben das, was Weiber unten anhaben. Der Lehrer, Geworg Abowjan, ein Gewehr in der Hand, stand zu der Zeit gerade neben dem Zelt. Sie erblickten einander, er und der Bär, sahen sich eine Weile gegenseitig an, dann zwinkerte der Bär dem Lehrer zu, packte die Hosen und - nichts wie weg, zurück in die Schlucht. Das Gewehr in der Hand, plumpste der Lehrer auf die Erde, kugelte sich und wollte sich totlachen. »Schieß doch, halt keine Maulaffen feil, na los, lauf hinterher, lach nicht so albern, du Schafskopf!« »Mein Gewehr ist doch... hahaha!, ist doch mit Schrot geladen, mit Schrot, hahaha!« Sie drückten ihm einen Karabiner in die Hand und setzten ihn aufs Pferd. »Na, jetzt aber los!« »Oma, was du da gewaschen und auf die Leine gehängt hast, wo ist das?« fragte der Lehrer, vor Lachen fast erstickend. »Dort hat es gehangen!« Doch die Melkerinnen begriffen nichts und drängten ihn: »Reit los, du schaffst es noch, mach schon!« 115


Er trieb das Pferd an, aber ob nun das Pferd ein Fohlen und noch nicht zugeritten oder der Sattelgurt nicht festgezogen war - jedenfalls fiel er herunter. »Ach, du Hanswurst, du Tolpatsch, Teufel...« Das mit den Hosen habe ich mir ausgedacht, Hosen hat der Bär keine mitgenommen, aber sonst ist alles reine Wahrheit. Nachts war der Bär in den Schweinestall eingedrungen, am nächsten Tag hatte er im Himbeergestrüpp Mädchen zu Tode erschreckt, dann die Burka des Hirten zerfetzt und auch noch dessen Hund böse zugerichtet. Die Schweine hatte er in die Ohren gebissen, den Mädchen einen Eimer mit Beeren weggenommen und einem anderen Hund noch ein halbes Ohr und den Schwanz abgerissen. Im Dorf lachten sie nur darüber. Dann aber wurde der Bär unverschämt. Mit einemmal machte er einem Dutzend Schweinen den Garaus. Da beschlossen sie im Dorf, ihn zu töten. Der Lehrer Geworg ging zu dem alten Jäger Girisch, um den Bären gemeinsam mit ihm zu erlegen. »Er hat also genug auf dem Kerbholz?« fragte Onkel Girisch, in seinen Bart schmunzelnd. »Ja, so heißt es.« »Na so was! Dann töten wir ihn. Wenn er Schaden, großen Schaden angerichtet hat, töten wir ihn. Du sagst doch, wir müssen ihn töten, nicht wahr?« »Die Leute sagen, Onkel Girisch, wir beide sollen ihn töten.« »Na so was! Wir töten ihn. Wenn sie gesagt haben, wir sollen ihn töten, machen wir das auch.« Während er so sprach, umwickelte er sein Gewehr mit Draht und befestigte den Lauf am Kolben. »Du sagst, du warst selber auf der Sommerweide, als der Gast erschien, warum hast du ihn da nicht getötet?« 116


»Mein Gewehr war mit Schrot geladen, ich hatte keine Kugel für den Bären.« »Mit Schrot geladen, keine Kugel für den Bären, alles klar. Als sie dich aber aufs Pferd gesetzt und dir einen Karabiner gegeben hatten, warum hast du ihn da entwischen lassen?« »Das Pferd hat mich abgeworfen.« »Soso, abgeworfen hat es dich.« Onkel Girisch lachte leise vor sich hin. »Ich glaub’s dir schon, du hattest Schrot geladen, den Karabiner haben sie dir zu spät gebracht, das Pferd war nicht zugeritten und hat dich abgeworfen - wie solltest du ihn da töten! Das glaub ich dir gern.« So sprach er und wickelte gemächlich den Draht um den Lauf, wickelte und wickelte, bis der Draht zu Ende war. »Na dann komm.« »Und dein Gewehr? Du willst doch nicht etwa mit dem da losziehn?« Onkel Girisch ist ein Jäger, er liebt die Jagd. Tagaus, tagein tummelt er sich draußen - na klar, daß er viel Wild erlegt, na klar, daß er auch geschütztes Wild schießt. Und abends kommt immer der Vorsitzende des Dorfsowjets, Nikol, zu ihm, Rebhuhn essen. Wenn der erst mal sitzt, steht er so bald nicht wieder auf. Bring das Gewehr, sagt Onkel Girisch dann zu seiner Frau. Für den Jagdfrevel nimmt Nikol vom Dorf Sowjet Onkel Girisch das Gewehr weg. Er geht, doch am nächsten Abend ist er wieder da. Dann ißt er wieder Rebhuhn und nimmt wieder ein Gewehr mit. In seinem Büro haben sich schon zehn Gewehre angesammelt. Aber im Grunde ist das alles nur ein Gewehr. Ein Gewehr, in zehn Teile zerlegt, und man könnte es noch mal in zehn Teile zerlegen. in


Das sieht so aus: Bei einem Gewehr ist nur der Lauf echt, bei einem andern nur der Kolben, bei einem dritten nur das Schloß, und beim zwanzigsten wird wahrscheinlich nur noch das Korn echt sein - an solch ein echtes Teil baut Onkel Girisch mit Hammer und Kneifzange, mit Draht oder Bindfaden an, was er gerade zur Hand hat, und fertig ist das nächste Gewehr. Seine Jagdleidenschaft - diese Leidenschaft allein genügt macht aus nichts ein Gewehr, egal, wie, aber unbedingt muß Rebhuhn- oder Bären- oder Hirschfleisch ins Haus. Um aber die Wahrheit zu sagen: Nikol hat bei ihm noch nie Wild gegessen, nur Huhn, Ferkel oder Kalb. Und wenn Sie’s ganz genau wissen wollen: Girisch ist gar kein Jäger, er liebt einfach den Umgang mit Menschen, liebt Felder und Wiesen, und um das seiner Umgebung wie auch sich selbst gegenüber mit einem gewissen Sinn zu erfüllen, wirft er sich das Gewehr über die Schulter, das eigentlich gar kein Gewehr ist, sondern nur so was Ähnliches: Seht her, ich bin ein Jäger und gehe auf Jagd! Und das ist mein Gewehr! »Mit dem Ding willst du den Bären töten? Das ist doch ein Knüppel«, sagte der Lehrer Geworg. »Dafür hast du einen Karabiner, mit dem tötest du ihn.« Sie wußten beide, wo die Bärenhöhle war. Sie gingen hin und stellten sich davor. »Der Dummkopf ist drin«, sagte Geworg so, als spreche er von einem Kumpel, mit dem er noch am Vorabend gezecht und Schabernack getrieben hatte. »Wenn er drin ist, töten wir ihn. Hätte er in der Wirtschaft keinen Schaden angerichtet, dann bräuchten wir das nicht.« Ungezwungen, als wäre dort drin sein ul


leiblicher Bruder, schaute der alte Girisch in die Höhle. »Naaa? Ist’s gestattet?« Mischka wurde wach, der alte Mann und er blickten einander in die Augen, dann kam der Bär ruhig und höflich aus seiner Höhle. Der alte Mann trat beiseite, machte ihm Platz, und als der Bär an ihm vorüberging, flüsterte er ihm ins Ohr: »Siehst du deine Schuld ein, ja?« Geworg schoß spät. Sie saßen vor der Bärenhöhle und lachten über deren weglaufenden Herrn, rauchten jeder eine Selbstgedrehte und legten sich eine Erklärung zurecht. Wir haben geschossen, aber nicht getroffen. Habt ihr den Schuß nicht gehört? Na bitte. Dann aber wurde der Schaden, den der Bär anrichtete, immer größer, immer wieder zogen Onkel Girisch und Geworg los und schossen auf ihn, bis ein Volkskorrespondent der Zeitung »Vorwärts zum Sozialismus« herausfand, daß die Bärenjagd verboten ist, und an die Zeitung schrieb, die Bärenjagd sei doch verboten, aber Opa Girisch und Geworg Abowjan hielten sich nicht daran. Aus der Kreisstadt kam ein Anruf über das Verbot und nebenbei auch über die Höhe der fälligen Strafe. Den Leuten im Dorf war nicht mehr zum Lachen. »Es ist doch ein Bär, seit wann ist denn ein Bär harmlos, was soll das? Unsere Sache ist’s, ihn zu erledigen, eure Sache ist’s, uns eine Strafe aufzubrummen. Wir werden ja sehen, was ihr uns auf brummt!« Aus der Kreisstadt riefen sie wieder an und baten, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die Strafe nach einer Verwarnung verdoppelt. »Wir warnen euch ein letztes Mal.« 119


Im Dorf bekamen sie einen Schreck. Der Bär aber trieb weiter sein Unwesen. Er tötete eine Kuh. Da meldeten sie, ungerührt, als wär’s weiter nichts, in die Kreisstadt, der Bär habe eine Kuh gerissen, und baten, am Telefon zu bleiben. »Wir lassen mit der nächsten Nachricht nicht lange auf uns warten.« Und tags darauf berichteten sie freudig: »Nicht der Rede wert, diesmal ist’s nur ein Kalb, kein Zuchttier, mit lädiertem Horn.« Da schlugen ihnen die aus der Kreisstadt vor, den Bären zu töten. »Wir erlauben, ihn zu töten, aber nur den, hört ihr! Fleisch und Fell müßt ihr in die Kreisstadt schicken, die sind Staatseigentum.« »Der Bär ist eine Zierde der Natur«, sagten sie am anderen Ende der Leitung, »wir werden diese Zierde nicht vernichten.« Nun erschien eine Jägerbrigade. Hinter der Bärenhöhle postierte sich der Olympiasieger Wassiko Gogoberidse, links von ihm der vierfache Champion Transkaukasiens Hakop Meghruni, rechts der Schriftsteller und Jäger Wachtang Ananjan und vorn der Taxifahrer Karapet Harutjunjan gemeinsam mit dem Instrukteur des Kreiskomitees Wilen Chatschatrjan. Mit einem Schuß brachten sie den Bären zur Strecke, zerschmetterten sie seinen begriffsstutzigen Schädel. Die Eingeweide ließen sie liegen, Fleisch und Fell nahmen sie mit in die Hauptstadt. Der alte Girisch hat jetzt nur noch ein Gewehr - ein richtiges. Die Felder locken den alten Mann, und um seinen Spaziergängen in den Augen seiner Umgebung und auch in den eigenen einen Sinn zu geben, wirft er sich das Gewehr über die Schulter, als gehe er auf verbotene Jagd. Einem Bären begegnet er natürlich hin izo


und wieder. Beide tun so, als sähen sie einander nicht, nur manchmal bleiben sie stehen und blicken einander an. Der alte Mann schießt nicht, denn darauf steht Strafe, und der Bär greift ihn nicht an, denn das Gewehr ist echt. So steht’s. Aber daß sie einander zuzwinkern würden - das ist vorbei.


Der Wächter

JZ)ie Hirten von den Almen versorgen die Schnitter mit Mazun*, und die Schnitter bringen den Hirten Kartoffeln hinauf. Der Hirt ist oben auf den Bergen, der Schnitter unten im Tal. Von den Bergen steigt es sich leicht ins Tal, wenn aber ein Pferd bergan läuft, verspritzt es Schaumflocken. Also hat es keinen Sinn, zu Fuß Lasten hinaufzuschleppen, es sei denn Kartoffeln die wachsen gleich hinterm Hang. Kolchoswirtschaft ist natürlich Kolchoswirtschaft, da darf sich nicht jeder nehmen, was ihm gerade in den Sinn kommt, aber die Kartoffeln wachsen nun mal hinterm Hang, ganz nah bei der Sommerweide. Der Kartoffelacker wird zwar bewacht, doch die Kartoffeln sind eben gar zu gut, weiß und groß wie Ferkel. Und bis auf den Berg ist es von dort allemal näher als vom Dorf. Unbeschwert ist man aufgebrochen, hinterm Hang aber wachsen die Kartoffeln, und weiter geht man schon mit einem vollen Sack. Wächter auf dem Kartoffelacker ist Onkel Adam. Seit Urzeiten wird der Acker, sowie der August beginnt und die Kartoffeln ausreifen, von einem Ende her schwarz. So bedanken sich die Schnitter bei den Hirten für den Mazun. Der Wächter, Onkel Adam, bekommt jedes Jahr zu hören, er bewache den Acker'schlecht. Onkel Adam widerspricht nicht. Er gelobt Besserung. Dennoch wird * Sauermilchgetränk

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das schwarze Ende immer größer, und wenn der Sommeraustrieb endet und die Leute wieder ins Dorf hinabsteigen, ist gewöhnlich der halbe Acker abgeerntet. Immer wieder wird der Beschluß gefaßt, an dem Hang, über den der Weg zur Sommerweide führt, keine Kartoffeln mehr zu legen. Aber wie soll man nicht jene bedauern, die aus dem Dorf schwere Säcke schleppen, um Kartoffeln in die Berge zu bringen, noch dazu schlechte! Das kann doch niemand mit ansehen. Also werden dort wieder Kartoffeln gelegt, und weil der Weg zur Sommerweide an dem Acker vorbeiführt, stellt man wieder einen Wächter an. Und wieder ist das Onkel Adam. So geht das nun schon etliche Jahrzehnte. Diesmal wurde Onkel Adam sehr ernst verwarnt, man drohte ihm sogar, er würde abgesetzt. Und Onkel Adam bekannte seine Schuld vor der gesamten Kolchosleitung. Nicht nur vor der Leitung, auch vor sich selbst: Na klar, gewissenlose Kerle stibitzen die Kartoffeln und machen sich obendrein über ihn, Onkel Adam, lustig. Keine einzige Kartoffel, keine einzige Knolle kriegen die mehr - mit diesem festen Vorsatz verließ Onkel Adam das Büro und ging auf den Acker. Unterwegs kam er immer mehr von seinem Vorsatz ab. Der Aufstieg ist beschwerlich und sehr, sehr lang, so was nimmt einen Mann ganz schön mit, zehrt an seinen Kräften. Na ja, der Vorsitzende ist verpflichtet, den Brigadier zu verwarnen, Aufgabe des Brigadiers ist es, ihm, Onkel Adam, ins Gewissen zu reden, und seine Pflicht, seine Aufgabe ist es, die Schuld einzugestehen und Besserung zu geloben. Ebenso wie es die Pflicht eines Schnitters ist, den Hirten auf der Alm Kartoffeln zu bringen. Aber er wird sie doch nicht aus dem Dorf anschleppen, begreifen die denn das nicht, der BrigaI2 3


dier und der Vorsitzende? Sogar ein Pferd gerät beim Aufstieg in Schweiß. Jenseits des Hanges liegt eine kleinwinzige Talsenke mit unzähligen Blumen. Sowie man den Aufstieg geschafft hat, hüllt einen Blumenduft ein, steigt in die Nase. Diese Talsenke verläßt Onkel Adam mit sich ausgesöhnt, den Schnurrbart voller Blumenduft. Da sprudelt auch schon der Weiße Quell unter einem Stein hervor, blau vor Kälte sprudelt das Wasser hervor und rinnt in die Schlucht. Die Ufer des Baches sind grün und seidig. Inmitten der tiefen Stille rauscht der Quell wie ein Quell in einem Märchen. Nicht weit vom Quell duckt sich Onkel Adams Wächterhäuschen, von grünem Gras umwuchert, ein Teil dieser grünen Welt. Nicht mal aus der Nähe ist es zu erkennen. Als gäbe es kein Wächterhäuschen, als gäbe es gar keinen Wächter. Nur den Kartoffelacker. Aber den Wächter gibt es doch, und eines Tages drang das Gerücht ins Dorf, Onkel Adam Danieljan habe jemanden geschubst, der Mann habe Kartoffeln gebuddelt, Onkel Adam habe es nicht zulassen wollen, ihn geschubst und gesagt: »He, du Gottesmensch, das sind kolchoseigene Kartoffeln, keine herrenlosen, und ich bin hier Wächter und keine Vogelscheuche!« Also hatte Onkel Adam jemanden geschlagen. Als man herausbekommen wollte, wen er geschlagen hatte und wohin, stellte sich heraus, daß er überhaupt nicht geschlagen hatte, vielmehr hatte er einem beim Kartoffelbuddeln geholfen, und dann hatten sie sich beide nebeneinandergesetzt, der Wächter und der Dieb, und hatten sich gemeinsam diese Geschichte ausgedacht: Onkel Adam habe den Spitzbuben geschubst, und der habe nun eine schreckliche Wut auf Onkel Adam.


Unter klarem Himmel alte Berge Unsere Mütter mähten und weinten. Die Pferde wurden alle für den Krieg gebraucht, da arbeiteten sie mit Ochsen und weinten. Strickten warme Socken und weinten. Sangen und weinten. Weinten und seufzten »Schakro-o«, »Martiros«, »Kaakro-o«, »Pion«, »Gikor«. Die hatten wir nie richtig gesehen, wir erinnerten uns nicht an sie, unsere Mütter aber sagten unter Singen und Weinen »Schakro-o«, und unsere Herzen gingen auf vor Trauer und Freude, bewegt von einer traurigen Kraft und einer schweren Hoffnung. Sonnengebräunte Burschen waren auf die wogenden gelben Felder hinausgegangen, hatten die Hemden abgestreift, um zu mähen, aber sie waren eingezogen, in den Krieg geschickt worden. Pferde, noch und noch, waren von den sanften Bergen in den Krieg getrieben worden. Kein einziges Pferd aus dieser ungesattelten Herde kam ins Dorf zurück. Von den jungen Burschen kehrten zwei, drei zurück, und unsere Mütter weinten und sagten unter Tränen: »Andranik ist wiedergekommen, Schakro-o.« »Dy«-Tewan konnte nicht lachen, er brachte statt dessen nur etwas wie »dy-dy-dy« hervor. Und Artjom Danelanz besaß damals eine Schalmei, auf der hatte er vor dem Krieg gespielt, jetzt aber spielte er nicht mehr, doch es gab sie noch, die glatte, schöne Schalmei, wir wußten es. Manchmal wurde uns Petroleum zugeteilt, I2 5


und an den Tagen leuchteten überall Lampen. Hin und wieder gab es sogar ein Stückchen Brot. Ja, der Krieg war zu Ende, und die Gebeine von Russen und Deutschen moderten schon in unbekannter Ferne. Die Menschen, die bereits zu Erinnerung geworden waren, sich bereits in Erde und Blumen verwandelten, konnten nicht mehr weinen und das Gesicht verziehen, auf ihre Runzeln konnten sich keine neuen Runzeln legen, und Hälmchen für Hälmchen, Fädchen für Fädchen gedieh in unseren reinen grünen Bergen erneut das Lächeln. Wie sich Blumen zum Strauß vereinen, so fügten sich der kaum wahrnehmbare Duft von Brot, eine einzige Pflaume, ein Bröckchen Steinsalz, eine helle Petroleumflamme und das Gefühl, daß die Besten gefallen, die Besten zurückgekehrt und die Besten erst gar nicht in den Krieg gegangen waren, zur Lebensfreude. Oghan Karanz, der ein wenig hinkt, ein wenig rothaarig ist, ein wenig blatternarbig, beleibt und wabblig, der so glucksend lacht, als wälze er Brei im Munde, der ein wenig Klatschmaul und ein wenig Witzbold ist und im Auge einen weißen Fleck hat... Ratschläge will ich dir keine geben, lies ruhig, keine Bange. Oghan, der im Dämmerlicht bei der Schafherde stand, kniff die Augen ein und kräuselte den Mund. »Waska, he!« schrie Oghan, und der langhaarige rotbraune Leitbock drängte sich aus der Mitte der Herde heraus, die Herde geriet in Bewegung, und der Bock zog sie, nachdem er sich herausgearbeitet hatte, langsam hinter sich her, nach Garnakar. So sagen die Hirten. Sie sagen: Er zieht die Herde. Sagen: Na zieh schon, zieh! Der Leitbock zog die Herde langsam, feierlich, mühsam - so wie man eine schwere Last zieht, ein volles Fischernetz beispielsweise. iz6


»Wanka, he!« schrie Oghan und blickte mit seinem trüben, eingekniffenen Auge hin. Im Dämmerlicht fuhr ein anderer feuriger Neri hoch, ein anderer Leitbock, und stürzte in wilden Sprüngen aus der Herde - zum Schisch-tap, dem Spitzen Hügel. Die Herde strömte hinterdrein. Ein Neri, das ist also ein Leitbock. Aber er wird schon als junges Böcklein kastriert. Kastriert, damit niemals das Männchen, der Bock in ihm erwacht, damit er schwergewichtig wird und ein kräftiges Leittier. Zuerst wird er also kastriert, dann nimmt man sich die Hörner vor, umwickelt sie mit heißem, ofenheißem Brot, streckt sie, dreht sie nach oben, und nun zieht der Bock die Herde hinter sich her. Solch heißes Brot gab es schon vor unserer Zeit, vor dem Krieg, vor langer Zeit. Im Dorf hatten wir damals zwei Herden und zwei Leittiere. Dann wurden die Hirten eingezogen, mußten gegen deutsche Panzer kämpfen, die Herden wurden vermengt; und nun trat Oghan Karanz im Dunkeln von einem Bein aufs andere, kniff das Auge mit dem weißen Fleck ein und schrie: »Waska, he!«, »Wanka, he!«; die Herden trennten sich, und jedes Leittier zog seine alte Herde hinter sich her, das eine zum Schisch-tap, das andere nach Garnakar. Die alte Hündin wollte im Dunkeln zum Schisch-tap, aber dann wäre die Garnakarer Herde unbeaufsichtigt gewesen, sie wankte nach Garnakar, aber da blieb die Schisch-taper Herde unbeaufsichtigt; verwirrt stand die alte Hündin eine Weile im Dunkeln und kroch schließlich Oghan vor die Füße. Sie war uralt, hatte keine Zähne mehr und sah auch schlecht, fast gar nichts mehr. So lange war sie schon Hütehündin, daß sie längst vergessen hatte, was Welpen sind. Immerzu trabte sie hin-


ter der Herde her, kreiste in ihr und darum herum, und wenn die Existenz der Herde in ihren trüben Augen, in ihrem abgestumpften Geruchssinn, in ihrem versagenden Gehör, in allen Falten ihres Hütehundwesens für einen Moment erlosch, heulte sie dumpf, klagte nicht nur über die verlorene Herde, sondern auch über den eigenen, gewissermaßen bereits eingetretenen Tod. Dann aber fand sie die Herde wieder, und die Freude darüber war wieder dumpf und schweigsam, blieb tief im Innern verborgen. Sie mußte ja in der Tat jeden Augenblick die Herde verlieren oder die Sinnlosigkeit ihrer Existenz spüren und Weggehen, vom Antlitz der Erde verschwinden, verenden. Sie rieb sich an Oghans Beinen und begann zu klagen: weil die Herde sich geteilt hatte und sie allein war. »Was hast du?« sagte Oghan. »Warum jammerst du? Assatur ist gekommen«, sagte Oghan. »Dein Major ist gekommen.« Oghan lachte. »Als Geschenk hat er dir Berlin mitgebracht, warum winselst du? He, Major!« rief Oghan. »Geh«, sagte er zur Hündin, »geh dahin, wo deine Schafe sind, geh nach Garnakar. Du bist noch nicht verreckt, also such deine Schafe.« Ich habe in der Zeitung gelesen, daß das Durchschnittsalter der Hirten im Dorf Dsech des Kreises Tumanjan siebzig Jahre beträgt. Falls also unter den Hirten einer sein sollte, der zufällig erst zwanzig ist, gibt es unter ihnen auch einen von hundertzwanzig Jahren. Gäbe es aber tatsächlich einen hundertzwanzigjährigen Greis, dann wüßte es die ganze Welt. Es gibt keinen. Also gibt es auch keinen zwanzigjährigen, und sie sind alle um die Siebzig. Siebzigjährigen ist schon der eigene Körper eine Last, aber sie alle trotten hinter einer 128


Herde her. Noch. Morgen werden sie’s nicht mehr können. »Ach was«, sagte der Hauptspezialist, »die Alten sind zäh, fünf, zehn Jahre machen sie’s noch, und bis dahin lassen wir uns was einfallen.« »Und die Jungen?« fragte ich, er aber rückte sich die Brille mit der goldenen Einfassung zurecht und sagte: »Die Jungen blicken in den Kosmos.« »Aber Schaschlyk mögen sie.« »Ja, Schaschlyk mögen sie«, sagte der Hauptspezialist. »Auch Sie mögen Schaschlyk. Und ich mag ihn. Daher werden wir Erfahrungen aus England nutzen. In England werden die Weiden in Abschnitte unterteilt und die Grenzen durch einen Elektrozaun markiert, heute weidet die Herde auf dem einen Abschnitt, morgen auf einem andern, heute hier und morgen da. Sollte es den Tieren aber einfallen, heute schon auf den Abschnitt von morgen zu wollen, dann erhalten sie einen leichten Schlag aufs Maul: Da hast du nichts zu suchen, mein Lieber, das ist der Abschnitt von morgen.« »Aber ... was wird dann aus den Hirten, aus dem ganzen Hirtenstand?« Der Hauptspezialist - in kurzärmligem Sommerhemd mit Krawatte, die Arme auf der polierten Schreibtischplatte - blickte mich durch die Gläser seiner goldgefaßten Brille ruhig an und sagte: »Worin besteht denn eigentlich die Arbeit eines Hirten? In letzter Konsequenz darin, daß er die Herde heute auf dem einen Abschnitt weiden läßt und morgen auf einem andern. Heute hier und morgen da. Die Arbeit eines Hirten wird gewissenhaft der Elektrozaun erledigen.« »Und was wird aus dem Leittier, dem Hund? Den I2

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Wölfen, der Dämmerung, dem Lagerfeuer, den Stimmen, den nächtlichen Stimmen, den Sternen?« »Die Wölfe? Der Wolf wird aus dem Wald kommen, um ein Schaf zu fressen, aber er wird von der Elektrizität einen leichten Schlag aufs Maul bekommen - friß nicht, was nicht für dich bestimmt ist, mein Lieber«, sagte er, leicht lächelnd, und ich sah, daß er ein Gott ist, daß er mit nachsichtiger Liebe von hoch droben auf solche Kleinigkeiten herabsieht. »Übrigens«, sagte er, »was ist eigentlich ein Neri?« »Sie sind Hauptspezialist«, sagte ich, »und wissen nicht, was ein Neri ist?« »Ich weiß es schon«, sagte er, »aber wozu wird er gebraucht?« »Er muß die Herde hinter sich herziehen, sie leiten.« »Da sehen Sie’s, wie überflüssig er ist«, sagte er; und während ich ihm in seinem sauberen Arbeitszimmer gegenübersaß, ihm, der so vernünftig und kalt war, fiel mir folgende Geschichte ein. »Na los«, sagte Oghan Karanz, »siehst du das Schaf da? Es ist noch nicht verendet, lauf hin, hol es ein, fix! Major!« rief er ins Dunkel. »Assatur!« »Oghan«, rief aus dem Dunkel Assatur zurück. »Wer soll der Major sein? Ich?« »Wer hat denn Berlin eingenommen, du doch wohl ?« Den Mund halb geöffnet, wartete der Witzbold Karanz auf Antwort. Mit seinen Medaillen unter der Burka klimpernd, stapfte Assatur im Dunkeln gemächlich auf Garnakar zu, er war eine Wucht, war ein Bollwerk, und wir Kinder auf der Sommerweide spürten das; wenn er nach Garnakar ging, kamen wir uns klein und behütet vor; 130


endlich holten wir tief Luft und lächelten entspannt; gleich wird er mit den Ochsen Bruchholz aus dem Wald holen, und die Ochsen werden uns nicht länger auf die bloßen Füße treten, werden mit den Hufen nicht gegen unsere mageren Schenkel stoßen, und die Sonne wird uns auf den freien Berghängen auch nicht mehr den Kopf verbrennen. Wir spürten das die ganze Zeit, spürten es, während er im Dunkeln, mit seinen Bronzemedaillen klimpernd, nach Garnakar ging, Oghan aber die Augen einkniff und sagte: »Major, ruf deinen Hund!«, spürten es, während Assatur, ehe er den Hund rief, aus dem Garnakarer Pferch fragte: »Was denn für einen Hund?«, worauf Oghan antwortete: »Na, den Tschambar ...« Da klatschte Assatur im Pferch von Garnakar, verwundert über das Alter des Hundes, in die Hände. »Das kann doch nicht wahr sein!« Und er schrie aus Garnakar zur Sommerweide hinüber: »Tschambar, Tschambar, he, Tschambar!« Und Oghan sagte zu der alten Hündin, die zu seinen Füßen jaulte, aber schon so alt war, daß sie nicht mehr richtig laut jaulen konnte, sondern nur noch leise winselte, da die Einsamkeit sie bedrückte und die Herde nun geteilt war: »Geh, Assatur ruft, geh schon! Wo ist denn dein Flügel, wo ist er nur?« Flügel nennt man den Teil der Herde, den der Hirt, im nachts schlummernden Pferch, wie seinen Bruder dem Hund anvertraut. Da trottete die alte Hündin los, um im Pferch von Garnakar den Flügel ihrer vergangenen jungen, freudvollen Jahre zu suchen, Assatur aber rief aus Garnakar nach Schischtap, rief die Hündin, die er vor Berlin gehabt hatte und vor seinen Medaillen und vor Hitler und die er so lange haben würde, solange in ihr die Herde lebendig bliebe: »Hierher, Tschambar, he!« In dem Moment erschien i}i


die Lolanz-Schwiegertochter in der Tür ihres Zelts, krümmte sich zusammen, richtete sich wieder auf, krümmte sich wieder zusammen und schluchzte: »Auch Assatur ist zurückgekommen. Ob sie’s verdienen oder nicht, alle sind sie zurückgekommen.« »Mädel«, riefen die Frauen, die sich in ihrer Nähe scharten, »schäm dich, Mädel.« »Halt den Mund«, sagten die Frauen. »Sei still«, drohten die Frauen. »Wir wollen das nicht mehr hören.« Die Frauen umringten sie und beklagten gemeinsam mit ihr ihren gefallenen Mann und diesen spätsommerlichen Abend und unsere Magerkeit und unsere im Dunkeln weit aufgerissenen Augen, zwangen sie, sich mit ihnen über Assatur zu freuen - daß er heil und gesund war und die Bronze auf seiner Brust klirrte und daß er aus allen Berlins und Europas zu ihnen zurückgekommen war. Und wieder schallte vom Schisch-tap nach Garnakar über die Sommerweide und über die Frauen Oghans Stimme: »Major!« »He!« schrie Assatur aus Garnakar zum Schisch-tap, als riefe er aus Berlin nach Achnidsor. »Eine von deinen Medaillen gibst du mir, ja?« Die Frauen sagten zueinander: »Seid doch mal still, wir wollen sehn, ob er noch alle Sinne beisammen hat.« Und wieder schrie Oghan vom Schisch-tap nach Garnakar: »Wozu brauchst du so viele Medaillen, gib mir eine.« Assatur antwortete nicht, er überlegte, ob er eine Medaille weggeben dürfe, und wir hörten Oghans glucksendes Lachen. 132


Nach einigem Zögern antwortete Assatur aus seinem Garnakar: »Wozu brauchst du sie denn?« Ich hefte sie mir an die Brust. Du brauchst doch nicht so viele, dachten statt Oghan wir Kinder, doch Oghan selbst schwieg, die Frauen schwiegen, im Dunkel schwieg der Schisch-tap, und es sah ganz so aus, als müsse gleich etwas geschehen, wir alle bekamen eine Gänsehaut. Dumpf heulte in Garnakar die alte Hündin auf, wurde aber gleich wieder still, als hätte jemand sie erwürgt, dann erdröhnte der Abend vom Stampfen Tausender Füße, und das war wie ein dumpfes Erdbeben. Es näherte sich ein aserbaidshanischer Nomadenzug. An der Spitze ging ein aserbaidshanischer Nomade. Eine lange rote Hündin mit geschwollenen Zitzen, von Welpen umgeben, lief mal voraus, mal blieb sie wieder zurück, und dicht gedrängt, wie eine breite Wand, zog eine schmutzige, müde Herde vorüber. Oghan beantwortete den Gruß des Aserbaidshaners und sagte lachend: »Paßt nur auf, Leute, daß er nichts mitgehen läßt.« Der müde Aserbaidshaner lächelte matt und ging weiter, er hatte begriffen, daß da ein Witzbold seine Späße machte. Die Herde folgte ihm schmutzig, müde, dumpf, als entstiege sie dem Mittelalter. Den ganzen grünen Sommer über sollten die reinen Regen unserer Berge den Steppenschmutz von den Tieren abwaschen, und die Herde sollte in unseren Bergen weiß werden wie eine Wolke, jetzt aber zog sie dichtgedrängt, schmutzig und dumpf dahin, und meine Trommelfelle wollten schier platzen. 133


Die Herde war vorübergezogen, den Schluß bildeten Kühe und Ochsen, auf deren Rücken Churdshins befestigt waren, Satteltaschen, und darin saßen kleine Kinder; sie machten große Augen, sahen aber nichts, waren todmüde. Zuletzt kam ein hinter der Herde zurückgebliebener roter Wolfshund, er machte einen Bogen um unsere Sommerweide und kehrte dann wieder auf den Weg zurück. »Offenbar haben sie nichts gemaust, oder?« riefen einige im Dunkeln, doch solche Streiche wurden gemacht, als es noch keine Sowjetmacht gab, damals bestahlen Räuber Banditen und Banditen Räuber, gemeinsam bestahlen Räuber und Banditen die Armen, und ein Dieb wurde damals Wagehals genannt. »Oghan«, rief lachend Assatur aus dem Dunkel seines Garnakar, und wir begriffen, daß es im Dunkeln doch einen Diebstahl oder etwas Ähnliches gegeben hatte. »Oghan!« rief Assatur lachend, und wir begriffen, daß Oghan selbst eine Art Diebstahl begangen hatte. Ich erinnere mich noch an den müden Gang des Aserbaidshaners, an seinen leisen Gruß, an die zwischen ihren Welpen herumrennende rote Hündin, an die in breitem Zug daherkommende, dichtgedrängte schmutzige Herde, an die schwerbepackten Kühe, die kleinen Kinder in den Churdshins, an den roten Wolfshund, der hinter der Herde zurückgeblieben war und dann einen Bogen um die Zelte gemacht hatte, und noch einmal an die roten Welpen der langen Hündin, die mal vorneweg liefen, mal hinter der Mutter zurückblieben, sich umsahen und wieder losliefen. Sie wußten nicht, wohin sie liefen. Die Mutter lief, und sie liefen hinterdrein. Der Aserbaidshaner ging, die Mutter ging, die Schafe gingen, also liefen auch sie. Man hatte 134


sie gerade erst aus einem Churdshin herausgeholt, denn es war nicht mehr weit, sie konnten nun schon selbständig das Ziel erreichen. »Oghan!« rief Assatur. Doch der Aserbaidshaner kam zurück. Er blieb auf dem Weg bei der Abzweigung stehen und guckte. Er sagte nichts, stand nur da und guckte von oben auf unsere Weide. Guckte schweigend auf unsere Weide, und wir guckten ihn ebenso schweigend an. »He!« rief Oghan. Der Aserbaidshaner schwieg, dann machte er einen Schritt auf uns zu und sagte: »Ich gucke nur so.« »Werweiß«, schrie Oghan. »Sag’s, wenn was ist.« Oghan warf die Burka ab und humpelte dem Aserbaidshaner entgegen. Der Aserbaidshaner hatte einen Knüppel, auch Oghan hatte einen Knüppel, aber Schlägereien und dergleichen gab es nur vor der Sowjetmacht. Oghan sah sich um, blickte auf die Burka, und ich ging still und heimlich, Schritt für Schritt, auf sie zu. Oghan hatte den Aserbaidshaner erreicht, der Aserbaidshaner hatte Oghan erreicht, jetzt standen sie sich gegenüber. »Na, was gibt’s?« fragte Oghan. »Nichts«, sagte der Aserbaidshaner. Ich war inzwischen bei der Burka angelangt, hockte mich daneben und tat, als säße ich da schon lange mit aufgerissenen Augen, dann legte ich mich neben die Burka, erstarrte und steckte mir so verstohlen, daß ich es selbst kaum merkte, die glitschigen weichen Hündchen mit den kalten Schnäuzchen unters Hemd; dann verdrückte ich mich wieder still und heimlich, Schritt für Schritt, möglichst weit weg von der Burka. Ihre Krallen, ihre feuchten Nasen an meinem nackten Bauch i35


waren mir unangenehm. Ich ging bis zu den Zelten, glitt zwischen ihnen hindurch, schlüpfte in unser Zelt und kroch unter meine Liege. In dem Moment sagte Oghan zum Aserbaidshaner: »Sachlassyn«, das heißt: Wie geht’s? »Nicht gut«, erwiderte der Aserbaidshaner. »Sän mänym dostum, män sänym dostum, was heißt nicht gut - du bist mein Freund, ich bin dein Freund, nijä aib«, sagte Oghan und starrte mit aufgerissenem Mund den Aserbaidshaner an. »Gib mir die Welpen zurück«, bat der Aserbaidshaner. »Tschapalachdar«, sagte Oghan. Ich unter meiner Liege wußte nicht, was das bedeutet. Da sagte der Aserbaidshaner: »Wenn du’s nicht kannst, sprich nicht in unserer Sprache.« »Bileräm«, sagte Oghan. »Ich kann.« »Na, wenn du’s kannst, lämuläri mänä wur«, sagte der Aserbaidshaner, »gib mir die Welpen.« »Bilmeräm«, sagte Oghan. »Ganz und gar bilmeräm. Ich weiß nicht, weiß einfach nicht, was du meinst.« »Sän?« sagte der Aserbaidshaner. »Du weißt es nicht?« »Män«, entgegnete Oghan, »ich weiß es nicht.« »Schäm dich«, sagte der Aserbaidshaner. »Das sind unsere Berge, willkommen in unseren Bergen, da ist der Schisch-tap, und dort liegt Garnakar, was hast du nur dauernd mit deinen Welpen«, sagte Oghan. »Zwei Hundewelpen«, sagte der Aserbaidshaner. »Wenn du’s nicht kannst, sprich nicht armenisch«, sagte Oghan. 156


»Oghan!« rief Assatur. »Das ist Major Dyr«, sagte Oghan, »er hat Berlin eingenommen, Berlinyn, bilersän?« »Bilermän«, sagte der Aserbaidshaner. »Na, wenn es dir klar ist, worüber streiten wir dann«, sagte Oghan. »Der Hund hat nicht sechs Junge geworfen, sondern fünf, beseh«, sagte Oghan. »Dord«, sagte der Aserbaidshaner, »du hast zwei gestohlen.« »Nicht schön«, sagte Oghan. »Solche Sachen gab es nur vor der Sowjetmacht, was redest du hier von Dieberei - peschkeschdyr*.« »Peschkesch mach ich nicht«, sagte der Aserbaidshaner, »ich schenk sie nicht weg.« »Was schenkst du nicht weg?« fragte Oghan. »Die Welpen«, antwortete der Aserbaidshaner. »Was denn bloß für Welpen?« fragte Oghan. »Die Hundewelpen, die du gestohlen hast«, sagte der Aserbaidshaner. »Wer hat gestohlen?« fragte Oghan. »Du hast die Hundewelpen gestohlen«, sagte der Aserbaidshaner. »Tschapalachdar«, sagte Oghan. »Du kennst keine Scham«, sagte der Aserbaidshaner. »Was für Scham?« sagte Oghan. »Die du nicht hast, die Scham«, sagte der Aserbaidshaner. »Du hast einen weiten Weg hinter dir, bist sicherlich müde, wie kannst du da eine volle Stunde über irgendwelche Welpen reden?« sagte Oghan. »Im Herbst werden sie ausgewachsene Hunde sein«, sagte der Aserbaidshaner, »gib sie zurück.« * Das ist ein Geschenk.

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»Jetzt ist Sommer«, sagte Oghan. »Und danach Herbst«, sagte der Aserbaidshaner, »gib sie zurück.« »Was soll ich zurückgeben?« fragte Oghan. »Die Welpen.« »Wo soll ich die herholen ?« »Unter der Burka.« »Hol sie dir«, sagte Oghan, »aber Freunde tun so was nicht.« »Im Herbst werden sie ausgewachsene Hunde sein«, sagte der Aserbaidshaner, »nimm’s nicht übel.« »Hol sie dir«, sagte Oghan, »im Herbst sind sie dann ausgewachsene Hunde.« Die Welpen an den Bauch gedrückt, versteinerte ich unter meiner Liege. Nach kurzem Schweigen sagte der Aserbaidshaner: »Kommt drauf an, wer sie aufzieht.« »Kommt drauf an«, pflichtete Oghan bei. »Wer sie aufzieht, wird es merken«, sagte der Aserbaidshaner. »Ich bin ein guter Hirt«, sagte Oghan, »in den vier Kriegsjahren hab ich kein einziges Schaf den Wölfen überlassen, kein einziges Schaf hab ich verloren.« »Und gefunden?« fragte der Aserbaidshaner. »Hast du eins gefunden?« »Wir finden keine Schafe, wir finden Welpen, und auch das nur, wenn es uns schon ganz schlecht geht. Unsere Hündin ist alt, uralt, älter geht’s nimmer.« »Sach ol«, sagte der Aserbaidshaner. »Leb wohl.« »Sända sach ol«, sagte Oghan. »Leb auch du wohl.« Ich seufzte tief unter meiner Liege, und die Frauen, die vor dem Eingang zu den Lolanz’ mit verschränkten Armen dastanden wie eine im Aufbruch begriffene i5S


Herde, traten von einem Bein aufs andere und dachten alle dasselbe: daß Oghan gut sei und Lolanz’ Sofi auch. »Oghan!« riefen die Frauen. Der Aserbaidshaner hatte sich in der fernen Dämmerung völlig mit dem Dunkel des Weges vermischt. Oghan drehte sich auf seinem lahmen Bein um. »Oghan!« riefen die Frauen lachend, »warum bist du nur so gut?« »Bin ich denn gut?« fragte Oghan. »Und ob«, sagten die Frauen. »Na, wenn ich so gut bin, warum seid ihr’s dann nicht?« »Wir sind doch auch gut«, riefen die Frauen, »aber eine unter uns, die ist sogar sehr gut, komm zu uns, Oghan.« »Wer ist sie denn, daß ich es noch nicht bemerkt habe?« Ein Auge eingekniffen, wartete Oghan mit offenem Mund auf Antwort. »Du hast nicht richtig hingesehn, deshalb hast du’s nicht gemerkt«, sagten die Frauen. »Sofi, komm mal her!« riefen die Frauen. »Sofi Lolanz?« fragte Oghan. »Ja, Sofi Lolanz«, sagten die Frauen und warteten ab. »Wer paßt denn so lange auf die Schafe auf?« fragte Oghan. »Tewan, Tewan«, riefen die Frauen, »Tewan, wo bleibst du denn, zum Kuckuck«! riefen die Frauen wütend. »Oghan.« Endlich war Tewan in seinem Zelt erwacht. »Sie wollen dich verheiraten, geh nicht!« Er lachte. »Du bist nicht gefragt«, sagten die Frauen halb böse i39


und halb liebevoll zu ihrem Tewan. »Nimm einen Knüppel und schieb ab zu den Schafen.« »Verheiraten wollen sie dich, Oghan, geh nicht!« Tewan lachte. Die Frauen waren für einen Moment verwirrt, sagten aber dann: »Verfaulen sollst du auf dieser Erde.« Und machten alle wie eine Herde einen Schritt vorwärts. »Ach du, Dy ...« Im Dunkeln suchten sie nach einem Stock oder einem Stein. Tewan lachte: »Dy-dydy-dy« und rannte los, die Frauen aber schleuderten ihm einen Stock hinterher. »Nimm den Knüppel und geh zu den Schafen ... Oghan«, besannen sie sich wieder auf ihr Vorhaben, »komm doch mal her.« Oghan schwieg, schwieg im Dunkel der Weide, dann schluckte er Speichel, verschluckte zusammen mit dem Speichel gewissermaßen seinen Adamsapfel und sagte etwas. »Oghan!« schrie aus seinem Schisch-taper Pferch Tewan. »Sie wollen dich verheiraten, reiß aus!« »Und die Kinder?« sagte Oghan. »Die Kinder?« Die Frauen verstanden nicht. »Die Kinder sind bei der Großmutter in Schamut, in zehn Tagen holt ihr sie.« »Nicht doch«, sagte Oghan. »Wie werden sie’s aufnehmen?« »Ja, sollen sie denn Waisen bleiben?« fragten die Frauen. Oghan schwieg. »Oghan, warum bist du nur so gut?« fragten die Frauen. »Und für wen bist du so gut?« fragten die Frauen. »Saubere Hemden wirst du tragen, Oghan, von Kopf bis Fuß in sauberen Sachen gehn«, sagten die

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Frauen. »Abends kriegst du warmes Essen«, sagten die Frauen. »So riechen deine Sachen nach Schaf«, sagten die Frauen. Sie umringten ihn, nahmen ihn in ihre Schar auf und führten ihn unter gutem Zureden singend und weinend zur Tür von Lolanz’ Schwiegertochter, stießen ihn hinein und schlugen hinter ihm die Tür zu. Die Lolanzsche Sofi wurde zur Karanzschen, und die Sommerweide beruhigte sich. Meine Mutter lächelte, immerzu lächelte meine Mutter im grellen Lampenlicht, aber mit Petroleum mußte gespart werden, also schraubte sie den Docht herunter und löschte das Licht. Ich spürte, wie ihr Lächeln im Dunkeln umherirrte und dann auf ihrem Gesicht Tränen trockneten. Mutter, ach Mutter* sagte ich, weinst du etwa? - Ich weine nicht, sagte sie, schlaf. Was machst du dann? - Ich freu mich, sagte sie. - Mutter, ach Mutter, war Sofis Mann ein guter Mensch? Der Assatur? Er hieß doch auch Assatur, nicht wahr, Mutter? - Ja, auch, und er war gut, schlaf. - Mutter, ach Mutter, wenn nun Assatur sieht, daß Sofi wieder geheiratet hat? - Assatur kommt nicht zurück, schlaf. - Wenn er aber doch zurückkommt? Wenn er kommt und sieht, sein Haus steht leer? - Er kommt nicht zurück, sagte sie, er ist verwundet worden, hat sich im Tifliser Krankenhaus lange gequält und ist gestorben, der Ärmste. - Mutter, ach Mutter, wer wird nun seiner gedenken? - Vater und Mutter, sagte sie. Eine Mutter hat er nicht mehr, also der Vater ... - Nur der Vater, ja, Mutter? - Nur der Vater, sagte sie. - Mutter, ach Mutter, der Vater ist doch schon alt, hat gar keine Kraft mehr. - Dann Sofi, sagte sie. - Mutter, ach Mutter, Sofi wird jetzt an ihn denken und weinen. 141


Laß sie ruhig ein bißchen weinen, sagte sie, du aber schlaf jetzt. - Mutter, ach Mutter, Oghan wird aber nicht dulden, daß sie weint, es wird ihr peinlich sein, und sie wird nicht an ihn denken. - Na, dann duldet er’s eben nicht, dann denkt sie eben nicht an ihn, sagte sie, soll sie sich mal richtig ausweinen, dann mag er sie in Frieden lassen, die Frau kann einem ja leid tun. Mutter, ach Mutter, wenn Sofi nicht an ihn denkt, wird er dann in der Tür stehenbleiben? - Wer wird in der Tür stehenbleiben? Die Mutter setzte sich im Bett auf. - Assatur. - Beklommen, tonlos flüsterte sie: Jesus Christus, Assatur ist im Tifliser Krankenhaus gestorben, sie haben ihn beerdigt, den Toten ewiges Andenken, die Lebenden aber müssen leben, schlaf. - Mutter, ach Mutter, wenn einer stirbt, stirbt er da ganz und gar? - Ja, ganz und gar, sagte sie. - Und dann gibt es einen nicht mehr? - Nein, dann gibt es einen nicht mehr. - Mutter, ach Mutter, wie kann denn das sein, daß man da ist und dann nicht mehr da ist? - Ich weiß nicht, sagte sie, frag den Tod. - Müssen sie einem nicht leid tun, Mutter? - Ja, sie tun einem leid, sagte sie, da hat er sich so lange gequält und ist dahingegangen, der arme Junge. - Mutter, ach Mutter, wenn er nun kommt und die Tür verschlossen findet und nicht ins Haus rein kann? - Er wird kein Haus mehr haben, und die Kinder sind nicht mehr seine Kinder, sie werden sich nicht mehr von ihm küssen lassen, und die Frau ist die Frau eines anderen, wie ein Bettler, wie ein Pilger wird er den Kopf hängenlassen. - Mutter, ach Mutter, ob die Welpen jetzt auch an ihre Mutter denken? - Die Welpen schlafen jetzt, schlaf auch du. In der Stille lauschte ich auf die Stimme in meinem Innern, und ich hörte, wie von den Welpen ihre kleinen Träume aufstiegen,

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wie ein kühles Lüftchen im Gras raschelte, in mir ertönte die Weise einer Schalmei, bald klang sie hell und immer kraftvoller, dann ebbte sie ab, schwand dahin. Mir schien, als spielte es in mir, als hörte ich allein die Melodie, aber es tönte nicht in mir, und es war nicht das Rauschen des Windes, und es waren auch nicht die kleinen Träume der Welpen, denen im Schlaf ihre Mutter erschien - Onkel Artjom Danelanz blies mit spröden, rissigen Lippen die alte Schalmei, er spielte für die Menschen draußen und für die, die im Bett lagen und im Dunkel auf ihre inneren Stimmen lauschten, für die trocknenden Tränen und für das still, kaum hörbar erblühende Lächeln, für den armen Oghan und die arme Soft, die wie auf alten Fotografien jetzt nebeneinander auf der Liege saßen, mit nichtssehenden Augen vor sich hin schauten, in sich hinein lauschten, das unglückliche Schicksal von Assatur im Sinn, den ruhigen Schlaf der Kinder auf der fernen Schamuter Weide, das Lied der Schalmei und die Frage: Wie soll’s weitergehn? »He, Oghan!« rief aus dem Schisch-taper Pferch Tewan, »bist du schwach geworden, oder was ist mit dir?« Tewan lachte. »Ist dir warm? Bist du schwach? Sag doch was!« rief Tewan aus seinem kalten Pferch, überm Kopf den Sternenhimmel und in die Burka gehüllt. »Frag sie, ob sie eine Schwester hat, und wenn, red ihr gut zu, daß sie mich nimmt, hörst du, mich.« Sie saßen in ihrem Zelt auf der Liege und schwiegen, vielleicht lächelten sie heimlich über Tewans Worte. Plötzlich klappte die Tür, und heraus sprang käsebleich, kalkweiß im Dunkeln, ein nacktes Kind, ein Junge, und rannte laut lachend, fast erstickend vor Lachen, davon - hinterdrein, ein Handtuch oder ein Hemd in der Hand, Sofi.


»Fangt den Banditen, fangt ihn!« »Laß ihn doch laufen, Mädel!« schrie vom Schischtaper Hang Oghan. »Er wird sich einen Schnupfen holen«, sagte Sofi, »es ist kalt.« Die fernen hohen Berge waren weiß geworden. Es hatte gehagelt. In seine Burka gehüllt, sah Oghan, wie, hinter Ameisenhaufen verschwindend und dann wieder im Dunkel weiß aufleuchtend, auf allen vieren, über und über voller Tau, lachend ihr Sohn auf ihn zukam; neben ihm lief ein großer roter Wolfshund mit dichtem Fell. Oghan sagte: »Dem macht die Kälte nichts aus.« Ich saß vor unserem Zelt, und mich überlief ein Schauer. Ich betrachtete den Hagel, der die fernen Hänge bedeckte, und zitterte noch mehr. Die Arme um die Knie geschlungen, beobachtete ich das nackte Kind, das auf allen vieren durchs feuchte Gras kroch, und es schüttelte mich. Das Fell des roten Wolfshundes schien warm zu sein, aber es war nicht mein Fell, und angesichts der kalten Hagelkörner fühlte ich mich hohl wie die Schalmei, die Kälte pfiff regelrecht in mir. Angeblich hatte ich zuviel unreife Pflaumen gegessen, daher mein Schüttelfrost, angeblich war mein Hals krank aber das nackte Kind packte mit beiden Händen das Euter einer Ziege und saugte an einer prallen Zitze, die Ziege zog den Jungen mit sich, aber er ließ nicht von ihr ab und saugte weiter, und meine Mutter sagte, die Berge seien nichts für mich und ich sei nichts für die Berge. »Geh zurück ins Dorf«, sagte meine Mutter. »Pack deine Sachen für die Stadt.« Deshalb blieben meine aserbaidshanischen Sprach-

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kenntnisse ungenügend, habe ich jetzt auch Oghans Gespräch mit dem Aserbaidshaner über die Welpen nur unbeholfen wiedergegeben. Der Aserbaidshaner hatte gesagt: »Im Herbst werden sie ausgewachsene Hunde sein.« Oghan hatte gesagt: »Wenn man gut für sie sorgt.« Der Aserbaidshaner hatte gesagt: »Du bist ein tüchtiger Schäfer, du verstehst dein Handwerk.« Oghan hatte gesagt: »In den vier Kriegsjahren hab ich kein einziges Schaf den Wölfen überlassen, kein einziges Lamm, und mein Freund war hier dieser altersschwache Tschambar.« Der Aserbaidshaner hatte gesagt: »Ich geb dir keinen Welpen, einen Bruder geb ich dir, einen Freund.« Die Berge waren nichts für mich, aber auch die Stadt war nichts für mich. Der Sohn meiner Tante schrieb einen Brief nach Hause, er schrieb, daß in Jerewan gutes Wetter sei, daß es ihm gut gehe und mir auch, daß wir volle acht Stunden schliefen und zum Frühstück Konfitüre, Butter und süßen Kakao bekämen, zu Mittag Borstscb, Klopse und Kompott oder Weintrauben, zum Abendbrot Fleischklöße, Tschachochbili* und starken Tee mit vier Stück Zucker, Schwarz- und Weißbrot, soviel wir wollten, und daß wir beim Lernen Fortschritte machten. Alles stimmte. Er schrieb, und auf den Brief fielen Tränen, auf jede Seite zwei. Je eine aus jedem Auge. Er hätte viel mehr Tränen vergießen können, aber dann wäre die Schrift verschwommen, und niemand hätte den Brief mehr lesen können. Es waren keine verlogenen Tränen, und in seinem Brief stand die reine Wahrheit, aber dieser sein Kakao mißfiel mir, auch sein starker Tee, und seine Tränen brachten mich zum Lachen. Außerdem - was *

Georgisches Gericht aus Hühnerfleisch

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hatten die Bauern von unserm guten Wetter in der Stadt? »Schreib, daß du extra wenig geweint hast, damit sie den Brief lesen können«, sagte ich. Er bekam es fertig, empfindsam und diszipliniert zugleich zu sein. Er klebte den Umschlag zu und schrieb die Adresse, vergoß über der Adresse aber keine Tränen, denn den Postboten waren seine Tränen schnuppe, dafür aber hätte es geschehen können, daß sie die Adresse nicht entzifferten. Ordentlich angezogen, mit blankgeputzten Schuhen und in straffer Haltung trat er vor den stellvertretenden Schuldirektor und bat um Erlaubnis, den Brief zum Briefkasten bringen zu dürfen. Danach ging er, wieder mit Genehmigung, den Studenten der Kunsthochschule seinen prachtvollen Turnerkörper vorführen, damit sie ihren »Standhaften«, ihren »Jüngling«, ihren »zum Mann Reifenden«, ihren »Felsen« und ihr »Wir werden siegen« modellieren konnten - drei Rubel die Stunde; ich aber saß indessen und schrieb einen Brief, und er wollte mir gar nicht gelingen. »Ist der Hagel in den Bergen getaut?« schrieb ich - schrieb’s und strich’s wieder aus. »Sind die Felder schon gelb? Sind die Himbeeren reif?« Wieder strich ich alles aus. »Was machen die Welpen? Ist unser Staubecken auch nicht versandet, als der Hagel taute und das Wasser im Fluß anstieg? Haben sich der Aserbaidshaner und Oghan gerauft? Geht Großvater in den Garten? Sind die Kirschen bei den Abowenz’ schon reif? Zieht der Neri die Herde hinter sich her? Wird Assatur immer noch Major genannt? Spielt Onkel Art)om auf der Schalmei?Blühen die beiden Mohnblumen auf dem fernen Hang immer noch so schön rot inmitten all des Grüns? Sind die Bohnen schon, auf geblüht? Was machen die Hunde?«

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Ich verließ das Wohnheim und fragte mich in der verwirrenden Stadt Jerewan trotz Schwüle und Staub zum Schilatschi-Viertel durch und in Schilatschi zum Haus der Tochter von Mutters Tante. »Ha-ha-ha«, lachte der Mann dieser Frau, er war schon in Rente, tat nichts und lachte über alles. Er war ein alter Achpater, hielt sich aber nicht für einen Bauern, sondern für einen Revolutionär, denn ganz Achpat hatte sich am Aufstand beteiligt, also auch er, außerdem wußte er, wie es gewesen war, als die Revolutionäre den Konterrevolutionären die Eisenbahnbrücke in Tschamanlu abnahmen. »Was hast du schon von einem Bauern an dir!« sagte er lachend. »Du bist doch ein richtiger Stadtjunge geworden, ein Fabrikjunge.« Angesichts der Schwüle und des Staubs vergoß die Tochter von Mutters Tante plötzlich ein paar Tränen, denn sie erinnerte sich an unsere kalten Hagelschläge, an unsere eisigen Quellen, erinnerte sich an die hell klingende Redeweise in unserer Gegend und gab mir Geld für Eis, fünf Rubel. »Wenn du an Achnidsor denkst, trink Sprudelwasser«, sagte sie weinend, »oder iß Eis.« »Das Dorf ist was Schönes, aber die Bauern...« Ihr Mann zog eine saure Miene und versuchte mich einzuschüchtern. »In der Stadt hat mal jemand gesagt, die Achnidsorer seien schlechte Revolutionäre.« »Kränk das Kind nicht«, rief die Tochter von Mutters Tante beunruhigt. »Im Prinzip sollten in Dorf und Stadt nur Städter leben«, bemerkte ihr Mann ruhig. »Wie denn das?« flüsterte ich. »Merkst du nicht, daß ich Spaß mache?« 1 147


»Doch.« »Ich mach Spaß«, sagte er. »Wie der Hund bei der Herde, so treu muß man sein, genauso treu wie ein Hund.« Den Fünfrubelschein in der Faust, schlenderte ich durch die Stadt. Der Springbrunnenstrahl auf dem zentralen Platz zerstob geräuschvoll in tausend Spritzer. Unter lautem Baulärm wurde das Hotelgebäude gegenüber dem Haus der Regierung von Grund auf renoviert. Ich betrachtete das Hotel, dann das Regierungsgebäude, dann wieder das Hotel. Mit seinen schweren Bogen wollte das Hotel noch schöner sein als das Regierungsgebäude, das aber stand als Vollendung da und sagte zum Hotel: Na schön, ich akzeptiere dich, und zu allen anderen Gebäuden sagte es auch: Ich akzeptiere dich. Ich bummelte noch ein wenig durch die Stadt. Im kühlen Raum eines Kellergeschosses trainierten Jungs. Unter ihnen war ein künftiger Boxchampion. Der Trainer wußte mit Bestimmtheit, daß unter ihnen ein Champion war, er wußte nur noch nicht, wer dieser Champion war. Wer am meisten Schweiß vergießen würde. »Strengt euch nur an, immer strengt euch an«, sagte der Trainer, »steht nicht rum. Links, links!« rief der Trainer umherhüpfend. Er winkte mir, ich sollte hinunterkommen. Ja, ich. Wieder eine Handbewegung. Komm rein, hieß das. Ich wurde rot, ging vom Gitter weg und schlenderte langsam durch die Stadt. Die Straße füllte sich mit Mädchen, an der Medizinischen Fachschule, am Medizinischen Institut und an der Philologischen Fakultät waren die Vorlesungen zu Ende, und die Gehsteige, der Fahrdamm und die 148


Kreuzungen, die ganze Straße von einem Ende zum andern war plötzlich voller Freude und Lachen, voller Sonnenbrillen, bunten Kleidern und triumphierendem Lächeln, viele waren es, und alle, alle waren sie schön! »Standhafter«, sagte ich zum Sohn meiner Tante, »gib mir drei Rubel.« »Wofür?« fragte er. »Wenn du mir drei Rubel gibst, hab ich acht«, sagte ich, »und wenn ich acht Rubel hab, fahr ich über Dilishan ins Dorf.« »Nach Achnidsor?« Er grinste. »Ja, nach Achnidsor.« »Was versprichst du dir davon?« fragte er. »Und wer hat geweint?« fragte ich. »Ich hab ein bißchen geweint und es gleich wieder vergessen«, sagte er ungerührt. »Wein du auch ein bißchen, dann ist es erledigt.« »Bescheidener, gib mir drei Rubel«, sagte ich, »gib mir drei Rubel, Prometheus, Gigant, Ungeheuer.« »Ich hab sie nicht«, sagte er. »Richtiger, ich habe sie schon, aber sie sind für morgen bestimmt. Morgen«, sagte er, »wenn wir erwachsen und groß sind, werden wir das Geld brauchen.« »Und wie komm ich heute nach Dilishan?« fragte ich. »Du mußt ja gar nicht nach Dilishan«, sagte er. »Doch«, sagte ich. »Dann fahr doch«, sagte er, »gute Reise.« »Das Geld reicht nicht für ein Auto.« »Dann fahr mit dem Zug«, sagte er, »für den Zug reicht’s, da bleibt sogar was übrig, dafür kaufst du dir einen Schnuller.« »Über Dilishan ist’s mit dem Auto näher, hinter Di149


lishan kommen gleich unsere Berge, was nutzt mir da der Zug, und was für einen Schnuller meinst du?« »Einen ganz gewöhnlichen, für Säuglinge wie dich.« »Und du bist schon groß«, sagte ich. »Klopse, Fleischklöße, starker Tee, Tschachochbili, zwei Tränen.« Dann stand ich draußen vor der Stadt und wartete, daß mich ein Wagen für fünf Rubel mitnahm, und mir kam es so vor, als hätte ich mit meiner Bewunderung für das Regierungsgebäude und die schweren Bögen des Hotels dort auf dem Platz, mit meiner Bewunderung für die ein wenig in Schweiß geratenen Boxer und mit meiner Bewunderung für die Mädchen, die die Gehsteige und Kreuzungen bevölkert hatten, immerzu unsere Berge verraten. Oghan und der Aserbaidshaner waren gegen den Glanz dieser Mädchen unglückliche Dummköpfe, und der alte Hund, der, in ferner Einöde zurückgelassen, vor sich hin jaulte, war mir so fern wie unwahrscheinliche Traumbilder. Er würde noch eine Weile jaulen und dann verenden - meinethalben. Ein Wagen hielt. Ich trat näher, um zu fragen, ob der Fahrer mich für fünf Rubel mitnehmen würde. Da packten sie mich an den Haaren, am Kragen, an den Armen, faßten mich unter den Achseln und zerrten mich in den Wagen, drückten mich dort zu Boden und setzten sich obendrauf; es waren der Sportlehrer, der stellvertretende Direktor, der Sohn meiner Tante und noch einer oder zwanzig andere. »Barbaren, Wilde!« brüllte ich und suchte mich ihnen zu entwinden. Sie saßen schweigend auf mir, und dann lachte der Sohn meiner Tante. »Du hast wohl Heimweh, sehnst dich nach Oghan Karanz?« JjO


»Na schön, laß ihn Heimweh haben, das ist nicht so wie Hunger, das geht vorüber«, vernahm ich die Stimme des stellvertretenden Direktors. »Ein bißchen männliche Selbstbeherrschung, und schon ist’s vergessen.« »Ihr Wilden, Vergewaltiger, Dorftrottel, ihr könnt mich nicht verstehn, laßt mich frei!« schrie ich strampelnd. Jetzt scherze ich. Längst habe ich mich freigeniest, der Staub der schmutzigen Sitze kitzelt mich nicht mehr in der Nase, mein Nacken hat den strammen Hintern meines Vetters vergessen, und ich mache nur noch Spaß, wenn ich mich an den Vorfall erinnere. Aber damals, als sie mich in den Klauen hatten, spürte ich die alle Fesseln sprengende Freiheit der Berge. »Laßt mich los!« begehrte ich auf. »Schert euch weg, laßt mich los, ihr Mistkerle!« »Der ist aber kräftig«, sagte der Sportlehrer. »Warum kommt er eigentlich nicht zum Boxen?« »Ich spuck drauf.« Aber der Sohn meiner Tante saß auf meinem Kopf, und ich konnte nicht dahin spucken, wohin ich wollte. »Wie ist’s«, sagten sie, als wir am Medizinischen Institut vorüberfuhren, »tut dir vielleicht der Kopf weh? Wir sagen’s den Mädchen dort, die kurieren dich im Handumdrehn.« »Oder tut dir ein Zahn weh? Dann bringen wir dich schnell zu den Mädchen, die ziehen ihn im Handumdrehn raus«, sagten sie, als wir an der Medizinischen Fachschule vorüberfuhren. »Was ist schon ein Zahn«, sagten sie, »den ziehen sie auch im Dorf.«


»Aber wie sie im Dorf mit der Zange herumfuhrwerken, im Dorf machen sie das grob«, sagten sie, »vielleicht ziehen sie ihn raus, vielleicht brechen sie ihn aber auch ab. Die hier ziehn mit Betäubung.« »Weißt du, wie sie dich betäuben?« fragten sie. »Sie schaun dich mit ihren blauen Augen an, da überkommt dich ein Zittern, und du vergißt alles. Plötzlich merkst du, der Zahn ist raus, sie aber gucken dich mit ihren blauen Augen an.« »Da ist eine Druckerei«, sagte der Sohn meiner Tante. »Wenn du ein Dichter wirst und über die Berge schreibst, drucken sie dich hier.« »Die Berge«, heulte ich auf. »Ja, die Berge«, sagte er, »na und?« »Oghan«, heulte ich auf, »Assatur... das Leittier... Hagel... die Hunde...« »Von Hunden weiß ich nichts, na und?« »Gar nichts weißt du«, schluchzte ich. »Doch«, sagte er. »Alles weiß ich von den Hunden.« »Du weißt bloß was von Tschachochbili«, keuchte ich. »Sieh mal«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf Nork, auf ein rotes Einfamilienhaus mit sonnenüberflutetem Garten. »Siehst du«, sagte er, »das kostet dreiunddreißigtausend, sie verkaufen es, dreihundertdreiunddreißig Rubel hab ich schon. Aber hör mal, ich weiß doch was von den Hunden. Hör nur, was ich dir gleich von den Hunden erzähle.« »Erzähl lieber von starkem Tee.« »Nein, ich erzähle von Hunden. Hör zu. Aus der Schlucht war die Viehweide nicht zu sehen. Der Schisch-tap sah so klein aus wie eine türkische Papacha. Unendlich weit. Ich aber hatte Himbeeren gesammelt, I 52


mein Gefäß war randvoll, und ich ging zur Weide. An den Himbeeren hatte ich mich übergessen, mir war übel, ganz flau im Magen. Dazu die Sonne. Sie nagelte mich regelrecht an die Erde. Der Schisch-tap aber glich einer Papacha, klein und so weit weg. Vor drei, vier Tagen hatte es geregnet. Und gehagelt. Ich hatte schrecklichen Hunger, aber die Himbeeren brauchte ich nur anzusehen, und schon wurde mir wieder schlecht. Plötzlich entdeck ich einen roten Hund und daneben eine Burka. Na schön, denk ich mir, da kann der Hirt nicht weit sein, sicherlich hat der Brot. Aber da ist keine Herde und auch kein Hirt, nur ein roter Hund. Ich hab einen Mordshunger, der Magen hängt mir bis in die Kniekehlen.« »Das war Bob, Oghans Bob.« »Ja, Oghans Bob. Oghan war also in den Regen geraten, die Burka war schwer geworden, und der Schischtap war so weit weg, daß er von dort wie eine Papacha aussah. Oghan hatte die Burka auf die Erde geworfen, damit sie trocknete, und der Hund war dageblieben, um die Burka zu bewachen. Nach drei, vier Tagen unserer stechenden Sonne war die Burka trocken, der Hund aber war vor Hunger und Hitze abgemagert, zu einem Strich geworden, hatte die Schnauze zwischen die Pfoten gesteckt und konnte kaum noch sehen, seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, was weiß ich, ob er was sah oder nicht. Ich guckte auf die heiße schwarze Burka, guckte zur Weide hin, die war weit weg, sehr weit, und mich überkam Trägheit. Was hättest du da gemacht?« »Ich hätte die Burka genommen, der Hund wäre mir gefolgt, und wir wären zusammen zur Weide gegangen«, sagte ich. 1 153


»Wenn er dich die Burka hätte nehmen lassen, wenn er hätte aufstehen und hinter dir herlaufen können.« »Diesen Hund und seinen Bruder hatte ich einem Aserbaidshaner gestohlen.« »Aber du bist für ihn nicht Oghan«, sagte der Sohn meiner Tante, schon im Wohnheim. Aus dem Fenster sah man ein Schwimmbecken. Ein Junge machte auf dem obersten Brett des Sprungturms einen Handstand, er stand reglos, seine Muskeln glänzten wie Bronze, dann senkte er langsam die Beine, als zöge er sich in sich selbst zurück, drehte sich um sich selbst, streckte sich und schoß hinunter ins Becken. Es war ein schöner Sprung. Ein Mädchen zog sich langsam aus. »Komm«, sagte der Sohn meiner Tante. »Ich kenn da jemand, komm baden.« »Diesen Hund und seinen Bruder habe ich dem Aserbaidshaner gemeinsam mit Oghan gestohlen«, sagte ich. »Was macht das schon, jetzt sind es Oghans Hunde. Der Aserbaidshaner ist danach weggegangen, hat lange nachgedacht, ist schließlich wiedergekommen, hat sich vor Oghan hingestellt und gesagt: >Gib mir zwei Schafek - >Wofür soll ich dir zwei Schafe geben?< >Für die Welpen. Besser noch, du würdest mir vier geben. Ganze vier.< - >Bin ich ein Bei oder ein Chan, wo soll ich für dich vier Schafe hernehmen?< - >Na, wenn du keine Schafe hast, gib mir die Welpen zuriick.< - >Da sind sie, deine Welpen, nimm sie dir.< - Wie hätte er sie aber nehmen sollen, sie waren längst zu kräftigen Hunden geworden; um ein Haar hätten sie den armen Teufel zerfleischt. Von wegen >Gib mir meine Welpen zurück<.«


»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Oghan hatte sie unter die Burka gesteckt und sich dann mit dem Aserbaidshaner unterhalten, da hab ich sie unter mein Hemd genommen und bin weggelaufen. Sie haben mir ihre kalten Nasen an den Bauch gestupst, das hat ganz schön gekitzelt.« »Also. Ich nehm einfach die Burka mit auf die Weide, hab ich gedacht, dann kommt der Hund von selber mit. Ich trete näher ran, weiß nicht, ob er’s sieht oder ob er’s nicht sieht, ob er’s begreift oder nicht, er ist ja todmüde. Von weitem dringt Getöse herüber. Rauscht der Fluß so, denk ich mir, oder klingen mir die Ohren? Ich bücke mich, um die Burka aufzuheben, da steht der Hund auf und bellt. Das Bellen ist nicht zu hören, nur in seinem Bauch grollt es schwach. Stumm hat er die Schnauze aufgerissen und wieder zugemacht, nicht einmal den Hintern bekommt er von der Erde hoch, er schwankt auf den Vorderpfoten und stöhnt leise. He, du Hund, du dummer, Bruder, du kennst mich doch, gib mir die Burka, wir gehn auf die Weide. Zum Teufel mit der Burka, ach, du dummer Hund, warum bewachst du sie so, hast dich danebengelegt und krepierst fast, steh auf, sieh dich um, friß irgendwas, aber nein, da liegt er, und auf der ganzen Welt gibt’s für ihn nichts als diese Burka, von was anderm will er nichts wissen.« Das Mädchen hatte sich inzwischen ausgezogen und stand auf dem untersten Brett, stand eine Weile da, dann beugte sie sich plötzlich hinunter, schnellte wieder hoch, schwankte einen Moment und sprang plötzlich ins Wasser. »Wollen wir nicht baden?« fragte der Sohn meiner Tante.


Erregend war die treuherzige, leicht gönnerhafte Nähe des in der Stadt geborenen, in der Stadt aufgewachsenen, in der Stadt erzogenen Mädchens, die Nähe, die einem kaum spürbaren Lächeln glich. Schön waren die vom Hörnerklang erfüllten Morgendämmerungen im Tal von Ankawan, als ich Pionierleiter war, schön waren die kühlen Abende, schön war die lärmende Begeisterung der oberen Klassen, wenn sie durch den klaren Morgen zur Schule gingen und ich ins Institut, schön waren auch das Meer und das Licht, das vom Strand ausging, und wunderschön die gewaltigen Anstrengungen des Flugzeugs, die im weichen Komfort des erleuchteten sauberen Salons nicht zu spüren sind, fast nicht zu spüren. Wie groß war doch die Welt, wie hell und schön. Hell singt Edita Piecha - was soll da Oghan, über was für Hunde schwatzen wir? Von meinem Flugzeug aus war alles mit einemmal zu überblikken: Jerewan, die Kreuzung, der Sewansee, Dilishan, die Berge - alles war zu sehen, als läge es auf meiner Hand, und es hatte auch Platz darauf. Dabei hatte der Junge von einst, also ich, den Fünfrubelschein in der Faust, fest beschlossen, koste es, was es wolle, aus Jerewan davonzulaufen, zurück nach Achnidsor - eine Ameise will diese Spielzeugberge überqueren. Komm, ich bring dich rüber, dachte ich schmunzelnd und drückte die Nase ans Fenster. Der Schisch-tap war nicht zu erkennen, das ganze Bergland wirkte so klein; unbegreiflich, wie da so viele laute Stimmen Platz finden konnten: He, Tewan, zum Teufel, wo ist der Hund, bei der Burka, wo ist denn die Burka, in der Schlucht hab ich sie gelassen, damit sie dort trocknet. Unsere Gruppe junger Dichter, Mädchen und junge Männer, war im Flugzeug so ungezwun156


gen schön, und unser Gast, eine Schwedin mit üppigem Goldhaar, war erst recht schön, Gott hatte ihr alles in solchem Überfluß gegeben, daß man sich hätte schämen müssen, in ihrem Beisein Oghans und Sofis unglückliche Hochzeit auch nur zu erwähnen. Mit geschlossenem Mund kaute die Schwedin Kaugummi und schaute durch ihre dunklen Brillengläser, schaute und kaute schweigend, ihre Augen aber hinter den großen getönten Gläsern und das leichte Lächeln ihrer vollen Lippen sagten, daß sie wußte, welch unkultivierte Stimmen der Bergweiden in mir lebten, so schaute sie, kaute schweigend ihren Kaugummi und lächelte mit ihrem großen schönen Mund, ich aber kroch ganz in mich zusammen. Ich kroch in mich zusammen, machte mich ganz klein und sagte mir: Versteck, bezwing, vernichte es. Dieses Dorf, diese Menschen sollen nicht länger in dir sein, mag es weh tun, eine Weile wird es weh tun, aber schließlich wird es vergehn. Doch das war Schicksal. Zusammen mit der Schwedin fuhren wir nach Garni, und sie rief »Ooohl«, wir fuhren ins Kloster von Geghard, fuhren zum Sewansee, und die Schwedin badete darin, wir fuhren auch zu den Ruinen von Swartnoz. Die Schwedin ging, wir schwirrten um sie herum und wollten ihr zu Gefallen sein, die Schwedin drehte sich um, und unsere Gruppe junger Armenier drehte sich gleichfalls um. Ich führte die Schwedin in die Gemäldegalerie, führte sie ins Haus von Howhannes Tumanjan, das nun Museum ist, führte sie ins Archiv alter Handschriften, ins Matenadaran, da spuckte die Schwedin ihren Kaugummi aus und sagte, sie sei hungrig. Wir fuhren zu einer Gaststätte auf einem Berg, aßen


Schaschlyk und tranken Kognak. Die Schwedin mochte unser Gewürzkraut Rehan sehr, aber in dieser Gaststätte hatten sie kein Rehan, da gingen wir zum Sohn meiner Tante nach Nork. Tarhun mochte die Schwedin noch lieber, aus dem Haus brachten sie Brotfladen »Lawasch« und gekochte Eier, später Käse und Wurst, dann deckten sie den Gartentisch unter dem Aprikosenbaum, den noch der alte Besitzer des Gartens gepflanzt hatte, bevor er in Berlin fiel; die Schwedin sagte, die Armenier seien ein äußerst gastfreundliches Volk, und wir fühlten uns als gute Gastgeber und höchst bemerkenswert. Durch den klaren Morgen ging ich mit der Schwedin in die Stadt hinunter, wir durchquerten Aigestan, gingen an einer Lawasch-Bäckerei vorbei, gingen den sauberen Sajat-Nowa-Prospekt entlang, überquerten den Fluß Getar, kamen auf die Alawerdjanstraße und bogen in die Tumanjanstraße ein, ich sollte sie in die Kunsthandlung führen, wo silberne Gürtel, silberne Ohrringe, silberne Armreifen und Becher verkauft werden. An der Ecke der Tumanjanstraße hatte sich eine Bauersfrau auf den Steinstufen des Krankenhauses niedergelassen und döste vor sich hin, und ich dirigierte meine Schwedin auf die gegenüberliegende Seite. Ich hatte sie untergefaßt und stieß sie mit Schulter und Ellenbogen auf den anderen Gehsteig, da fragte sie mich: »Bist du ein Bauer?« »No«, sagte ich, »nein.« »Ein Jerewaner?« »Ja«, sagte ich, »ein Jerewaner.« Auf den Steinstufen vor der Krankenhaustür, fast schon auf dem Gehsteig, döste die Bauersfrau, vielleicht döste sie auch nicht, sondern saß erstarrt da. Auf den Knien hatte sie ein Bündel in einem karierten 15 8


Tuch. Wenn sie wenigstens das Tuch aufgeknüpfl und sich um die Schultern geworfen oder sich auf das Bündel gesetzt hätte, aber so... die ganze Nacht auf den kalten Stufen. Der Laden mit den Silberwaren hatte noch nicht geöffnet. »Mir ist kalt«, sagte die Schwedin, »mir ist kalt, ich möchte schlafen.« »Weil der Kognak nicht mehr wirkt.« Ich legte ihr meine Jacke um die Schultern, und wir gingen die Straße zum Platz hinunter; beim Springbrunnen schüttelte sie sich wieder und sagte, sie wolle schlafen. An der Tür ihres Hotels sagte ich: »Das Hotel wurde nach dem Krieg gebaut.« »Ja?« sagte sie verwundert, ohne sich zu wundern, denn sie wollte nicht munter werden, sondern schlafen. »Der Krieg war vor meiner Zeit«, sagte sie gähnend, »ich hab den Krieg nicht erlebt. Du hast ihn erlebt«, fragte sie, ohne zu fragen. Ich wollte ihr den Schlaf nicht vertreiben. »Ich hab ihn nicht erlebt«, sagte ich. Ich ging hinauf zur Abowjanstraße, bog ab auf die Tumanjanstraße, überquerte die Kreuzung Tumanjanund Nalbandjanstraße und blieb stehen: Die schläfrige Frau dort hatte mich nicht gesehen, ich hätte nicht wieder hinzugehn brauchen. Ich war ja selbst schläfrig, vielleicht hatte ich nicht richtig hingesehn, vielleicht war da gar keine Frau gewesen. Ich wollte nicht wieder hingehen, ging aber doch. Auf den Steinstufen saß niemand. Nun konnte ich mich schlafen legen und sogar im Traum spüren, daß die Welt wunderschön war, wie ein Geschenk, und eigens für mich geschaffen, doch hinter der Hausecke stieß ich wieder auf die Frau und auf


einen Mann. Schwerer Schafsgeruch stieg mir in die Nase. »Sofi, Tewan, was macht ihr hier?« Als sie mich erkannt hatten, sogar schon vorher, huschte ein Lächeln über ihre Gesichter, sie freuten sich, daß sie noch jemand gefunden hatten, der ihnen bei ihrem Vorhaben helfen würde. »Wo sind denn die Hunde?« »Die Hunde.« Sie wechselten einen Blick, die Frau wurde ganz betrübt und sah mich dann durchdringend an. »Wir haben Oghan hergebracht, Oghan ist hier.« »Wir haben Oghan hergebracht«, wiederholte Tewan. »Deinen Oghan haben wir hergebracht«, sagte die Frau. »Wenn er dich sieht, wird er sich sehr freuen.« »Die Hunde sind in den Bergen«, sagte Tewan, »wir haben Oghan ins Krankenhaus gebracht.« »Voller Hoffnung auf dich sind wir hierhergefahren«, sagte die Frau. »Stimmt, wir dachten an dich, als wir ihn herbrachten«, sagte Tewan. »Im Zug hat er von dir gesprochen, hat gesagt, der Professor ist bestimmt ein Freund unseres Dichters«, sagte die Frau. Sie waren so müde, daß sie die Lüge nicht mal überzeugend Vorbringen konnten. Sie waren Bauern, und sie baten, ohne zu glauben, denn es schien ihnen, sie seien teurer, seltener, wunderwirkender Medikamente nicht würdig - die tropft man auf einen Wattebausch, und sowie man ihn sich an den Mund hält, ist man wie neugeboren, reibt sich die Augen, setzt sich auf und sagt: »Ich will mich anziehen.« Sie meinten der hehren Kenntnisse eines professoralen Genies unwürdig zu 160


sein, unwürdig des freundlichen Lächelns weißgekleideter Schwestern. Sich selbst hielten sie all dessen für unwürdig, oder sie dachten, daß wir sie unserer Entdeckungen auf dem Gebiet der Heilkunst nicht für würdig erachten und unsere kostbaren Arzneien für uns selbst verstecken. Für sie war eine Krankheit etwas Vages, Unbegreifliches, unbekannt war ihnen, welche Motive den Professorveranlassen sollten, sich ihnen zuzuwenden (wird er sich nun mit uns abgeben oder nicht?), unbekannt war ihnen, was in der Macht des Professors lag, unbekannt auch, wie tief wir sie, die Hirten, in unseren Städterherzen verehren (sie können es bestimmt, aber ob sie es auch tun?). Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu bitten. Zu bitten und immer wieder zu bitten, jämmerlich, erbärmlich zu bitten, endlos zu bitten, um aus diesen lateinischen Bezeichnungen, hinter den Professorenbrillen, aus all der Verständnislosigkeit schließlich das herauszufinden, was sie dir, dem Städter, unverzüglich auftischen würden, wenn du bei ihnen in den Bergen wärst. »Die Doktoren haben russisch gesprochen«, sagte die Frau. »Untereinander haben sie russisch gesprochen«, sagte Tewan. »Mich haben sie aus der fünften Klasse rausgenommen und Schafe hüten geschickt, wie soll ich da russisch können«, sagte Tewan. »Wenn er trinken will, verstehn sie’s nicht.« Den Kopf nach hinten gebeugt, sah die Frau mir jammervoll ins Gesicht. »Wir waren doch fast Freunde, weißt du nicht mehr, bloß mein Russisch ist auf der Strecke geblieben.« 161


Sie dachten, daß hinter der Wand dieser anderen Sprache etwas Wichtiges anders vor sich ging, als es sollte. Sie brauchten jemand auf der andern Seite der Wand, inmitten dieses Lateins, dieser Brillen, dieser Verständnislosigkeit, doch dieser Jemand mußte unbedingt einer von ihnen sein, einer aus dem Dorf. »Soviel, wie nötig ist, wie es die Sache erfordert«, sagte Tewan, »haben wir bei uns, haben wir mitgebracht.« So, ohne es beim Namen zu nennen, sprach man in alten Zeiten vom Bären oder von einem anderen gefürchteten Raubtier. »...«, sagte Sofi, den Kopf nach hinten gebeugt, und ich erriet fast nur an der Bewegung ihrer Lippen, daß von Geld die Rede war. »Mal sehn«, sagte ich, und sie hatten den Eindruck, als wollte ich ausweichen. »Alles Notwendige wird geschehen«, sagte ich, und auch das blieb ihnen unverständlich. »Ihr habt bestimmt die Nacht nicht geschlafen?« fragte ich, und sie begriffen, daß ich einer der Ihren war. »Kommt mit zu uns, da trinkt ihr Tee und ruht euch ein bißchen aus, das geht doch nicht, die ganze Nacht nicht schlafen«, sagte ich, und sie begriffen, daß ich genau wie sie die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, daß sie in der Stadt ein Haus hatten, daß sie Städter waren und daß das etwas anderes war, als nachts mit krummem Hals vor der Krankenhaustür zu sitzen. »Dann kommen wir wieder hierher... und alles wird gut.« Ich gähnte. »Ich hab die Nacht nicht geschlafen.« »Wenn er um Wasser bittet, verstehn sie’s nicht«, flüsterte die Frau. Sie traute sich nicht zu bitten, traute sich nicht, Einwände vorzubringen, sie flüsterte nur. 16z


»Er kann nicht russisch«, sagte Tewan. »Aber sie können armenisch«, sagte ich, »sie sind doch Armenier und verstehen armenisch. Ihr nehmt erst mal ein Bad und trinkt Tee, ruht euch aus«, sagte ich, »schließlich habt ihr die ganze Nacht nicht geschlafen. Kommt schon, Duschen wird euch guttun.« Sie genierten sich mit ihrem Schafsgeruch, und in dem Moment mochte ich den Duft meiner Lederjacke. Wie’s schien, waren sie einverstanden, mitzukommen, sich auszuschlafen, alles zu vergessen, aber aus irgendeinem Grund zögerten sie. Sie waren Bauern, und ihnen schien, hinter der Wand des Unbekannten würde jetzt ein Ungeheuer einen Menschen verschlingen und niemand würde ihm helfen. Sie wußten nicht, wie angenehm es ist, wenn deine Jacke fremde Schultern gewärmt, einen fremden Duft bewahrt hat und dich jetzt ganz und gar in diesen Duft einhüllt, weshalb dir der schwere Schafsgeruch erst recht unerträglich ist. »Wenn nötig«, flüsterte Tewan mit spröden Lippen, und ich begriff, daß es wieder um Geld ging. Sie verdienten das Geld sehr schwer und dachten, Geld sei alles. »Wenn nötig... wir haben so viel mitgebracht, daß es auf jeden Fall reicht«, brummte Tewan. »Die Medizin kann teuer sein, oder sie müssen einen Professor von woandersher holen, was weiß ich, wofür wir noch was brauchen werden.« »Sein Herz wird um Wasser bitten, aber er wird’s nicht sagen, weil’s ihm peinlich ist«, sagte die Frau. »Oghan soll es peinlich sein?« fragte ich lächelnd. »Oghan ist nicht mehr der alte«, sagte Tewan. »Außerdem ist es in den Bergen etwas anderes als hier. Er ist ganz ausgezehrt, ganz abgemagert, der arme Oghan.« i6}


»Sein Herz wird um Wasser bitten, aber er wird’s nicht erklären können«, sagte die Frau. He, Assatur! fiel mir ein. Du hast damals dy-dy-dy gelacht. Er bewegte lautlos die spröden Lippen, neigte den Kopf und trat von einem Bein aufs andere. Er sagte nichts. Wirschwiegen, nichts geschah, indessen polterte ein grellf arbener Bus vorbei und verschwand hinter der nächsten Kreuzung. Der Bus war verschwunden, den Gehsteig aber belebten plötzlich wieder junge Mädchen, und wieder war es so wie damals - ich floh geradezu ins Dorf, da fingen sie mich wieder ein und rieben mir die ganze Herrlichkeit der Stadt unter die Nase, knallten sie mir vor Augen, stopften sie mir in den Mund, und mir war das angenehm und unangenehm zugleich. Die jungen Mädchen holten uns ein, wurden immer schöner, wurden bunt und wohlriechend (wir Bauern drängten uns zusammen, drückten uns an die Krankenhausmauer), sie wurden zu Studentinnen des Institutes und strömten unter Leitung ihres Dozenten ins Krankenhaus. Sie waren so schön, daß auch wir uns schön vorkamen, wir lösten uns von der Mauer, holten tief Luft, und mir schien, daß an diesem Krankenhaus etwas Schönes sei, daß Sputniks am Himmel flögen und daß angesichts ihrer gewaltigen Macht all diese Krankheiten Kleinigkeiten seien. Die Welt ist groß und strahlend, von den sonnigen Gärten Norks bis zu ... Ich betrat das Gebäude, die Mädchen waren beim Umziehen. Eine von ihnen, eine Haarnadel zwischen den Zähnen, ordnete im Nacken ihr schweres senffarbenes Haar, und ihre hellen Augen blickten mich an. Blickten mich an, sahen aber nichts, das Mädchen steckte die schweren Haare zu einem 164


Knoten auf. Sie alle knöpften die sauberen weißen Kittel zu, setzten sich gestärkte weiße Häubchen auf den Kopf, schoben etwas hervorquellende Haarsträhnen hinters Ohr und waren bereit, mit ihrem Dozenten hinaufzugehen. Doch der Dozent zögerte, und sie wurden immer strenger und ernster, doch völlig ernst konnten sie nicht werden, denn innerlich frohlockten sie. Im ruhigen Neonlicht glänzte der Marmorboden, die dunkelgrünen Blätter eines kräftigen Gummibaums waren sorgsam gewaschen und glänzten sauber (dennoch ist ihr Glanz ein toter Glanz, dachte ich insgeheim, abgeschirmt von den Bauern, die auf der Straße standen, und abgeschirmt von dem Bauern in mir selbst), und inmitten des Schweigens wurde die weiße Studentinnenschar immer ernster. Nun hieß es für mich, zu den Kranken hinaufzugehen und dorthin nicht nur das Entzücken über den klaren Morgen, über den leichten Duft der Schwedin und die sonnigen Gärten mitzunehmen, sondern auch die Entrüstung eines gesunden, klugen, wissenden und keineswegs traurigen Menschen über dieses verfluchte Unglück. Der Dozent setzte sich in Bewegung, die Studentinnen folgten ihm, und auch ich ging los. Das war das Ende ... Der ein wenig hinkende, ein wenig rothaarige, ein wenig blatternarbige Oghan Karanz mit dem weißen Fleck in einem Auge war in jenen fernen Zeiten geblieben; was sie hierhergebracht, ins Bett gelegt und mit einem Laken zugedeckt hatten, war nur ein Armvoll jener Stoffe, aus denen der einstige Oghan Karanz erschaffen war, nein, das war nicht der Oghan Karanz, der war in weiter Ferne geblieben. Das war nicht das nächtliche Feuer von gestern, das war nur noch eine Handvoll Asche vom gestrigen Feuer.


Über die graue Decke hinweg (ich mußte in dem Augenblick an die im Gras neben dem Zelt liegende Burka denken, unter der die Welpen krabbelten), vorbei an der grauen Decke, sah der Professor mich an, und ich sah den Professor an und wartete, daß er gleich sagen würde: »Wir werden unser Möglichstes tun«; er sah mich an, und ich wartete, daß er gleich sagen würde: »Es ist schwierig, aber wir werden uns alle Mühe geben«, aber er sagte nichts; an dieser grauen Decke vorbei sah er mich an, und ich sah ihn an, und er sagte nicht: »Hätten Sie ihn wenigstens einen Tag eher gebracht.« Die weißgekleideten Studentinnen mit ihrem Dozenten traten näher, umringten das Bett. »Sieh nur, was für Mädchen zu dir gekommen sind, Oghan«, sagte der Professor, aber das hätte auch ich sagen können. »Oghan Stepanowitsch Karanz«, sagte er, an die Studentinnen gewandt, »Hirt, vierzig Jahre, verheiratet, vier Kinder, vier Schulklassen, Bauer aus dem Dorf Achnidsor, Kreis Tumanjan«, schloß der Professor, aber das alles hätte auch ich sagen können. Das hätte auch Dy-Tewan sagen können. Und wenn Soft nicht an Tränen erstickt wäre, hätte auch sie das sagen können. Das war etwas aus der Welt der Gesunden, soviel wußten alle. Daß aber hinter einer Wand ein Ungeheuer einen Menschen auffrißt... Der Professor sah den Dozenten an, der sah den Professor an, und sie sagten nichts von dem, was unter der grauen Decke vor sich ging - weder zu den Studentinnen noch zueinander. Der Professor ergriff Oghans Hand, hielt sie eine Weile zwischen seinen Fingern, und mir schien, er fasse einen Entschluß, dann legte er die graue Hand wieder auf die Decke, aber er hatte keinen Entschluß

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gefaßt, er klopfte nur mit dem Zeigefinger leicht auf die graue Hand und sagte ganz einfach: »Na, wie steht’s Oghan?« Verspätet und matt, fast unhörbar kam die Antwort, so leise, als hätte ich selbst in Gedanken »gut« gesagt, und weil der Professor die graue Hand noch immer festhielt und mit der Spitze des Zeigefingers noch immer darauf klopfte, schien es mir, als verständige sich der Professor mit ihm übers Morsealphabet: Oghan befände sich in den schweren Tiefen seines grauen Körpers, unter dieser grauen Decke, und unsere Stimmen erreichten ihn nicht, das Frohlocken der Mädchen erreichte ihn nicht, und der Professor verständigte sich mit ihm übers Morsealphabet. »Weißt du noch, Oghan, wie ich für dich die Hunde gestohlen habe, weißt du’s noch?« sagte ich. Seine Hand schien sich in den Professorenfingern zu bewegen, dann erreichte mich unter der Decke hervor seine Stimme: »Die Hunde jaulen.« »Sieh nur, was für Mädchen zu dir gekommen sind«, sagte ich. Das Frohlocken der Mädchen beeindruckte ihn nicht. Das in ihm sitzende Ungeheuer verschlang dieses Frohlocken. »Die Hunde jaulen«, sagte er, und der Professor klopfte mit der Fingerspitze auf seine Hand. »Oghan, warum bist du nur so gut? - Bin ich denn gut«, erinnerte ich ihn. »Wie Großvater Artjom auf der Schalmei gespielt hat, weißt du noch? Und wie Assatur seine Medaillen funkeln ließ ... der >Major<!« Doch die Stimmen der Berge wurden in ihm nicht lebendig. Das Ungeheuer verschlang sie. I67


»Macht nichts«, sagte ich. »Der Professor gibt dir gleich eine Spritze, dann stehst du auf, und wir gehen in die Berge. Versprich, daß du für den Professor einen Hammel schlachten wirst. - Du weißt doch noch? >Bin ich vielleicht ein Bei oder ein Chan?<« Der Professor sah mich an, und ich begriff, daß das Ungeheuer auch diese Spritze verschlingen würde. Später sagten sie mir, daß seine Hunde in ebendiesem Augenblick zu jaulen begonnen hätten. Auf der Straße war alles still, im Krankenzimmer war es still, in seinem Innern war alles wie unter Wasser, und durch dieses Schweigen hörte er die Hunde jaulen. Das war das Ende. Die empfindliche Verbindung von Stickstoff, Eisen und Kalk, genannt menschliches Leben, war zerstört, zerfressen, nur noch eine Handvoll Stickstoff, Eisen und Kalk war übriggeblieben, und die Hunde jaulten über den Ruinen. »Seltsam«, sagte ich zum Professor, »den armen Kerl verschlingt ein Ungeheuer, aber dieses Ungeheuer geht doch zusammen mit ihm selbst zugrunde, warum, Professor, vernichtet das Ungeheuer sich selbst?« Er war froh, daß ich die Krankheit nicht beim Namen nannte. Er fürchtete sie selbst. »Wenn Sie wüßten, was er für ein Hirt war, was er alles angestellt hat und was für ein gutes Herz er hatte!« sagte ich. »Er strömte über vor Lebenslust, ließ die ganze Weide daran teilhaben. Hätte er jetzt nur ein Quentchen von dieser Lebenslust...« »Riechst du so nach Rehan?« fragte der Professor. Meine Jacke roch nach Rehan, und wir unterhielten uns über sonnige Gärten, über die Küste, über Fußball, über den ruhigen Flug der Sputniks, über eine Gruppe hochgewachsener Basketballspielerinnen, die zu einem 168


Wettkampf eingetroffen waren und Taschen schwenkend durch die abendliche Stadt schlenderten, und darüber, wie unsagbar schön es ist, wenn man im Regen Auto fährt, schweigend, und die Scheibenwischer vor einem über die Windschutzscheibe huschen. Es fiel mir schwer, mich darauf zu besinnen, daß ich unten erwartet wurde. Und wieder wandten wir uns dem grünen Fußballrasen und der zielstrebigen Taktik des Rechtsaußen zu. »Nimm sie mit zu dir nach Hause, sie sollen sich ausschlafen und etwas ausruhen, danach sagst du es ihnen«, riet der Professor. »Wir geben ihm eine Spritze, vielleicht schafft er es bis ins Dorf.« »Das sind fünf Stunden Fahrt, Professor«, sagte ich, »über Sewan, Dilishan, Dsech. Wird das Ungeheuer so lange schlafen?« Er rieb sich die Lider unter den Brillengläsern. »Es riecht nach Flieder«, sagte er, »oder ist es Rehan?« Während ich die Treppe hinunterging, wurde mir auf einmal klar, daß ich es ihnen sofort sagen müsse, solange sie noch so müde waren, solange sie noch erstarrt waren und ihnen sogar die Kraft fehlte, diesen Schmerz in sich aufzunehmen. Sofi bewegte schweigend die Lippen und fiel neben ihrem Bündel zu Boden, so, wie ein Mantel vom Bügel fällt. Tewan lächelte, stand da und lächelte. Ich rauchte, blickte auf die sonnenüberfluteten Gärten von Nork und dachte an den roten Wolfshund unter stechender Sonne, der mutterseelenallein neben der Burka lag, erinnerte mich daran, als hätte ich es selbst gesehen. »Bleibt ihr wenigstens gesund, steht auf«, sagte ich. 16g


»Was macht der Sohn, der am Abend als Nackedei durch den Tau lief?« fragte ich. »Die Leute gucken schon her, das ist ja peinlich, steh auf«, sagte ich. »Sag ihr, sie soll aufstehn, Tewan«, sagte ich. »Steh auf«, sagte ich, »ich warte, die ganze Nacht hab ich kein Auge zugetan.« Diese Bauern verstehen es, ihr Leid fremden Bedürfnissen unterzuordnen. Sie richtete sich auf, sackte aber wieder zusammen. »Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagte Tewan. »Steh auf.« Da erhob sie sich. Im Taxi schwoll etwas in ihr an, schwoll an und wollte aus ihr herausbrechen, aber sie unterdrückte das Schluchzen und sah zum Fenster hinaus, sonnenverbrannt, mager, faltig. In dieser fremden Stadt, unter den fremden Menschen erlaubte sie sich nicht, mit ihrem Leid Fremden die strahlende Freude zu trüben. Ich drehte den Heißwasserhahn auf und schob sie ins Bad; mir, dem Städter, widersetzte sie sich nicht. Ich dachte, beim Rauschen der Dusche und der Gasflamme würde sie leise ein wenig vor sich hin weinen können, aber in dem fremden blitzenden weißen Badezimmer erlaubte sie sich nicht, loszuheulen wie eine Bauersfrau, sie seifte sich ein, die heiße Dusche tat ihr wohl, und während sie sich einseifle, sah sie Oghan sterben, doch es war Oghan, der starb, dies aber waren ihre Beine, ihr Bauch, und das heiße Wasser und die Seife taten ihr wohl ... ihre Arme, ihr Hals ... ihre Kinder, und sie war Melkerin und mußte nun für zwei arbeiten. »Wie willst du jetzt allein die Schafe versorgen?« fragte ich Tewan.

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Was er insgeheim über seinen Oghan dachte, verriet er mir mit keiner Silbe. »Unsere Arbeit ist leicht.« Unnatürlich gerade saß er auf der Sesselkante. »Erzähl lieber von dir.« »Wen willst du dir jetzt als zweiten Mann nehmen?« »Den, den mir die Leitung gibt.« »Keiner wird so sein wie Oghan«, sagte ich. »Macht nichts«, sagte er, »macht nichts, was ist das schon groß - Schafe ... wir schaffen das schon, erzähl von dir.« Sofi drehte das Wasser ab, kam aber nicht aus dem Badezimmer. Nach kurzem Überlegen begriff ich, daß sie sich nicht traute, ihren Körper einer Bäuerin mit unserem städtischen Handtuch abzurubbeln, also dastand und wartete, bis sie trocken sein würde. Ich klopfte an die Tür und sagte, dort hingen Handtücher, da zog sie sich rasch ihre bäuerliche Kleidung über, denn feucht anziehen konnte sie sich, aber nicht warten, bis sie trokken sein würde, andere sollten doch nicht denken, daß sie schweigend dastand, nackt, und wartete, bis sie trocken war. Als ich ins Zimmer trat, döste Tewan, auf der Sesselkante unnatürlich gerade aufgerichtet, sein Rücken krümmte sich hin und wieder, und der Kopf wollte ihm auf die Brust sinken. Sie schliefen beide nicht ein; sie saßen sich gegenüber, er auf der Sesselkante, sie auf dem Rand der Liege, aßen ihren Käse und ihr Brot, streuten ihr Salz auf die gekochten Eier und tranken dazu Tee aus unseren Gläsern, die sie kaum mit den Lippen berührten; dann spülte Sofi die Gläser, und so, wie sie vorher ihr Tischtuch ausgebreitet hatte, so nahm sie es wieder von unserem Tisch. Dann standen sie auf.


»Wir gehen.« »Schlaft doch erst eine Weile, ruht euch aus, ehe ihr geht.« »Nein, bloß, wo die Bushaltestelle ist, wissen wir nicht.« »Ihr habt einen schweren Tag vor euch, müßt euch ausruhen«, sagte ich. »Wir haben keine Zeit«, sagte Tewan, »wir gehn.« Der Bus fuhr nicht gleich ab, und in der Hitze überkam sie mit Macht der Schlaf. Tewan sank der Kopf auf die Brust, Sofi saß aufrecht und hielt die Augen offen, sah aber nichts. Ich stand neben dem Bus und bedeutete Tewan mit Gesten und Mienenspiel, daß er schlafen wollte. Er verstand es oder auch nicht, jedenfalls lächelte er und nickte. Dann fuhr der Bus ab, ich machte kehrt, um nach Hause zu gehen und richtig auszuschlafen, und plötzlich sagte ich, Gott weiß, weshalb: »Die Hunde, von der Herde geflohen, sie werden winselnd sein Zelt bewachen ...« Und wieder: »Die Hunde, von der Herde geflohen, sie werden winselnd sein Zelt bewachen ...« * Als ich wach wurde, hatte ich noch den Duft von Rehan in der Nase, und von Kopf bis Fuß durchströmte meinen Körper die Freude über meine Gesundheit, über die saubere Unterwäsche, über das fest anliegende Turnhemd, über die kräftigen Muskeln und das kalte Wasser. Lächelnd rasierte ich mich vor dem großen Spiegel und sagte: * Aus: Howhannes Tumanjan, Das Taubenkloster, Berlin 1972, Nachdichtung : Friedemann Berger 112 -


»Nie mehr wird von den Felsen, den hohen, der Name Saros die Runde machen, die Hunde, von der Herde geflohen, sie werden winselnd sein Zelt bewachen ...« Ich nahm ein Taxi, um zum Flughafen zu fahren, doch ich fuhr ins Krankenhaus. Auf dem Gehsteig war niemand. Auch im Vorraum war kein Mensch, nur der Gummibaum mit den glänzenden Blättern. Oghans Bett stand leer, auf der grauen Decke lag ein frisch bezogenes Kissen. Der Professor war nicht in seinem Arbeitszimmer. Der Papierkorb neben dem Schreibtisch war leer und die Glasplatte auf dem Schreibtisch blankgerieben. »Herr Professor sind nach Hause gefahren«, sagte die Putzfrau. Ich bat den Taxifahrer, an dem Hotel, das nach dem Krieg gebaut worden war, vorbei zum Flughafen zu fahren, aber natürlich kam ich zu spät, die Schwedin war schon in der Luft, unter ihr war, handtellergroß, der Sewansee, war die Landstraße, die mal ihrem Blick entschwand und mal wieder auftauchte, darauf befanden sich, klein wie Flöhe, Fahrzeuge, vor ihr und unter ihr lagen unsere Achnidsorer Berge, das Dröhnen des Flugzeugs verteilte sich gleichmäßig über den Sewansee, über die Berge und über die Fahrzeuge, in einem davon saßen Sofi und Tewan und sagten abwechselnd zu Oghan: »Gleich siehst du deine Berge.« »Gedulde dich noch ein Weilchen, gleich kommen deine Berge.« »Wenn du die Berge siehst, ist der Schmerz weg.« »Gleich siehst du sie.« Sie hatten ihre Arme unter seinen Rücken, unter seinen Kopf und seinen Hals geschoben, die Schultern uni73


ter seine Arme gestemmt, stützten ihn so von beiden Seiten und sagten zu ihm: »Wenn wir erst diesen Hügel hinter uns haben ...« »Ich höre die Hunde jaulen«, sagte er, »die Hunde jaulen.« »So sei doch ein Mann«, sagte Tewan. »Ein Flugzeug fliegt da, das macht den Lärm, es sind nicht die Hunde«, sagte Sofi. »Vom Flugzeug aus sieht man die Berge«, sagte Tewan, »gleich sehen auch wir sie. Sehen die Hunde«, sagte Tewan, »die Weide, den Schisch-tap ...« »Ich sehe es«, Oghan reckte den Hals und erstarrte, »es tut nicht mehr weh.« »Garnakar«, sagte Tewan. »Weißt du noch, wie ich zu dir gesagt habe: >Geh nicht, Oghan, sie wollen dich verheiraten!< Dort ist unsere Schlucht, unser Wald, da hast du an tausend Stellen unsere Namen eingeritzt, an tausend andern Stellen ich, aber einen Ziegenbock zeichnest du viel besser als ich. O.K. T.D. an einem sonnigen Tag 1949.« Mutter, ach Mutter, und was war dann? Als steckte kein Mensch in seiner Kleidung, ließ Oghan sich hinlegen, als würden Kleider abgelegt. - Schlaf nur, schlaf. - Mutter, ach Mutter, und Sofi? - Sofi konnte nicht weinen, zwei-, dreimal hat sie das Bewußtsein verloren. Nur mit Mühe haben sie sie wieder zu sich gebracht, haben sie zu sich gebracht und sie gebeten zu weinen, damit ihr nicht so elend zumute wäre, aber die arme Sofi konnte nicht weinen, später haben sie sie vom Friedhof heimgebracht, ihr die Haare gekämmt, ein Tuch um den Kopf gebunden, einen Eimer in die Hand 17 4


gedrückt und gesagt: Geh auf die Farm melken, du bist doch Melkerin, sie ist groß, die Welt, schlaf nur, schlaf. Mutter, ach Mutter, was sind das denn für Stimmen? Das sind die Hunde, schlaf. - Und der Vater, was ist mit dem Vater, Mutter? - Der Vater? Über den ältesten, im Krieg gefallenen Sohn hat er im Lauf der Jahre ein Lied verfaßt, jetzt hat er dieses Lied Oghan gesungen, es ist ein trauriges, langes, schreckliches Lied, es klingt, als wärst du klein, als wäre es dunkel und der Wind heulte im Ofen, aber der Vater ist schon alt und hat keine Zähne mehr, er hat schlecht gesungen, die Leute waren unzufrieden, und die Kinder haben heimlich gelacht. - Mutter, ach Mutter, und Großvater Artjom Danelanz, hat der nicht auf seiner Schalmei gespielt? - Kann der Artjom denn spielen? - Weißt du nicht mehr, Mutter, wie er in den Bergen gespielt hat? Früher hat er gespielt, heute spielt er nicht mehr, seine Lippen sind vertrocknet, die Lungen sind verbraucht, schlaf nur, schlaf, das Leben geht weiter, die


Alten gehen dahin, Kinder kommen, niemand will mehr Hirt sein, niemand wird je wie Oghan sein, schlaf. - Und Oghans Kinder, Mutter? - Leid ist nichts für Kinder, der Sohn spielt mit andern Jungs in der Schlucht Fußball, und das Mädchen spielt mit kleinen Mädchen Versteck, das Leid kommt erst mit den Jahren, schlaf nur, schlaf. - Mutter, ach Mutter, wer ruft da? Sie horchte, und auch ich horchte. Das war keine menschliche Stimme - das war fernes Hundejaulen, es klang, als käme es aus dem fernen Mittelalter, als wäre Timur Lenk, Tamerlan, vorübergezogen und hätte das Dorf niedergebrannt und ein Hund weinte im Mondlicht über das verheerte Dorf - wauuu ... wauuu ... *7J


und einer der Reiter müsse das Pferd wenden, zurückkehren und mit Pfeil und Bogen diesen einzigen Hund in dem verwüsteten Dorf töten: Wauuu ... Mutter, ach Mutter ... Mutter, schläfst du? Ich zog mich an, fuhr in die Schuhe, setzte die Mütze auf, aber mir kam es so vor, als wären das nicht meine Füße, die in die Schuhe fuhren. Ich ging auf die Straße. Zog eine Zigarette aus der Packung und wollte sie in den Mund stecken, doch im Mund hatte ich schon eine Zigarette. Die Zigarette im Mund, Streichhölzer in der Hand, Schuhe an den Füßen - das war ich. Das war unser Dorf. Das war der Mond unseres Dorfs. Das Dorf schlief friedlich im Mondlicht. Ein Passagierflugzeug überflog gerade das Dorf und überschüttete es mit seinem Gedröhn. Mit Leichtigkeit erkannte ich seine roten Lichter inmitten der Sterne. Und es war seltsam, daß das Jaulen aus Tamerlans Zeiten und das Gedröhn zusammenfielen, gleichzeitig existierten. Dann wurde das Gedröhn schwächer, es verstummte, doch die roten Lichter waren immer noch zu sehen, und während ich die Lichter verfolgte, hörte ich auch das Jaulen: Wauuu ... Was willst du, Hund, Tamerlan ist vorübergezogen, doch wie lange ist das her! Die Nomadentrecks sind vorübergezogen, und wie lange ist das her! Oder bist du alt geworden, die Nomaden haben dich zurückgelassen, und du jaulst, weil sie dich zurückgelassen haben, jaulst über deinen Tod? Oder weißt du etwas, was ich nicht weiß, Hund, und flehst um Hilfe? Ich ging in die Schlucht hinunter, an der unser Haus steht, in der Schlucht war das Jaulen nicht so zu hören, es klang, als weinte jemand unter der Erde. Ich durch176


querte die Schlucht und kam auf dem Hügel über dem Friedhof heraus - das Jaulen drang vom Friedhof herüber. Ich stand da, und der Friedhof, die Gärten und Häuser schliefen inmitten dieses Gejauls - wauuu ... Das Flugzeug war vorübergeflogen und hatte sein Gedröhn überm Dorf ausgestreut, und während seine roten Lichter oben immer noch zu sehen waren, erreichte ich den Friedhof. Gefunden! Sie lagen unmittelbar neben mir, nicht einer, nein, zwei, beide flach auf die Erde gestreckt, die Köpfe zwischen den Pfoten, und winselten. Sie sahen mich nicht, sie sahen gar nichts, sie waren in einer anderen Welt. Ich sah näher hin und erkannte den roten Wolfshund. Der andere Hund war auch rot, hatte aber ein kurzhaariges Fell wie eine Katze, auch er lag flach auf der Erde und winselte leise. Was wollt ihr, Hunde, Oghan ist tot, aber wer ist schon unsterblich, zeigt ihn mir. Ihr Dummen, wißt ihr es nicht mehr, ich hab euch gestohlen, es war ein gesunder, kalter Frühlingstag, ihr kamt mit eurer Mutter, wißt ihr’s nicht mehr? Wer wird nun eure Schafe hüten? Das Dorf schläft, jeder schläft in seinem Bett, weich, ganz weich, ihr aber ... Sie hörten mich nicht, sie hörten überhaupt nichts und sahen nichts, blind und taub vor Leid, waren sie in einer anderen Welt, wie sollte man ihnen da erklären, daß sich unter diesem Mond fast nichts verändert hatte. Wauuu... »He, junger Mann, he! Hör mal, Reiter, wer bist du?« rief einer, ich weiß nicht wer, und ich weiß nicht wen. »Hör mal, wer du auch bist, sag dem Dy-Tewan, er soll kommen und die Hunde mitnehmen, sag ihm, er soll kommen und sie mitnehmen. Hörst du, sag dem Dy-Tewan, er soll kommen und die Hunde wegholen!«

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»Ich hör’s, ich hör’s, er soll die Hunde wegholen.« Jemand sagte: »Die ganze Nacht hatten wir das Konzert.« Lachen erklang, dann sagte jemand: »Ich möchte nur wissen, wohin er sie bringt, die alten Viecher, für die ist’s Zeit zum Verrecken.« Dabei waren sie erst gestern, noch gestern wuschlige Welpen gewesen, waren neben der Mutter hergelaufen, waren hingefallen, weitergelaufen und wieder hingefallen, mitten im Lauf hingefallen. Hütehunde altern schnell. Sie schlafen wenig, sind viel auf den Beinen und altern schnell. Bei Hagel und Regen, im Kampf gegen Diebe und Wölfe, in den Pfoten aber und unter der Erde das ferne Grollen vergangener und künftiger Überfälle. Und dann noch der unbegreifliche Mond und der Mensch, den sie inmitten der nächtlichen Ruhe bei sich hatten auftauchen sehen, er war gekommen, unterm freien Sternenhimmel, und hatte die freie Stirn des schlafenden Oghan geküßt. Sie hatten es gesehn und hatten losgejault. Ich ging Heu einbringen; und von dem mit Gesträuch bewachsenen Hang kam ein roter Wolfshund, er lief aufs Dorf zu. »Bob«, rief ich, »Bob, Bob!« Er hörte nicht, er sah mich nicht. Auf der ganzen Welt kannte er jetzt nur noch eins - Oghans Grab. Klagend trottete er zum Dorf. In den Bergen war er nicht geblieben, der andere Hund schon, Bob nicht - er hatte die Leine zerbissen und - wauuu ... drei Tage und drei Nächte. Tagsüber, wenn die Schulglocke läutete, in dem Gewühl, verdrängt durch die dörflichen Stimmen, den hellen Hahnenschrei und den Traktorenlärm, war sein Jaulen nicht zu hören, aber nachts war nichts anderes zu vernehmen als dieses Wauuu ... Die Jungen hatten den Förster um ein Gewehr gebeten, aber der 178


Förster kam selbst. Ein Bursche sagte: »Schade«, aber Sawen Antonjan entgegnete: »Um meine Kinder ist es mir noch mehr schade.« Sein Haus stand unmittelbar beim Friedhof, und Sawen sagte: »Der Hund tut euch leid und meine Kinder nicht?« Der Förster ging auf den Friedhof, stellte sich vor den Hund, nahm das Gewehr von der Schulter und zielte zwischen die Augen des Hundes, der aber jaulte: Wauuu ... Der Hund blieb liegen, den Kopf auf den Pfoten, obwohl er wußte, was ein Gewehr ist. Nach dem Krieg, als ich klein war, als ich auf der Bergweide für Oghan die Hunde stahl, als es viele Wölfe gab und für alle Hirten nur den alten Tschambar, als Oghan heiratete, als Assatur von der Armee zurückkam, als Großvater Artjom Danelanz noch auf seiner Schalmei spielte, als der Treck des Aserbaidshaners immer weiter zog und sein Nomadendasein kein Ende nahm - in jenem Frühling wurden an die Hirten Gewehre verteilt, und bei jedem Schuß liefen die Hunde auseinander, in alle Himmelsrichtungen; seither wußte der Hund, was ein Gewehr ist, und fürchtete es, aber jetzt lief er nicht davon, er blieb liegen, hier auf dem Grab.


Matewosjans Sprache

Wie Matewosjans Sprache klingt, weiß ich nicht, ich habe niemals Armenisch gehört, gelesen erst recht nicht, und nicht nur, weil ich die Sprache nicht kann, sondern weil sie mit Buchstaben aufgezeichnet wird, die uns ganz fremd sind. Man kann sich aus ihnen nicht, lautierend, Wörter zusammenlesen. Wenn eine fremde Sprache lateinische Buchstaben schreibt, kann man ja immer Wörter zu stammeln und Klang zu hören versuchen. Hier ist es wie beim Arabischen und Georgischen. Weiter, ins Asiatische, will ich nicht gehen, ich habe chinesische und japanische Schriften gesehen, bei denen die Zeichen rätselhaft wurden, wie verschlüsselte Bilder. Georgisch habe ich öfter sprechen gehört. Die Sprache klang mir wie gemahlnes Gestein, Geröll, das Hänge hinabstürzt, kaukasisch: Gletscher und Fels. Früher dachte ich manchmal: Warum sprechen nicht alle nur Russisch in diesem riesigen Land, das Union heißt? Welche Möglichkeit, einig zu werden, sich zu verstehen in allem, wenn es für diese vielen Millionen nur eine Sprache noch gäbe! Als ich das Georgische hörte, begann ich zu verstehen, daß Sprache nicht nur Sinn (der Gegenwart) mitteilt, sondern daß es um Klang geht, um uralte Schönheit, die nicht sterben darf, und daß diese besondere Schönheit nur in dieser besonderen Sprache ist, durch nichts zu ersetzen. Das Jahrtausend1S0


leben eines Volkes kann nur bewahrt werden mit seiner Sprache. Von meiner Erfahrung mit dem Georgischen erzähle ich, weil ich in Armenien nie war, immer nur hinwollte, doch immer absagen mußte, wenn es soweit war, daß wir fahren sollten - nach Dilishan etwa, ins Komponistenheim, wo Anna Seghers einst »Das wirkliche Blau« schrieb ... Es zog uns nach Armenien, schon weil wir wissen wollten, ob das Land auf uns ebenso anders wirken würde als das benachbarte Georgien, wie auf die vielen vor uns, die von ihm sagten und schrieben: Armenien ist anders, Armenien und Georgien sind sehr voneinander verschieden. Die Sprachen sind sich ganz fremd. Es soll ja das Georgische in der Welt nur mit einer Sprache verwandt sein, mit dem Baskischen. Aber was ist Armenisch? Eine Turksprache? Ich weiß es nicht. Ich sehe nur im Innentitel von Matewosjans 1969 bei uns erschienenem erstem Buch, »Das Schelmenstück der Hammeldiebe«, den armenischen Titel: Buchstaben wie gestickt - aber auch das Georgische scheint mir mit solchen gestickten Buchstaben geschrieben zu sein, und man sagte mir doch: ganz anders, ganz fremd! Wie also mag das Armenische klingen? Auf Deutsch klingt mir Matewosjan erst vermittelt durchs Russische, aus dem er nach hier übersetzt wurde - und Wunder: In diesen Erzählungen klingt der Prosatext, als wäre er Poesie. Es gibt Passagen von so großer Schönheit, daß einem der Atem stockt und zu fliegen beginnt. Und man rätselt: Ist es das Land Armenien, das über zwei Sprachen herüberscheint mit Gewalt und Zauber Entzücken, sind es die Menschen, ist es ihr Leben, oder ist es die Sprache des Autors, der raunt wie ein Rhapsode und singt wie ein Sänger, oder ist es nicht er, viel weniger 1S1


er, ist es eine Eiche im Tal, eine Eiche im grün-grünen Tal, ein Bach, der nach Blitz riecht (Ozon), ein Hekkenrosenstrauch mit zwei Blüten in Weiß, ein besterntes Fohlen (von Rauhreif besternt schwarzes Fohlen mit einem Bein weiß von Schnee, weiß wie Schnee, aus dem Schnee). Und ein rotes Pferd, das verendet im Tal und das Grüne im Kreise um sich zerstampft, bis die schwarze Erde hervorbricht. Das orangerote alte Pferd stirbt, als es sein Fohlen rettet vorm Wolf. Sein Skelett zerfällt auf der schwarzen Erde. Nach drei Jahren beginnt von neuem das Grün, Gras und Blumen drängen hervor, Zeit ist vergangen, vergeht, das Leben des Erzählers ist vergangen, vergeht, als er seinem Kind von seiner eigenen Kindheit erzählt; als wäre alles, was war, ein Märchen gewesen, so ist es in Sprache verwandelt, zur Ruhe gewiegt. Aber das Kind will dennoch das Märchen nicht, wie die Wirklichkeit war: der Wolf soll sterben, die Stute soll leben, das Fohlen soll seine Mutter behalten ... Die orangeroten Pferde kamen schon in Matewosjans erstem Buch vor, das eigentlich »Wir und unsere Berge« hieß, der russische Titel war so, jedenfalls, und so hat er sich mir eingeprägt, denn unter diesem Titel war ein Teil des Buches abgedruckt in der Zeitschrift »Sowjetliteratur«, zwei Jahre bevor das Buch herauskam bei uns. Mit Matewosjan ging es mir damals wie mit einigen anderen Schriftstellern, deren Erzählungen zuerst in der Zeitschrift veröffentlicht wurden: Schukschin »Die Stiefel«, Below »Sind wir ja gewohnt«, jedesmal hatte man den Namen, den Autor, wie sich dann zeigte, für immer behalten. Matewosjans Kosmos war von Anfang an da, der Himmel, die Berge, die Täler, das Tal, die Hirten, die iS 2


Hunde, die Schafe, die Pferde, die Büffel, die Kühe, die Ochsen, die Ziegen, die Hühner, die Schweine, die Wölfe, die Bären. Das Fladenbrot. Weizen. Himbeeren. Nüsse. Kirschbäume. Äpfel. Kartoffeln, Schaschlyk, Milch und Mazun ... Jetzt kommt das Gewürzkraut Rehan dazu (in der Erzählung »Unter klarem Himmel alte Berge«) und der Flug mit dem Flugzeug, das bisher nur Zmakut, das Dorf »In den Wäldern« überflog - nun fliegt der Erzähler selber mit einer Gruppe junger Poeten (eine Schwedin dabei) über sein Land. Aber er kann sich nicht losreißen von seinem Dorf, das dennoch, trotz Entfernung, Höhe und Flug, trotz Studium, Büchern, Erfolg, trotz Großstadtleben in Jerewan, trotz Freude an Kultur und Zivilisation, noch immer die Welt ist. Die schmerzliche Liebe zu seinem Dorf, seinem Tal, seinen Leuten, wird Matewosjan nicht verlassen. Den Gefühlszwiespalt, der ihn fesselt, wird ein geborener Großstädter niemals erfahren. Sicher gibt es heute auch in Armenien Schriftsteller, die geborene Großstädter sind und deren Bindung an die dörfliche Sippe nur noch lose, nur noch formal ist, sie sind frei, müßten frei sein von der Last, die Matewosjan trägt: Erinnerung an gemeinsame Zeiten mit Menschen, die seinem heutigen Lebens- und Bildungsstand fernstehen und für die er dennoch Verantwortung fühlt; nicht nur als Bewahrer und Erzähler der Vergangenheit, sondern als Anteilnehmender ihres gegenwärtigen Lebens. Ihr Vertrauen zwingt ihn, zu handeln für sie, auch wenn er sich eigentlich, mit Genuß und Freude, auf sein städtisches Schriftstellerleben beschränken möchte. Zmakut, sein Dorf (das in Wirklichkeit Achnidsor heißt und das sein Vorfahr Howih


hannes Matewosjan vor hundertfünfzig Jahren gründete), besitzt ihn, wie er es besitzt. Von diesem Doppelbesitz kommt seine Besessenheit. Denn offensichtlich ist er ein Besessener. Ich habe Matewosjan niemals gesehen, aber ich sehe es, wenn ich sein Gesicht auf Fotos studiere: bitterer Intellekt, melancholische Güte, einer, der die Widersprüche des Lebens aushält, sie nicht leugnet, nicht glättet. Wer in seinen Büchern Harmonie sucht, findet sie nur in der Art, mit der widerstrebende Kräfte erzählend ins Spiel gebracht sind. Es geschieht wie in der Musik, wo Töne gleichzeitig, aufeinanderklingend, einander verschlingend, von der Dissonanz zur Harmonie geführt werden und wieder in grellen Kontrast und wieder zur Harmonie. Wenn man seine Erzählungen sehr aufmerksam liest, vor allem, es wiederholt tut, so wie man eben Musik hört, erkennt man Strukturen, die einem zunächst verborgen bleiben. Eine Erzählung wie »Unter klarem Himmel alte Berge« ist so verschlungen gebaut, so verschmitzt komponiert, daß sie einem beim ersten Lesen wie gar nicht gebaut, wie willkürlich erzählt vorkommt: man hört Stimmen von Berg zu Berg, ein Soldat, ein Hirte, ist heimgekehrt nach dem Krieg, die Herde wird wieder geteilt, Frauen weinen, weil einer heimkam, aber die Ihren nie wieder heimkommen werden, eine junge Witwe lästert und schreit, sie wird wiederverheiratet, mit einem, der vorher nicht zu verheiraten war, sie heißt Sofi, der Erzähler, damals ein Kind, hilft dem Hirten, zwei Welpen zu stehlen von einem aserbaidshanischen Herdenzug, der in die armenischen Berge geht zur Frühsommerzeit. Alles scheint zufällig, ohne Bedeutung oder von gleicher Bedeutung, der Tod der 184


Männer, der Hundediebstahl, das Teilen der Herde, das Schreien und Weinen der Frauen, und dann ein Sprung in die Stadt, der Junge geht dort zur Schule, kann aber sein Dorf nicht vergessen, will fliehen, dann ist er erwachsen, Schriftsteller, ist ein ganz anderer Mensch, bereit, sich verführen zu lassen vom Leichten, vom Schönen, vom Verwirrenden auch (wie verwirrend ist diese Schwedin, die so jung ist und weiß nichts vom Krieg) - aber das Dorf holt ihn ein, der Tod holt ihn ein, Generalbaß des Lebens, am Ende sind alle Fäden zusammengeknüpft, alle Linien dem einen Punkt zugeführt, wo Ferne endet und Ferne beginnt (der Punkt nächster Nähe), das Vergangene stirbt in die Zukunft, gegenwärtig sind die aserbaidshanischen Welpen, die als alte Hunde heulend das Grab des Hirten belagern. Und der Erzähler, der fragt: »Mutter, sag, Mutter!« Lautere Prosa, die Poesie ist. Der hier erzählt wie ein Gott, der Gott seiner Berge. Er will nichts beweisen, will nicht beweisen, daß, was geschieht, gesetzmäßig ist. Er erzählt, was geschieht. Er erzählt: es geschieht. Gewalt und Unheil stehn auf, Natur verneint und bejaht, ineinander verschlungen ist alles, Gesteine, Mensch und Getier, Pflanzen, die sie ernähren, das milde Brot, das die bittere Erde gibt und das der Mensch dem Menschen entreißt oder opfert. Groß ist der Dichter, der sein Volk miterzählt, wenn er von sich erzählt, und dem alles beiläufig ist, Geschichte, Kunst und Kultur, Sitte und Glaube. Matewosjan stellt sich und die Seinen gegen ihren natürlichen Hintergrund. Klarer Himmel, alte Berge. Sie werfen große Schatten. Ihre Stimmen tönen Echo ernst und dringlich sind die Fragen, die (weittragend ihre Stimmen) bis zu uns herüberrufen. J

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Hat es Sinn Wo gehst du hin Woher kommst du Wessen bist du Bist du, der du warst, geblieben Hat man von dir wahr geschrieben Aber, was Wahrheit, erzählt, ist, wissen wir nicht. Wir waren nicht in Armenien. Und fühlen dennoch: Matewosjan, der ist wahr (wenn er nicht lügt, um zu lügen und es uns merken zu lassen). Daß er wahr ist, fühlen wir, weil er uns zwingt, ihn zu lieben. Ihn und sein Volk. Ihn und sein Land. Mit einer schweren uralten Liebe. Und dem Gefühl des Verlusts, weil wir die Sprache nicht kennen, ihren Klang niemals hörten. Und wieder nehmen wir uns vor, in die Berge zu gehen, das grüne Tal zu suchen, Zmakut in Lüften und das irdische Achnidsor. Eva Strittmatter


Inhalt

Das grüne Tal 5 Deine Sippe 20 Der Fremdling 61 Brot 104 Der Bär 115 Der Wächter 122 Unter klarem Himmel alte Berge 12 5 Eva Strittmatter: Matewosjans Sprache 180


sonst ist alles reine Wahrheit !

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ISBN 3-353-00305-3


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