Hrant matewosjan das schelmenstuck der hammeldiebe

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Titel der armenischen Originalausgabe:

foblAHtr lOTt Deutsch von Lieselotte Remane nach der russischen Ausgabe Мы и наши горы Moskau 1967 Illustrationen von Marianne Schäfer

1. Auflage Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin • L. N. 3—285/19/69 Printed in the German Democratic Republic Alle deutschsprachigen Rechte Vorbehalten Redakteur: Ingrid Göhringer Einbandentwurf: Marianne Schäfer Satz, Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30


Wir und unsere Berge



Die autonome Hirtenrepublik Tausend Fäden verbinden dies Dorf mit der Welt: Telefon, Hochspannungsleitungen, Post, Sollablieferungen an Wolle, Milch und Fleisch, der Konsum Nummer fünfzehn und der Lehrplan. Ins Dorf kommen von der Bibliothekarschule Absolventen, die sich auch aufs Transparentmalen und Regieführen verstehen; vom Kreisfilmverleih Filme und von der Kreiszeitung Reporter. Das Dorf seinerseits schickt in andere Dörfer und in die Stadt strammes junges Weibervolk, das bis knapp vor der Niederkunft Heugabel und Rechen nicht aus der Hand legt, und versorgt die Hochschulen mit begabten Jugendlichen. So kommt es, daß die Mittler zwischen Dorf und Außenwelt, die neben ihrer Arbeit freiwillig die Mission übernommen haben, über all und jedes klugzuschnacken, die Einwohner des Dorfes Antarametsch stets jovial lächelnd „schlichte Arbeitsleute“ nennen. Ein Antarametscher Schüler der fünften Klasse löst zwar das Kreuzworträtsel in der letzten Nummer der Pionierzeitung, aber er kommt nicht auf den Gedanken, der Redaktion die Lösung einzuschicken. Wenn er mit dem Kreuzworträtsel fertig ist, legt er die Zeitung weg und rennt in die Bibliothek, um sich eine neue zu holen. Oder auf die Tenne, um dem Traktoristen zur Hand zu gehen. Oder aufs Feld, um Spatzen zu schießen. Oder in die Schmiede, um den Blasebalg zu treten und das glühende Eisen anzustarren. Die Antarametscher Jugendlichen, die zu Beginn der Sommerferien aus der Stadt heimkommen, marschieren schnurstracks aufs Feld. Dort werden sie schlicht mit den Worten empfangen: 7


„Seid ihr da? Na fein, dann legt los, die Sicheln warten schon auf euch.“ Antarametsch hat sogar einen General hervorgebracht. Der kommt manchmal zur Sommerszeit angereist. „Genosse General“, sagte man hei dieser Gelegenheit einmal zu ihm, „hier hast du ’n Rechen. Geh und übernimm das Kommando über die da drüben.“ „Die haben auch ohne mein Kommando schon allerhand aufgeschobert“, erwiderte der General lächelnd. Die Generalin aber war beleidigt. „Ein reichlich unkultiviertes Volk seid ihr. Habt uns nicht mal gratuliert.“ „Wozu denn?“ „Na bitte, da sieht man’s! Er ist doch erst vor kurzem General geworden.“ „Und was war er vorher?“ „Was er war? Oberst natürlich.“ „Eben“, schlußfolgerten die Antarametscher, ohne mit der Wimper zu zucken. „Immer werden Generale aus Obersten gemacht.“ In der Schule fehlte ein ständiger Lehrer für Deutsch. Die jungen Mädchen, die das Institut schickte, steckten, wenn sie sich im Spiegel betrachteten, nach einem halben oder einem Jahr den Lippenstift weg, wandten sich verzweifelt ab, packten ihre Siebensachen und verließen unter Tränen das Dorf. „Ist das vielleicht ein Leben?“ rechtfertigten sie sich. „Im Kino behalten die Zuschauer die Papacha auf, rauchen stinkigen Tabak und grölen!“ „Warst du nicht an der Front?“ sagte der Schuldirektor eines schönen Tages zum Buchhalter. 8


„Das weißt du doch, bin ja ohne Bein zurückgekommen.“ „Davon rede ich nicht. Aber du kannst doch Deutsch?“ „Klar, war immerhin zwei Jahre in Gefangenschaft.“ „Wärst du imstande, die Kinder in Deutsch zu unterrichten?“ „Die Buchstaben hab ich zwar so ziemlich vergess e n . .. “ „Macht nichts, komm zu mir, wir werden sie schon zusammenkriegen.“ Genosse Manukjan kriegte sie zusammen, und seitdem erhielten die Schulabgänger bei der Aufnahmeprüfung in der Stadt in Deutsch stets eine Eins. Den Posten des Buchhalters übernahm der Wächter, der auch nur ein Bein hatte. Zwischen ihm und dem Vorsitzenden kam es zu folgendem Gespräch: „Die Sache ist die: Wir brauchen ’n Buchhalter.“ „Was kiimmert’s mich? Unsereins ist Wächter.“ „Würdest du mit den Rechnungsbüchem fertig werden?“ „Warum nicht? Was ist da schon dran!“ „Na schön.“ Tennenwächter aber wurde kein anderer als Abgar, der allererste Kolchosvorsitzende des Dorfs. Der tat zur Zeit nichts anderes, als sein Enkelkind zu hüten und, wenn es endlich eingewiegt war, auf seine Alte zu schimpfen. Die Alte blieb ihm nichts schuldig. Sie keifte zurück, und der allererste Vorsitzende fauchte sie an: „Schrei nicht, du weckst das Kind.“ Danach ging er zur Kolchosverwaltung und pflanzte sich vor dem derzeitigen Vorsitzenden auf. „Um Christi willen, gib mir eine Arbeit!“ „Geh und wieg deine Enkelin in den Schlaf.“ 9


„Hab ich schon.“ „Geh und schimpf auf deine Alte.“ „Hab ich schon.“ „Geh und .. .“ Der derzeitige Vorsitzende überlegte. „Geh und hol deine Rente ab, sie ist schon ausgeschrieben, und kauf deiner Enkelin Kuchen.“ „Sie hat ja noch keine Zähne.“ „Dann kauf deiner Alten welchen.“ „Die hat auch keine Zähne, ich hab zwei Zahnlose im Haus.“ Und beide Vorsitzenden — der alte und der neue — versanken tief in Gedanken. „Nein, ich weiß nichts für dich!“ erklärte der derzeitige Vorsitzende schließlich. „Wirklich nicht. Stör mich nicht, ich muß arbeiten.“ „Aber du erinnerst dich doch“, beharrte der allererste Vorsitzende, „wie du als Dreikäsehoch unterm Tisch herumgekr^bbelt bist und dir ewig der Rotz aus der Nase lief, da hab ich dir mit meinem Taschentuch die Nase geputzt. Weißt du das nicht mehr?“ „Wo soll ich dich denn hinstecken?“ seufzte der derzeitige Vorsitzende. „Mähen kannst du nicht. Vieh hüten auch nicht, zur Imkerei willst du nicht, der Honig ist dir zuwider. Geh und schnitz ein paar Eichenzwingen fürs Vieh.“ „Hab ich schon haufenweise gemacht.“ „Wir brauchen noch mehr.“ „Wir haben doch Eisenzwingen gekriegt.“ „Die aus Holz sind besser.“ „Wozu brauchen wir so viele?“ „Weiß ich auch nicht.“ Und nun war plötzlich die Stellung des Tennenwächters frei geworden. 10


„Setz keinen andern ein!“ bat der allererste Vorsitzende aufgeregt. „Augenblick, icbhol bloß die Knarre.“ Er stolperte sogar über die Schwelle. Für gewöhnlich etolpern alte Leute nicht — in ihrem Gang vereint sich die Erfahrung des Erwachsenen mit der Vorsicht des Kindes. Deshalb verriet das Stolpern des alten Mannes, der sich nach Hirtenbrauch fest auf seinen Stock stützte, wie gierig er nach dem Leben war, dieser kurzen, aber so herrlichen Spanne Zeit. Antarametsch ist ein altes Dorf. Die Kirche hat schon an die neunhundert Jährchen auf dem Buckel. Ob zuerst die Kirche und dann das Dorf entstand oder umgekehrt, weiß niemand. Das Alter des Dorfes läßt sich nicht feststellen. Fachleute aus der Stadt behaupten, die Kirche sei ein altes Baudenkmal. Auch die Architekten vermerken sie als Besonderheit: Ihre Fenster sind so schmal, daß sich gerade ein Sonnenstrahl oder eine Taube hindurchzwängen kann, während eine Katze bereits steckenbliebe, und trotzdem ist es drinnen genauso hell wie draußen. Der Architekt, der Historiker, die Generalsfrau, der Finanzinspektor, das Telefon, das hier ein „Dienstalter“ von dreißig Jahren aufzuweisen hat, die Zeitungen, Filme, Direktiven, Dankschreiben, Ehrenurkunden, Kritiken und Verweise — sie alle haben das Wesen des Dorfes nicht verändert. Gewandelt hat sich nur sein Gesicht. Heute hält man in Antarametsch sachlich den Hörer ans Ohr, überfliegt währenddes gelassen die Zeitungespalten. Und man reicht Ihnen einen Lappen, falls Sie Ihr Auto reparieren mußten und sich die Hände mit öl beschmiert haben. Heutzutage haben die Antarametscher ein anderes Verhältnis zum Telefon als vor dreißig Jahren. Keine Spur mehr von dem Reil


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spekt und dem Mißtrauen, die ihnen das Telefon damals einflößte. In den dreißiger Jahren war es rätselhaft und allmächtig, ein Wunderding, das man anherrschte oder überzeugte, bedrohte oder anflehte. Meist wurde es vom Vorsitzenden benutzt, der damit auf die Antarametscher Schafhirten einen ähnlich rätselhaften, allmächtigen Eindruck machte wie heutzutage etwa ein Atomforscher. Doch eines Tages geschah das, was früher oder später unausweichlich geschehen mußte: Jemand hat den Vorsitzenden um ein Pferd, weil er den Arzt aus dem Nachbardorf holen wollte. „Wozu ein Pferd?“ Der Vorsitzende lachte. „Ruf an, dann kommt der Arzt her.“

„Hm.“ „Klar, ruf an.“ „Und was soll ich sagen?“ „Schicken Sie bitte Doktor Astabatjan nach Antarametsch, mein Kind ist krank.“ „Willst mich wohl auf den Arm nehmen? Ruf selber

an.“ Seitdem mußte der Vorsitzende alle Nasen lang auf Wunsch seiner Dorfgenossen telefonieren, die sich ihm dadurch tief verpflichtet fühlten. Das ging so lange, bis das Telefon eines schönen Tages in seiner Abwesenheit klingelte. Die Hirten, die gerade im Kontor waren, fuhren hoch und starrten verdattert auf den Apparat. Das Telefon schrillte indessen fordernd weiter, Die Hirten blickten sich an und schubsten schließlich Sako vor, der immer für alles herhalten mußte. „Du hast doch von uns allen den hellsten Kopf, Sako.“

„Was stehst du noch? Geh ran, das Telefon beißt nicht.“ 13


„Sako, verflucht, wird’s bald!“ „Na los, Sako, bist doch ein Mordskerl!“ Und Sako ging und nahm den Hörer ab. „Wa-a-as?“ stotterte er, besann sich und brüllte: „Hallo-o-o!“ Seine Freunde kugelten sich, vor Lachen. „Guck dir den feinen Pinkel an! ,Hallo!‘ hat er gesagt. So was aber auch!“ Sako telefonierte inzwischen weiter. „Was? Ja. Antarametsch. Nein, Sako.“ Der Anruf kam aus Getametsch. Man teilte mit, daß in Getametsch Waren für Antarametsch bereitlägen — Seife, Zündhölzer, Kattun, Petroleum, Zwieback, Heugabeln, die abgeholt werden müßten. Das Telefon war plötzlich nicht mehr rätselhaft. Die Stimme des Anrufers klang dermaßen menschlich, als stünde der Verkaufsstellenleiter Chetscho neben Sako, so dicht, daß er ihm auf die Schulter klopfen könnte. So wurde das Telefon für Sako zu einem simplen, verständlichen Gegenstand. „Chetscho!“ sagte er. „Ja, ich höre.“ „Chetscho!“ „Hallo-o-o! Sprich, Sako! Hier ist Chetscho.“ „Chetscho!“ „Ja doch! Ich höre!“ „Chetscho! Also - Zwieback, Petroleum, Kattun und was noch?“ „Schmieröl, Seife, Nägel, Heugabeln.“ „Bist du das wirklich, Chetscho?“ „Natürlich bin ich’s, wer sonst?“ „Sieh einer an, was der angibt! Spricht durchs Telefon! Konntest wohl keinen Jungen herschicken, was?“ 14


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Chetscho brach am anderen Ende der Leitung in schallendes Gelächter aus. „Chetscho!“ sagte Sako. „Chetscho, du Hundesohn!“ Er wollte noch hinzufügen, daß er künftig, falls erforderlich, ebenfalls anrufen würde, statt einen Jungen zu schicken. Doch die anderen Hirten rissen ihm den Hörer aus der Hand und schrien aus Leibeskräften hinein. Das Geschrei bezog sich hauptsächlich auf Chetscho, seinen Vater, den Pferdedieb, und seinen Großvater, den Pferdedieb. Mit dem Geschrei wollten die Hirten dem Erfinder des Telefons, seinem Vater und seinem Großvater ihre Billigung aussprechen. Und der Verkaufsstellenleiter Chetscho faßte es auch so auf. Auf diese Weise wurde das Telefon ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand. Später hielten dann auch die Elektrizität, das Radio und anderes ihren Einzug im Dorf. Übrigens wurde in Antarametsch danach noch an die zwei Jahre alles Neue als Elektrizität bezeichnet. Sako nannte sogar sein eisernes Bett so. Ein elektrisches Bett! Die Zuhörer kugelten sich vor Lachen, und weil der arme Sako meinte, sie lachten nur, weil sie zufällig guter Laune wären, lachte er mit. Bald jedoch hatte das Dorf den Unterschied zwischen Elektrizität und Nichtelektrizität erfaßt und fuhr, bereichert durch das neue Wissen, fort, jenes Fleckchen zu bestellen, das ihm auf dem Erdplaneten zuteil geworden war. Das Antarametsch gehörende Fleckchen ist auch wirklich vorzüglich. Die Kirche mit dem himmelblauen Giebeldach; der Friedhof, der nicht erkennen läßt, wer von den dort ruhenden Antarametschern reich und wer 15


arm war, weil die ortsansässigen Steinmetzen seit Generationen die Steine nach dem gleichen Format zuhauen. Hinter dem Friedhof das den Hang emporsteigende Ackerland. Und dort, wo das Ackerland, erschrocken über die Steile, aufhört, weidende schwarze und weiße Schafherden. Im Tal des Flusses, der sich durch die Schlucht schlängelt, in diesem Tal, wo die Hitze sich sammelt, zieht sich ein schmaler Streif Obstgärten hin. Hier, wo Gluthitze und Kühle aufeinanderstoßen, hat sich durch eine Flußwindung ein kleines Plateau gebildet, der Atorik. Er ist eben wie ein Tisch und mit dichtem, saftigem Gras bewachsen, das von Schwarzerde genährt wird. Auf dem Atorik steht die Antarametscher Imkerei mit ihren schachbrettförmig angeordneten himmelblauen Bienenhäusern, welche die Nummern eins bis fünfhundertdreißig tragen. Das unermüdliche Bienenkonzert ist im Umkreis von vier, fünf Kilometern zu hören, während man den kräftigen Honigduft einen, ja zwei Kilometer weit riecht. Gut

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möglich, daß sich am anderen Flußufer manchmal ein Bär niederläßt, zur Imkerei hinaufstarrt und daß der alte Imker ihm durch die Brille zulächelt. „Na, was hockst du da herum? Komm doch her, wenn du schon so mutig bist!“ „Natürlich, Antarametsch könnt ihr uns leicht als Beispiel hinstellen!“ knurren die Kolchosvorsitzenden auf den Kreiskonferenzen. „Na und? Das Dorf sollte uns mal gehören! Allein schon die Imkerei. .. Bei den Antarametschern war der Herrgott nicht knausrig, alles hat er ihnen in Hülle und Fülle gegeben.“ Ehrenwort, der Herrgott hat Antarametsch tatsächlich alles in Hülle und Fülle gegeben. Als er es mit dem Atorik beschenkte, hatte er allerdings noch nicht die himmelblauen Bienenhäuser schachbrettförmig darauf angeordnet. Das hat er den Menschen überlassen. Und hätten die sich nicht zum Ziel gesetzt, das Fleckchen Erde, das ihnen auf dem Erdplaneten zuteil wurde, in einen blühenden Garten zu verwandeln, dann hätten eie auch keinen Atorik, selbst wenn er unmittelbar vor ihrer Nase läge, oder wenn sie ihn hätten, wäre er nicht klafterdick mit Schwarzerde bedeckt, sondern mit irgendwelchem Dreckslehm, kurz, dann fehlte bestimmt irgendwas. Von der Kirche habe ich schon berichtet. Sollen die Gelehrten sie nach Herzenslust preisen, das ist ihre Sache. Ich jedenfalls sehe in unserer Kirche nur den Beweis dafür, daß auf diesem kleinen Fleckchen unseres Planeten die Freundschaft zwischen Mensch und Erde schon viele, viele Jahre währt.

I Matewoejan/Schelm

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Lied von der Treue Der Hirt Owanes zeugte den Hirten Jessai, der Hirt Jessai zeugte den Hirten Haikas, der Hirt Haikas zeugte Stepan, aber Stepan ist schon nicht mehr Hirt, sondern Kreissekretär des Komsomol. Übrigens will ich von Haikas erzählen. Denn Owanes habe ich nicht mehr gekannt, ich hörte nur, daß er einhundertsiebenundzwanzig Jahre alt geworden sei und in den letzten beiden Jahren über seine schlechten Augen geklagt habe. Was Jessai betrifft, so weiß id։ nodi, wie er gestorben ist. „Jessai ist ertrunken.“ — „Wie ist denn das passiert?“ — „Er wollte mit dem Pferd den Fluß durchqueren, da hat das Wasser ihn mitgerissen.“ — „Hat man wenigstens seine Leiche gefunden?“ — „Bis jetzt nicht.“ An Jessais Beerdigung kann ich midi nicht erinnern. Ich weiß nur, daß jemand sich die Hose anzog und wütend fluchte, weil sich sein Fuß im Hosenbein verheddert hatte. Er hüpfte auf einem Bein umher und verfluchte den Mann, der die verdammte Hose genäht hatte. An die Frau dieses Mannes kann ich midi nidit mehr entsinnen, ich weiß audi nicht, wer mir erzählte, daß Jessai ertrunken war. Ich sehe nur noch den Regen vor mir, der ans Fenster prasselte, eine nasse Lederjacke und den Mann, der wütend fluchte, wei! sid։ sein Fuß im Hosenbein verheddert hatte. Somit kenne idi Owanes nur vom Hörensagen und weiß von Jessai bloß, wie er starb. Mit Haikas dagegen bin ich persönlich bekannt. Haikas wurde eines Tages abgeholt. Niemand wußte, wohin es ihn verschlagen hatte. Vielleicht saß er im fernen Sibirien, vielleicht stand er hinter der nächsten 18


Eiche, vielleicht aber stand er auch gar nicht, sondern lag unter der Eiche in der Erde. Antarametsch hatte keine Ahnung. So vergingen vier Jahre. Dann begann der Krieg. Er half, Haikas ausfindig zu machen: „Feldpostnummer soundso, Truppenteil soundso, an Haikas Jessajewitsch Owanesjan.“ „Feldpost“ — das war auch ■0 eine Art von Ungewißheit, dennoch ließ sich dabei wenigstens vermuten, daß die Ungewißheit in Richtung Mosdok—Wolga-Moskau-Leningrad—Murmansk EU suchen sei. Später besagte die Feldpostnummer, daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kiew handelte, dann war es offensichtlich Königsberg, danach Bulgarien, Rumänien oder die Tschechoslowakei. Und schließlich war es Berlin. So kehrte Haikas mit Hilfe der Feldpost über Berlin aus der Ungewißheit zurück und stellte sich in Leutnanteuniform in Antarametsch ein. Vier Jahre plus Krieg macht acht Jahre. Wenn ein gewisser Muscheg oder Jerwand oder Akop oder Assatur, mit dem Staub der Frontstraßen bedeckt, ins Dorf zurückkehrte, freute sich Antarametsch selbstverständlich. Und wie! Aber es verlor nicht die Fassung. Schon wenige Augenblicke nach der Begrüßung erinnerte es sich an die Spitznamen von Muscheg, Jerwand, Akop und Assatur und daran, daß der erste immer ein bißchen genäselt hatte, daß der Großvater des Eweiten auf dem linken Fuß und die Frau des dritten auf dem rechten Fuß hinkte. Mit gerafften Röcken rannte das Dorf jedem Heimkehrer entgegen, umringte Ihn als fröhlicher Regenbogen, betäubte ihn mit Schmatzenden Küssen, Gekreisch, zusammenhanglosem Jubelgeschrei und geistreichen und geistlosen Witzen. Anschließend führte man den Heimkehrer durchs


ganze Dorf, wobei klapprige Greisinnen und Kinder beiseite geschubst und leichte Zäune niedergetrampelt wurden, und setzte ihn an die Spitze einer Festtafel. Doch schon am folgenden Tag erinnerte man sich an seinen alten Spitznamen. Irgendwer steckte den Kopf aus dem Stall, den Spaten noch in der Hand, und schrie ihm „Kutusow“ nach. Assatur Chatschatrjan, dem der Ruf galt, ging ungerührt weiter und wunderte sich, daß die Häuser in Antarametsch eingeschossig waren. „In Berlin, tja, da gab’s Häuser ...“ „Kutusow! He, Assatur, dich hab ich gemeint, hörst du schwer? Sonst heißt doch niemand Kutusow!“ „Was willst du?“ Doch der andere hatte sich nur vergewissern wollen, wie Assaturs alter Spitzname klang, er wollte absolut nichts, deshalb stellte er die erstbeste Frage, die ihm in den Sinn kam. „Wohin gehst du?“ „Bloß spazieren.“ „So was! Dieser Kutusow. Geht einfach spazieren!“ Die Antarametscher hatten eine Nase dafür, ob beispielsweise ein ehemaliger Hirt wieder Schafe hüten oder ob er sich eine andere Stellung suchen würde. Antarametsch brauchte nur zwei Tage, um Assatur Chatschatrjan wieder in den Kutusow von einst zu verwandeln, der mit Wolfshunden, Papacha und Hirtenstab die über den Berghang verstreute Herde bewachte. Bei Muscheg dagegen waren keine zwei Tage erforderlich, ja nicht einmal eine Stunde. Kaum tauchte er am Dorfrand auf und wischte sich den Schweiß vom Gesicht, da näselte schon einer: „Der Blitsch soll dich treffen, Antarametsch! In diesem blöden Nescht kann 20


man ja mit keinem eintsAigen Menschen ruschisch •ApreAen!“ „Muscheg ist wieder da!“ fielen die anderen ein. „Leute, als Marschall Shukow den Befehl gab, die feindlichen Pantscher ausdher Gefescht tschu sAet•chen, da hab ich mit meiner Katjuscha losAgelegt, das A es nur so raus Ate, biiisA bum!“ SelbstverständliA wurde auA Muscheg mit allen Ehren empfangen, unter Niedertrampelung der Zäune durAs Dorf gesAleppt und an die Spitze einer Festtafel gesetzt. Doch dann hieß es: „Der Blits A soll di A treffen, AntarametsA! In diesem blöden NesAt kann man ja mit keinem eintsAigen MensAen rusAisch •ApreAen!“ „Nein, Leute, dasA hab ich niemals gesAagt!“ protestierte Muscheg. „GedaAt hab iA esA wohl, aber gesAagt nie!“ „Na, und wie war’s da draußen mit Shukow?“ „Ja, iA und Shukow, Leute...“, begann MusAeg, und auf diese Weise entstand kurz darauf im Dorf ein neuer Legendenzyklus unter dem Thema „MarsAall Shukow und MusAeg“.

Do A nun kehrte Haikas ins Dorf zurüA. Seinen Spitz-

namen rief siA das Dorf niAt wieder ins GedäAtnis. Vor Freude wurden einigen die Knie weiA, während die anderen dort, wo sie gerade standen, zur Salzsäule tritarrten, der eine vor dem Zaun, den er aufriAtete, 21


der zweite in der Tür zum Stall, aus dem er den Mist herausschaufelte, der dritte neben der Dreschmaschine mit aufgespießter Garbe, die vierte am Herd, ohne daran zu denken, daß die Spiegeleier in der Pfanne anbrannten. Die Finger, die in der Tasche nach der Zündholzschachtel suchten, brachten sie nicht zum Vorschein, der Reiter, der den Berg erklomm, vergaß, seinem Pferd die Sporen zu geben, obgleich er die Steigbügel schon abgespreizt hatte, und die erhobenen Hände, bereit, den Volleyball zu fangen, sanken herab, so daß der Ball den Kopf traf. „Haikas ist wieder da!“ Der Ball prallte zurück, der Reiter gab dem Pferd die Sporen, die Zündholzflammc setzte die Selbstgedrehte in Brand, den Spiegeleiern mißlang das Anbrennen, und die Dreschmaschine schlang die Garbe in sich hinein. Gemächlich schlenderte Haikas durch die Schlucht ins Dorf. „Grüß dich, Assatur!“ „Tag, Muscheg!“ „Wie geht’s, alter Stepan?“ „He, Bassar! Na, komm ... Schau einer an, er erkennt mich wieder, bellt nicht mal!“ „Guten Tag, Kinder!“ „Tag!“ schmetterten heisere und helle Kinderstimmen im Chor, als wäre ein Stein ins Wasser geplumpst. „Der hier“, sagte Haikas, „ist ein Enkel von unserem Awak und Mgers Sohn!“ „Und dieser“, setzte er hinzu, „ist ein Sprößling von Sergej, deinem Ältesten, Abgar; und deine Schwiegertochter scheint aus Getametsch zu stammen, sie ist doch eine Arsenjan, wenn ich nicht irre.“ 22


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„Der da aber“, fuhr Haikas fort, „ist ein Sohn von unlerra Wasgen, und der ist von unserm Aschot. Und der von unserm Watsche. Und der von unserem Serob. Oder von Sarkis? Ja, von unserm Sarkis.“ Bei allen tagte Haikas „von unserm“. „Und das sind die Mädels von unserm Bagdo.“ „Und dieser nette Junge...“ Haikas sah genau, wessen Sohn das war, aber ihm fiel der Name des Vaters nicht ein, und den Spitznamen mochte er nicht sagen - vielleicht war der Mann gestorben oder nicht aus dem Krieg ■urückgekehrt. „Wo arbeitet dein Vater, Söhnchen?“ „Im Laden.“ „Er hat einen Granatsplitter im Bein“, erläuterte Abgar, „deshalb haben wir ihn in den Laden gesteckt, dort ' itt die Arbeit nicht so schwer.“ „Na, demnach ist er ein Sohn von unserm Wallach.“ Dann legte Haikas einem sommersprossigen Bürschlein die Hand auf den Kopf. „Der ist von unserm ...“ Er stockte, überlegte und ■agte dann: „Das ist der Sohn von Saak.“ Und nachdem er und Abgar die Kinder hinter sich gelassen hatten, letzte er hinzu: „Schande über Saak. Ich verachte ihn. Warum jagt er seine Frau nicht weg? Der Junge ist Durmisch wie aus dem Gesicht geschnitten, das sieht doch ein Blinder.“ „Er hat sie weggejagt. Und sich ’ne andre angeschafft. Hat wieder geheiratet. In allen Ehren.“ „Tüchtig!“ Danach erkundigte sich der Kolchosvorsitzende Ab|»r, wo Haikas sich niederzulassen gedächte. Würde er in die Stadt ziehen oder im Dorf bleiben? Falls er im Dorf bliebe, dann sollte er den Vorsitzenden machen, denn er, Abgar, sei nun alt und müde. 23


„Nein.“ Haikas wollte nicht den Vorsitzenden machen. Ein Leutnant kann in der Armee bleiben. Oberst werden und später General — kurz, ein großer Mann in Chromlederstiefeln. Was unseren Leutnant anbetrifft, so blieb er im Dorf. Doch wer ist nach achtjähriger Abwesenheit schon noch ans Dorf gewöhnt? Daß Haikas die Kinder erkannte, allein das war lobenswert. Es wäre durchaus berechtigt gewesen, hätte er nicht bloß die Kinder, sondern auch den Rückweg ins Dorf vergessen. Immerhin hatte er was zu sehen gekriegt von der Welt, hatten seine Augen sich an große Weiten gewöhnt, da wäre es verständlich gewesen, wenn ihm das Dorf nun allzu eng vorgekommen wäre. Haikas tat das gleiche, was sein Vater vor vielen Jahren getan hatte. Nach seiner Heimkehr aus dem ersten Weltkrieg war Jessai schnurstracks in den Kälberstall marschiert und hatte alle Kälber wiedererkannt. Auch Haikas marschierte zur Farm und erkannte alle Kälber wieder — das ist von dieser Kuh und das von jener. „Aber weshalb sind es zweiundzwanzig und nicht vierundzwanzig? Zagik ist wohl verreckt? War ja auch alt genug. Und Surma ist immer noch unfruchtbar? Die muß endlich verkauft werden!“ Dann verschwand Haikas. Doch diesmal war seine Adresse bekannt. Er schrieb Briefe, und man schickte ihm Pakete mit Äpfeln, Backobst und Wollsocken. In seinen Briefen bat er: „Schickt dickere Socken, schickt nur Winteräpfel, die Sommeräpfel faulen.“ Und nach einiger Zeit schrieb er: „Schickt keine Äpfel weiter, sie kommen nicht heil an, schickt lieber Dörrobst. Ich babe eine anständige Arbeit“, schrieb er, „keine schwere.“ Einmal schickte er auch ein Foto von sich und seiner Familie: „Dussja, Stepan, Anahit, Marietta, 2 4


wenn wir ins Dorf zurückkehren, werden wir sie Maro rufen.“ „Er hat sich ’ne Familie zugelegt, da wird er also nicht wiederkommen“, stellte man im Dorf seufzend fest. Aber nach acht Jahren kam Haikas doch. Anfangs machte er sich Sorge, daß die Kinder Russisch verlernen würden, aber dann meinte er, daß sie im Gegenteil Armenisch hinzulernen könnten. Haikas schwang gern große Reden über dies und jenes - er war eben so. Deshalb hatte man ihn auch abgeholt. Das Redenschwingen an und für sich war dabei noch halb so schlimm. Schlimmer war, daß selbst Haikas zu guter Letzt kaum noch unterscheiden konnte, welches Kalb von welcher Kuh stammte. Wir haben einen Nachbarn, Onkel Grigor. Bis Kriegsausbruch war er Zimmermann, aber dann nahm man ihm den Hobel weg und drückte ihm statt dessen ein Gewehr in die Hand. Vier Jahre kämpfte er sowohl als Partisan als auch in der regulären Truppe. In der Zeitung stand, daß hundertfünfzig tote Faschisten auf sein Konto kämen. „Überlegt doch mal“, sagte er dazu, „vier Jahre hab ich unaufhörlich geschossen, ohne das Gewehr aus der Hand zu legen... Da werden’s wohl mehr als hundertfünfzig sein.“ Es wäre durchaus denkbar, daß so jemand sein Handwerk vergessen hätte und sich nur spöttisch lächelnd seiner Zimmermannszeit erinnerte. Und daß er sich am neunten Mai 1945, an dem Tag, da alle Gewehre verstummten, fassungslos gefragt hätte: Was soll jetzt werden? Aber Onkel Grigor verlor nicht die Fassung. „Als wir in Deutschland einmarschierten“, erzählte er, „wurde unsere Kompanie für eine Nacht in einem Dorf 25


einquartiert. Die Stube war hundekalt, weil die Tür nicht schloß. Als ich dran riß, sprang das verdammte Biest aus den Angeln und ließ sich nicht wieder einhängen. Die Bäuerin war ’ne alte Frau. ,Mütterchen 4, sagte ich, ,hast du Werkzeug da?4 — ,Würde ’n Hobel taugen?4 fragte sie. ,Freilich!4 gab ich zur Antwort. Da brachte sie einen Hobel an, ’ne schiere Augenweide. Ich hängte die Tür ein und sagte: ,Mütterchen, denk, was du willst — daß ich dir den Hobel abgekauft oder geklaut hätte! Jedenfalls nehme ich ihn mit.4 44 Alle Heimkehrer werden kontrolliert, ob sie noch Waffen bei sich haben. Onkel Grigor wurde fünfmal kontrolliert, und stets erntete er zornige Blicke, wenn man unter seiner Feldbluse etwas Hartes ertastete. Und jedesmal, wenn er es hervorzog, wollten sich die Kontrolleure ausschiitten vor Lachen. Man sagt, Flieger werden auf der Erde schlechter Laune. Das stimmt. Der Himmel ist für sie das gleiche wie für einen Antarametscher Hirten die Herde. Sie können ebensowenig ohne Himmel leben wie der Hirt ohne Herde und der Zimmermann ohne Hobel. Auf der Erde pflegen die Flieger sich zu besaufen, stellen sich mitten auf den Gehsteig und glotzen die Passanten mürrisch und verständnislos an. Woraus die Leute tiefsinnig folgern, daß der Flieger etwas Besseres sei als der Bauer, was eine sichtliche Verachtung für das alte Handwerk des Bauern verrät. Gott behüte, daß das ernst gemeint ist. Denn wißt ihr, was dann passierte? Antarametsch würde sich mit Jen Antarametschern restlos Überwerfen, die Antarametscher würden den Frühlingstag verpassen, an dem gesät werden muß, oder den, an dem die himmelblauen Bienenhäuser mit dem Flugloch gen Osten gedreht werden müssen, kein

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Antarametscher könnte mehr bestimmen, an welchem Hochsommertag mit der Getreideernte begonnen werden und wie tief ein zarter Setzling in die Erde gepflanzt werden muß. Denn all das erfolgt nicht nach den Landwirtschaftsdirektiven. So ist das eben! Jenes Thermometer dort beispielsweise ist dafür nicht die Bohne wert. Kein Thermometer zeigt euch die Tiefe an, die ein Setzling braucht, oder den Tag, an dem im Westen die Linden aufblühen und im Osten sich die erste Honigblüte entfaltet. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn eines schönen Tages alle Leute wie die Flieger nur auf den Himmel achteten. Der, der den Garten sprengt, vernähme gewiß nicht den zufriedenen Seufzer der durstgestillten Erde, wie der Imker nicht den Duft der ' ersten, sich an den Ohsthängen der Berge entfaltenden Honigblüten bemerken würde. Denn dieser Duft ist so zart, daß nur der Imker ihn wahrnimmt, während für andere Leute selbst ganze Sträuße dieser Blüten nach nichts riechen. Und was käme heraus, wenn einer nur deshalb als Imker arbeitete, weil er dafür bezahlt wird? Er würde den Bären übersehen, schließlich ist er Imker und kein Wächter, besitzt also nur ein Schutznetz fürs Gesicht, aber kein Gewehr. Und der Bär würde auch nicht sehnsüchtig am anderen Flußufer sitzen bleiben, sondern unbesehen in die Imkerei einbrechcn, die Bienenstöcke umkippen und das Unterste zuoberst kehren, weil er in den Rahmen keinen Honig fände. In den Rahmen aber wäre kein Honig, weil der Imker die Bienenstöcke nicht rechtzeitig mit dem Flugloch gen Osten gedreht hätte. 27


Einmal überwarfen sich die Antarametscher Hirten mit ihrer Herde. Laut Direktive sollten die Antarametscher Schafe bereits geschoren sein und hätte Antarametsch längst sein Ablieferungssoll an Wolle erfüllen müssen. Aber die Antarametscher trödelten herum, gaben Versprechen ab, jedoch keine Wolle, und reagierten weder auf die alarmierenden Anrufe noch auf die Telegramme vom Kreis — kurz, die Fuhre kam nicht vom Fleck. Das konnte so nicht weitergehen. Schließlich wurde zur Klärung der Gründe einer so sonderbaren Unbotmäßigkeit ein Instrukteur nach Antarametsch entsandt, der feststellte, daß die Kolchosleitung die Schafe nur deshalb nicht scheren ließ, weil es dauernd regnete. Aus diesem Fakt ergab sich die Frage: Hatte der Kolchos die richtige Leitung? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: selbstverständlich nicht. „Mir ist es egal“, sagte der Vorsitzende. „Wenn ich abgelöst werde, geh ich als Schafscherer. Nein!“ widersprach er sich heftig. „Es ist mir nicht egal! Ich lasse die Schur nicht zu, und damit basta! Ich verbiete sie!“ „Es sind unsere Schafe, wir scheren sie nicht!“ sagten die Hirten. „Wir sind nicht unser eigner Feind.“ „Ach, das ist des Pudels Kern!“ Dem Instrukteur ging ein Licht auf. „Ihr betrachtet das Staatseigentum als euer Privateigentum!“ Der Vorsitzende wurde zum Kreis beordert, und unter Aufsicht des Instrukteurs begann ein Hirt mit der Schur. Er schor die halbe Herde kahl, schuftete Tag und Nacht, schlief zwischendurch nur drei, vier Stunden. „Die scheren wir, Genosse Instrukteur, was kümmert’s uns, zum Teufel mit den Schafen, wir scheren sie, soll’n sie doch verrecken. Es sind ja nicht die einzigen Schafe auf der Welt, in Kasachstan gibt’s noch viel mehr!“

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Die Wollablieferung schritt mit Siebenmeilenstiefeln voran, der Vorsitzende erhielt einen strengen Verweis, und das Jungvieh ging restlos ein. Daraufhin wechselte der strenge Verweis vom Vorsitzenden auf den Instrukteur über, und der Hirt, der die Herde geschoren hatte, zeigte sich eine ganze Woche nicht in der öffentlichkeit, wälzte sich daheim auf der Tachta, das Gesicht ine Kissen gebohrt, nahm danach seinen Kram und tibersiedelte in die Stadt. Dort soll er eine Stellung gefunden haben und allmählich die Rangleiter hinaufklettern. Vermutlich wird er in Kürze Instrukteur oder etwas Ähnliches. Nach diesem Zwischenfall verlor die Hirtenrepublik ihre Autonomie und Unabhängigkeit. Um den Viehbestand wieder aufzufüllen, wurden den Hirten Tausende Methoden vorgeschlagen, von denen sie keine einzige kapierten. Sie hätten sämtliche Hinweise, Ratschläge und alles Sonstige sammeln, gegeneinander abwägen, einiges annehmen und anderes ablehnen sollen. Doch die Verluste waren so hoch, die Fristen für die Auffüllung des Viehbestandes hingegen so klein, daß sie gar nicht mehr überlegten und blindlings die unwahrscheinlichsten Verpflichtungen übernahmen. Sie versprachen, daß auf hundert Schafe hundertfünfzig Lämmer kommen würden. Aber sie glaubten selber nicht an ihre Versprechen. Nicht Überzeugung beherrschte sie, Sondern Hoffnung, die verschwommene, schwache Hoffnung, daß der Zuwachs vielleicht ohne ihr Zutun durch irgendein Wunder erfolgen würde. Sie waren keine Herren ihrer Herde, keine Hirten mehr, sondern der Herde auferlegte wandelnde Verpflichtungen. „Herzlich willkommen!44 empfingen sie die Zeitungsreporter. „Hoffentlich gefällt’s euch in unseren Ber29


gen! Wie wir leben? Gut leben wir! Vor der Revolution hatte unser Dorf ... jetzt dagegen hat es . . Dann schoben sie sich keck die Papacha aufs Ohr, warfen die Burka um, stützten sich auf den Hirtenstab (den traditionellen Hirtenstab) und lächelten krampfhaft ins Objektiv. Anschließend luden sie den Reporter ein. „Du solltest mal zu uns ins Haus kommen und unsern Mazun kosten, wir haben frischen kalten Mazun da.“ Dabei hatten sie zu Hause nicht bloß Mazun, Dickmilch in Tonschalen, sondern auch Fischkonserven und überhaupt viele gute Sachen, die zehnmal besser schmeckten als Mazun. Aber sie spielten die Hirtenrolle, und dazu gehörte unbedingt Mazun. Daraus erklärt sich auch, daß die jungen Hirten mit normaler Mittelschulbildung, die jeden Tag zum Wehrdienst einberufen werden, es dort zum Testpiloten bringen, an eine Universität gehen und Wissenschaften studieren konnten, die erst im zwanzigsten Jahrhundert entstanden sind, daß diese jungen Hirten, die das Wort „Peschkesch“, was soviel wie Geschenk bedeutet, nur als archaischen Begriff in Schulaufsätzen angewandt hatten, sich nun solche von ihren Vorvätern überkommenen „weisen“ Redensarten zu eigen machten, wie zum Beispiel: „Wer sich im Sommer im Schatten ausstreckt, der ist im Winter vor Hunger verreckt!“ Und ein Weilchen hatte man den Eindruck, daß sich die Anzahl der Leute, die nur schöne Reden über die Welt halten, um ein Tausend vermehrt, die Anzahl derjenigen hingegen, die diese Welt erst zur Welt machen, um ein Tausend vermindert hatte.

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Arithmetik OnkeldienAwakpflegte dieSchafe zehnerweise abzuzählen. Er jagte ein Schaf von der Herde weg und sagte: „Eins.“ Dem ersten folgte das zweite. Onkelchen Awak tippte es mit dem Stock an: „Zwei.“ Nach dem zweiten kam das dritte: „Drei.“ Nach dem dritten das vierte: „Vier . . . fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn.“ Die erste Zehn merkte sich Onkelchen Awak. Die Schafe wimmelten um Onkelchen Awak herum, und er tippte eines nach dem anderen mit dem Stock an: „Eins, zwei, drei. .. zehn. Zwei mal zehn. Eins, zwei drei... “ Wenn die Freunde über ihn lachten, winkte er gutmütig ah. „Stört mich nicht, ihr seht doch, ich bin beschäftigt.“ „Hast du die Schafe gezählt, Awak?“ „Hab ich.“ „Wieviel sind’s denn?“ „Soviel.“ „Na, wieviel denn?“ „Soviel, wie eingetragen sind.“ In den Bergen zählt man ohnedies nicht gern. Spricht man von einem alten Mann, sagt man: „Ein Hundertjähriger.“ Und alle übrigen, vom sechzigjährigen Opa bis zum siebenjährigen Bengel, gelten als junge Leute. Wer unter sieben ist, zählt überhaupt nicht und gilt als Säugling. „Wieviel Schafe habt ihr heuer in eurer Herde?“ fragt man und erhält zur Antwort: „Eingegangen ist keins, du mußt also den Zuwachs zu dem hinzurechnen, was vorher war.“ — „Wieviel Futter?“ — „So viel, wie gemäht wurde.“ — „Und Honig?“ - „Einmal haben wir die Waben leer gemacht und dann noch 31


mal, wir hätten sie auch ein drittes Mal leer machen können, haben’s uns aber überlegt und den Honig in den Stöcken gelassen, damit die Bienen nicht hungern.“ Es kommt vor, daß der Vorsitzende den Leiter der Viehfarm anweist: „Gib Fleisch an die Schnitter aus.“ Der Farmleiter erkundigt sich beim Brigadier der Schnitter: „Seid ihr viele?“ - „Ja, ’ne ganze Menge.“ Daraufhin sagt der Farmleiter zu Onkelchen Awak: „Liefere ihnen Fleisch.“ Und der Buchhalter, der im Kontor sitzt und wartet, daß jemand was von ihm will, sagt zum Brigadier: „Ich hab eurer Brigade zwei Schafe angewiesen, habt ihr sie gekriegt?“ „Haben wir.“ Eines Tages stellte sich heraus, daß der Lagerverwalter ein Dieb war. Er besaß in der Stadt ein Haus und sollte dabeisein, sich ein zweites zu hauen. Die Antarametscher überlegten. Der Vorsitzende bat seinen Freund, einen Ingenieur, ihnen auszurechnen, ob sich die Familie, die in Antarametsch am meisten verdiente, für ihre zehnjährigen Ersparnisse in der Stadt ein Haus bauen könne. Von der Familie, die in Antarametsch am meisten verdiente, arbeiteten drei Mann auf dem Feld — der Vater und zwei Söhne —, und jeder von ihnen mähte einen Hektar pro Tag. Das war eine reichlich ungefähre Berechnung, die zweifellos zugunsten des Lagerverwalters ging. „Ein Haus ließe sich zwar bauen“, rechnete der Ingenieur aus, „aber so eines wie das eures Lagerverwalters kann sich nur jemand leisten, der eine halbe Million in der Tasche hat.“ Die Antarametscher Buchhaltung war nicht imstande, den Lagerverwalter zu entlarven. Trotzdem rechneten die Antarametscher mit ihm ab, sie hatten eine zu 32


[ große Wut auf ihn. Ein Brigadier verwickelte ihn „wegen eines Gramms“, also wegen einer nichtigen Kleinigkeit, in einen Streit, schlug Krach und belegte ihn mit unflätigen Schimpfworten. Der Lagerverwalter hörte ichweigend zu. „Aha! Du mußt ja ein verdammt schlechtes Gewissen haben, wenn du dir das bieten läßt und den Schwanz einkneifst!“ Der Brigadier ging auf den Lagerverwalter los. „Du Hundesohn!“ In diesem Augenblick stürzten der KolchosvorsitSende, der Vorsitzende des Dorf Sowjets und Sarkis, der klteste Bolschewik des Dorfs, in den Lagerraum. Der Kolchosvorsitzende packte den zu Tode erschrockenen Lagerverwalter beim Arm. „Was machst du da? Fällst du über unsere Brigadiere ;՛ her? Ich hab dich bisher für einen anständigen Menschen gehalten, aber du scheinst ja ein ganz übler Raufbold zu sein!“ Derweil zog der rote Partisan Sarkis dem Lagerverwalter einen Revolver aus der Tasche, ,,’ne Waffe trägt er. In unserer Zeit! Eijeijeijeijei!“ Anschließend führten sie den Brigadier zum Arzt Und ließen sich bescheinigen, daß ihm körperliche Verletzungen zugefügt worden waren, holten mehrere Leute herbei, den einen vom Feld, den anderen aus ■einem Haus, ließen sie ein Protokoll unterschreiben Und brachten den Lagerverwalter mitsamt Protokoll und Indizienbeweisen ins Kreisrevier der Miliz. Vor Gericht suchte der Lagerverwalter verzweifelt darzulegen, daß nicht er den Brigadier vermöbelt hätte. Sondern der ihn. Aber als das Gericht die Zeugen verhörte, beteuerte jeder von ihnen standhaft: „Er lügt, mit eigenen Augen hab ich gesehen, wie er den Brigadier verdroschen hat.“ I Matewosjan/Sdielm

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„Wie konntest du das mit eigenen Augen sehn?“ schrie der Lagerverwalter. „Du warst an dem Tag ja überhaupt nicht im Dorf!“ „Willst du vielleicht noch behaupten, daß ich in der Stadt war und vor deinen Palästen umherspaziert bin? Nein, ich war im Dorf und habe zugesehen, wie du einen Unschuldigen verprügelt hast.“ Daraufhin wurde der Lagerverwalter wegen Körperverletzung und unerlaubten Waffenbesitzes hinter Schloß und Riegel gesetzt. „Bloß um den Revolver ist’s schade, er war ein Geschenk!“ meinte der rote Partisan Sarkis betrübt. „So ein Hundesohn, so ein Schuft!“ schimpfte der Vorsitzende vor sich hin. „Bestimmt ist's in solcher Stellung schwer, den Versuchungen zu widerstehen, dafür hab ich durchaus Verständnis. Ein paar Kleinigkeiten hätte er ja ruhig nehmen können, verdammt noch mal, aber gleich einen solchen Raubzug zu veranstalten .. In Antarametsch lebt eine aus zehn Personen bestehende Familie: die alte Oma, ihr Sohn, ihre Schwiegertochter und die Enkel im Alter von elf bis fünfundzwanzig. Außer der Oma gehen morgens alle zur Arbeit und kommen erst abends wieder nach Hause. „Aufstehn, der Samowar kocht!“ sagt die Oma morgens. „Alle Mann zu Tisch!“ sagt sie abends. Die Oma ist ihr Morgenwecker. Wenn es Essenszeit ist, sagt sie: „Setzt euch!“; wenn sie morgens, die Sense schon in der Hand, noch daheim umhertrödeln, sagt sie: „Nun macht schon!“ Und wenn der Jüngste, der gerade elf geworden ist, aufs Pferd klettert, um die Post 34


aus Getametsch zu holen, sagt sie: „Reit los, aber paß auf und fall nicht vom Pferd.“ In dieser Familie kommandiert weder die Oma noch der Sohn, es kommandiert überhaupt niemand. Höchstens, daß der Sohn sagt: „Ist Jegischek schon losgeritten? Dann wird’s für uns auch Zeit, die Sonne steht schon hoch am Himmel.“ Das Kommando über die Familie führen die Sonne und die übers Dorf hinziehenden Wolken, führen Wind, Schnee und Hitze. Das Haus hat eine weitere Besonderheit. Die Oma sagt: „Die Glucke hat die Küken ausgebrütet.“ Nie würde sie sagen: „Die Glucke hat soundso viel Küken ausgebrütet.“ Und keiner würde berichten: „Heut haben wir soundso viel geschafft.“ Man sagt einfach: „Heut haben wir tüchtig gearbeitet.“ Im Herbst platzt das Haus fast vor Vorräten. Es hat weder Schloß noch Riegel, nichts ist abgeschlossen. Jeder nimmt sich, was er braucht. Und jeder leistet, was er kann. Ganz Antarametsch ist wie diese Familie, fleißig in der Arbeit, unbekümmert heim Verbrauch des Erarbeiteten, gleichgültig gegenüber dem, was Außenstehende über das Dorf klatschen. Sollen sie reden, Was sie wollen, ihr Geschwätz läßt die Antarametscher kalt. Während des Krieges, in der Zeit von Leid und Not, verkaufte der Kolchosvorsitzende Bagrat Durmischjan die Winterweide des Kolchos an das benachbarte Getametsch. Für den Erlös erwarb er ein Dutzend Schafe und brachte sie dem Kriegskommissar als Geschenk, um zu erreichen, daß dieser seinen Sohn vom zweiten Fronteinsatz zurückstellte. Zu der Zeit war jedes männliche Wesen, wenn es kein vierzehnjähriger Junge oder •iebzigjähriger Großvater war, sondern ein stämmiger

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schwarzhaariger Mann mit der Zigarette zwischen den Fingern, für das gesamte Dorf eine große Freude. Deshalb schlug es auch keinen Krach wegen der Winterweide. „Liebster Geworg!“ wurde Bagrats Sohn stets angeredet. Und dieses „liebster“ war Ausdruck für die Sehnsucht der Schwestern nach den Brüdern, für die Angst der Mutter um ihr Kind, das man in die Hölle des Krieges geschickt hatte, für das schamhaft unterdrückte Verlangen der Jungverheirateten Frauen nach ihren davongegangenen Männern. „Liebster Geworg!“ „Was willst du, Schwesterchen?“ Der Krieg ging zu Ende, und bei einer Hochzeit, die wegen des Krieges vier Jahre verschoben worden war, bei der ersten Nachkriegshochzeit also, wurde die Antarametsch eigene unverwüstliche Lust am Witzereißen wieder lebendig. „Jungs!“ erzählte ein angeheiterter Hirt. „In unsern Bergen treibt ein Wolf sein Unwesen, keine Kugel trifft ihn, tausendmal hab ich auf ihn geschossen, aber immer daneben, es ist, als wär er dagegen gefeit. Auch den Hunden entwischt er mit meisterhafter Behendigkeit. Und nie ohne Beute. Als ich ihn zum erstenmal zu Gesicht bekam, hatte ich weder Hund noch Gewehr bei mir und holte mit dem Stock nach ihm aus, er aber fletschte nur die Zähne und dachte nicht daran, sich zu verziehen. Da schob ich ein kränkliches Schaf zu ihm hin, bloß um ihn loszuwerden, doch das verschmähte er. Ohne mich aus den Augen zu lassen, schlug er ein paar Haken und packte dann den fettesten Hammel beim Schwanz. Ich stand da wie dämlich und konnte nichts dagegen tun, ja, ich mußte sogar lachen, weil er 36


mich so geschickt übers Ohr gehauen hatte. Und wißt ihr, Brüder, diesen Wolf hab ich ,Bagrat4 getauft.“ „Das war verkehrt“, sagte Bagrat, der Mann, der in der schweren Kriegszeit Vorsitzender gewesen war, „du hättest den Wolf besser ,Kriegskommissar‘ taufen sollen. Es war doch nicht meine Schuld, daß mein gesetzlich vom Fronteinsatz befreiter Sohn zum zweitenmal an die vorderste Linie geschickt werden sollte.“ Daraufhin beschlossen die Antarametscher, den Kriegskommissar zu verklagen, aber sie erfuhren, daß der bereits in Rente gegangen war, seine Schweine fütterte und die Kinder ausschimpfte, die seine Obstbäume plünderten. - Die Antarametscher wollten sich jedoch mit dem Verlust ihres Eigentums nicht abfinden. Eines Tages konnten sie nicht anders, mähten auf ihrer ehemaligen Weide das Gras und trieben die Schafe zum Überwintern hin. Die entsprechende gerichtliche Vorladung, die schon wenig später eintraf, schickten sie mit dem Vermerk zurück: „Empfänger nicht auffindbar.“ Bei dem nachfolgenden Anruf vom Kreis schnaufte und brummte Antarametsch dermaßen unartikuliert in den Hörer, daß man hätte denken können, ein Bär sei am Apparat. Um die Sache aus der Welt zu schaffen, schlug das Kreisgericht den Antarametschern vor, die Weide von den Getametschern zurückzukaufen. Der Streit war geschlichtet, aber seitdem nannte man die Antarameticher hinter ihrem Rücken „die Bären“. Jedermann wußte das, außer den Antarametschern. Sie hatten keine Zeit, sich um solchen Klatsch zu kümmern, weil eie dabei waren, einen Stall auf ihrer Winterweide zu bauen, die Ameisenhaufen zu entfernen und Gräben auszuheben. 37


Audi im Dorf stritt man sich zuweilen um den Boden. So ein Streit verlief etwa folgendermaßen: „Nimm mal deinen Flechtzaun da weg, mein Lieber!“ sagte der eine Nachbar zum anderen. Soldi ein Verlangen ist nicht lächerlich, weil es dabei um mehr geht als um ein paar Apfel- oder Birnbäume. Dadurch wird ein weiterer Quadratmeter Boden herausgeschunden, den man umgraben, eggen, bestellen, kurz, auf dem man zusätzlich eine Anzahl von ackerbaulichen „Übungen“ vornehmen kann. Im Dorf gibt es keine Flechtzäune und zwischen den Hofparzellen auch keine Grenzraine. Sie existieren nur im Bewußtsein der benachbarten Familien, und wenn sie dort an der gleichen Stelle verlaufen, so heißt das, daß die Nachbarn in Frieden, wenn nicht, daß sie in Unfrieden miteinander leben. Da die Obstgärten in Antarametsdi nicht von hohen Staketenzäunen umgeben sind, wird ihr Ertrag häufig schon in grünem Zustand von den Dorfkindern mit vereinten Kräften vertilgt. Die Gurkenranken kriechen von einem Garten in den anderen, und manch einer beginnt geistesabwesend, das Beet des Nachbarn zu jäten, bis er sich besinnt und staunt: „Wo bin ich denn da hingeraten?“ „Sieh dir nur an, wohin das Wasser aus meinem Garten geraten ist!“ ruft sein Nachbar zurück. „Das war auch so geistesabwesend wie du.“ „Da hast du recht!“ Übrigens, als der Streit um die Winterweide im Gange war, sagte Antarametsch zu Getametsch: „Uns interessiert nicht das Gras, wir haben uns bloß überlegt, was wir nach der großen Waldwiese noch mähen könnten.“ Deshalb sind auch die Zwistigkeiten um einen Qua38


dratmeter

Boden

in

Antarametsch

nicht

als

lächerlich

EU bezeichnen. Das Dorf hatte einen weiteren Zusammenstoß mit dem Gericht, und auch dabei unterlag es. Wir sagten schon, daß in Antarametsch eine „Hirten- .republik“ besteht. Fügen wir hinzu, daß diese Republik vom Farmleiter Sawen Kotscharjan geleitet wird. Ihm sind neunzehn Mann unterstellt. Die Republik verfügt über vierzig Hunde, zwölf Knüppel, zehn Gewehre, zwanzig Burkas, eine Schalmei und zehntausend Kopf Vieh. Zu ihren Besitztümern gehören ferner Flüsse und Bäche, Berghänge und Wiesen, Täler und •chattenspendende Wolken, kalte Tage, wo sich der Wert grüner Niederungen, heiße, wo sich der Wert ichneebedeckter Gipfel erweist, und schließlich als untrennbarer Bestandteil des Republikbesitzes die freie Völkerschaft der Wölfe mit dem gerissenen Leitwolf Bagrat an der Spitze. Diese Räuber machen nämlich «Hütehunde erforderlich, bedingen Lagerfeuer und Abtchreckungsrufe, welche die Hirten zu nächtlicher Stunde austauschen. Das Verschwinden der Wölfe Würde die Hirten vieler angenehmer Dinge berauben und ihrem Leben den Reiz nehmen, ähnlich wie die Sonne der Burka die Farbe nimmt. Ich möchte damit lagen, das Wichtigste am Hirtenberuf ist seine Romantik. Sie findet ihren Ausdruck darin, daß der heutige Hirt genau wie der vor tausend Jahren das Jahr teils im Kampf gegen die Natur, teils in Eintracht mit ihr verbringt. Da ist es nicht verwunderlich, daß ein Schulabgänger, der eben erst Hirt geworden ist, schon eine Wette eingeht, daß er es fertigbrächte, allein einen ganzen Hammel zu verzehren, und in Unwetternächten nicht schlafen geht, sondern bei der Herde bleibt, die 39


angstvoll vor jedem Blitz scheut, obgleich das ein, zwei Tage, ja eine ganze Woche dauern kann. Der Städter wird vom Regen überrascht. Man blickt aus dem Fenster und sieht die Leute plötzlich rennen. Was ist los? Aha, es gießt! Stadtregen — das sind rauschende Gullys, Rinnsale, die über die Gehsteige rieseln, und Leute, die Reißaus nehmen. Mehr nicht. In der Stadt freut man sich nicht am Regen. Im Dorf aber, wenn da der Regen auf Wiesen und Felder prasselt, die gelb und rissig sind vor Hitze, ist das so eine Freude, daß man Tränen in die Augen kriegt. Manchmal ist es allerdings auch anders, es regnet und regnet ohne Unterlaß, schon versinkt man mit den Füßen im Schlamm, wie in einem Sumpf, es wird Zeit, daß die Sonne hervorkommt, man kriegt einen Mordshunger auf etwas Heißes, aber da heißt es abwarten, der Himmel ist mit dicken Wolken verhangen, die sich so langsam und schwerfällig bewegen wie eine Schwangere. Dann kocht man vor Zorn und verflucht den Regen, ohne die saftigsten Schimpfwörter zu scheuen. Kein Städter würde den Himmel wohl je dermaßen verfluchen, denn das wäre für ihn das gleiche, als verfluchte er einen Negerhäuptling oder einen amerikanischen Farmer. Die gehen ihn nichts an, er hat sie nie gesehen und kennt sie nicht. Wenn ein Platzregen niedergeht, sagt Onkelchen Awak über den Himmel: „Da hat doch das schamlose Ding wieder die Röcke gehoben! Uch, daß dich . . Genauso reden die übrigen neunzehn Hirten. Und was vier von ihnen passierte und sie vor Gericht brachte, hätte gleichfalls den übrigen sechzehn passieren können. Aber an jenem Tag hielten sich eben diese vier in den Bergen auf. Die anderen sechzehn waren ins Dorf gegangen. Vielleicht ins Kino, vielleicht zu 40


ihren Frauen, vielleicht hatten sie auch bloß Appetit auf eine Wassermelone, oder sie wollten sich an jemandes Hund heranschleichen und ihn durch plötzliches Geschrei erschrecken. Die Hirten verachten nämlich die Dorfhunde ungeheuer, sogar ihre Hunde verachten die Dorfhunde. Vielleicht aber waren auch gar nicht vier Hirten in den Bergen geblieben, denn nur für sich selber schlachten vier Männer doch nicht vier Schafe! Doch weil es lächerlich gewesen wäre, zwanzig Mann wegen so einer Sache vor Gericht zu stellen, mußten sich eben die vier verantworten. Um was es eigentlich ging? Na darum, daß vier Hirten vier Schafe geschlachtet hatten. Wie bereits erwähnt, wurde die Farm von Sawen Kotscharjan geleitet, der noch vor zwei Jahren Klubleiter gewesen war. In den Aufführungen des Dramatischen Zirkels hatte er die brummigen alten Männer gespielt, die sämtliche Komsomolzen mit mißtrauischen Blicken bedenken, am Ende jedoch „umerzogen“ werden, Sympathie für die Komsomolzen fassen und sich zu deren besten Freunden entwickeln. Mit größtem Eifer hatte er diese alten Männer dargestellt, doch dann ging er eines schönen Tages hin und führte die Zirkelleiterin in sein Haus, direkt von der Bühne weg. Er machte sie zu seiner Frau, und seitdem arbeitete er auf der Farm. Somit war Sawen Kotscharjan einer der vier Angeklagten. Der zweite war Ischchan Antonjan, den die Dörfler ständig hänselten. Sie verwickelten ihn in eine Unterhaltung, verbreiteten dann seine „dummen Aussprüche“ im ganzen Dorf und amüsierten sich darüber. Doch Ischchan war nicht auf den Kopf gefallen und blieb ihnen nichts schuldig. Er berichtete allen von den 41


„dummen Aussprüchen“ seiner Gesprächspartner, und seine Zuhörer kugelten sich vor Lachen. Die ganze Welt machte sich über Ischchan lustig, und Ischchan machte sich über die ganze Welt lustig. Der dritte war Onkelchen Awak, das sorglose, leichtlebige sechzigjährige Onkelchen Awak. Wegen seiner Sorglosigkeit hatte er auch kein einziges graues Haar im Bart. Als seinerzeit jemand mit der traurigen Nachricht zu ihm kam: „Deine Mutter ist gestorben, Awak!“, sagte er: „Die Ärmste!“ Und im gleichen Atemzug: „Weißt du, ob das Mehl vom Speicher da ist? Denk dir, mein Vater starb, als ich noch im Mutterleib war. Ein Pferd hat ihn zu Tode getrampelt. Sag mal, du hast doch mehr gelernt als ich, rechne mir mal aus, wenn heute Dienstag ist, wann dann vierzig Tage um sind. Ach, das Leben ist kein Zuckerlecken, sage ich dir! Weshalb werden wir nur in diese Welt hineingeboren?“ Dann, so erzählt man sich, schwang sich Awak aufs Pferd und ritt zur Beerdigung seiner Mutter. Nach der Beerdigung stellte sich heraus, daß der Entschlafenen kurz vor dem Tode ein Enkel geboren worden war, der zehnte an der Zahl. Awaks Neffe beschrieb später mit großer Anschaulichkeit, wie Onkelchen Awak seine Mutter begraben hatte. „Oje, oje, ojemine!“ hatte Awak gejammert. „Da ist mir nun die Mutter gestorben!“ Er schniefte, was männliches Weinen bedeuten sollte, aber Tränen kamen ihm nicht. „Der Mond ist ja schon aufgegangen!“ schloß er und blickte zum Himmel auf. Sicherlich wird Onkelchen Awak sein ganzes Leben mit schwarzem Bart, ohne ein einziges graues Haar verbringen, niemals wird er sich in einen triefäugigen Klappergreis verwandeln. 42


Und der vierte? In der Gegend um Lori erzählt man bis zum heutigen Tag von einem gewissen Pawle, der auf einen Sitz zehn Kilo Weintrauben verzehrte. Das hatte sich 1945 zugetragen, in Georgien in dem armenischen Dorf Schaumjan. Die Rekruten waren in die Weingärten gegangen zum Traubenessen. Der Alte, der die Gärten bewachte, war ein ausgesprochener Witzbold. „Meinetwegen kann die ganze Kompanie hier futtern“, sagte er. „Aber unter einer Bedingung: Jeder muß sich vorher und hinterher von mir wiegen lassen.“ Gegen das Wiegen hatte keiner etwas einzuwenden, und als Pawle vor dem Fortgehen gewogen wurde, stellte sich heraus, daß er zehn Kilo zugenommen hatte. Der Wächter lachte schallend. „Wieso?“ fragte Pawle erstaunt. „Zehn Kilo sind wohl viel, wie?“ „Nicht nur viel, Bruderherz, sondern reichlich viel.“ „Na, demnach ist deine Waage ebenso ein Witzbold wie du.“ „Meine Waage liebt die Wahrheit, Bruderherz.“ „Aber ich hab doch gar nicht viel gegessen.“ „Natürlich, wenn zehn Kilo nicht viel sind, dann hast du wenig gegessen.“ „Ich weiß genau, daß man hierzulande nicht knauserig ist. Dieser verfluchte Krieg! Hat das Leben dermaßen verteuert, daß mau lächerliche zehn Kilo als viel bezeichnet!“ Und verwirrt machte sich der treuherzige Pawle, der beste Schnitter von Antarametsch, aus dem Staub. Derselbe Paw!e, der nicht aufwacht, wenn man ihn nicht weckt, nicht schläft, wenn man ihm nicht sagt: „Geh schlafen“, und der niemals rauchen würde, wenn 43


er sein Wort gegeben hätte, nicht mehr zu rauchen, der Pawle, der ohne fremde Hilfe, ausschließlich auf sich selbst und seine kräftigen, muskulösen Arme vertrauend, seine beiden Schwägerinnen ֊ die Witwen seiner im Krieg gefallenen Brüder — verheiratete, mit Mitgift und in allen Ehren, der auch seine vier Schwestern verheiratete und dann, gleichfalls in allen Ehren und wie es sich ziemte, seine Mutter zur letzten Ruhe bettete. Mutterseelenallein blieb er zurück.. Und danach - danach verheiratete er sich selbst. „Eure Lussik“, sagte er zu seinem Nachbarn, „hat doch wohl schon die Schule beendet?“ „Das ist richtig!“ antwortete Lussiks Vater. „Somit, glaub ich, wird’s Zeit für sie.“ „Wahrscheinlich!“ bestätigte Lussiks Vater. „Ich bin vor euren Augen aufgewachsen, ihr könnt nichts Schlechtes über mich sagen.“ „Nein, das können wir nicht.“ „Von den zehn Kilo Weintrauben habt ihr wohl gehört? Das ist Lüge.“ „Möglich, jedenfalls hältst du dich auch bei der Arbeit ran.“ Auf seiner Hochzeit war Pawle alles in einer Person — Bräutigam und Bräutigamsvater und Bräutigamsmutter, Bräutigamsschwester und Bräutigamsbruder und oberster Küchenmeister. Als auf das Wohl der „beiden Täubchen“ getrunken wurde, stand Pawle schamhaft gesenkten Hauptes da, dann unterbrach er die Rede des wertgeschätzten Tamada, des Festleiters, und flüsterte der alten Nachbarin zu: „Falls die Butter nicht reichen sollte, Mutter, dann geh in den Keller, die Butter liegt im großen Tonkrug, neben dem Käse.“ 44


Pawle fand sogar Zeit, dem Nachbarjungen eine Kopfnuß zu geben, weil der sich geweigert hatte, sein Pferd auf die Weide zu führen. „Du siehst doch, daß ich beschäftigt bin! Sind dir vielleicht die Füße verdorrt, he?“ Pawle schuftete unermüdlich, und sein Haus füllte sich mit neuem Leben. Fünf Mädchen wurden ihm geboren. Und als es nach der Schur — ihr erinnert euch doch? - mit der Herde nicht mehr klappen wollte, schichte man Pawle zur Arbeit auf die Farm. Somit war Pawle der vierte. Selbstverständlich gab es in dieser Geschichte auch einen fünften und einen zehnten. Es gab auch einen zwanzigsten. Und als der Besitzer der vier geschlachteten Schafe sich einstellte und ihm ein Kosthappen angeboten wurde, erhöhte sich die Zahl der Verbrecher ; dadurch auf einundzwanzig. Später, als die Hirten begriffen, daß die Sache ein schlechtes Ende nehmen ' würde, versuchten sie, Sawen und Pawle herauszuhal• ten und sie durch zwei andere zu ersetzen, die schon { erwachsene Kinder hatten. Aber das mißlang. Bekanntlich zieht ein Schaf das andere mit und zieht es mehrere Schafe stets zu einer großen Herde. Die Schafe von Rewas Mowsisjan, einem Einwohner des : Nachbardorfs, waren verschwunden. Selbstverständlich nicht vom Erdboden. Sie waren am Abend bloß nicht an Ort und Stelle. Daraufhin wurde Rewas von •einer Frau auf die Suche geschieht, er folgte den Spuren der Schafe in Richtung Antarametseh und fragte unterwegs alle Leute nach ihnen. Ischehan Antonjan wurde durch das Auftauchen fremder Schafe in der Herde in gewaltige Erregung versetzt. „Hebe dich hinweg von mir, Satan!“ sprach er 45


beim Anblick dieser Schafe, doch dann beruhigte er sich. Macht nichts, ist doch auch bloß Vieh. Bisher hatten wir Stücker fünfhundert, nun haben wir Stücker fünfhundertvier. Ischchans Messer jedoch war geradezu der Teufel in Messergestall. Das gottverfluchte Ding baumelte an seinem Gürtel hin und her, verdammt noch mal, und wollte schier von ganz allein aufspringen.

Solange es noch hell war, ging alles gut. Die Sonne schien, es war wohltuend, auf einem Stein zu sitzen und darüber nachzusinnen, daß auf ebendiesem Stein schon der Großvater deines Großvaters gesessen, aus derselben Quelle getrunken und vermutlich an derselben Stelle seine feuchte Burka getrocknet und daß sein Hund genauso neben ihm gelegen und geschlafen hatte. Ach, Herr des Himmels, so ist das Leben eingerichtet, der Stein ist noch da und die Quelle ebenfalls, und von jener Burka haben sich auch noch ein paar Fetzen erhalten, doch der Ururgroßvater, die Erde sei 46


ihm leicht, lebt nun schon lange nicht mehr. Statt dessen eitzt jetzt Ischchan auf dem Stein, ein von allen Leuten geachteter Mann, der vier Kinder großgezogen und der in seinem Haus Metallbetten stehen hat und dessen ältester Sohn Gewerkschaftsfunktionär ist und in der Stadt mit „Wasgen Ischchanowitsch“ angeredet wird. Zudem hat Ischchan eigentlich gar keinen Grund, wegen der vier Schafe die Fassung zu verlieren. Bald wird es dunkel sein, und dann kann er Awak bitten, eines seiner Bajadi, der endlos langen aserbaidshanischen Lieder, anzustimmen. Dabei wird er sich im stillen über Awak lustig machen, aber dennoch wird er aufmunternd zu ihm sagen: ,Dshan, Awak! Wundervoll, Awak!4 Und Sawen wird beim öffnen des Tores deklamieren: ,Einstmals in Aleppo — Aleppo? Ja, Aleppo! - beleidigte ein Türkenhund mein Volk. Da ' packte ich den schlitzäugigen Schuft bei der Gurgel. ..‘ Awak wird sein Lied unterbrechen und fragen: ,Ist das nicht von Owanes Tumanjan? 4 Und Pawle wird ihnen langsam das Gesicht zuwenden und sagen: ,Brüder, es ist Schlafenszeit.4 Und über die zwei schwarzen und zwei weißen Schafe wird keiner ein Wort verlieren. Von nun an werden die Schafe mit der Herde zusammen weiden, und bald werden sie Lämmer werfen. Und eines schönen Tages wird ihr Besitzer davon erfahren und nicht wissen, wie er den Hirten danken soll. Und die Leute werden wissen, daß Ischchan einmal einen 1 gewaltigen Appetit auf Fleisch hatte, daß ihm auch die passenden Schafe zugelaufen waren und er obendrein sein Messer bei sich trug, daß er der Versuchung jedoch widerstand und die vier Schafe in vierzehn verwandelte. Vielleicht wird Ischchan dann sogar die Tochter 47


des Schafbesitzers als Schwiegertochter zu sich ins Haus nehmen. Das war alles richtig, aber der Blitz soll dich treffen, Awak: Am Abend, als die Hirten beisammen saßen, wurde Awak vom Teufel geritten und erzählte, daß sein Vatersbruder Toma einstmals auf Grund einer Wette ein ganzes Schaf aufgegessen und anschließend ein dichtes Waldstück gerodet hätte, indem er nacheinander sämtliche Bäume fällte. Pawle brummte, daß man ein Schaf wohl jederzeit schaffen könne, vorausgesetzt, es sei nicht übermäßig fett, und was das Roden der Waldparzelle betreffe, so liege hierzu keinerlei Notwendigkeit vor, zumal fast kein Wald mehr vorhanden sei und man ihn nicht roden, sondern eher anpflanzen müsse. Empört erinnerte Ischchan den Pawle daran, daß schon sein Großvater selig ein großer Aufschneider gewesen sei, und sein Vater auch, und mit Recht laute das Sprichwort: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Pawle knurrte nur dazu, aber Ischchan erwähnte zusätzlich, daß Pawles Vater und Großvater ihren Zuhörern auch immer die Hucke vollgelogen, später jedoch nie zu ihren Worten gestanden hätten. „Du, Ischchan“, mischte Onkelchen Awak sich ein, „sag lieber offen, was du von Pawle willst. Na?“ „Würd mich interessieren, ob er’s jetzt fertigbrächte, einen ganzen Hammel zu vertilgen.“ Pawle sagte, er hätte noch nie einen ganzen Hammel gegessen und habe es auch nicht vor, doch falls man ihm Fleisch vorsetzen wolle, würde er zwei, drei Portionen Schaschlyk nicht ablehnen. Zudem hätte der bereits erwähnte Toma den Hammel nur verzehrt, weil er anschließend einen Wald fällen mußte. Er, Pawle, hingegen habe zur Zeit nichts zu fällen. Und wenn man

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einen Hammel vertilgen und sich anschließend nicht ' ausarbeiten würde, dann könne das verdammt böse Folgen haben. Allerdings habe er einmal zehn Kilo Weintrauben gegessen, aber nur deshalb, weil Krieg war und er damals nicht gewußt habe, ob er je wieder ^Weintrauben zu essen bekäme. Philosophie war Ischchans schwache Seite, er hielt den Mund, und die Sache schien noch einmal gut abzu/flaufen, alles war in bester Ordnung, die Schafe warfen Lämmer, setzten Fett an, die Tochter des Schafbesitzers » Wurde immer größer und kam zur Freude von Ischchans Sohn ins heiratsfähige Alter, wahrhaftig, alles entwickelte sich vorzüglich. Doch als die Hirten sich schon fanschickten, schlafen zu gehen, kam Sawen plötzlich auf den teuflischen Einfall, sich darüber zu verbreiten, •daß Merinoschafe zwar gute Wolle, aber ungenießbares 'Fleisch hätten. Ischchan fuhr hoch, als säße ihm ein ;Floh unterm Hemd. „Verdammt, laßt mich schlafen, dauernd dies Gerede ivon Fleisch!“ „Uch, daß die Motten dich beißen, Ischchan!“ Onkelchen Awak lachte. Und von diesem Augenblick an stellte Ischchans erdachte Schwiegertochter ihr Wachstum ein, wurde im Gegenteil immer kleiner und verwandelte sich schließlich in einen Säugling. Womit auch Ischchans verwandtschaftliche Bindungen an den Schafbesitzer zerrissen. „Unserer Herde haben sich vier Schafe örtlicher Rasse tugesellt, jung und fett, genau richtig für Schaschlyk, und wenn dich auch die Motten beißen, Awak, aber das geht mir nicht aus dem Sinn.“ Im Dunkel war zu hören, wie Sawens Füße in die Stiefel fuhren. 1 1 Matewosjan/Sdielm

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„Awak“, befahl er kurz. „Mach, die Spieße fertig. Ischchan, wirf Holz ins Feuer. Pawle, du holst Wasser!“ Anschließend deklamierte er laut und gefühlvoll Tumanjan: „Da packte ich den schlitzäugigen Schuft bei der Gurgel und erwürgte ihn!“ Daß die Sache eine so eindeutige Wendung nahm, gefiel Ischchan. „Was unser Sawen nicht alles weiß, wie? Zehn Klassen mit Hochschulbildung schafft der dir wie nichts! ,Ein Türkenhund beleidigte mein Volk. Da pachte ich ihn . ..* Und wie hast du noch immer gesagt, Sawen, erinnerst du dich? ,Empfange den Tod, Cäsar!4 “ Alles übrige war rasch getan, in fiebriger Hast und tiefem Schweigen. Nur Ischchan murmelte hin und wieder: „Einstmals in Aleppo pachte ich den schlitzäugigen Schuft bei der Gurgel.“ (Später, bei der Untersuchung, konnte sich der bedauernswerte Ischchan trotz besten Willens nicht mehr an die Ortsbezeichnung „Aleppo“ erinnern und fluchte unflätig auf seinen Vater, weil der ihm nicht die erforderliche Schulbildung hatte zukommen lassen. Zu guter Letzt erklärte er, um die Lücke in seiner Aussage zu schließen, daß Sawen an besagtem Abend Tumanjans Gedicht „Hund und Kater“ deklamiert hätte.) Die Hirten fanden erst die Sprache wieder, als sie den ersten Schaschlyk aßen. „Jedenfalls ist das Fleisch der örtlichen Rasse weitaus schmachhafter als das eines Merinoschafs“, stellte Sawen fest. Später schlugen die Hunde an und taten damit kund, daß jemand sich der Herde näherte. Ihre Unruhe übertrug sich auf die Hirten, denen erst jetzt klar wurde, daß sie eindeutig einen Diebstahl begangen hatten. Der 50


leichtsinnige Awak gab einen erstaunten Pfiff ab, und dem „Schwiegervater“ Ischchan blieb der Bissen in der Kehle stecken. „Jago, ach Jago!“ sagte Sawen und kaute ruhig weiter, denn er erkannte denjenigen, der in der Dunkelheit die Hunde anherrschte, an der Stimme. „Oho, welchen Empfang bereitet ihr uns!“ TelefonSako tauchte am Lagerfeuer auf. „Herbei, Leute!“ rief er den ihm folgenden fünfzehn Hirten zu. „Was ist denn hier passiert?“ „Ein Diebstahl!“ Gelassen hielt Ischchan ihm seinen Schaschlykspieß unter die Nase. Sako ließ die Hand sinken, die er schon nach dem Spieß ausgestreckt hatte. „Das war nicht recht von euch!“ Ischchan fuchtelte weiter mit dem Schaschlykspieß. „Wahrhaftig, der Teufel soll dich holen!“ schimpfte Sako. Dann kamen die übrigen fünfzehn Hirten ans Feuer. „Tatsächlich, ein Festmahl! Und warum seid ihr alle so still?“ „Wir haben geklaut. Fremder Leute Schafe geschlachtet.“ „Na wennschon!“ Es ist wohl noch nie passiert, daß zwanzig Mann, wenn sie auf einem Haufen sind, vernünftig überlegen! Bei vielen Leuten fällt ein Diebstahl nicht mehr ins Gewicht. Das Gewissen schweigt und das Schamgefühl auch. Infolgedessen futterte die „Hirtenrepublik“ in aller Seelenruhe erstklassiges Hammelfleisch. Wer dann die übrigen drei Schafe schlachtete, ist unbekannt und auch unwichtig. Und ob überhaupt sämtliche vier Schafe geschlachtet wurden, ist auch unbekannt und un51


wichtig. Jedenfalls schlugen sich die Hirten ungeheuer den Wanst voll. Um Mitternacht kläfften die Hunde wieder. ermut „V lich noch ein Hungriger! Soll rankommen.“ Der Hungrige war Rewas, und die Hirten setzten ihm ein köstliches Mahl vor. Erst beim Fortgehen fiel ihm der Zweck seines Kommens ein, und er rief aus der Dunkelheit: „Jungs, ich hab vergessen, euch was zu fragen. Meine Schafe sind weg, zwei weiße und zwei schwarze, habt ihr die vielleicht gesehen?“ Er war schon ziemlich weit entfernt, die Hirten hatten durchaus das Recht, ihn nicht zu verstehen, und sie nahmen dieses Recht auch sogleich wahr, weil sie nicht wußten, was sie antworten sollten. „Wa-a-as?“ schrien sie abwechselnd. „Ich such meine Schafe, zwei weiße, zwei schwarze, habt ihr die gesehn?“ „Wa-a-as?“ „Ich sag, daß meine Schafe weg sind, ob ihr die gesehn habt!“ „Wir verstehn nichts!“ „Schafe, sag ich, Schafe!“ „Schafe?“ „Ja, Schafe!“ „Was für Schafe?“ „Meine Schafe. Ob ihr die gesehn habt?“ „Wir verstehn dich nicht! Lauter!“ Während ihres wechselseitigen Geschreis gingen sie langsam aufeinander zu. „Ich sag ... Verstanden?“

„Ja.“

„Schafe! Verstanden?“ „Ja.“ 52


„Sind weg! Verstanden?“ „Ja.“ „Ob ihr die gesehn habt!“ „Sprich lauter!“ „Habt ihr die gese-e-ehn?“ „Wen?“ „Die Schafe! Meine Schafe!“ „Wa-a-as?“ „Meine Schafe sind weg, versteht ihr nicht?“ Aus vollem Halse brüllend, kamen sie sich immer näher, und schließlich standen sie sich so dicht gegenüber, daß sie sich genierten, zu schreien und so zu tun, als verständen sie nichts. „Meine Schafe sind futsch!“ sagte Rewas heiser. „Zwei weiße und zwei schwarze. Vielleicht haben sie sich zu euch verirrt? Ich schrei mir ihretwegen die Kehle wund. Verfluchte Viecher!“ „Willst du damit sagen, daß du deine Schafe satt hast?“ „Seit gestern früh such ich die verdammten Biester.“ „Na, wenn’s so ist, dann nimm Platz.“ Und die Hirten nötigten Rewas wieder ans Lagerfeuer und setzten ihm eifrig auseinander, daß es mit Schafen immer so wäre, heute wären sie da, morgen aber verschwunden, besser, man tausche sie gegen was Sicheres ein, das bestimmt nicht verlorengeht. Überhaupt sei Rewas ein prächtiger Kerl, das wüßten sie schon längst, und er habe auch eine prachtvolle Schwester, in Antarametsch gebe es viele Frauen, die von auswärts eingeheiratet hätten, aber eine dermaßen tüchtige Hausfrau sei nicht zum zweitenmal darunter. Und hatte nicht Rewas’ Großmutter, Gott hab sie selig, einmal in der Antarametscher Kirche einen Hahn geopfert? Awak wisse das

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nodi genau, denn er habe ihn eigenhändig geschlachtet. Eine gute alte Frau war das. Moment, wie hieß sie doch noch? Lusseres? Das bedeute doch „die Strahlende“, nicht? Ja, der Name passe, sie habe in der Tat immer gestrahlt. Woran sei sie denn gestorben? Schade, zu schade, daß der Doktor ihr nicht habe helfen können. So sei es auf der Welt, die guten Menschen gingen früh davon. Und was mache Awetik, der nette Nachbar von Rewas? Wie, er habe gar keinen Nachbarn dieses Namens? Das könne doch nicht sein. Awetik, so ein Langer... „Meint ihr vielleicht Owanes?“ „Ja, natürlich, Owanes. Und ich hab immer geglaubt, er hieße Awetik. Also Owanes!“ Von Owanes hätten sie nämlich Geld geliehen, vor längerer Zeit, als sie in der Kreisstadt waren und dringend welches brauchten. Und ob Rewas nicht vielleicht aus reiner Gefälligkeit und Freundschaft Owanes dieses Geld überbringen würde? „Wie gelegen er uns doch gerade kommt, der Rewas!“ „Und die Schafe brauch ich nicht länger zu suchen, sagt ihr?“ „Nein.“ „Und Owanes seid ihr kein Geld schuldig?“ „Nein, das sind wir nicht.“

Schrotkömer Vor langer Zeit hatte sich in Antarametsch folgender Zwischenfall ereignet: Im Jahre 1918 oder 1920 schlachteten Sarkis und Jegor, zwei junge Männer, einen Ochsen. „Seid ihr denn Bären, Jungs, daß ihr 54


einen ganzen Ochsen verzehren wollt?“ fragten die Dorfbewohner lachend. „Nein, Bären sind wir nicht. Wir hatten bloß gehört, daß Assatur ein Daschnak* ist, und deshalb beschlossen, ihm eine Lehre zu erteilen!“ rechtfertigten sie sieh eifrig fünf Jahre später, als der eine schon Vorsitzender des Dorfsowjets und էder andere Angestellter im Finanzamt war. Ganz so verhielt sich die Sache natürlich nicht. Die beiden hatten ganz einfach Lust gehabt, einen Ochsen zu schlachten. „Er lahmte auch, glaub ich“, sagte Jegor fünf Jahre danach. Lahmte? Gut möglich. Und falls er tatsächlich lahmte, dann konnten sich Sarkis und Jegor als erfahrene Ackerbauern nur schwer vorstellen, daß der Ochse Furchen ziehen würde. Lahmheit verwandelt die Muskeln eines Tieres in Schlachtfleisch. Aber wie dem auch gewesen sein mochte, jedenfalls schlachteten sie den Ochsen und gerieten anschließend in Verwirrung, weil sie nicht wußten, was sie mit ihm anstellen sollten. Sie gerieten in derart große Verwirrung, daß sie beschlossen, das ausgeweidete Tier in Jegors Schuppen zu hängen, bis sie eine Lösung des Problems gefunden hätten. Und während sie sich noch den Kopf zerbrachen, versammelten sich nachts in besagtem Schuppen sämtliche Antarametscher Katzen so vollzählig, daß man sie nur hätte zu zählen brauchen, um zu erfahren, wie viele Höfe es im Dorf gab. Na, und dann? Dann entwickelten sich die Ereignisse folgendermaßen: Im Schuppen gerieten sich die Katzen in die Wolle und erhoben ein markerschütterndes Geschrei. Jegor und Sarkis wurden ins Gefängnis gesteckt und später an die vorderste Front geschickt, wo sie Reißaus nahmen, mit * Daschnak: Mitglied einer konterrevolutionären Partei 5 5


dem Ergebnis, daß sie sich im Laufe der Zeit als rote Partisanen einen Namen machten. Noch heute sind Sarkis und Jegor am Leben, gesund und munter, erhalten Rente und ziehen ungezogenen Schuljungen die Ohren lang. „Hat dein Vater dafür sein Blut vergossen, daß du hier Fensterscheiben einschlägst?“ Und als die „Hirtenrepublik“ verhaftet wurde, rief sich das Dorf die Geschichte mit dem Ochsen wieder ins Gedächtnis. „Wären die Katzen nicht gewesen, wärt ihr auch den Daschnaks nicht in die Hände gefallen, Genosse Jegor, wie?“ „Hm.“ „Und wärt keine Partisanen geworden und würdet keine Rente erhalten.“ Am folgenden Tag brachte Ischchan Fleisch mit nach Hause. Ischchans Frau gab der Nachbarin etwas davon ab, weil deren Sohn, der bei der Miliz gearbeitet hatte, aus der Stadt zurückgekehrt war. Man erzählte sich, er sei rausgeschmissen worden, wegen Bestechlichkeit. Aber ob das stimmte, wußten die Leute nicht. „Ich pfeif drauf“, sagte er jedenfalls. „Ich geh als Schafhirt, dann bin ich immer an der frischen Luft! Andere leben doch auch auf dem Land. Jetzt eß ich erst mal einen guten Schaschlyk, und dann beginne ich ein neues Leben. Bloß schade, daß ich so wenig Fleisch hab.“ „Mehr Fleisch ist nicht übriggeblieben“, setzte Ischchan ihm auseinander. „Wenn wir gewußt hätten, daß du kommst, dann hätten wir dir was zurückgelegt. Telefon-Sako hat sich an dem Fleisch dermaßen überfressen, daß er den ganzen nächsten Tag nicht mehr hinterm Stein vorgekommen ist.“ 56


„Vielleicht hat Sako noch Fleisch?“ „Ich sag dir doch, wir haben alles aufgegessen.“ „Wessen Schaf wurde denn geschlachtet, vielleicht hat der Besitzer noch was übrig?“ „Kapier doch, es gab gar keinen Besitzer, ich hab ganz einfach die vier Schafe von Rewas aus Getametsch abgestochen. Wäre Rewas kein so guter Mensch, hätten wir ganz schön in der Patsche gesessen. Aber Rewas hat sich prächtig benommen, wir haben ihm den Gegenwert in Geld gegeben, und er hat sich obendrein bei uns bedankt.“ Arscho, der Sohn der Nachbarin, hörte lächelnd zu. Doch plötzlich hörte er auf zu lächeln und begann derartig zu grinsen, daß es Ischchan unheimlich wurde. „Also, du hast vier Schafe abgestochen, die dem Rewas aus Getametsch gehörten, und Sako hat sich an Schaschlyk überfressen?“ Arscho zog sich seine Milizionärsjache wieder an, die er bis dahin nur lose um die Schultern gelegt hatte. „Hm ...“ Ischchan hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, aber das hatte nun keinen Sinn mehr. „Komm mit zu uns, Arscho“, schlug er vor, „lab dich an unserer ländlichen Kost, hast sicherlich schon lange keine mehr vorgesetzt gekriegt.“ Arscho lehnte nicht ab und ging mit. Vor der Haustür begrüßte ihn winselnd und schwanzwedelnd der Hund. Er nannte das Tier beim Namen, streichelte es sogar, trat in die Stube, beugte sich über die Wiege und hielt dem Säugling die Klapper vor die Nase. „Killekille!“ Er kitzelte das Kind unterm Kinn. „Du bist aber niedlich! Also zuerst wart ihr zu viert - du, Awak, Pawle und Sawen. Und die übrigen sechzehn kamen erst später dazu, ja? Schade, daß ich nicht dabei 57


war. In solch großer Gesellschaft muß Schaschlyk besonders gut schmecken. Hahaha! Und er ist nicht mehr hinterm Stein vorgekommen, sagst du?“ Er redete wie ein waschechter Antarametscher und wischte sich nach dem Trinken den Mund genauso ah, wie man es in Antarametsch macht, nämlich mit dem Handrücken. Doch dann fing er wieder an zu lachen, und sein Lachen gefiel Ischchan nicht. So lacht kein Antarametscher. Ein Antarametscher lacht aus vollem Halse, er fällt sich mit seinem Gelächter selber ins Wort, denn während er die erste Geschichte erzählt, erfindet er schon die zweite, und die ist schrecklich komisch, viel komischer als alles, was ihr erfinden könntet. Fünf Minuten später rief Arscho beim Kreis an. ,,’ne Satire werd ich über dich schreiben“, schnauzte er mit der herumtrödelnden Telefonistin, „gib nicht so an, du dumme Kuh! Warum hängst du mich ab? Womit hast du dich hier eigentlich zwanzig Jahre beschäftigt? Dir ’n fetten Hintern zugelegt, du faules Stück! Solltest lieber ein bißchen kuschen!“ Mit einemmal veränderten sich sein Gesicht, seine Stimme, sein Äußeres, als hätte sich die heruntergeputzte Telefonistin plötzlich in eine kinderlose reiche Erbtante verwandelt: Er war mit der Miliz verbunden. „Gestatten Sie, Genosse Major, daß ich melde ...“ Es war eine regelrechte gerichtliche Untersuchung mit Hund und allem anderen Zubehör. In der gleichen Art, wie die roten Milizeinheiten seinerzeit die Untersuchungen gegen die Kulakensöhnchen geführt hatten. Die Milizionäre des Kreisreviers begaben sich geradewegs nach Getametsch, in Rewas’ Scheune, unter58


Szogen Rewas sowie seine Ehefrau einem eingehenden I Verhör und protokollierten, daß dem Bürger Mowsis|; jan, Rewas Geworkowitsch, wohnhaft im Dorf Getametsch, am siebenundzwanzigsten August des Jahres gegen fünf Uhr nachmittags — nicht vor sechzehn Uhr I dreißig und nicht nach siebzehn Uhr dreißig — vier Schafe abhanden gekommen seien: zwei vierjährige, I ein einjähriges und ein zweijähriges, zwei davon weiß und zwei schwarz. Sodann setzten die Milizionäre einen Schäferhund ein. Der Hund stürzte in die Scheune, rannte zweimal um sie herum (im Protokoll war festgehalten: Die Schafe weideten neben der Scheune), stürzte aufs neue in die Scheune, beschnüffelte einen Trog mit eingeweichter Wäsche („Die Schafe hatten aus einem Trog getrunken“), stürzte zum drittenmal in die Scheune und führte den dort sitzenden Sergeanten zum Dorfzentrum — zur Kolchosverwaltung und zum Klub. Im Klub beschnüffelte der Hund die „Abenteuer von Sherlock Holmes“ und strebte überraschenderweise zum Schwarzen Brett, wo die Republikzeitung „Avantgarde“ angeschlagen war, was den Sergeanten veranlaßte, Dshulbars eine blöde Töle zu schimpfen. Daraufhin wurde er von letzterem zum Benzinlager ge5 9


zerrt und anschließend zur Chaussee, die zur Kreisstadt führte. Offenbar hatte Dshulbars die Absicht, den Sergeanten in die Kreisstadt zu ziehen, zu den am Bahnhof lagernden Benzintanks, und es wäre durchaus denkbar gewesen, daß man dort ein Manko von tausend oder noch mehr Litern des kostbaren Brennstoffs festgestellt hätte. Aber der Sergeant verhinderte eine derartige Ungereimtheit, und das malerische Dreigespann — der Sergeant, der widerstrebende Dshulbars sowie der operativ bevollmächtigte Untersuchungsrichter Akopjan - machte sich auf in Richtung Antarametsch. Sein Weg führte es direkt in die Antarametscher Berge, an das erloschene Lagerfeuer, über dem, das sei an dieser Stelle unmißverständlich vermerkt, durchaus kein mit einem greulichen Mahl gefüllter Kessel für Menschenfresser hing. An der genannten Stelle traf es nur auf Ischchan, der zudem in eine ungemein seltsame Beschäftigung vertieft war. Er versuchte nämlich, einen Stier zu Boden zu werfen. „Guten Tag.“ „Ihr kommt grad recht, ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, mit ihm fertig zu werden“, gab Ischchan zurück, ohne den Kopf zu heben. Diese Erwiderung darf euch nicht in Erstaunen setzen. Ischchan hatte immerhin menschliche Stimmen vernommen, und er brauchte verdammt dringend Hilfe. Wißt ihr, der Teufel soll diesen Sachmedik holen, obwohl er zweifelsohne Ischchans Sohn ist. „Sachmedik!“ hatte Ischchan ihn gebeten, „paß mal auf die Schafe auf, ich muß ins Dorf, weil ich was zu erledigen hab.“ - „Gut, Vater, geh nur!“ hatte Sachmedik geantwortet, „du brauchst dir keine Sorge zu machen.“ — „So hast du also aufgepaßt, du Hundesohn? Mit den

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; Schafen ist zwar alles in bester Ordnung, das stimmt, ! aber die Stiere, die Kolchosstiere Dro und Machno! Warum hast du sie auf den Acker getrieben, du Schuft, dort hat der Förster doch Kartoffeln gelegt!“ — „Weil der Förster das verdient hat, Vater! Weißt du nicht s mehr, wie er dir die Bäume weggenommen hat, die du im Wald gefällt hattest, weil du sie zum Hausbau ; brauchtest? Und wie er dich obendrein heruntergeputzt hat? Oder hast du das schon vergessen? Bei so einem Kerl braucht man keine Rücksicht zu nehmen, der hat doch bloß seine Saufereien und Weibergeschichten im Kopf. Soll er jetzt mal erleben, wie es ist, wenn sich seine Kartoffeln verflüchtigen!“ — „Du solltest dich lieber selber verflüchtigen, Sachmedik! Das macht doch dem Förster nichts aus. Der hat im ganzen Wald Kartoffeln gelegt. Aber daß die Stiere jetzt Koliken kriegen, ist dir wohl egal?“ „Schnell, Jungs, kommt her!“ Ischchan hatte bislang allein versucht, den Stier, einen wütenden Koloß störrischer Muskeln, zu überwältigen. Doch bevor der Leutnant sich entschloß, dem Bürger Ischchan Antonjan zu helfen, mußte er vieles gegeneinander abwägen. Vor allem war er verpflichtet, daran zu denken, daß er der Repräsentant des Gesetzes war, Ischchan dagegen ausgerechnet ein Verletzer selbigen Gesetzes. Doch selbst dann, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, das heißt, wenn Ischchan keinerlei Gesetz verletzt hätte, so wäre er doch nur ein einfacher Schafhirt, der einem Milizleutnant keine Anweisungen zu erteilen hat. Trotzdem konnte der Leutnant nicht umhin, Mitleid zu empfinden mit dem Mann, der zwar ein Verbrecher war, aber dennoch jeden Muskel an61


spannte, in dem Bemühen, einen Stier niederzuringen, der zwanzigmal stärker war aLs er, sich obendrein sträubte und dadurch seine Kräfte verdoppelte. Sodann mußte sich der Leutnant den betrüblichen Gedanken durch den Kopf gehen lassen, daß er nicht bloß achthundert Kilo Fleisch vor sich hatte, wie er anfangs glaubte, sondern ein lebendiges Wesen voller Kraft und Schönheit, das dem Untergang geweiht war. Und schließlich mußte sich der Leutnant auch noch klarmachen, daß, falls der Stier verreckte, der bedauernswerte, glatzköpfige, schwächliche Mann mit den grauen Schläfen unweigerlich eine schwere Bestrafung erhalten würde, fast so schwer wie der Stier. All diese Überlegungen und Empfindungen mußte der Leutnant hinter sich bringen, bevor er sich zur Hilfe entschließen konnte. Dem Sergeanten war von Anfang an eines klar: Der Stier mußte um jeden Preis überwältigt werden, dann würde man weitersehen. Aber der Sergeant wartete auf den Befehl des Leutnants. Ischchan hatte bereits getan, was in seinen Kräften stand. Er hatte dem Stier einen Nasenring verpaßt, hatte ihm das eine Ende eines Stricks um die Hörner geschlungen, das andere um sein linkes Hinterbein gebunden und zog nun mit aller Kraft von rechts. Entscheidend für den Ausgang des Kampfes war ausschließlich die Kraft. Das ist eben so, bei derlei Dingen ist es gleichgültig, ob du Ischchan heißt oder sonstwie, ob du in der Schule viel gelernt hast oder wenig, ob du weißt, wo auf der Landkarte die UdSSR liegt, ob du eine Vorstellung von der internationalen Lage hast oder die Werke von Owanes Tumanjan kennst. All das hat in diesem Fall absolut keine Bedeutung. Hier

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geht es nur darum, wer die Oberhand gewinnt. Hier verwandelst du dich für fünf oder zehn Minuten, vielleicht auch für eine Stunde, in einen Stier wie Machno, mißt deine Kräfte mit ihm, kämpfst mit ihm, siegst oder unterliegst. Und erst danach wirst du wieder Ischchan Antonjan mit all seinen Kenntnissen. Doch zu dritt geht die Sache natürlich, im Handumdrehen. „Und anders, leichter, geht es nicht?“ „Doch!“ Ischchan schnaufte. „Nimm den Strick und zieh!“ Und nachdem der Leutnant einmal den Entschluß gefaßt hatte, griff er auch rasch mit beiden Händen nach dem Strick und schob den Rücken darunter. Er hatte so was noch nie im Leben gemacht, auch hatte ihm niemand gesagt, daß er den Strick zu sich hinziehen mußte, und zwar mit dem ganzen Rücken, doch das verstand sich offenbar von selbst. „Fertig? Dann zieht!“ „Am Hals mußt du ziehen, am Hals! Am Hals, hörst du nicht! Runterdrücken! So ist’s recht! Los doch! Runterdrücken! Feste!“ Einen Augenblick standen alle stumm und reglos, dann knickten dem Stier die Beine weg, und er fiel auf die Seite. „Fertig!“ Der Leutnant wollte schon zurücktreten, um seine Arbeit zu bewundern, eine schwere Arbeit, die ihm durch ihre Eindeutigkeit jedoch ausgesprochenes Vergnügen bereitet hatte. „Beinahe.“ Ischchan schöpfte Atem. „Faß bei ihm mit an“, sagte er zum Sergeanten, „er schafft das nicht allein.“ Er wickelte den Strick um die Hinterbeine des Stiers und warf dem Leutnant das andere Ende zu. „Festhalten.“ Dann zog er ein Klappmesser mit zwei 63


Klingen hervor und stieß es dem Stier mit vollem Schwung ins Bauchfell, dorthin, wo die Muskeln am schwächsten waren. Die erste ruckartige Bewegung des Stiers riß dem Leutnant die Hand ah, die nachfolgende überzeugte ihn, daß seine Hand noch dran war, aber schmerzte. Trotzdem stemmte er sich energisch gegen den Boden und hielt den Strick noch straffer. Währenddes zog Ischchan dem Stier sachte das Messer aus dem Bauch und schob ein hohles Schilfrohr hinein. Wie aus einem angestochenen Gummiball entwich aus dem Leib des Tieres langsam die Luft. „War das nicht ein guter Einfall von mir?“ Ischchan lächelte. „Ich spiel zum erstenmal den Viehdoktor, weiß nur vom Erzählen, wie man das macht. Wie die Luft rauspfeift! Hör sich das einer an!“ Der Leutnant hatte den Eindruck, daß der Stier für Ischchan das gleiche war wie das Holz für den Schnitzer und daß Ischchan, als er sich über das Tier beugte, es überhaupt nicht wahrnahm. (Haben vielleicht die auf der Erde lebenden Menschen Augen für den Erdball?) Und danach sah der Leutnant in dem Stier nur noch achthundert Kilo Rindfleisch und hatte den dringlichen Wunsch, selbiges Rindfleisch unverzüglich zum Schlachthof zu schieben, denn in diesem Augenblick schlug es gerade kräftig nach hinten aus. „Na, na, du Teufelsvieh, warum strampelst du so, anstatt dankbar zu sein! Das Leben haben wir dir gerettet, du unersättlicher Vielfraß, du Vierzigeimerfaß, du Riesentrommel! Und jetzt hoch, erheb dich, mein Herzblatt! Hoch, Machno! Auf die Beine! So! Ja, so ist’s recht.“ Ischchan streichelte Machno die Augen. „Seht doch, was für Hörner er hat, wie gemalt! Jetzt müssen

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wir uns noch den zweiten vornehmen, sollen sie zu zweit pfeifen. Helft ihr mir?“ „Vielleicht ist es falsch, was wir hier machen?“ fragte der Leutnant. „Das weiß ich nicht, aber gar nichts zu machen ist bestimmt falsch.“ „Das ist wieder richtig“, sagte der Leutnant. „Nun kommt Dro dran. Der ist ’ne Kleinigkeit verrückter als Machno und auch stärker.“ Und als sie den verrückten Dro überwältigten und Ischchan vor Anstrengung die Augen aus den Höhlen traten, mußte der Leutnant plötzlich an den Zweck seines Kommens denken, und er schämte sich. „Hau ruck!“ „Feste! Hau ruck! Richtig!“ Dann hatte der Leutnant noch längere Zeit den Eindruck, als wäre er bloß hergekommen, um sich ordentlich auszuarbeiten und sich dermaßen abzurackern, daß er kaum mehr stehen und mit Mühe sitzen konnte und sich nur noch danach sehnte, sich auf der Erde auszustrecken und unbeweglich liegenzubleiben. Anschließend aßen sie Mazun und sahen zu, wie den Stieren die Bäuche einsanken. Und während der ganzen Zeit waren sie zu dritt. Doch allmählich kamen die übrigen Hirten hinzu, einer nach dem anderen, und es bildete sich eine Art Gesellschaft heraus. Sawen erteilte einem der Hirten eine Anweisung. Daraus ging hervor, daß er der Vorgesetzte war. Das erinnerte den Leutnant daran, daß es auf der Welt Leute gibt, die Anweisungen erteilen, und solche, die diese Anweisungen ausführen, daß es Leutnante gibt und Nichtleutnante, Gesetzesverletzer und Gesetzeshüter. Und der Leutnant erinnerte sich weiter 5 Matewosjan/Schelm

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daran, daß er, Anuscbawan Akopjan, Leutnant und Gesetzeshüter war und sich obendrein aus dienstlichen Gründen bei den Hirten auf hielt. Er druckste ein Weilchen herum, weil er nicht wußte, wie er die Sache anfangen sollte. „Warum erkundigt ihr euch nicht, weshalb wir gekommen sind?“ fragte er schließlich. Nach diesen Worten teilte sich die Welt ruckartig in Verhörende und Verhörte. „Vorname, Zuname?“ „Als wüßtest du das nicht!“ versetzte Ischchan beleidigt. „Hast du die Kreiskonferenz des Komsomol von zweiunddreißig vielleicht vergessen?“ „Ehrlich gesagt, ich kann mich nicht erinnern.“ „Ischchan Antonjan heiß ich. Es waren die Schafe meines Gevatters Rewas. Das Geld haben wir ihm zurückgegeben. Schreib das auf.“ „Langsam, langsam, Ischchan.“ „Schämen solltest du dich, Junge!“ sagte Ischchan vorwurfsvoll, wobei ihm das Blut ins Gesicht schoß. „Schamgefühl ist hier nicht am Platze, es handelt sich um eine Staatsangelegenheit.“ „Der Teufel soll euch .. .“ Ischchan winkte ab und ging„Sergeant Sargsjan, führen Sie mir den Bürger Antonjan vor.“ Der Sergeant pfiff. Die Hirten brachen in schallendes Gelächter aus. „Halt, stehenbleiben!“ Ischchan war eindeutig auf dem Weg zum nächsten Stein, um sich hinzusetzen und auszuruhen. „Stehenbleiben, andernfalls schieße ich!“ Ischchan blieb nicht stehen.

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„Ich warne Sie! Ich schieße!“ In derartigen Fällen kommt man gewöhnlich ohne zu schießen aus. Nach dieser Drohung pflegt der Verbrecher stehenzubleiben, und der Milizionär rennt mit baumelnder Revolvertasche zu ihm hin. Deshalb hatte unser Milizionär auch noch niemals zu schießen brauchen. Aber Ungewohntes kompliziert bekanntlich die Dinge. Ein Glück nur, daß man erst schießen kann, nachdem man eine Reihe von Bewegungen ausgeführt, nachdem man die Revolvertasche aufgemacht und den Revolver herausgezogen hat. Währenddes regelt sich die Sache gewöhnlich von allein. Wie zu erwarten, ging Ischchan zu dem Stein. Und als er sich darauf niederließ, erkannte der Milizionär intuitiv, daß dies die Ausführung des Befehls „stehenbleiben“ war. Das Folgende ist einfach: Der Milizionär geht zu dem Verbrecher, dreht ihm die Hände auf den Rücken und bringt ihn aufs Revier. So hat er sich jedenfalls in der Stadt zu verhalten. Doch wie man sich in den Bergen verhält, steht nicht im Reglement. Unser Milizionär löste aber auch dieses Problem im Handumdrehen. Er führte Ischchan zu der erloschenen Feuerstelle zurück. Dabei passierte jedoch etwas, das mit keinerlei intuitiven Erkenntnissen oder superschlauer Geistesgegenwart zu bewältigen war. Es passierte nämlich dies: Der Wind riß dem Milizionär die Mütze vom Kopf, so daß sie den Berg hinabtrudelte. Stellt euch das vor: Die runde, innen mit einem Drahtring versehene Mütze rollte in die Tiefe, fröhlich hüpfend und eifrig bestrebt, aus dem Blickfeld zu entschwinden. „Na, nun pfeif doch, pfeif! Warum pfeifst du nicht?“ sagte Onkelchen Awak zum Milizionär.

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Alle kletterten zur Felswand hinunter, um zu sehen, wo die Mütze abgeblieben war. Sie hatte sich an einen Heckenrosenstrauch gehängt und schaukelte dort eifrig und selbstbewußt an einem Zweig. Einmütig wurde beschlossen, sie loszumachen. Aber womit? Darüber gingen die Meinungen auseinander. Am besten wohl mit einem Stein. Auf jeden Fall mußte sie aus ihrer Lage befreit und dem Sergeanten in allen Ehren wieder auf den Kopf gestülpt werden. Und hierbei bewies Pawle, der Hirt Pawle, der während seiner Rekrutenzeit zehn Kilo Weintrauben verschlang, daß er beim Militär auch noch etwas anderes getan hatte. „Sergeant Sarksjan, Objektentfernung fünfhundert Meter, Visierwinkel fünfunddreißig Grad. Aus allen Geschützen — Feuer! Und noch mal — Feuer!“ Sie warfen die Steine mal einzeln, mal alle gleichzeitig. Der Leutnant und der Sergeant machten mit. Aber der Heckenrosenstrauch hielt seine Beute unverrückbar fest. Bis zum heutigen Tag prangt die Milizmütze an jenem Heckenrosenstrauch, zerfranst und verblichen. Manchmal klettern die Hirten zur Felswand hinunter, um sie zu betrachten. (Im Protokoll wurde über die Mütze ausgesagt: „Der Bürger Ischchan Antonjan machte, während er von dem Sergeanten Sarkis Sarksjan vorgeführt wurde, eine heftige Bewegung, wodurch dem Sergeanten die Uniformmütze vom Kopf flog und eine Felswand hinabstürzte. Es gelang nicht, sie wieder heraufzuholen.“) Anschließend versammelte sich die Gesellschaft wieder um die Feuerstelle, und das Verhör ging weiter. „Die Schafe haben diesen Ort also nicht mehr verlas68


sen!“ konstatierte der Leutnant mit dem Lächeln eines Mannes, der sich nicht hinters Licht führen läßt. „Niemand verläßt einen Ort, nachdem man ihm den Kopf abgehackt hat. Wie sollte er auch.“ „Ich bitte, nur meine Fragen zu beantworten.“ „Es waren keine fremden Schafe, es waren die Schafe von unserm Rewas!“ „Ich bitte noch einmal, nur meine Fragen zu beantworten.“ ,,’ne verflixt lange Untersuchung stellst du hier an, Genosse Leutnant. Wir haben die Schafe geschlachtet und basta. Rewas ist uns aber nicht böse, und darüber sind wir heilfroh. Warum wirbelst du soviel Staub auf ?“ „Und die Mütze ist ganz umsonst draufgegangen!“ warf Pawle ein. Daraufhin stülpte Onkelchen Awak dem Sergeanten seine gewaltige Papacha auf den Kopf, genauer ausgedrückt, er versteckte den Kopf des Sergeanten in der Papacha. „Bei uns im Gebirge ist es kalt, Söhnchen, du holst dir sonst einen Schnupfen!“ bemerkte er tiefernst. „Hat schon graues Haar und benimmt sich wie ein Kind!“ Der Sergeant errötete. „Trillre doch auf deiner Pfeife, genier dich nicht!“ Ein anderer Hirt stieß ihn ermunternd an. „Was ist, Söhnchen, vielleicht schenkst du uns deine Schalmei, sie gefällt uns gar zu gut!“ schlug Onkelchen Awak vor. „Nein, bittet ihn doch lieber um seinen Revolver!“ hänselte Sako. Dem Leutnant schoß das Blut ins Gesicht. „Auseinandergehn!“ schrie er, trat ein paar Schritte zurück und griff nach der Revolvertasche. 69


„Nein, das ist unser Ernst, Genosse Leutnant, wenigstens für ein paar Tage möchten wir den Revolver gern haben. Weißt du, dann würde Bagrat, unser Wolf, nämlich türmen, denn der kann eine Schußwaffe von einem Knüppel unterscheiden.“ Und die Hirten umdrängten den Leutnant von allen Seiten. „Bagrat hat schon viele Schafe gerissen! Nicht bloß vier, mindestens vierhundert! Leih uns doch den Revolver, Leutnant.“ „Schluß jetzt! Ihr kriegt keine Waffe, ist doch klar!“ Der Leutnant runzelte die Stirn. „Ich bitte, daß sich alle überflüssigen Personen entfernen.“ „Hier gibt es keine überflüssigen!“ widersprach Sawen, und da der Satz nun einmal gefallen war, konnte er sich nicht enthalten hinzuzufügen: „Überflüssig bist du selber, wenn du’s unbedingt wissen willst. Du bist kein guter Mensch. Ja, ja, du bist ein schlechter Mensch, und es ist besser, wenn du hier verschwindest. Da ist die Straße, geh dorthin, woher du gekommen bist. Und ihr“, wandte er sich an die Hirten, „macht euch an die Arbeit, genug geschwätzt!“ „Moment mal, wie redest du denn mit mir!“ Der Leutnant rückte ihm auf den Pelz. „Weißt du eigentlich, was du da sagst?“ „Stör uns nicht bei der Arbeit.“ Sawen stieß die Hand des Leutnants zurück und bückte sich, um einen Sack Salz aufzuheben. „Hilf mir mal!“ sagte er eindeutig zu dem am nächsten Stehenden. Am nächsten aber stand der Leutnant. Er bückte sich und griff zu. Der Sack war schwer, beiden Männern schwollen die Halsadern an. „Danke!“ Damit trippelte Sawen tief gebeugt auf die

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Ställe zu, so schnell, als stieße ihn jemand in den Rükken. „Sako!“ rief er unter dem Sack hervor. „Daß mir das Hundefutter in einer Stunde fertig ist!“ Offenbar kam ihm zum Bewußtsein, daß dieser Vorgesetztenton nicht angebracht war, und er steckte noch einmal den Kopf unter seiner schweren Last hervor. „Mach das Futter mit öl und Salz, es muß schmecken, daß wir’s selber essen würden!“ Und halblaut fügte er hinzu: „Und daß wir sogar unsere Gäste damit bewirten könnten, falls nötig.“ Diese Worte machten einen tiefen Eindruck auf den Leutnant. Schleppt eine so schwere Last und veräppelt uns obendrein! „So sieht’s aus, Sergeant Sarksjan.“ Der Leutnant drehte sich eine Zigarette. „Schau dir an, was für Wiesen die Leute haben und was für Schafe!“ „Und die Luft, Genosse Leutnant, die Luft!“ „Ja, und Luft und Wasser obendrein, in der Stadt dagegen gibt’s nichts als Rauch, pfui Teufel! Bei dem bloßen Gedanken wird mir schlecht. Schaschlyk haben die Leute gegessen, und du sollst nun herausfinden, wieviel jeder verzehrt hat, wer das erste Stück gegessen hat und wer das letzte. So ein gottverdammtes Leben! Ein Schaf haben sie geschlachtet! Selber haben sie’s großgezogen, selber haben sie’s auch geschlachtet. Was geht uns das an? Schwer hat’s so ein Leutnant, Sergeant Sarksjan, teuflisch schwer! Hast du gesehen, wieviel Salz der Mann geschleppt hat? Kannst du soviel heben? Na bitte. Hier arbeitet jeder so viel, wie er ißt, das ist doch sonnenklar.“ Der Sergeant Sarksjan ging nebenher und dachte über die verschiedenen Dienstgrade nach. Natürlich mag der eine ruhig Sergeant sein und der andere Leut71


nant, die Leute müssen sich ja irgendwie voneinander unterscheiden, doch warum kann ein Leutnant aussprechen, was ihm in den Sinn kommt, während ein Sergeant ihm nur von Zeit zu Zeit beipflichten darf: Richtig, Genosse Leutnant, stimmt! Und warum muß ein Milizionär eine Uniformmütze tragen und ein Hirt eine Papacha? Und warum lachen die Leute, wenn ein Milizionär die Papacha eines Hirten aufsetzt, und warum lachen sie auch, wenn ein Hirt die Uniformmütze eines Milizionärs aufsetzt? Warum? „Genosse Leutnant, was Sie sagen, ist alles richtig. Waren Sie selber schon mal Schafhirt?“ „Vielleicht, ich kann mich nicht entsinnen, ich behalte solche Dinge nicht. Jemand hat gesagt, es sei besser, an den morgigen Tag zu denken als an die eigene Kindheit, in der man ohne Hose rumgelaufen ist. Hast du das schon mal gelesen, Sergeant Sarksjan? Nein? Trotzdem ist es richtig. Wenn jeder von uns seine Pflicht tut, du die deine und ich die meine, dann wird es nirgends mehr einen Diebstahl geben. Wenn sich dagegen jeder von uns nur in seine Kindheitserinnerungen vertieft, dann braucht man sich über das, was daraus wird, nicht zu wundern: Dann klettert man tief gerührt in die Berge hinauf und kommt ohne Verhandlungsprotokoll wieder runter.“ „Ja, das stimmt, Genosse Leutnant. Aber ich, Genosse Leutnant, war Hirt. Die Lämmer streben zu den Schafen - mä-ä-äh, mä-ä-äh. Mir wird ganz schwer ums Herz, wenn ich dran denke.“ Zwei Tage später klingelte in Antarametsch das Telefon. Im Hörer brummte es nicht, und es waren auch keine Nebengeräusche zu vernehmen. Dieser Umstand 72


ließ darauf schließen, daß es sich um einen offiziellen Anruf handelte. Doch die telefonische Anfrage hatte nichts Offizielles an sich. „Na, wie geht’s den Stieren Machno und Dro?“ erkundigte sich eine Männerstimme. „Wer ist denn am Apparat?“ fragte der Vorsitzende verdutzt. „Hallo, wer spricht da?“ „Akopjan. Sie sind mit Leutnant Akopjan verbunden.“ „Hallo, Anahit, die Verbindung ist nicht in Ordnung. Ich kann den Anrufer nicht verstehen.“ „Hallo, Antarametsch, ich höre dich, kannst du mich verstehen?“ „Ith höre, sprechen Sie!“ „Wie es den Stieren Mathno und Dro geht!“ „Hallo, Anahit, kontrollier doch mal die Leitung.“ „Die Leitung ist in Ordnung. Antworte doch auf meine Frage! Wie geht’s den Stieren?“ „Was sagt er? Was für eine Frage soll ich beantworten, Anahit ?“ „Er fragt, wie es den Stieren geht.“ „Die Stiere sind in Ordnung. Hallo, wer spricht dort eigentlich?“ „Leutnant Akopjan. Vor zwei Tagen war ich bei Ihnen in den Bergen, Ihre Stiere batten Kolik, das tat mir leid. Ich hab mir hinterher große Sorge gemacht.“ Der Vorsitzende hatte den Eindruck, als spräche am anderen Ende der Leitung kein Leutnant, sondern jemand, der dabei ist, Mehl in ein entlegenes Dorf zu bringen, wo es kein Korn gibt und hungrige Menschen sehnsüchtig auf ihn warten, dessen Ochsen aber zu erschöpft sind, um die Fuhre zu ziehen. „Hallo, Akopjan, hörst du mich? Machno ist durchge-

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kommen, aber Dro ist draufgegangen, den mußten wir schlachten.“ „Schade, wirklich schade. Dro, sagst du? Eijeijei, das war doch der mit den gebogenen Hörnern! Und Ischchan, wie geht’s dem? Wie bezahlt er nun den Schaden? Ist er dazu überhaupt in der Lage? Ihr solltet ihm helfen.“ „Bist du ein Verwandter von Ischchan?“ „Nein, ich bin nicht mit ihm verwandt. Er hat gesagt, wir wären uns zweiunddreißig auf der Kreiskonferenz begegnet, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Er tut mir nur leid. Vermutlich hat er eine große Familie.“ „Er hat nun grad eine kleine Familie, lebt in guten Verhältnissen. Und was den Verlust anbelangt, der ist unbedeutend. Das Fleisch war gut, beim Verkauf haben wir fast den Gegenwert für Dro herausgekriegt, und was für Ischchan noch an Schulden blieb, haben die Hirten bezahlt. Sie haben zusammengelegt und alles bezahlt.“ „Das ist nett von ihnen. Doch um den Stier tut’s mir leid, er hatte so prächtige Hörner. Na schön, grüß die Hirten von mir, sag ihnen, Leutnant Akopjan hätte angerufen und ließe sie grüßen. Übrigens verbreitet Arscho, der bei euch im Dorf wohnt, das Gerücht, auch ich hätte von dem betreffenden Schaschlyk gegessen. Da kann man nichts machen, den Buckligen heilt erst der Tod. Na, unser Chef ist ein anständiger Kerl, ich denke, er legt den Fall zu den Akten. Meiner Ansicht nach gibt es hier überhaupt keinen Fall. Grüß Ischchan, sag ihm, Leutnant Akopjan vom Kreis hätte angerufen. Ja, und falls in der Sache noch einmal irgendwelche Leute zu euch kommen, dann schickt sie in die Berge und laßt sie sich dort mit Machno abrackern, hahaha!

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Hörst du, laß sie sieh unbedingt mit Machno abrackern!“ Doch statt der Leute, die sich „unbedingt mit Machno { abrackern sollten, hahaha!“, erschien er in eigener Person wieder in Antarametsch. „He, komm mal her!“ rief ihm der alte Imker von seinem Felsplateau zu. Aber der Leutnant hörte nicht, sondern begab sich geradewegs zum Dorfsowjet. Er kochte vor Wut. „Euer Arscho lügt das Blaue vom Himmel runter, er will dem Chef einreden, daß ich, Akopjan, bestechlich wäre, daß ich obendrein den Stier geschlachtet hätte. ,Akopjan, wenn du ein reines Gewissen hast, dann beweise es4, hat der Chef zu mir gesagt. —,Genosse Major, ich hab keinen Stier geschlachtet, dort hat auch kein Diebstahl stattgefunden, ich weiß nicht, was dort stattgefunden hat, aber ein Diebstahl war es nicht. 4 — ,Ihr habt also keinen Stier geschlachtet, Leutnant Akopjan?4 — ,Wer hat denn den Unsinn erfunden, nie im Leben hab ich einen Stier geschlachtet. 4 — ,Na, irgendwas werdet ihr dort schon geschlachtet haben. Und was für ein betrunkenes Protokoll hast du mir da geliefert? Hast du dir das überhaupt einmal durchgelesen? Leutnant Akopjan, beweise, daß du ein Leutnant bist. 4 Ja, so sieht die Sache aus!“ Der Leutnant zertrat einen Zigarettenstummel. „Und ich werde beweisen, daß ich ein Leutnant bin. Rufen Sie Ischchan her!“ beauftragte er den Vorsitzenden des Dorfsowjets. „Ich warte!“ Nein, nein, nur keine Umstände, der Leutnant hat keinen Hunger, und wenn er welchen kriegt, dann wird sich im Dorfkonsum schon etwas finden, der Leutnant hat genügend Geld, wenn Sie wollen, könnte er Sie so-

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gar einladen. Überhaupt ist es besser, wenn Sie ihn in Ruhe lassen... Ach, das gefällt Ihnen nicht? Da kann man nichts machen, soweit dem Leutnant bekannt ist, steht nirgends geschrieben, daß es straffreie Verbrechen gibt. „Na, na, na!“ „Herzlich willkommen!“ sagte Ischchan, als er den Raum des Dorfsowjets betrat. „Setz dich!“ „Keine Sorge, ich bin nicht schüchtern, ich werd mich schon setzen!“ Ischchan überhörte absichtlich den befehlenden Ton des Leutnants. „Sag mal, Vorsitzender, du hast ja dein Arbeitszimmer wie ein Minister eingerichtet. Was für Stühle, sieh einer an! Hast du die aus Dilidshan mitgebracht? Aber nein, in Dilidshan gibt’s so was Schönes wohl gar nicht.“ „Vielleicht haben Sie im Dorf zu tun?“ fragte der Leutnant den Vorsitzenden. „Jawohl“, erwiderte der Vorsitzende finster und verließ den Raum. „Hör zu, wir . . w o l l t e Ischchan beginnen. „Beantworte bitte nur meine Fragen!“ fiel ihm der Leutnant ins Wort. „Oho, da haben wir es also mit der Obrigkeit zu tun.“ „Ich hab dich wegen dem Diebstahl herbestellt, Ischchan.“ Ischchan gefiel, daß der Leutnant ihn mit seinem Vornamen anredete. Er wollte schon lächeln, aber dann besann er sich. „Wegen was für einen Diebstahl?“ „Wegen dem Schafdiebstahl.“ „Sie haben keine Ursache, mich zu kränken, Genosse Leutnant.“ 76


„Du kränkst dich selber.“ „Ich kränke midi nicht selber, ich bin nicht mein eigner Feind.“ „Du hast einen Diebstahl begangen.“ „Ich bin kein Dieb und habe deshalb auch keinen Diebstahl begangen, Genosse Leutnant.“ „Du hast Rewas’ Schafe geschlachtet.“ „Das ist passiert.“ „Folglich bist du ein Dieb.“ „Werd nicht beleidigend, Genosse Leutnant.“ „Was hast du dir denn dabei gedacht, fremder Leute Schafe zu schlachten?“ „Du weißt doch selber, Genosse Leutnant, zuerst waren es wirklich fremder Leute Schafe, als sich dann aber der Besitzer meldete und wir uns mit ihm auseinandersetzten, regelte sich die Sache von selbst. Jetzt ist sie schon vergessen.“ „Nein, sie fängt erst an, Ischchan“, stellte der Leutnant traurig fest. „Das haben Sie in der Hand, Genosse Leutnant. Wenn Sie nicht wollen, fängt sie nicht an.“ „Du irrst, Ischchan, das hängt nicht von mir ab, schließlich gibt es ein Gesetz.“ Wieder tat es Ischchan wohl, daß der Leutnant ihn mit Vornamen anredete. „Du hast das Gesetz in der Hand, Genosse Akopjan!“ antwortete er. Diese Worte rührten den Leutnant, doch im nächsten Augenblick dachte er daran, daß unter dem suggestiven Einfluß solcher Gefühle zuweilen „betrunkene Protokolle“ entstehen, er untersagte sich strengstens derartige Gefühlsduseleien und widersprach: „Nein, das Gesetz hat uns in der Hand, mein Lieber. Eines Tages

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werde ich aus dem Leben scheiden, und du wirst aus dem Leben scheiden, aber das Gesetz wird uns überleben. Das Gesetz wird immer bleiben. Wenn du ein Verbrechen begangen hast, dann mußt du auch auf die Strafe gefaßt sein. Was denn sonst? Selbst den, der das Gesetz gemacht hat, hat das Gesetz in der Hand. Das Gesetz steht über allem.“ Es war eine glatte Rede geworden, den Leutnant befriedigte sogar der Klang der eigenen Stimme, er empfand sich als lebenserfahrener Mann, Ischchan dagegen als unvernünftiges Kind, dem man die einfachsten Dinge erklären mußte. „Hast du das kapiert, Ischchan Antonjan?“ Eine Weile saßen beide schweigend da und dachten über die Rede des Leutnants nach. „Ja, ich sehe, daß auch du es nicht leicht hast, Genosse Leutnant“, begann Ischchan schließlich seufzend. „Demnach warst du nicht der einzige?“ „Nein, das war ich nicht.“ „Und wer war sonst noch beteiligt?“ Ischchan lächelte kläglich. „Alle.“ „Wieso alle?“ „Na, eben alle.“ Ischchan wiegte sich auf dem Stuhl vor und zurück (soll ich’s sagen, soll ich’s nicht sagen?) und sah dabei plötzlich, daß der Leutnant eine Narbe auf der Stirn hatte. Die Narbe erinnerte ihn an den glatzköpfigen Onkel Stepan, und dadurch wurde Leutnant Akop jan in Ischchans Augen zu seinesgleichen. „Ich werde keine Namen nennen, Genosse Leutnant“, sagte er. „Schreib auf, Ischchan hat die Schafe geschlachtet und sie zusammen mit seinen Freunden verzehrt.“ „Wir wollen doch versuchen, uns gegenseitig zu verstehen, Ischchan.“ 78


„Ich kann die Namen unmöglich nennen, Genosse Leutnant.“ „Keine Angst, ich hab gute Beziehungen zum Richter, man wird euch nichts tun.“ „Nein, wenn’s schon vor den Richter kommen soll, nenne ich erst recht keinen Namen. Ich hab die Schafe geschlachtet, die andern haben sie mit aufgegessen. Ich hab gegessen, Rewas hat gegessen, alle haben gegessen.“ „Aber alle haben doch Namen, nicht wahr?“ „Natürlich, aber was sollen dir die Namen?“ Ischchan beschloß, zu einer List zu greifen. „Kennst du nicht das Sprichwort: ,Ein Schafhirt steht zu seinem Wort 4? Wenn ein Schafhirt sagt, er nennt keine Namen, dann nennt er sie auch nicht.“ „Er wird sie nennen.“ „Nein, er wird sie nicht nennen, Genosse Leutnant.“ „Er wird.“ „Und was sagt das Sprichwort?“ „Das Sprichwort ist deine Erfindung, Ischchan.“ „Hahaha! Das hast du also gemerkt? Ich dachte, du merkst es nicht. Ein guter IJdensch bist du, Genosse Leutnant, Ehrenwort, hast gleich kapiert, daß ich es erfunden hab.“ Ischchan mußte immer noch lachen. „Ach, Genosse Leutnant, Genosse Leutnant... Lassen wir doch die Namen beiseite, ich bitte dich sehr, Genosse Leutnant.“ „Mach nicht den Versuch, was zu verschleiern, Ischchan.“ „Ich verschleiere nichts, ich sag dir bloß offen und ehrlich, daß ich die Namen nicht nenne.“ „Doch, du nennst sie.“ „Ja, wenn du mich zwingst, muß ich’s natürlich tun, aber zwing mich lieber nicht.“ 79


„leb zwinge dicb nicht, du wirst sie freiwillig sagen.“ „Mein freier Wille ist aber, daß ich sie nicht sage.“ „Du wirst sie sagen, Ischcban, und zwar freiwillig.“ „Das wirst du nicht erleben.“ Ischchan begriff, daß er auf diese Weise nur den Augenblick hinauszögerte, wo er die Namen würde nennen müssen, und er wußte auch, daß der Leutnant seinen freundschaftlichen Ton jeden Augenblick aufgeben konnte und daß er, Ischchan, dann nachgeben würde. „Ischchan!“ Der Leutnant zündete sich eine Zigarette an und erhob sich. „Die Vor- und Zunamen, Ischchan!“ „Ich bitte dich, Genosse Leutnant...“ Vor mehreren Jahren, achtundvierzig oder neunundvierzig muß es gewesen sein, war plötzlich das Pferd von unserem Awak verschwunden. Alle glaubten, es weide irgendwo im Wald und würde unversehens wieder auftauchen. Doch am folgenden Tag verschwand noch ein Pferd — der Hengst des Vorsitzenden. Und kaum hatten sich die Antarametscher von ihrem Erstaunen erholt und die Ereignisse gründlich erörtert, da verschwand der Büffel von Tante Eriknas, und zwei Tage später fehlten fünfzig Schafe der Getametscher Herde. Nach einem Monat verbreitete sich dann die Nachricht, der Schuldige wäre ein berüchtigter Dieb namens Mko, der vor kurzem seine vierte Strafe im Gefängnis abgesessen hätte. Die Nachricht traf an einem Abend ein, als es nieselte. Es war einer jener Landregen, die einen ganzen Monat anhalten, bis das Dorf sich in einen Morast verwandelt hat, die Burkas vor Nässe holzhart geworden sind und selbst den Hunden vor Kälte die Zähne klap80


pern. Jemand, der aus der Kreisstadt zurückkam, erzählte, daß der Untersuchungsrichter dem Dieb beim Verhör befohlen hätte: „Aufstehn, Füße auseinander! Weiter, noch weiter!“ Und daß er ihn mit dem Stiefel gegen die Knöchel gestoßen hätte, daß Gott erbarm. „Na so was aber auch!“ „Geschieht ihm recht, dem Hundesohn.“ Und ausgerechnet an jenem Abend taten Ischchan erbärmlich die Beine weh, der Schmerz stieg von den Fußknöcheln bis zu den Hüften und rutschte dann wieder zu den Knöcheln hinunter. Ischchan behauptete an diesem Abend, Rheumatismus sei überhaupt keine Krankheit, sondern ein Lebewesen, kalt und stark wie eine Schlange, das man mit Händen greifen könne. Er hatte größte Lust, sich mit dem Messer in die eigenen Knöchel zu fahren und das kriechende Reptil herauszustochern. Sich die Beine reibend, stöhnte er: „Aua-a! Dann soll’n schon lieber die Arme schmerzen! Aua-a-a!“ Der Leutnant lächelte und setzte sich. Ischchan dankte ihm im stillen für dieses Lächeln. „Kurz, die Schafe haben sich unter die unsrigen gemischt. Ich schwieg dazu und beschloß: Vor dem Schlafengehn sag ich den Jungs nichts davon, dann schlaf ich ein, und im Schlaf sag ich auch nichts, ist doch klar. Ich halt den Mund, beschloß ich, bis sich der Besitzer meldet! Und während ich das alles beschloß, kletterte Wenetik auf einen Stein und deklamierte: ,Jago, ach, Jago, der Teufel soll dich holen, du Bocksbart, du Satanshorn, du . . .“ „Was für ein Wenetik?“ „Na Sawen. Der, dem Sie geholfen haben, den Salzsack hochzuasten. Der kletterte also auf einen Stein 6 Matewosjan/Schelm

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und deklamierte. Aber was er aufgesagt hat, das liab ich doch vollständig vergessen.“ „Ist auch unwichtig“, sagte der Leutnant. „Er stellte sich eben auf einen Stein und deklamierte.“ „Nein!“ Ischchan lächelte herablassend. „Er hat was sehr Hübsches aufgesagt. Ich erinnere mich an alles, bloß den Namen der Stadt hab ich vergessen. An einer Stelle hieß es: ,Er packte den Schuft bei der Gurgel und erwürgte ihn.‘ So war’s. Ich kann’s bloß nicht so gut wie Sawen, er spricht es viel ausdrucksvoller. Und die Stadt. . . Das ist die Stadt, von wo die Armenier nach Armenien zurückkommen.“ „Paris?“ „Nein, Paris weiß ich.“ „London?“ „London auch nicht.“ „Dann New York.“ „Nein.“ „Moskau?“ „Moskau wiird ich nie vergessen.“ „Berlin?“ „Berlin weiß ich auch. Abraam und Hamo sind im Krieg bis nach Berlin gekommen.“ „War Abraam an dem Abend dabei?“ „Nein, Abraam arbeitet im Klub.“ „Und Hamo arbeitet auch im Klub?“ „Nein, der ist Parteifunktionär. Beide haben mit der Farm nichts zu tun.“ „Na schön, wer arbeitet denn sonst noch auf der Farm?“ „Also, unser Sawen stellte sich auf einen Stein und deklamierte . ..“ „Ja, dabei waren wir stehengeblieben. Sawen stand 82


auf dem Stein und deklamierte. Und wer hörte ihm zu?“ „Wir waren bei dem Namen der Stadt stehengeblieben.“ „Lassen wir die Stadt beiseite.“ „Gleich fällt mir der Name ein, dann lassen wir sie beiseite.“ Der Vorrat an Städten, deren Namen der Leutnant kannte, drohte zu versiegen, und er fragte vorsichtig, ja schüchtern: „Vielleicht Rom?“ „Ja, so was ähnliches, aber Rom war es nicht.“ „Er deklamierte und ließ dich nicht schlafen.“ „Verdammte Stadt, sie liegt mir auf der Zunge, Genosse Leutnant.“ „Delhi? Tokio? Peking?“ stieß der Leutnant mit verzweifelter Entschlossenheit hervor. „Nein, nein! Was sagten Sie? Peking? Nein!“ „Wir wollen uns nicht quälen, Ischchan, es lohnt nicht. Nehmen wir an, es war Tbilissi.“ „Tbilissi? Hihihi! Hahaha! In Tbilissi. .. hahaha . . . ein Leutnant... packte den Schuft bei der Gurgel und erwürgte ihn ... Er beleidigte mein Volk, und ich erwürgte ihn ... jawohl . . . hahaha. So war’s doch, Genosse Leutnant? Ach, ich platz gleich vor Lachen. Jedes Jahr fahr ich nach Tbilissi, um Käse zu verkaufen. Das kann doch wohl nicht Tbilissi sein! Ach, Genosse Leutnant, Genosse Leutnant!“ Aber es gab keinen Genossen Leutnant mehr, es gab nur noch einen Mann, der am liebsten im Erdboden versunken wäre. Die Tochter dieses Mannes besuchte die Musikhochschule, sein Sohn war ein Schachfanatiker und hielt Botwinnik für „veraltet“, der Mann selber besaß mindestens fünfhundert Bücher, und in 83


einem davon stand bestimmt, in welcher Stadt wer wen bei der Gurgel gepackt hatte, wer schuldig gewesen war und ob der Schuldige eine Strafe erhalten hatte. All das stand irgendwo, aber er kam ja nicht zum Lesen, er hatte keine Zeit. Blödsinnige Verhöre, „betrunkene Protokolle“! Nein, er mußte den Beruf wechseln! Aber wer tut das noch mit fünfzig Jahren? „Ischchan“, sagte der Leutnant, „Sawen weiß vermutlich noch mehr auswendig. Wollen wir beide uns nicht auf etwas andres einigen?“ Ischchan deklamierte den Anfang des Gedichts „Hund und Kater“. Der Leutnant sagte, damit könne man sich durchaus zufriedengeben, denn auch hierin erwürge jemand sozusagen einen anderen, und indem sie sich gegenseitig vorsagten und halfen, wurden sie auch damit fertig. Später tauchten in der Unterredung die Namen Awak und Pawle auf, wodurch der Leutnant jegliches Interesse an Ischchan verlor. Das Verhör war beendet. Der Bote des Dorfsowjets wurde eiligst in die Berge geschickt, um Pawle, Sawen und Awak zu holen, während Ischchan den Rat erhielt, sich zu Hause zur Verfügung zu halten. Das faßte Ischchan als Scherz auf, weshalb er auch mit einem Scherz antwortete. „Glaubst du, dazu hätte ich nicht sowieso große Lust? Man sitzt friedlich da und freut sich seines Lebens — kein Regen macht dich naß, kein Rheuma zwickt dich. Wenn die Arbeit nicht wär ...“ „Macht nichts“, antwortete der Leutnant. „Ich werde dem Vorsitzenden sagen, daß er an deiner Stelle jemand anders in die Berge schickt.“ Ischchan, der schon in der Tür stand, fuhr herum. „Ich seh, da braut sich was zusammen.“ 84


Und aus der Tiefe von Ischchans Seele krochen nacheinander Wünsche, wie Angreifer aus dem Hinterhalt: der Wunsch, um Verzeihung zu bitten, der Wunsch zu fluchen, der Wunsch, den Leutnant, seinen Feind, nach Hirtenbrauch ohne lange Reden zu verprügeln, der Wunsch, das Gehörte ins Lächerliche zu kehren, ja, natürlich, ins Lächerliche. Und plötzlich duckten sich all diese Wünsche wieder, und in Ischchans Seele blieb nur ein Gefühl zurück — die Angst. Ischchan schwindelte. Er träumte überhaupt häufig von Abgründen, unwiderstehlich zog es ihn in bodenlose schwarze Tiefen, krampfhaft klammerte er sich an den nächsten Strauch, um nicht hinabzustürzen, aber die Sträucher brachen weg, und er fiel, f i e l . . . a-a-a! Dann erwachte er, kam mühsam zu sich, aber das Herz, das verdammte Ding, wollte sich lange nicht beruhigen. Audi jetzt hatte Ischchan das Gefühl, daß die Sträucher wegbrachen und er ins Bodenlose stürzte. „Genosse Leutnant!“ „Geh nur, geh!“ Nein, Ischchan hatte keine Schafe geschlachtet, einen Menschen hatte er abgemurkst, das war’s, was er getan hatte! Dann hatte er ihn verscharrt und den Boden eingeebnet, um die Spuren zu verwischen, aber die Leute hatten das Grab gefunden und Ischchan hingeführt: Buddele ihn aus! „Natürlich sind wir schuldig, Genosse Leutnant, wir hätten es nicht tun sollen, aber .. „Mit dir bin ich fertig.“ Isdichan verließ den Raum. Draußen atmete er erleichtert auf. Die Welt glänzte und leuchtete. Die Schulglocke bimmelte zur Pause. Rote Ziegeldächer, auf dem Dach eines Schuppens leuchtend gelbe Kürbisse, auf 85


Bindfäden gereihte feuerrote Pfefferschoten. Ein Hahn schlug kräftig mit den Flügeln und krähte. Sein Kikeriki ging unter im dicken Filz eines Eselschreis, der aus einer nahen Scheune kam. „Schon eins“, murmelte Ischchan. „Verdammtes Vieh! Das ist eher eine Fabriksirene als ein Esel.“ Mutig machte er kehrt. Plötzlich war er fest überzeugt, daß die ganze Geschichte unerheblich war. Schaschlyk hatten sie gegessen, das war alles. Nicht der Rede wert! Er öffnete einen Spalt breit die Tür. „Genosse Oberkommandierender . . . Gestatten Sie, Genosse Oberkommandierender, daß ich künftig zu Hause bleibe!“ Salutierend legte er die Hand an die Papacha und knallte schneidig die Hacken zusammen. „Zu Befehl!“ Doch seine Knöchel stießen schmerzhaft gegeneinander, und die Feierlichkeit des Augenblicks war wie weggeblasen. „Ach, Genosse Oberkommandierender, du hast sicher keine Ahnung, wie scheußlich Fußschmerzen sind.“ Verzerrten Gesichts hinkte er davon. Den Befehl, ins Dorf zu kommen, faßte Onkelchen Awak als Einladung zu einer Kopfwäsche auf. „Mein Haar klebt schon“, sagte er, „außerdem würde es mir nicht schaden, auch ein Bad zu nehmen. Wenn Sato wenigstens zu Hause wäre! Weißt du, Junge, ob Sato zu Hause ist oder auf Arbeit?“ Im Dorf teilte Ischchan ihm die unerfreulichen Neuigkeiten mit. „Wir sollen einen Diebstahl begangen haben.“ „So? Und selber wissen wir nichts davon, was?“ „Die Sache riecht nach Gerichtsverhandlung.“ „Tatsächlich?“ 86


„Ich hab’s so aufgefaßt.“ „Was denn?“ „Die Worte des Leutnants. Der ist schlau, der Hund, hat’s faustdick hinter den Ohren.“ „Wer? Der Leutnant?“ „Der Leutnant. Ich hab gar nicht gemerkt, wie er mir die ganze Geschichte aus der Nase gezogen hat.“ „Der Leutnant hat dich ausgeholt?“ „Ja. Äußerlich wirkt er lammfromm, gar nicht wie ’n Untersuchungsrichter,aber innerlich ist ermehr alsdas.“ „Und was wird aus uns?“ Onkelchen Awak trat nervös von einem Fuß auf den anderen. „Was weiß ich!“ Ischchan sah ihn an, ohne jede Hoffnung, daß sein Gesprächspartner etwas Vernünftiges sagen würde. Trotzdem dachte er: Vielleicht passiert es doch mal, daß er ein besseres Urteil hat als ich. Doch soweit er sich erinnern konnte, war Awak kein guter Ratgeber. Da war’s schon besser, den Flechtzaun dort zu fragen statt ausgerechnet Awak. „Awak“, sagte Ischchan, „du bist zehn Jahre älter als ich und hast noch kein einziges graues Haar.“ „Wo willst du denn hin, du Dämlack!“ Onkelchen Awak scheuchte ein Kälbchen weg, das sich durch den Flechtzaun in den Garten gezwängt hatte. „He, Mädel, jag das Kalb raus, es frißt uns noch die Pfropfreiser ab!“ rief er in der Annahme, daß irgendein Mädel in der Nähe wäre. Da jedoch kein Mädel in der Nähe war, verjagte er das Kalb selber. Dann nahm er die Papacha ab, legte sie und den Hirtenstab auf die Erde und machte sich an den Flechtzaun. „Hat das verdammte Biest ihn doch schon kaputtgemacht!“ brummte er und merkte erst hinterher, daß es gar nicht sein eigner Zaun war. 87


„Frauchen!“ Er klopfte ans Fenster, nachdem er mit der Arbeit fertig war. „Komm raus und bedank dich bei Onkelchen Awak!“ Das Frauchen antwortete nicht. „Natürlich auf Arbeit!“ konstatierte Onkelchen Awak. „Wer sitzt auch zu dieser Tageszeit daheim. Tagedieb!“ beschimpfte er sich. „Ein Tagedieb bist du, sonst nichts!“ Hierbei fiel ihm der andere Tagedieb ein, durch den er selber zum Tagedieb geworden war, und er fuhr, an dessen Adresse gerichtet, fort: „Dauernd quasselst du von den Schafen. Wer bist du eigentlich? Rewas? Oder wer? Was benimmst du dich so dämlich? Ja, ich war’s, ich hab die Schafe geschlachtet! Na und? Ich geh jetzt nach meinem Enkelchen sehen“, beruhigte sich Onkelchen Awak schließlich. „Und bei der Gelegenheit wasch ich mir den Kopf.“ Und dem Boten des Dorfsowjets, der ihn holen wollte, trug er auf: „Sag denen, ich wasch mir den Kopf; wenn ich fertig bin, komm ich.“ Er wusch sich nicht nur den Kopf, er wusch sich auch die Füße, aß auch zu Mittag und legte sich anschließend seelenruhig schlafen. „Ach, das tut wohl! Wahrhaftig, nach getaner Arbeit ist gut ruhn, meinst du nicht auch, Schwiegertöehterchen?“ Man mußte nochmals nach Awak schicken. „Geh und sag ihnen, nicht ihre Schafe sind in den Bergen zurückgeblieben, sondern meine“, brummte Onkelchen Awak. Trotzdem machte er sich auf die Socken und folgte dem Boten. „Alt werd ich, Schwiegertöchterchen, die Stiefel sind mir bereits schwer.“ „Man hat dich nicht ausschlafen lassen, deshalb sind sie dir schwer.“


Onkelchen Awak zwinkerte der Schwiegertochter mit beiden Augen zu - egal, wir werden trotzdem hundert Jahre, vielleicht sogar hundertzwanzig, wer weiß! Genau einen Monat zuvor war Awaks leiblicher Onkel gestorben, und zwanzig Tage davor hatte seine Tante, des Onkels Frau also, ihr Leben ausgehaucht. Auf dem Friedhof war der Alte am Grab seiner Frau hingesunken und hatte Gott weiß wie lange dort gelegen, mit Gewalt hatten sie ihn nach Hause bringen müssen. „Geht nur!“ hatte er gesagt, „geht! Für mich hat es keinen Sinn, daß ich zurückkehr.“ Noch zwanzig Jahre hätte er leben, noch zwanzigmal die Heumahd, das Reifen und Ernten der Früchte, den blendendweißen ersten Schnee sehen können, der sich auf Dächer und Bäume, Bäche und Berge legt und sie in versonnene Stille hüllt. Zwanzigmal noch hätte er den Frühling genießen können mit brausenden Gebirgsbächen und in den Adern brausendem Blut, doch der alte Dummkopf hatte dem frischen Hügel versprochen: „Fürchte dich nicht, ich laß dich nicht im Stich, in zwanzig Tagen komm ich zu dir.“ Umsonst hatte er unzählige Male von seiner Frau gesagt: „Die alte Närrin hat wohl den Verstand verloren!“ Nach zwanzig Tagen folgte er seiner Alten. Und darum blieben zwanzig Jahre ungelebt. Na, und wenn er auch nicht mehr zwanzig Jahre gelebt hätte, so doch mindestens noch vier! Oder ein Jahr oder wenigstens noch ein halbes! Aber da er nun einmal versprochen hatte, seiner Frau nach zwanzig Tagen zu folgen, lohnte es sich wohl auch nicht, das erst am zweiundzwanzigsten Tag zu tun und die Sache um zwei Tage hinauszuschieben. „Awak“, fragte einmal ein Hirt, „wenn deine Sato stirbt, wie willst du dann weiterleben?“ 89


„Meine Sato soll nicht sterben, eher soll deine Aschchen sterben.“ „Ich frag mich doch das gleiche.“ „Meine Sato soll nicht sterben“, erwiderte Onkelchen Awak, „aber falls sie stirbt, was Gott verhüten möge, dann geht dadurch die Welt nicht unter. Die Welt ist so-o-o groß!“ Onkelchen Awak beschrieb mit dem Knüppel einen Kreis um das Stüde Himmel mit dem Wolkenfetzen, den Berg mit den eisigen Quellen, den Wald, in dem die Vögel tirilierten, die Schafherde, die über den Hang zog, die Schnitter auf den grünen Wiesen und die Frauen mit den weißen Kopftüchern. „Falls Sato, wovor der Himmel mich bewahren möge...“ Noch einmal beschrieb Onkelchen Awak mit dem Knüppel einen Kreis, diesmal um die in der Ferne sichtbaren Frauen. Die herzlose Sato starb aber doch. Onkelchen Awak betrauerte sie, wie es sich gebührte, doch bald führte er eine neue Frau in sein Haus. Die Neue erwies sich als ungeheuer zanksüditig, mit Ach und Krach verbrachten sie zwei Jahre zusammen. Danach kam Onkelchen Awaks bessere Hälfte auf den Gedanken, sich von ihm scheiden zu lassen. Sie bestellte den Vorsitzenden des Dorfsowjets ins Haus und ließ ihn auf teilen: ein Zimmer für sie, den Kleiderschrank für sie, ein Bett für sie, die Kuh für sie, einen Spaten für sie und so weiter und so fort. Onkelchen Awak erhob keine Einwände. Die Frau hat sich an den Besitz gewöhnt, dachte er, soll sie nehmen, was sie braucht. Nachts jedoch ... nachts legte sich seine Frau, das heißt seine geschiedene Frau, in das ihr vom Dorfsowjet zugeteilte Einzelbett. Das empörte Onkelchen Awak maßlos. „Den Schrank hat sie sich genommen, bitte sehr. Die Kuh hat sie ge90


nommen, bitte sehr. Die Schaufel auch, meinetwegen. Den Dorfsowjet hat sie ins Haus geschleppt, na schön, es soll ja alles nach dem Gesetz gehn, dagegen hat auch niemand was, aber getrennt schlafen — das hat's noch nie gegeben!“ Vor der Schule blieb Onkelchen Awak stehen, langte durchs offene Fenster und zwickte einen Schüler mit riesigen Kalbsaugen, der ihn anlächelte, in die Wange. „Lerne fleißig, Hamajaks Sohn.“ Und zum Lehrer sagte er: „Hör mal, mein Junge, es hat doch schon geklingelt, was läßt du die Kinder nicht weg, tun sie dir nicht leid?“ Dann ging er an den offenstehenden Schulfenstern entlang. Hinter dem letzten Fenster war Turnstunde, zwei Schüler der zehnten Klasse hüpften umeinander herum und fuchtelten mit Boxhandschuhen. „Na, wie steht’s, ihr Kampfhähne?“ erkundigte sich Onkelchen Awak. Kurz darauf machte er ein besorgtes Gesicht. „He, du, Ereglos Enkel, hau nicht so zu, du Raufbold!“ Ereglos Enkel hörte nicht, drückte seinen Gegner an die Wand und versuchte, ihn durch Finten zu verwirren, um den Entscheidungsschlag anbringen zu können. „Was sind das für Handschuhe? Sind sie weich?“ forschte Onkelchen Awak und stützte beide Ellenbogen auf die Fensterbank. „Ich hab gehört, daß Blei drin sein soll. He! Was machst du da?“ Erschrocken riß er den Kopf hoch. Das galt Ereglos Enkel, der seinem Gegner immer stärker zusetzte. Aber dann kriegte Ereglos Enkel auch ein paar Schläge verpaßt. „Pracht91


junge!“ lobte Onkelchen Awak und ging vom Fenster weg. „Immer feste, verprügelt euch gegenseitig.“ Zu dem Mann aber, der innerlich ein Mensch, äußerlich jedoch Untersuchungsrichter war, sagte Onkelchen Awak: „Na, hast du mich wegen der Schafe vorgeladen?“ „Allerdings.“ „Hat Ischchan denn noch nicht alles erzählt?“ „Ischchan redet für sich, und du redest für dich.“ „Schön, du mußt es ja wissen. Na, dann frag los.“ „Am zwanzigsten August des Jahres, abends . . .“ Onkelchen Awak gähnte und reckte sich, daß seine Knochen knackten, er gähnte so hingebungsvoll, daß der Leutnant beinahe mitgähnte, hätte er nicht seine wichtigen Pflichten gehabt. „Die Schafe des Rewas Mowsisjan . . . “ Der Leutnant hob warnend die Stimme. „Red nur, laß dich nicht stören!“ Wieder gähnte Onkelchen Awak. „Wir haben noch nicht geklärt, ob ihr sie zu eurer Herde getrieben habt.“ „Nein, wir haben sie nicht zu unserer Herde getrieben.“ Onkelchen Awak gähnte nochmals. „Sie sind von allein gekommen, aus freien Stücken. Sei bitte nicht böse, ich hab die ganze Nacht kein Auge zugetan, außerdem überkommt mich immer der Schlaf, wenn ich den Dorfsowjet betrete, nimm’s mir nicht übel!“ „Macht nichts, ich werd dich nicht lange aufhalten.“ „Na, dann frag weiter“, sagte Onkelchen Awak, gähnte zum viertenmal und erhob sich. „Die Schafe sind von allein gekommen, freiwillig, ich hab sie geschlachtet, wir alle haben sie aufgegessen. Muß ich irgendwas unterschreiben?“ 92


„Wie viele wart ihr?“ „Idh, Ischchan, Sawen, Pawle, aber wenn die Sache ’ne schlimme Wendung nehmen sollte, dann laß Pawle aus dem Spiel, er hat das Haus voll Kinder, wie die Orgelpfeifen. Und laß auch Sawen raus, denn sonst würden die Leute sagen: ,Aha, damit befaßt sich also euer Gebildeter.4 “ Onkelchen Awak rückte die Flasche mit dem Büroleim auf dem Schreibtisch zurecht und legte den Federhalter so, daß er keinen Fleck aufs Tuch machen konnte. „Und erwähn auch nichts von Ischchan, sonst macht ihm seine Frau das Leben zur Hölle.“ Und zum Abschied sagte er noch: „Der Winter steht vor der Tür, fürchte Gott und reiß die Leute nicht aus der Arbeit. Aber was schert einen Untersuchungsrichter schon der Winter!“ Und weil Onkelchen Awak wußte, daß der Winter einen Untersuchungsrichter nicht schert, versuchte er, letzterem auf andere Weise Angst zu machen. „Paß auf, wenn der Vorsitzende uns im Dorf sieht, dann geht’s dir und uns schlecht.“ Der Untersuchungsrichter grinste nur. „Ich hab einen Vetter, der arbeitet als Hauptbuchhalter in der Arbeiterversorgung“, teilte Onkelchen Awak ihm mit. „Garegin heißt er, kennst du ihn? Garegin Danilowitsch.“ Bestimmt hat man den Untersuchungsrichter im Laufe seines Lebens häufig verhöhnt, wenn er so über einen armen Kerl herfällt! dachte Onkelchen Awak. Aber egal, ich wehre mich meiner Haut. „Und mein ältester Sohn ist Chef des Milizreviers in Jerewan. Aschot Awagowitsch Oganesjan, hast du von dem schon mal gehört?“ Jetzt grinste der Leutnant nicht mehr, jetzt bedachte Onkelchen Awak ihn mit spöttischen Blicken. 93


„Nein“, antwortete der Leutnant, „den kenn ich nicht, aber der Major muß ihn kennen.“ „Mein Sohn ist Oberst“, sagte Onkelchen Awak. „Was willst du von mir?“ brauste der Leutnant auf. „Schön, schön, sei nicht gleich beleidigt“, lenkte Onkelchen Awak ein und überlegte ein Weilchen. „Ich hab dir die Unwahrheit gesagt, mein Sohn ist gar nicht Oberst. Hirt ist er. Hütet die Schafe. Aber ich hab einen Kindheitsfreund, der ist General. Und das ist nun kein Schwindel, das brauchst du nicht zu denken. Aber er ist wiederum keiner von euren Leuten, er ist Armeegeneral. Wer ist höher? Ein Armcegeneral oder ein Milizmajor? Ich weiß das nicht, deshalb frag ich. Ach, wer soll euch schon auseinanderhalten —Leutnant, General, Oberst, Major . ..“ „Guten Tag, Genosse Leutnant.“ „Guten Tag.“ „Darf ich Platz nehmen?“ „Bitte.“ „Warum haben Sie mich vorgeladen, Genosse Leutnant?“ „Nur wegen einer Kleinigkeit.“ „Sehr angenehm, Sie wiederzusehen, Genosse Leutnant.“ Vor dem Leutnant saß Sawen, der Mann, der wußte, in welcher Stadt wer wen bei der Gurgel gepackt hatte. „Vielleicht waren Sie an jenem Abend nicht in den Bergen, Genosse Sawen, und Ihr Name wurde nur so erwähnt, aus Solidarität, wie? Eventuell nimmt die Sache eine böse Wendung. Sie waren bestimmt nicht dort, nicht wahr?“ „Nein, Genosse Leutnant, so geht es nicht.“ 94


Ein ehrlicher Kerl! dachte der Leutnant, dann sagte er, die Worte sorgfältig, allzu sorgfältig wählend und bemüht, sich einer literarischen Ausdrucksweise zu bedienen: „Wir möchten Sie ersuchen, uns den Namen jener Stadt zu nennen, in der jemand einen Mann erdrosselt hat; Ischchan und ich konnten uns des Namens nicht entsinnen, und Ischchan sagte, daß Sie ihn wüßten.“ Sawen zuckte mit den Schultern. Und um seinen Respekt vor Sawens Bildung kundzutun, ergänzte der Leutnant höflich lächelnd: „Ich stelle diese Frage nicht im Rahmen des Verhörs, mich interessiert nur, wie das Buch heißt, das ich bisher noch nicht gelesen habe.“ „Ich habe keine Ahnung, Genosse Leutnant, wie das Buch heißt, das Sie bisher noch nicht gelesen haben.“ Der verspottet mich! Dann werd ich dir klarmachen, mein Lieber, daß du ein Dieb bist und daß es überhaupt nicht darauf ankommt, wie viele Bücher du gelesen hast, verstanden? Ich bin dein Untersuchungsrichter, das wirst du schon merken. Sogar einem Professor hab ich mal eine Geldstrafe aufgebrummt. Und du bist alles andere als ein Professor! „Du erinnerst dich also nicht an den Namen der Stadt?“ Sawen spitzte fragend die Lippen. „Ich begreife nicht, was das mit der Sache zu tun hat.“ „Hast du viele Bücher gelesen?“ „So viele ich während der Schulzeit schaffen konnte. Es gibt viele Bücher auf der Welt, aber zu wenig Zeit.“ Der Leutnant dachte an seinen Bücherschrank: viele Bücher, aber zu wenig Zeit. Wer Bücher liest, der tut sonst nichts anderes, und wer arbeitet, der hat keine Lust zum Bücherlesen. 95


„Jetzt ist die Zeit der Schur“, sagte Sawen. „Im Winter hat man’s besser, da braucht man den Schafen nur das Futter hinzuwerfen und kann sich dann friedlich hinsetzen und lesen.“ Noch ein Professor! Jetzt werden alle zu Professoren! „Du erinnerst dich also nicht, welches Gedicht du aufgesagt hast, bevor die Schafe geschlachtet wurden? Die Schafe, die einem andern gehörten?“ Sawen sah sich in der Rolle des Verhörten. „Wie könnte ich Shakespeare vergessen, Genosse Leutnant!“ erwiderte er spöttisch. „Was soll ich dir aufsagen? Aus ,Hamlet’, aus .König Lear’ oder aus ,Othello’?“ An dem Tonfall, mit dem Sawen besonders das Wort „Othello“ aussprach, erkannte der Leutnant, daß er einen waschechten Schauspieler vor sich hatte. Und ein Schauspieler ist etwas völlig anderes als ein Professor. Ein Schauspieler ist nichts als ein Schauspieler. Etwas gröber formuliert, ist er ein Clown, ein Grimassenschneider. Und dieser Clown, dieser Spitzbube, spielt vor seinen Hirten den Gelehrten, den Professor, und bringt es fertig, sogar mir, einem Leutnant, auf der Nase herumzutanzen. Ein ganz gewöhnlicher Halunke ist das, klarer Fall! „Was soll ich Ihnen vortragen, Genosse Leutnant?“ „Irgend etwas.“ Der Leutnant lehnte sich im Stuhl zurück. Er fühlte sich nicht mehr als Leutnant, о nein! Er war mindestens ein Diplomat, ein Botschafter, den die Botschaftertätigkeit ermüdet hatte. Und Sawen? Sawen war bloß ein lächerlicher Affe, der alle möglichen Kunststückchen gelernt hatte und den mit Sorgen belasteten Politiker ein Weilchen erheitern würde. 9 6


„Was soll ich aufsagen?“ „Irgend etwas.“ „Sie brauchen nur zu befehlen, Genosse Leutnant.“ „Wähl dir selber etwas aus.“ „Sie wünschen natürlich etwas aus der europäischen Literatur?“ „Ausgezeichnet. Rezitier was aus der europäischen Literatur.“ „Und was?“ „Na, aus der europäischen.“ „Aber von welchem Autor?“ „Kennst du was von Marx?“ „Von Marx? Freilich.“ „Na, wenn du das kennst“ - der Leutnant atmete auf „dann was von Marx.“ „Aber Marx war kein Dichter, er hat keine Gedichte geschrieben.“ „Ach, du sprichst von Gedichten? Ich mag keine Gedichte!“ erklärte der Leutnant energisch. „Ich mag auch die Dichter nicht, sie sind samt und sonders verrückt. Bei uns in der Kreisstadt wohnt einer, der ist den ganzen Tag betrunken.“ „Durchaus richtig, Genosse Leutnant, sie sind samt und sonders verrückt, aber was soll ich nun wirklich aufsagen?“ „Jeden Quatsch, der ihnen in den Sinn kommt, schreiben sie auf, warum sie soviel Papier bekritzeln, kapier ich nicht. Anstatt sich mit gesellschaftlich nützlicher Arbeit zu befassen, beschäftigen sie sich mit Firlefanz!“ „Aber Sie haben noch immer nicht gesagt, was ich Ihnen vortragen soll!“ Sawen hatte größte Lust, laut herauszulachen, doch er preßte die Lippen fest aufeinander. 7 Matcwosjan/Sdielm

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„Sag Tumanjans ,Hund und Kater4 auf. Natürlich nur, wenn du’s kannst.“ „Natürlich. Hund und Kater. Ein Kater . . . haliaha ... hohoho . . . ein Kater . . . hahahaha!“ Die Protokollblätter flogen zu Boden, die Seiten des Tischkalenders flatterten, das Wasser spritzte aus der Karaffe. Reichlich fünf Minuten lang klirrten die Fensterscheiben, am anderen Dorfende sprang ein Hahn erschrocken vom Zaun, sein Kikeriki blieb ihm in der Kehle stecken, und in der Schlucht sagte der Müller, der auf einem Ohr taub war, vor sich hin: „Das ist Sawen, der da lacht, und kein anderer. Ich möcht wohl wissen, was im Dorf passiert ist! Aber ich erfahr das ja nicht. Das ganze Jahr hock ich in der Mühle, hör auf einem Ohr schon überhaupt nichts mehr und mit dem andern nur den Lärm der Mühlsteine.“ Währenddes ließ im Dorf der Leutnant seine Wut an Sawen aus. Ja, er haßte den gemeinen Arscho, ihn kränkte das Mißtrauen seines Majors, er bemitleidete sich ungeheuer, weil er von allen literarischen Werken der Welt nur „Hund und Kater“ kannte, auch quälte ihn unablässig das Bedürfnis, über die Musiklehrerin zu fluchen, die seiner Tochter Unterricht gab und mit hochgezogenen Brauen und schriller Stimme „do, re, mi . . . do, re, mi . . . re, re, re . . .“ kreischte. Er verachtete, jawohl, er verachtete diesen Sawen, der Salzsäcke durch die Gegend schleppte und dabei tat, als wäre er Professor! Schließlich saß er, der Leutnant, seit dem frühen Morgen hier, ohne etwas im Magen, und war gezwungen, endlose Verhöre anzustellen darüber, wer den verdammten Schaschlyk gebraten hatte, oh das verfluchte Fleisch fett gewesen war oder nicht, zu welcher Sorte und Kategorie es gehörte! Oh, all das kochte 9 8


nun im Leutnant über und ergoß sich über Sawens bedauernswertes Haupt. „Über wen lachst du eigentlich, du Hund? Sei still! Halt die Schnauze! Wer bist du überhaupt? Ruhe! Maul halten, sonst. . Der Leutnant gab eine so anschauliche Schimpfkanonade von sich, daß man daraus mühelos schließen konnte, aus welcher Gegend er stammte, was sein Vater gewesen war, welchen Beruf er vor dem Eintritt in die Miliz ausgeübt hatte und so weiter. Mit Leichtigkeit hätte man seinen gesamten Fragebogen ausfüllen können. Sawen antwortete mit keiner Silbe, er bat nicht einmal um Entschuldigung. Ach, diese Intellektuellen! Da haben sie zwei, drei Bücher gelesen, und das beglückt sie, aber wenn es zu einem mehr oder minder ernsthaften Gespräch kommt, dann schweigen sie, als hätten sie Wasser im Mund. „Alles, was du bisher noch nicht studiert hast, wirst du im Gefängnis studieren können. Die Schafschur wird dich nicht länger am Lesen hindern. Und über Zeitmangel wirst du dich nicht zu beklagen brauchen. Zeit wirst du in Hülle und Fülle haben! Geh! Danke deinem Schöpfer, daß ich dich nicht vom Fleck weg verhafte! Mach, daß du rauskommst. Halt’s Maul, du Professor! Man braucht euch bloß ein bißchen die Zügel lockerzulassen, gleich klaut ihr am hellichten Tag, ungeniert! Halt’s Maul! Ihr klaut, ohne mit der Wimper zu zucken. Seht ihn an, wie unschuldig er aussieht! Wie ehrlich! Ein Gotteslamm, wie es im Buche steht! Halt’s Maul! Der ist bestimmt außerstande, ein Schaf zu schlachten, ist ja selber nur ein Schäfchen! Raus! ,In Tbilissi beleidigte mich ein Türkenhund, da packte ich ihn bei der Gurgel. . .‘ Raus, du Professor! Du Nichts! Du Lump!“ 9 9


Dies ist unser Zuhause Sawen sah seine Frau von der Quelle zurückkommen, gebeugt unter der Last des Kruges und des schweren Eimers, er sah sein Kind im Straßenstaub sitzen und mit den Beinen strampeln, weil die Mutter es auf den Arm nehmen sollte, er sah ein Zicklein, das in den Garten eingedrungen war und die Setzlinge abknabberte, und bei all dem kam ihm die Erkenntnis, daß er sich benommen hatte wie ein Kind, wie ein unbesonnenes Weib. Ich habe die Verantwortung für meine Familie vergessen! Ein schlimmes Ende wird das nehmen. „Um Christi willen, benimm dich nicht wie ein dummer Junge beim Untersuchungsrichter“, sagte er zu Pawle. „Sei gesetzt!“ „Was hast du ihm gesagt?“ „Das weiß ich nicht mehr. Sei gesetzt, hörst du?“ „Ich geh gar nicht erst hin.“ „Genau davon rede ich. Geh hin und benimm dich anständig.“ Schlecht entwickelt sich das alles! dachte Sawen. Und nur wegen Ischchan, ich möcht bloß wissen, wer ihm die Zunge gelockert hat. Aber da es kein Diebstahl war, brauchte Ischchan auch nichts zu verheimlichen! Also ist Arscho der Schuldige! Na, jetzt versteck dich aber nicht hinter Arscho! sagte er zu sich selber. Arscho ist wie Schmieröl, wenn du dran vorbeigehst, klebt er an dir fest. Aber in diesem Fall klebt er sogar mit Recht. Nein! widersprach er sich empört. Wieso denn mit Recht? Was geht Arscho die ganze Sache an, wer ist er denn im Grunde? Und was hat der Untersuchungsrichter hier verloren? 100


Antarametsch — das bin ich, das ist meine Arbeit, das sind meine Berge, meine Schafe, mein Getametsch! Ist es nicht schon passiert, daß die Getametscher sogar Pferde aus Antarametsch entführt haben? Wir suchen hier, kein Pferd zu sehen, wir suchen da, aber auch vergebens, das verfluchte Biest ist wie vom Erdboden verschluckt. Bis dann plötzlich ein Anruf kommt: „Gute Rösser habt ihr, sie ziebn unsern Getreidemäher so prima, daß ihr sagen würdet: ,Unsre sind das? Nicht zu glauben!4“ Im Kontor von Antarametsch herrscht eine Weile tiefes Schweigen, dann nimmt der Geistesgegenwärtigste den Hörer und ruft die Zentrale an. „Hallo! Welches Dorf hat soeben mit Antarametsch gesprochen?“ — „Das ist Kriegsgeheimnis.“ ֊ „Hallo, Anik, wir brauchen die Pferde dringend, bitte, sag es doch.“ - „Stört mich nicht bei der Arbeit.“ — „Anik!“ — „Na schön, doch unter der Bedingung, daß ihr mir eine Perlonbluse besorgt.“ — „Aber Anik, ich hab bisher nicht mal meiner Frau eine gekauft.“ Daraufhin wird die Verbindung unterbrochen. Den Geistesgegenwärtigsten packt die Wut, er telefoniert wieder, aber nur, um Anik mitzuteilen, daß er nicht daran denke, ihr eine Perlonbluse zu kaufen, außerdem würde er gleich bei ihr erscheinen und ihr die Bluse und sonst noch was ausziehn und ihr den nackten. ..“ — „Ha!“ antwortet Anik und legt auf. Daraufhin greift der Vorsitzende zum Hörer. „Ich bin’s, Anik.“ — „Perlon!“ verlangt Anik. — „Gut, kriegst du.“ — „Eine Bluse für mich“, erklärt Anik, „und eine zweite für meine Schwiegermutter, weil ihr mich beleidigt habt.“ — „Einverstanden!“ sagt der Vorsitzende, „eine für dich, eine zweite für deine Schwiegermutter und noch was als Draufgabe. Braucht deine Mutter keine Bluse? Oder deine 101


Schwester? Oder vielleicht deine Großmutter?“ — „Aus Getametsch stammt der Anruf“, sagt Anik, „vergiß die Perlonblusen nicht.“ Solche Dinge kamen in Antarametsch häufig vor. Und einmal wurde sogar ein Mann gestohlen! Nämlich Pawle. Pawle war plötzlich verschwunden. Sieben Tage lang. Fünf Tage lang machte sich noch keiner Sorge um ihn und suchte ihn keiner. Das lag an der Jahreszeit: Sonnenglut, Gelächter, Tränen, Rufe, Geschrei, Tellergeklirr, dampfende Essentöpfe, Tröge mit Seifenschaum, Küsse und Getratsch, Blut, das aus einem verletzten Fingcr tropft, kurz, die Jahreszeit, in der fast ganz Antarametsch aufs Feld iibergesiedelt ist. Im Dorf rieselt dann höchstens noch ein faules Kikeriki durch die Luft, trocknen Früchte in der Sonne. Und eine alte Frau, die in ihrem Leben genug geschuftet hat, wiegt den Enkel. „Mama hat ihre Brust mit aufs Feld genommen, und nun brüllst du danach, wie?“ Pawle war weg, aber fünf Tage lang hielt man ihn nicht für verschollen, weil, wie gesagt, ganz Antarametsch auf dem Feld war. Ein Antarametscher steckt immer dort, wo es Arbeit gibt, und da es zu Hause keine gibt, ruht er sich zu Hause aus. Aber wer ruht sich schon im Sommer aus? Im Sommer wird gearbeitet. Fünf Tage wurde Pawles Verschwinden nicht bemerkt. Am sechsten Tag, als die Antarametscher nach kurzer Rast wieder nach den Sensen griffen, rief der Schnitterbrigadier: „Erheb dich, Pawle.“ „Wenn der Weltkommunismus anbricht“, rief Sawen aus der Niederung, „dann müßte der Weltminister der Schnitter hier erscheinen und sagen: ,Pawle Grigorje102


witsch, der Weltkapitalismus ist niedergemäht, und aus diesem Grunde wird Ihnen ein Monat Schlaf geschenkt P “ „He, Sohn deines Vaters, steh auf!“ Ischchan warf seine Papacha dorthin, wo er Pawle vermutete, aber die Papaeha traf nur einen Palan, einen Packsattel. „Sein Schlaf war so tief, daß er sich in einen Palan verwandelte!“ Sawen lachte; dann wurde er stutzig und stieß einen langen Pfiff aus. „Heute hab ich Pawle nicht gesehen, gestern hab ich Pawle nicht gesehen. Oho! Fünf Tage hab ich Pawle nicht gesehen! Und ich hab immer überlegt, weshalb so wenig gemäht worden ist! Pawle fehlt, das ist der Grund!“ Sie erkundigten sich bei der Leitung nach Pawle. „Niemand hat ihn weggeschickt“, antwortete die Leitung. „Nein, er ist nicht unterwegs, um Käse zu verkaufen“, sagte seine Frau. „He, Oma Anusch!“ schrien sie zu Pawles Mutter hinüber, „sag Pawle, er soll kommen, und Mazun soll er mitbringen, Mazun!“ Oma Anusch verstand sie verkehrt. „Sagt Pawle“, antwortete sie, „er soll herkommen und Mazun essen, hört ihr, Mazun!“ „Gut, wir richten’s ihm aus!“ schrien sie zurück und sahen sich an. Wo mochte er abgeblieben sein? „Ich habe schon lange gemerkt, daß er nicht da ist“, meinte Onkelchen Awak. „Ich hab bloß nicht die Zeit gefunden, um nach ihm zu fragen.“ „Brüder, erinnert ihr euch an Tigran? Der war mal einen ganzen Monat verschwunden, und als man ihn fand, war er tot und hielt einen Besen in der Hand. Beim Besenbinden war er gestorben.“ 103


„Was redest du da für Unsinn!“ Doch da sich Pawles Verschwinden nicht erklären ließ, fanden alle auch die Umstände seines Verschwindens unerklärlich. Ischehan räusperte sich so lange und heftig, daß die anderen sich ihm zuwandten. „Möge Gott es verhüten!“ stieß er schließlich entsetzt und unsicher hervor. „Ich will das auch nur als Beispiel anführen. Aber ich glaube, daß sein Onkel mondsüchtig war.“ „Na und?“ „So was ist doch erblich!“ Der Onkel unseres Pawle sollte nämlich einmal im Mondlicht gebadet haben und dabei über Schluchten und Wälder geflogen sein; sein Schatten war über die Erde geglitten, und die Hunde hatten in dieser Nacht unaufhörlich geheult, weil es sie vor dem Schatten grauste. Und später sollte der Onkel erzählt haben, daß er auch übers Meer geflogen wäre. Die Geographiekundigen vermuteten, daß es sich dabei um das Kaspische Meer gehandelt hatte. Doch diesmal ließ sich einer der Antarametscher nicht erschüttern. „Soweit mir bekannt ist“, widersprach er, „ist der Onkel unseres Pawle gar nicht mondsüchtig.“ Der Mann, der diese Feststellung traf, war Pawles Onkel persönlich. Er hatte bis dahin seine Sense gedengelt, ließ sich nun aber ziemlich fassungslos auf der Erde nieder. „Der Onkel bin ich, aber ich kann mich an nichts dergleichen erinnern, wirklich nicht, und geflogen bin ich auch nie. In der Kindheit bin ich zwar gelegentlich geflogen, aber nur im Traum, im Wachen nie. Wahrscheinlich verwechselt ihr mich mit Gikor. Der hat mal 10 1


damit geprahlt, daß er sich in die Luft geschwungen hätte, doch dann hätte er gemerkt, daß es besser ist, festen Boden unter den Füßen zu haben. Gikor ist Pawles Nachbar, aber nicht sein Onkel.“ Und als wollte der Onkel unseres Pawle beweisen, daß er einen gesunden Körper und folglich auch einen gesunden Geist besaß, dengelte er weiter: dsin, dein, dsin. Die übrigen brachen in schallendes Gelächter aus, und der Verschollene wurde für seine Freunde wieder zum gewohnten Pawle - zu dem Mann, der gern schlief, gern aß, aber auch gern schuftete. „Kein Gedanke, Pawle ist nicht mondsüchtig, der ist schon zum Laufen zu faul!“ „Pah, vermutlich liegt er irgendwo und pennt.“ Und die Freunde machten sich einen Spaß, pfiffen und johlten und schmissen mit den Mützen nach dem Palan, der wie ein Schläfer aussah und sogar zu schnarchen schien. Der richtige Pawle erschien erst zwei Tage später, dick und rund wie ein Baumstumpf, mit der Sense über der Schulter. „Hu-u-u!“ „Da ist er. Hat das Kaspische Meer gemäht und kommt nun zurück!“ „Durchs Gebirge, durch die Steppe zog... unser Pawle „Pawle Prshewalski, der Erforscher des Kaspischen Meeres!“ „Wie im Kino! Pawle, du bist ein Filmheld! Jungs, Prshewalski kann sich mit unserm Pawle überhaupt nicht messen! Den ganzen Erdball hat Pawle abgemessen — sieben Sensenschwünge von Ost bis West und sechs von Nord bis Süd.“ 1 0 5


Pawle war tatsächlich geraubt worden. Von den Getametscher Schnittern. „Ich ging aus dem Dorf“, berichtete Pawle, „kletterte in die Schlucht hinunter, und gerade, als ich den jenseitigen Hang hinaufklettern wollte, warf mir einer einen Sack über den Kopf. Dann fesselten sie mir Hände und Fiiße, warfen mich quer über den Sattel und sagten: ,Auf geht’sP Sie sprengten davon, ich konnte nichts dagegen machen. Schon nach kurzer Zeit kriegte ich keine Luft mehr, die Teufel hatten mich wie einen Kornsack quer übers Pferd geworfen, ich lag auf dem Bauch, das Gesicht brannte mir, fast platzten mir die Augäpfel. Hundeübel war mir. Aber sie, die Teufel, waren guter Dinge, sie sangen sogar beim Reiten. Ich versuchte herumzuzappeln, aber in einem Sack hat man ja nicht viel Bewegungsmöglichkeit. Die Hundesöhne hatten mich so fest mit dem Strick umschnürt, als war ich ein Heuballen und kein lebendiger Mensch. Dann hörte ich einen sagen:,Erzengel Gabriel, dem Genossen ist es wahrscheinlich zu eng im Sack, er ist so unruhig.4 Ich zappelte noch stärker und spitzte die Ohren, so gut ich konnte.,Werte Engel! 4 erwiderte der Erzengel, also Gabriel, »mühselig ist der Weg ins Paradies, doch der Weg zur Hölle ist noch mühseliger. Wie ist das nun, bringen wir ihn in die Hölle? Nehmt ihm den Sack ab und verbindet ihm die Augen, aber fest!4 Sie verbanden mir die Augen, lösten mir die Beinfesseln, und wir ritten weiter. Zwar hatten sie mir die Arme nach hinten gedreht und die Füße unterm Pferdebauch zusammengebunden, aber mir wurde trotzdem wohler, wenigstens kam ich mir nicht mehr wie ein gefangener Fritz vor. Ich holte Atem, und dann 106


setzte ich mein Mundwerk in Gang. Zuerst ließ ich mich über Schnurrbart und Bart des Hergotts aus, dann ging ich zum Erzengel Gabrie! über, und schließlich kamen die übrigen Engel und Engelinnen an die Reihe. Und als ich mich über letztere verbreitete, konnte ich mich, ehrlich gesagt, nicht enthalten, sie ebenfalls mit saftigen Ausdrücken zu belegen. Da sagte Gabriel: ,Pawles Frau ist schwanger, obendrein arbeitet er zur Zeit nicht, er muß sich Luft machen, darum hat er das Bedürfnis, unsere Damen zu beschimpfen. Wir wollen Pawle so viel zu arbeiten geben, daß er höflich wird, sogar die Esel grüßt und die Engelinnen um Verzeihung bittet.4 - ,Arbeiten?4 frag ich. - ,Ja, mähen wirst du 4, antwortet er. ,Wir haben gehört, daß du gut mähen kannst, doch gesehen haben wir’s noch nie.4 ,Einem Schnitter fesselt man aber nicht die Hände!' erklär ich. ,Einen Sklaven fesselt man, weil der schlechte Arbeit liefert.4 — ,Aha!4 sagt er, ,dcr Pawle ist Marxist, nehmt euch ein Beispiel an ihm. Im Vaterländischen Krieg war er, und ein berühmter Schnitter ist er, und auch sein Verstand läßt nichts zu wünschen übrig, wie ihr seht.4 Jetzt ging mir ein Licht auf: Der Erzengel war kein 107


anderer als der Zootechniker aus Getametsch! Natürlich4, sag ich, ,man muß ein guter Schnitter sein und gleichzeitig was vom Marxismus wissen. Ich1, sag ich, ,bin nicht wie der Getametscher Zootechniker, der erst die Hochschule besucht, dann aufs Land geht und alle Farmen runterwirtschaftet. Kennen Sie den vielleicht, Erzengel Gabriel?1 — ,Nein‘, sagt er, ,nie von ihm gehört.1 — ,Das ist ein großer Esel! 1 sag ich.— /Tatsächlich?1 fragt er. — tatsächlich!1 antworte ich. ,Dem stünden ein Sack über dem Kopf und eine tüchtige Tracht Prügel wohl an.1 — ,Ja, kennst du ihn denn? 1 fragt ein Engel. ,Na klar!1 geh ich zurück. ,Ich kenn auch seine Frau, das ist eine überall bekannte.. . wie soll ich’s ausdrücken . . . wenn die sich an wen ranhängt, dann kommt der nicht mehr los.1 Da lachen die Engel, und einer sagt: ,Aber er ist doch gar nicht verheiratet, Pawle.1 — ,Na, dann bezieht sich das, was ich gesagt liab, eben auf deine Frau 1, antworte ich. — ,Wir wollten dich nur einen Tag bei uns arbeiten lassen1, sagt der Engel, ,aber für diese Verleumdung mußt du noch einen Tag ran. 1 — ,Ich hab keine Angst vor der Arbeit1, antworte ich, ,aber bindet mir die Hände los, mir juckt der Kopf.1 Nachdem sie mir die Hände losgebunden haben, hol ich aus. Und ich hab ’ne schwere Faust, das wißt ihr. ,Ja‘, sagt der Engel, ,hätte mir nicht ein Pferd schon vorher die Zähne ausgeschlagen, dann hättest du das jetzt geschafft. Du hast ja Pferdekräfte.1 Und der Erzengel fügt hinzu: .Wegen Schlägerei weitere drei Tage.1 — ,Erzengel!1 ruf ich, ,laß dir auch eine in die Schnauze hauen, dafür arbeite ich dann noch vier Tage!1 Ich krieg zwar keine Antwort, aber ich höre die 108


Engel mit dem Erzengel tuscheln. Dann kommt einer ran, ich klebe ihm eine, und dabei merke ich, daß er mir seinen Stiefel hingehalten hat. ,Ihr Dummköpfe! 4 sag ich. ,Blinde darf man doch nicht betrügen! Dafür, daß ihr midi betrogen habt, arbeite ich keinen einzigen Tag bei euch!4 Sie stimmen mir zu, und wir reiten weiter. Plötzlich hör idi einen Hund bellen, mir platzt die Geduld, und ich reiß mir die Binde von den Augen. ,Wegen Bruch der Vereinbarung — sieben Tage!4 rufen sie. Und als ich die Binde abgerissen hab, was seh ich? Die Getametscher Felder. Wie Wellen wogen die grünen Saaten im Wind, eine Pracht, daß mir schwindelt. Ich betrachte die Felder und sag: ,Jungs, idi hab nichts dagegen. Ob ich hier mähe oder dort, ist mir egal. Hier krieg ich meine Arbeitseinheiten genausogut wie da.4 Viele gute Sdinitter gibt’s bei ihnen. Der Zootechniker hatte es dauernd darauf abgesehen, mich zu überholen. Am ersten Tag arbeiteten wir um die Wette, aber dann mähten wir ruhiger. Um die Wette zu mähen ist albern. Nette Jungs sind die Getametscher Schnitter, und ich hab mich totgelacht, wie sie mich behandelten. Sie hatten immer eine mit Salz geladene Schrotbüchse schußbereit für den Fall, daß ich Reißaus nehmen würde. Jeder, der eine Verschnaufpause machte, nahm sie zur Hand und ließ mich nicht aus den Augen, als wäre ich ein Gefangener. Und wenn ich ein paar Schritte wegging, um meine Notdurft zu verrichten, dann gaben sie mir einen speziellen Bewacher mit, auch mit Gewehr, der stand in der Nähe und schrie: ,Na, Fritz, immer noch nicht fertig?4 1 0 9


Ja, und noch was: Sie wollen auch unsern Vorsitzenden rauben, er soll ihnen zehn Tage lang ihren Kolchos leiten. ,Habt ihr keine Angst 1, fragte ich, ,daß unser Vorsitzender euch den Auftrag gibt, alle Getametscher Äcker an Antarametsch abzutreten?1 Da lachten sie nur. Nette Leute!“ Zwar kam das nie zur Sprache, aber ich erinnere midi, daß ich eine Zeitlang der Meinung war, siebzig Jahre seien reichlich genug für ein Menschenleben. Warum, so dachte ich, klammern sich die alten Leute an jeden Strohhalm und wollen keineswegs sterben? Doch angesidits der Geschichte von Pawles Entführung sagte ich mir: Siebzig? Das ist zu wenig, Bruderherz, es gibt noch so viele Getametscher auf der Welt, die du nie zu Gesicht gekriegt hast . . .

Eine Kopeke plus eine Kopeke sind eine Million Rubel „Warum bist du im Dorf, Sawen?“ fragte der Vorsitzende. „Weil ich wegen der Schafgeschichte vorgeladen wurde.“ „Was ist das für eine Geschichte?“ „Eine problematische.“ „Nimm deine Hirten und zieh ab in die Berge, dies Problem lös ich allein.“ „Mit Hilfe von Perlonblusen?“ „Sawen! Zweifelst du an mir, Sawen?“ „Das schaffst du nicht!“ „Doch, wenn Rewas schweigt, ist dein Problem schon gelöst.“ 110


„Rewas wird überhaupt nicht mehr gefragt. Er wird höchstens zur Verantwortung gezogen dafür, daß er bisher geschwiegen hat.“ „Ich begreif das alles nicht. Da sind wir, da sind unsere Dörfer, stell dir vor, ich bin Rewas, und mir fehlen gar keine Schafe. Nein, die Gerichtsverhandlung wird zu nichts führen. Man wird den Richter auslachen.“ „Wenn du lachst, wird man dich aus dem Saal weisen.“ „Ich bin auch der Saal und auch der Richter, und wer bist du?“ „Ich?“ Sawen war einen Augenblick verblüfft, dann stellte er sich in Positur und wurde ein ganz anderer. „Ich bin der Mann, der aufpaßt, daß die Fahrzeuge auf dem Fahrdamm bleiben und die Fußgänger auf dem Bürgersteig. Ich bestimme die Fußgängerübergänge und die Höchstgeschwindigkeit für die Fahrzeuge. Überschreitet ein Fußgänger die Grenze des Übergangs, belege ich ihn mit einer Strafe. Überschreitet ein Kraftfahrer die Geschwindigkeitsgrenze, kriegt er ebenfalls eine Strafe. Ich verwalte Archive, kontrolliere Ausweise, ruf euch zur Ordnung, ich bin die leibhaftige Ordnung, verstanden? Ich werde euch das Einmaleins eintrichtern! Kapiert?“ „Moment mal! Ich lerne jetzt nicht rechnen, und ich spreche dir das Recht ab, unsereinem das Einmaleins beizubringen, und auch das Talent dafür spreche ich dir ab. Ich schlachte bei mir daheim einen Hammel, stelle Wein auf den Tisch und lade dich ein. Alle Gläser werden nur auf deine Gesundheit erhoben, denn dir ist es zu verdanken, daß wir heil und gesund sind, weil du die leibhaftige Ordnung bist. Kommen dir dabei nicht vor Rührung die Tränen?“ 111


„Ich betrete dein Haus nicht, weil ich will, daß mein Protokoll auch ein wirkliches Protokoll ist. Meine Tochter geht in die Musikschule, ich hab eine Wohnung im ersten Stock und eine gute Stellung. Zudem ist es mein Wunsch, daß meine Tochter die genannte Musikschule absolviert, ich will eine noch besser eingerichtete Wohnung haben, und auch meine Stellung will ich nicht verlieren, ist dir das klar?“ „Aber du hast Hunger.“ „Wenn ich Hunger hab, kann ich mir im Dorfkonsum Wurst holen.“ „Und da schämst du dich nicht? Wer ißt denn im Dorf gekaufte Wurst?“ „Kaum jemand.“ ,,’ne Schweinerei war das, sonst nichts!“ „Was wiegt am schwersten auf der Welt? Kannst du mir das sagen?“ „Wieso? Von den Metallen?“ „Na, meinetwegen von den Metallen.“ „Blei.“ „Richtig. Aber noch schwerer als Blei wiegt Dankbarkeit. Ich habe in deinem Hause zwei Stücke Fleisch gegessen und zwei Gläser Wein getrunken, und während ich über die Straße gehe, denke ich daran, daß ich in deinem Hause zwei Stücke Fleisch gegessen und zwei Gläser Wein getrunken habe. Dann wasche ich mich im Badehaus und denke daran, daß ich in deinem Hause zwei Stücke Fleisch gegessen und zwei Gläser Wein getrunken habe, dann liege ich neben meiner Frau und denke daran, dann sehe ich Schafe und denke daran, dann sehe ich Fleisch und denke daran, dann sehe ich einen Schafhirten und denke daran, stets und ständig denke ich daran. Schwer wiegt das Gefühl der Dank112


barkeit. Außerdem — hast du das Wort ,Dankbarkeit4 schon jemals getrennt vom Wort ,Undankbarkeit 4 gehört? Siehst du! Diese beiden Begriffe stehen in unlösbarem Zusammenhang. Und was ist Blei im Vergleich zu ihnen? Eine Flaumfeder! Aus diesen Gründen betrete ich dein Haus nicht.44 „Er wird das nicht so kompliziert sehen, Sawen. Du komplizierst die Sache zu sehr.“ „Das werden wir erleben.“ „Natürlich werden wir das erleben, aber du komplizierst die Sache doch zu sehr.“ „Na schön, denk, was du willst.“ „Aber ich hab doch recht. Und zweitens hast du vergessen, daß wir einen General haben.“ „Ein hoher Rang genügt nicht.“ „Wieso? Was willst du außer dem Rang noch mehr?“ „Glaubst du, Biesen und Sterne machen einen General aus?“ „Woraus bestehen sie denn sonst noch, die Generale?“ „Aus Generalsgedanken, Generalsherzen, Generalsgelächter! Zudem — was ist der unsrige schon für ein General! Dem Bedauernswerten rieselt doch schon der Kalk aus der Hose!“ „Wieder komplizierst du die Sache. Was merkt derjenige, mit dem der General telefoniert, von dessen Verstand, dessen Herzen und dessen Verkalkung? ,Ein General will Sie sprechen4, wird man ihm sagen, und daraufhin wird er antworten: ,Ich höre, Genosse General.4 Anschließend wird er dem General darlegen, daß die Hirten, das heißt wir, bestraft werden müssen, doch das wird auf den General nicht den geringsten Eindruck machen. Ein General ist nicht gewohnt, sich mit unwesentlichen Dingen abzugeben, und wenn man 8 Matewosjan/Schelm

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ihm klarzumachen versucht, daß ihm sein Wunsch nicht erfüllt werden kann, wird er nur unbeirrbar antworten: ,Ich gebe Ihnen zwei Tage Zeit zur Erledigung der Angelegenheit! Melden Sie mir die Ausführung. 1“ „Hm!“ meinte Sawen. „Es ist gut, einen allmächtigen Verwandten zu haben, aber auch ein Verwandter erwartet, daß du dich entsprechend erkenntlich zeigst, und bleibst du in seiner Schuld, wird er sehr erstaunt sein. Kurz, auch hier spielen Dankbarkeit und Undankbarkeit eine Rolle. Nein, ich glaub nicht an deinen General.“ „Du philosophierst!“ Der Vorsitzende wurde wütend. „Du verwirrst mich ja vollständig mit deinem Gerede! Hast du, als du andrer Leute Schafe geschlachtet hast, auch so klug dahergeschwatzt?“ „Aha, nun redest du wie der Untersuchungsrichter!“ Sawen lächelte. „Würdest du an meiner Stelle nicht auch philosophieren?“ „Das weiß ich nicht“, erwiderte der Vorsitzende nachdenklich. Dann sagte er plötzlich: „Erstens wird das ganze Dorf den Richter lächerlich machen. Zweitens werden wir den General zu Hilfe rufen. Ja, der General muß ran. Ich fahr gleich mal in die Stadt.“ „Gott schenke dir Erfolg.“ „Warum sollte ich keinen Erfolg haben?“ „Wer weiß.“ Sawen mußte an Jerwand Zarukjan denken, einen entfernten Verwandten seiner Frau, einen Sechziger, der Abteilungsleiter in der Kreisbank war. Zarukjan hatte Glotzaugen; zwischen ihnen und den Brauen bestand keinerlei Zusammenhang, weil die Brauen zu hoch saßen. Die Stirn war niedrig, schief geschnitten, die Brauenbögen standen vor — hart, massiv. Einmal war 114


Sawen zur Bank gegangen, um für den Kolchos Geld abzuholen. Zarukjan hatte lange den Scheck studiert und schließlich erklärt, der Stempel sei undeutlich. „Gibt es in Antarametsch keine Stempelfarbe?“ „Doch.“ „Eben. Und was ist Stempelfarbe? Die billigste Sache von der Welt, eine Flasche kostet acht Kopeken. Und ist demjenigen, der dir dieses Papier gegeben hat, vielleicht unbekannt, wie man Dokumente ausstellt? Ich soll dir doch für den Scheck Geld aushändigen. Bares Geld! Begreifst du das? Was meinst du wohl, was der Revisor sagt, wenn er so einen Scheck bei mir entdeckt. Glaubst du, der lobt mich? Die Leviten wird er mir lesen. Schließlich sind Stempel und Stempelfarbe ausschließlich dazu da, um ein wertloses Stück Papier in ein Dokument zu verwandeln, mein Lieber!“ Eine dermaßen überflüssige Rede hätte selbst in dem größten Faulenzer den Gedanken auf kommen lassen, daß ihn anderweitig unaufschiebbare Geschäfte erwarteten. Sawen trat also mit mißmutigem Gesicht von einem Fuß auf den anderen. „Und wenn man sich bemüht, dir das klarzumachen, dann sei nicht gleich beleidigt! Du verstehst nämlich auch nicht, mit Dokumenten umzugehen. Der Scheck ist an mehreren Stellen eingeknickt.“ „Ich habe Angst, mich zu verspäten.“ „Dann komm morgen wieder.“ „Ich muß aber heute noch ins Dorf zurück.“ „Wenn wir fertig sind, kannst du fahren. Wenn du das hier jedoch nicht als Arbeit ansiehst, dann fahr lieber gleich und schick mir statt dessen einen andern, der es nicht eilig hat und außerdem mit Dokumenten umzugehen weiß.“ 115


„Na gut, ich werde warten, kommen Sie zum Schluß.“ „Außerdem könntest du dich ruhig entschuldigen. Du hast nicht das Recht, mich zu belehren, ich weiß selber, wann ich zum Schluß kommen muß. Seit einundzwanzig, seit dem dreizehnten Juli. ..“ „Schon gut, schon gut, ich bitte um Entschuldigung!“ stieß Sawen hastig hervor, als er sah, wie Zarukjan das Blut ins Gesicht stieg. „Eine solche Entschuldigung brauche ich nicht, du Grünschnabel, und bitte, fuchtle nicht mit den Händen. Ich bin wohl gar noch schuld? Sieh dir mal deinen Scheck an! Dort setzt man doch nicht den Stempel hin. Wir befinden uns in einer staatlichen Dienststelle, hier istkeine Marktbude, deshalb hast du nicht den geringsten Grund, beleidigt zu sein. Ganz abgesehen davon, daß ich dein Vater sein könnte. ,Schon gut, schon gut.. .* “ Als Sawen schon dachte, nun wäre endlich Schluß, ging Zarukjan noch zum Leiter der Bank. „Geld ist immerhin keine Kleinigkeit!“ setzte er Sawen auseinander. Als er zurückkam, zuckte er die Schultern. „Der Chef hat gegen dein Papier nichts einzuwenden. Ich bin ja nur ein kleiner Mann, aber ich habe ihn gewarnt, daß bei einer Revision ...“ Um das Geld zu erhalten — es handelte sich wohl um fünftausend Rubel —, mußte Sawen an fünfzig Stellen seine Unterschrift hinsetzen. „Unterschreib noch mal, tunk die Feder sorgfältiger ein. Unterschreib ebenso wie in deinem Ausweis. Auch den Vornamen mußt du ausschreiben. Zähl das Geld nach. Und wenn man dir sachlich etwas erklärt, dann sei nicht beleidigt, sondern hör zu. Ich weiß, was ich sage, ich bin auch ein Mensch, ich hab auch meine Ge11 6


fühle. Nun zähl schon nach. So, jetzt sind wir quitt. Alles Gute!“ Als Sawen am Stoffgeschäft vorbeikam, fiel ihm ein, daß er einen Brief von seiner Frau an ebendiesen Jerwand Zarukjan bei sich hatte. „Bei den Zarukjans liegt für uns gekaufter Nessel, hol ihn ab und übernachte bei der Gelegenheit dort, dann sparst du das Geld fürs Hotel.“ Sawen entdeckte den Brief in seiner Hemdtasche. Die Tasche war zugeknöpft und vorsichtshalber außerdem mit einer Sicherheitsnadel zugesteckt. „Auf deinen Nessel wirst du noch warten müssen, Frau“, sagte Sawen vor sich hin. „Ich geh nicht zu Zarukjan. Auf diese Weise werde ich das Geld für das Hotel wohl doch nicht sparen können. So eine Verschwendung!“ Da die Bank inzwischen aber geschlossen hatte, mußte Sawen doch zu Zarukjan. Endlich stand er vor dem gesuchten Haus. Ein zweigeschossiges Gebäude, eingezäunt, mit roter Gartentür und einem Hämmerchen statt der Klingel. Warum keine Klingel? überlegte Sawen und erriet: Weil Klingeln elektrisch betrieben werden, und elektrischer Strom kostet Geld. Nach dem ersten Klopfen mit dem Hämmerchen schob im ersten Stock ein kleines Mädchen die Gardine zurück, preßte die Nase an die Scheibe, verzog fragend den Mund und verschwand. Sawen wartete ein Weilchen, aber drinnen blieb es still, niemand kam öffnen. Nach dem zweiten Klopfen schob ein anderes Mädchen, drei, vier Jahre älter als das erste, die Gardine zurück und sah auf ihn hinunter. Er drehte den Brief hin und her, das Mädchen nickte und zeigte auf den Briefkasten. Danach klopfte Sawen lange mit dem Hämmerchen, aber er117


folglos. Schließlich wurde die Gardine wieder zurückgeschoben, und das ältere Mädchen öffnete das Fenster. „Zu wem wollen Sie?“ „Zu Zarukjan.“ „Der wohnt hier.“ „Das weiß ich.“ „Was wünschen Sie?“ „Eine milde Gabe!“ rief Sawen mit Bettlerstimme. Das Mädchen zuckte verständnislos die Schultern und wandte sich ab. Währenddes machte sich Zarukjan im Garten an einem großen Stein zu schaffen. Es war ein glatter Basalt, etwa eine Tonne schwer, auf der einen Seite mit Einkerbungen. „Ach, du bist es, junger Mann! Herzlich willkommen! Was Dienstliches?“ Sawen betrachtete Haus und Garten — alles machte dem Hausherrn Ehre. „Ich habe es mit eigner Hand gebaut. Nur die Mauern hat ein Fachmann hochgezogen, aber auch dabei habe ich die Hälfte gemacht. Sieh her!“ Zarukjan hielt ihm die Handflächen hin. „All das ist mit diesen Händen geschaffen worden.“ Es waren richtige Steinmetzhände — rauh, mit abgebrochenen Nägeln. „Siehst du den Stein dort? Glaubst du, der hat schon immer so ausgesehen? Den hab ich so gemacht. Er war so groß wie das Haus. Den krieg ich auch noch klein!“ erklärte er. „Langsam, aber sicher. Das fördert die Gesundheit, und ich brauch kein Geld dafür auszugeben.“ Er wies auf den Garten. „Meine gesamte Parzelle ist bepflanzt, kein Sternchen lindest du darauf. Früher war hier nichts als Felsen, ich habe ihn mit Humusboden

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bedeckt. Und den Humus hab ich nicht mit dem Lastwagen angefaliren, sondern auf meinem Buckel aus der Nebenstraße hergeschleppt, als dort eine Planierraupe eingesetzt wurde. Sieh dir an, was für Küchenkräuter hier gedeihen, kost mal, genier dich nicht.“ Er bückte sich und pflückte ein winziges Hähnchen ab. „Da, laß es dir schmecken, das macht uns nicht arm. Geiz steht dem Menschen schlecht zu Gesicht. Das bedeutet natürlich nicht, daß man sein Hab und Gut verschenken soll. Schließlich sind wir Arbeitsleute und keine Fürsten. Ich zum Beispiel habe hundert Rubel Gehalt und dreißig Rubel Rente. Bin ja immerhin alter Partisan! Damit will ich sagen, daß jemand, der nicht mit jeder Kopeke spart, kein Arbeitsmann ist, sondern ein Fürst...“ Ich möcht bloß wissen, was du für ein Partisan warst, du Bankratte! Du kannst ja nichts dafür, daß dein Gehirnkasten dermaßen klein ausgefallen ist und zu platzen droht, wenn etwas hineingesteckt wird. In deiner Jugend hast du ein paar Weisheiten erlernt, mit denen jonglierst du nun dein Leben lang herum, nutzt sie bis zum letzten wie ein Bettler den einzigen Rubel, den er besitzt. Kopekenweise hast du dir Respekt zusammengeramscht, so lange, bis die Leute die Kopeken für echtes Geld hielten. Am liebsten würd ich dir das Brecheisen aus der Hand reißen und es dir mit voller Wucht... Aber eher würde wohl das Brecheisen zerkrachen als .. . Du gehörst zu den Menschen, die nur widerstrebend altern. Ihr verliert ein Härchen pro Jahr, behauptet jedoch, kein Haar mehr auf dem Kopf zu haben. Eure Fotos zeigen uns, wie ihr in der Jugend ausgesehen habt: hochgezwirbelter kurzer Schnurrbart, Glotz119


äugen, schiefer Haaransatz und im Mund eine nicht brennende Zigarette: Früher hab ich geraucht, aber jetzt habe ich’s aufgegeben. Ich bin doch nicht mein eigner Feind, ein Feind meiner Gesundheit und meiner Geldbörse! Wenn du so einen bittest, dir für einen Tag zehn Rubel zu leihen, weil du dir beispielsweise einen Mantel kaufen willst, dir jedoch zehn Rubel am Kaufpreis fehlen, dann überlegt er erst eine Weile und erkundigt sich schließlich: „Wozu brauchst du das Geld?“ „Um mir einen Mantel zu kaufen. Achtzig Rubel habe ich beisammen, aber ich brauche neunzig.“ „Der Mantel kostet also neunzig Rubel?“ „Ja. Können Sie mir nicht bis morgen einen Zehner leihen?“ „Was ist mit deinem alten Mantel? Ist er abgetragen?“ „Ja.“ „Wieviel Jahre hast du ihn denn getragen?“ „Fünf, und jetzt will ich einen neuen.“ „Den hast du aber rasch abgetragen.“ „Fünf Jahre!“ „Ich freue midi, daß du achtzig Rubel hast. Es ist immer eine Freude für mich, wenn meine Bekannten so viel Geld besitzen.“ Ein Ausspruch des Präsidenten der Vereinigten Staaten verursacht solchen Leuten mehr Kopfzerbrechen als dem Präsidenten selber. Und während sie sich den Kopf zerbrechen, inspizieren sie ihren Keller, in dem sie für Notzeiten Zündhölzer und Seife verwahren, manchmal auch noch gedörrtes Hammelfleisch, Zwieback, Käse, öl, Mehl. Ja, sogar Bier und Brause.

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Will ihr Neffe heiraten, fragen sie ihn: „Hast du ein Haus?“ „Nein, aber ich soll bald eine Wohnung kriegen.“ „Wie schön! Trotzdem, eine Wohnung ist kein Haus. Mach’s doch anders, stell beim Stadtsowjet einen Antrag, such dir am Stadtrand eine Parzelle, hau dir dort eine Bretterbude und zieh hinein. Dann greifst du jeden Tag nach der Arbeit zum Spaten und tust zwei Spatenstiche. Zwei, mehr nicht. Auf diese Weise baut sich das Haus von ganz allein. Mit Keller, Hof und einem Maulbeerbaum vor der Tür. Ein Eigenheim, mein Junge! Das ist besser als eine Mietwohnung!“ Was essen solche Leute? Im Jahre 1948 verbrauchen sie die Vorräte von 1938, im Jahre 1958 die von 1948. 1968 werden Seife, Öl und Kleidungsstücke von 1958 in Angriff genommen. Ich sage das nicht etwa, weil mich das beunruhigt. Meinetwegen können sie 1966 ruhig das Mehl von 1766 essen. Wohl bekomm’s! Was geht’s midi an? Schlimm ist nur, daß sie als gute Menschen gelten, denn sie begehen keinen schweren Diebstahl, um nicht verhaftet zu werden, sie trinken nicht, um die öffentliche Ordnung nicht zu stören, ihre Kleidung ist weder alt nodi neu, sie grüßen ihre Bekannten mit einem Lächeln, und man wählt sie zum Hausverwalter, denn es sind doch wohlanständige Leute. Ja, das sind sie. Trotzdem bin ich wütend, daß niemand auf den Gedanken kommt, Benzin zu nehmen — keins von 1938 oder 1948, sondern ganz frisches, diesjähriges — und sie zu verbrennen mitsamt ihren Vorratskellern, den naphthalinbestreuten Stickereien, der Seife von 1948, dem Petroleum von 1925 und dem sonstigen Dreck aus ich weiß nicht welchem Jahr! Die dreihundert Meter von Zarukjans Parzelle wa-

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ren in Quadrate eingeteilt und mit Gemüse, allerlei Küchenkräutern und Gurken bestellt. Die Gurken hatten allerdings anfänglich beabsichtigt, eigenwillig auf das Nachbarterritorium hinüberzuranken, doch die Hand ihres Herrn hatte sie rechtzeitig wieder in ihre Quadrate zurückverwiesen. Im Haus war alles mit Farbe gestrichen — vom Ofen bis zum Waschkrug. Die Farbe besagte: Nässe, Holzwürmer und die Zeit fressen alles an, was Wert hat, aber ich werde das verhindern! Zarukjans winziger Kopf, die streng quadratische Aufteilung seines Gemüsegartens, die Farbe und die Gardinen, die knapp die Fenster verdeckten, all das machte den Menschen zu etwas Nichtigem. Natürlich kamen ihm bei diesem Anblick auch so seine Gedanken: Die Sahara ist eine Wüste, dachte er, sonderbar, daß sie sich nicht über die ganze Welt ausgedehnt hat, wirklich verblüffend, daß das noch nicht geschehen ist. Fast war es ihm peinlich, daß es noch Oasen auf der Welt gab, ihm stieg geradezu die Schamröte ins Gesicht. Dann fiel ihm ein: „In Australien gibt es hundertzwanzig Millionen Schafe. Diese sensationelle Zahl...“ Sensationelle Zahl! Schämen sollten sie sich. Nicht genug damit, daß sie das ausgerechnet haben, obendrein schreiben sie noch: diese sen-sa-tio-nel-le Zahl! Eine sensationelle Belanglosigkeit! Eine Belanglosigkeit, die den Erdball trotz seiner unübersehbaren Weite in winzige Flicken zerreißt — hier Gemüse, dort Küchenkräuter, ach, nimm doch dein Schwänzchen von dem Beet da, Gurke! Mein Gott, das ist doch nicht die Erde, das ist höchstens eine Attrappe! Jerwand Zarukjan, Angestellter der Kreisbank, würdiger Besitzer dieser Miniaturattrappenwelt, ging zum 122


Schrank und entnahm ihm eine Zitrone. Eine einzige Zitrone. Sorgsam stocherte er mit dem Messer einen dunklen Fäulnisfleck heraus — gestern war sie noch nicht angefault, hundert Augen müßte man haben, um alles zu überwachen — und schnitt zwei gleichmäßig dünne Scheibchen ab. „Trinken wir einen Tee!“ „Ich hab gehört“, begann Sawen unsicher, „daß man in der Bank manchmal mit den Geldbündeln schummelt, kleine Scheine zwischen die großen schiebt. Stimmt das? Ich zum Beispiel glaube es nicht.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte so spöttisch wie jemand, der sich nicht hereinlegen läßt. „Ist so was üblich bei Ihnen, oder kommt es nur gelegentlich vor? Sie zum Beispiel würden es sich selbstverständlich nicht herausnehmen, aber andere . . E r wußte selbst nicht, woher ihm diese Lügen kamen. „Sie haben sich bloß geirrt, haben das überhaupt nicht beabsichtigt .. .“ Und plötzlich begriff er, daß das wirklich Lüge war, er sprang auf, seine Augen erbleichten und bekamen einen verzweifelten Ausdruck. „Sie schummeln mit den Scheinen! Eignen sich Geld an! Nein, Sie haben sich nicht geirrt, so einer sind Sie nicht! Das ist kein Zufall! Sie betrügen die Leute! Jawohl! Schweigen Sic! Kein Wort!“ „Verzeihung, Verzeihung . . „Halten Sie den Mund!“ Sawen schlug die Hände vor das zuckende Gesicht. „Ich bin hier Herr im Haus! Verstanden? Nicht du!“ „Schluß mit dem Gerede!“ brüllte Sawen aus vollem Halse und rang nach Luft. Danach schwieg er lange. Hin und wieder stieg das Verlangen in ihm auf, einen

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schweren Gegenstand gegen Zarukjans Brauenbögen zu schmettern, und er ballte die Fäuste, daß sie schmerzten. Welcher Esel war auf den Gedanken gekommen, daß man dem Menschen von Kindesbeinen an Respekt gegenüber der älteren Generation anerziehen müsse? Unsinn! Nur gute Menschen sollte man respektieren. Schließlich warf Sawen sich in den Sessel und hielt sich den Kopf. „Sie haben geschummelt, das ist sonnenklar. Sie haben betrogen, auch wenn Sie einen Orden besitzen, darauf kommt es nicht an. Sogar dann, wenn Sie mir alles bis zur letzten Kopeke herausgegeben haben, war es Betrug!“ „Ich hab dich nicht betrogen, hör doch, da mußt du schon entschuldigen. Wahrscheinlich hast du ein paar Hunderter versoffen, und jetzt redest du von Betrug. Hab ich dir in der Bank das Geld vorgezählt? Hab ich. Hab ich dir gesagt, daß du mitzählen sollst? Hab ich auch. Ich hab dich sogar gezwungen, das Geld nachzuzählen! Was ist also los? Komm zur Besinnung, junger Mann! Du hast mich in meinem Haus aufgesucht, und du warst mir willkommen. Hat dich jemand gefragt, weshalb du gekommen bist? Niemand hat ein Wort darüber verloren. Ja, ich habe außerdem meine Arbeit liegenlassen, mich mit dir zusammengesetzt und bewirte dich nun mit Tee und Zitrone. Ich bin ein alter Mann, falle niemandem zur Last und gehe still meiner Arbeit nach. Du irrst dich sehr in mir, das muß ich dir sagen!“ Zarukjan musterte den in sich zusammengesunkenen Sawen, der weiterhin „Betrug! Betrug!“ vor sich hin murmelte, ging zum Telefon und rief die Miliz an. Dem 124


kurz darauf erscheinenden Milizionär erzählte er von dem Basalt und den Zitronenscheiben, von seinem Dienstalter und von weiß der Teufel was. Dann zog er eine Schreibtischlade heraus und stellte sie auf den Tisch. „Bitte, hier ist mein Arbeitsbuch. Sehen Sie, ich arbeite seit der Periode der Naturalsteuern. Damals war dieser Genosse überhaupt noch nicht auf der Welt! Und bevor er zur Welt kam, hat unsereins schon gegen die Kulaken gekämpft.“ Dann zeigte er seine Medaille vor — eine der Medaillen, die nach dem Kriege verliehen wurden. Jeder volljährige Antarametscher hatte seinerzeit gleich zwei solcher Auszeichnungen erhalten. „Ich hab gegen die Faschisten gekämpft, Genosse Milizionär, und er sagt. . .“ Eine halbe Stunde lang schleppte der Jammerlappen aus sämtlichen Ecken Beweise seiner Makellosigkeit herbei — so viele, daß nicht nur der Milizionär, sondern auch Sawen von Respekt durchdrungen wurden. Die Beweise waren: eine Ehrenurkunde, ein Zeitungsartikel mit seinem rot unterstrichenen Namen, eine Bescheinigung darüber, daß sein Sohn bei der Arbeit einen Nervenzusammenbruch bekommen hatte, ein Belobigungsschreiben der Tochter anläßlich ihrer Versetzung in die dritte Klasse, ein Dankschreiben des Bankdirektors, ein Gewerkschaftsbuch mit eingeklebten Beitragsmarken, ein zweites Gewerkschaftsbuch und noch weitere vier Mitgliedsbücher, von vorn bis hinten vollgestempelt und vollgeklebt, sowie ein Bügeleisen und ein Teekessel mit eingraviertem Namenszug, Geschenke der Gewerkschaft anläßlich seines vierzigsten Geburtstages. 125


Zarukjan versäumte auch nicht, ihnen die bezahlten Telefon- und Wasserrechnungen unter die Nase zu halten. „Sehen Sie hier, ich bezahle immer pünktlich, auf den Tag genau.“ Dann rief er seine Frau. „Tagui, wer hat das Buch über den General weggenommen?“ Das Buch enthielt ein Gruppenbild — der General als Kind mit seinen Mitschülern. „Wir sind zusammen zur Schule gegangen und waren befreundet. Ich redete ihn mit,Sascha 4 an, und er sagte ,Jerwand-dshan‘ — ,lieber Jcrwand4 — zu mir. Das da ist der Genosse General, und das hier bin ich.“ Zu guter Letzt entschuldigte Sawen Kotscharjan sich bei Jerwand Zarukjan, erhielt von ihm mehrere Ratschläge aus dem Schatz seiner Lebenserfahrung und stieg, ohne sich umzublicken, die Holztreppe hinunter, die mit einer dicken roten Farbsdiiclit bedeckt war. Die Stufen waren so schmal und glatt, daß die Füße keinen Halt fanden und ausglitten, so daß Sawen auf der teuflischen Treppe wiederholt in die Hocke gehen mußte. Und in diesem Augenblick glühte sein Herz vor Liebe zu den majestätischen Antarametscher Bergen mit ihren unerwarteten Abgründen, den plötzlich herabrauschenden Regengüssen und den blitzschnellen Sonnenaufgängen. ►

„Na, nun erzähl mal, mein Lieber, wie ist denn das gekommen, daß du mit dieser Getametscher Schlampe .. . Du brauchst gar nicht rot zu werden. Daß du mit dieser Getametscher Schlampe gesehen worden bist!“ Sarik verschränkte die Arme vor der Brust und verlangte hämisch lächelnd Antwort. „Nun sprich doch!“ „Laß mich in Ruhe.“

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„Natürlich, mein Minister ist schlechter Laune. Ich möchte bloß wissen, wann der mal gute Laune hat.“ „Was willst du eigentlich von mir?“ „Schluß mit diesem Theater! Mir reicht’s!“ Sarik wischte sich das Lächeln vom Gesicht und rückte drohend auf ihn los. „Mit wem bist du heute den Berg heruntergekommen?“ „Ach, laß mich in Frieden“, brummte Sawen. „Nein, das wirst du mir sagen, mein Lieber.“ „Wovon redest du überhaupt?“ „Soll ich dir vielleicht von deinem eignen Techtelmechtel berichten?“ „Was für ein Techtelmechtel? Was hast du eigentlich?“ „Wenn ich dich mit deinem Köter sitzenlasse, dann wirst du schon merken, was ich hab! Und zwar gründlich!“ „Hör auf, Sarik, mir ist sowieso zum Kotzen zumute.“ „Mit wem bist du den Berg heruntergekommen? Sag die Wahrheit.“ „Mit einer Getametscher Melkerin.“ „Wie heißt sie?“ „Weiß ich nicht.“ „So, das weißt du nicht? Das weißt du wirklich nicht? Aber was andres, das weißt du.“ „Sie hat sich mir angeschlossen.“ „Und den Namen Paizar kennst du nicht?“ „Stimmt, Paizar heißt sie.“ „Na, und weiter?“ „Was denn noch?“ „Das weißt du selbst am besten. Was fragst du mich danach? Da hockt man zu Hause und wäscht von früh bis spät für dich und deine Brut... Bin ich vielleicht noch eine Frau? Eine Sklavin bin ich!“ 127


„Ich hau dir gleich eine runter, Sarik!“ „Natürlich, so behandelt man Sklaven. Man bepackt sie wie Lastesel, und dann verprügelt man sie.“ „Ich kleb dir wirklich gleich eine, Sarik!“ „Ich glaub’s, dazu bist du durchaus auch noch imstande.“ „Du bringst ja jeden soweit.“ „Paizar ist eine Schlampe.“ „Sie ist ebenso eine Frau wie du. Wieso ist sie eine Schlampe?“ „Du vergiltst Gutes mit Gutem, das merk ich.“ „Ich versteh dich nicht.“ „Paizar ist eine Hure.“ „Zugegeben.“ „Und die hast du auf dein Pferd gesetzt?“ „Ja, das hab ich. Wäre es besser gewesen, wenn ich geritten und sie als Frau nebenher gegangen wäre?“ „Ist sie eine Frau?“ „Eine Schlampe ist sie. Aber der Fuß tat ihr weh, und mir tat er nicht weh, deshalb ist sie geritten, und ich bin gelaufen.“ „Und weiter?“ „Weiter weiß ich nichts, weiter kannst du erzählen.“ Sawen gähnte. „Du Schamloser, schmachtest noch nach ihr. Pfui!“ „Du kriegst gleich eine Tracht Prügel, Sarik.“ „Schlag midi doch! Hau zu! Worauf wartest du noch? Soll ich noch mal ausspucken? Pfui!“ „Du bist überhaupt keine Frau. Ich weiß nicht, was du bist!“ „Ich schmeiß dir das Kind ins Gesicht und geh, dann wirst du merken, ob ich eine Frau bin oder nicht!“ „Gleich platzt mir die Geduld, dann kriegst du doch

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noch Prügel, Sarik, das sag ich dir.“ Und damit das nicht wirklich passierte, verließ Sawen die Stube. An der Schwelle schleuderte er den Hund mit einem Fußtritt beiseite. Was ist das bloß für ein Leben, überall nichts als Bürokratismus! Er drehte sich zu seiner Frau um. „Noch ein Wort, Sarik, dann kannst du was erleben! Ich verpaß dir einen Denkzettel, den du nicht vergißt.“ Plötzlich sank er in sich zusammen, zog den Kopf zwischen die Schultern und brach in Tränen aus. „Was seid ihr bloß für Menschen? Was macht ihr? Benehmt euch doch als Menschen! Ich hab euch doch nichts getan! Zwölf Monate im Jahr schufte ich, was wollt ihr noch von mir?“ Mäunertränen verlacht man. Ein weinender Mann erweckt kein Mitgefühl, denn ein Mann ist kein Kind und keine Frau. Und er kann auch gar nicht richtig weinen. Bellende Laute stößt er aus, das ist alles. Dann beruhigt er sich, starrt an die Zimmerdecke und schlummert langsam ein. Er hat harte Stoppeln im Gesicht, sein Atem riecht nach Tabak, die breite Brust hebt sich gleichmäßig, er hat nichts an sich, das Erbarmen und Mitleid hervorrufen könnte. Du deckst ihn nicht einmal zu, obgleich er sich doch erkälten könnte. Du bist nur froh, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mit Paizar hatte. Na, Gott sei Dank! „Steh auf, Sawen, Pawle ist verprügelt worden.“ „Von wem?“ „Vom Untersuchungsrichter.“ „Von was für einem Untersuchungsrichter?“ „Vom Untersuchungsrichter.“ Pawle war verprügelt worden. Na und? Viele Leute 9 Matewosjan/Schelm

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kriegen Prügel. Das ist heutzutage keine Tragödie mehr. Doch als Pawle sich vom Boden erhob, sich zu seiner ganzen Länge aufrichtete und den Leutnant gewahrte, dessen Kopf ihm kaum bis zur Brust reichte, brach er in Tränen aus. Der Leutnant hatte einen dünnen Hals und dünne Arme, er war überhaupt so dünn, daß er umknicken würde, wenn man ihn anpustete. Aber dennoch hatte er Pawle kurzerhand verprügelt. Viele Leute kriegen heutzutage Prügel, aber daß ein Schwacher einen Starken verprügelt, das gleicht wohl wirklich einer Tragödie. Sind noch irgendwelche Unklarheiten vorhanden? Einen Hammel zu schlachten ist selbstverständlich kein Verbrechen. Es sollte dir bekannt sein, daß es der Daseinszweck eines Hammels ist, geschlachtet zu werden. Aber wenn du einen Hammel geschlachtet hast, der nicht dein gesetzliches Eigentum war, dann muß ich schon um Verständnis bitten. Ich bin nämlich Untersuchungsrichter und habe einen Diebstahl aufgedeckt, deshalb gehört es sich jetzt, daß ich Fragen stelle und du sie mit Ja beantwortest. Das ist alles. Nein, das ist nicht alles! Ich war fünf Jahre lang beim Militär. Wenn man mir befahl: „Hinlegen!“, dann hab ich mich hingeworfen, wenn man mir befahl: „Robben!“, dann bin ich gerobbt, wenn man mir befahl: „Höher das Bein!“, dann hab ich das Bein höher geschwenkt. Und jetzt willst du, daß ich fünf Jahre unter Bewachung lebe? Daraus wird nichts. Das erreichst du nicht, eher besiehst du dir deinen eigenen Nacken! Du kannst mir mit deinem Rewas und all seinen Schafen gestohlen bleiben! Ich bin nicht mehr Pawle! Ich hab keine Ahnung von Schafen. Schafe? Was ist das? Nie gehört. Du solltest lieber zusehn, daß

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du hier mit heiler Haut rauskommst. Die Mauern des Dorfsowjets hat Pawle gebaut, ist dir das bekannt? Draußen auf dem Eckstein hat er eigenhändig „PAWLE“ eingemeißelt. Und in die Bank hier, sieh her, hat er mit dem Messer „PAWLE“ eingeritzt und darunter „ISCHCHAN“. Und ein anderer, nämlich Sawen, hat vor „PAWLE“ das Wort „MAJOR“ eingeritzt. Einmal hat sich Pawle an der Bank die Hosen zerrissen, an einem Nagel ist er hängengeblieben, und da hat Pawle einen Stein genommen und den Nagel tiefer hineingetrieben. Dies hier ist alles Antarametsch, verstanden? Dies ist Pawles Zuhause, und hier kommst du mit deinem Verhör nicht durch, das merk dir. Und überhaupt, versuch nicht, mich einzuschüchtern, ich bin kein Angsthase! „Ich hab keine Ahnung von diesen Schafen.“ „Wirklich nicht?“ „Nein, wirklich nicht.“ „Ganz bestimmt nicht?“ „Nein! Brüll mich nicht so an!“ „Aufstehn! Sofort!“ Alle wußten, daß der Untersuchungsrichter Hunger hatte, aber keiner lud ihn zum Mittagessen ein. Verstohlen wie ein Dieb verließ er das Dorf. Bidsa heißt auf deutsch „der Uralte“. Und Bidsa Stepan ist einmalig auf der Welt, den gibt es nicht zum zweitenmal. Schon seit zwanzig Jahren sagen die Leute, daß Bidsa Stepan im achten Jahrzehnt sei. Die Jahre vergehen, aber er ist immer noch im achten Jahrzehnt. Es ist zu vermuten, daß er einstmals vierzig war und später fünfzig, doch das ist schon Gott weiß wie lange her, mindestens zwanzig bis dreißig Jahre. Nach seiner 131


eigenen Aussage war er seinerzeit stark und kühn und ging sogar mit dem Knüppel auf einen Bären los. Er verwalkte den Bären und ließ ihn dann laufen. Der Bär nahm in Windeseile Reißaus, Bidsa Stepan lachte ihm aus vollem Halse nach und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Antarametscher behaupteten jedoch, daß niemand Bidsa Stepan je als jungen Mann gekannt habe, „sein Leben lang ist er ein siebzigjähriger Aufschneider, und den Bären hat er vermutlich im Traum verwalkt“. Aber was man auch im Dorf reden mochte, Bidsa Stepan erzählte gelegentlich doch unterhaltsame Geschichten. „Damals, zu Lebzeiten von Owanes Tumanjan, pflegten uns aserbaidshanische Bekannte regelmäßig Granatäpfel und Mehl zu bringen, und wir gaben ihnen dafür Honig und Kartoffeln. Als dann die Armenier und Aserbaidshaner Streit miteinander bekamen, brachten sie uns trotzdem weiterhin Granatäpfel und Mehl, und wir bezahlten wie immer mit Kartoffeln und Honig. Doch dann sah ich, daß mein Vater um den Mehlsack herumging und ihn von allen Seiten musterte. ,Wenn du Brot daraus bäckst, gib den Kindern nichts davon, bevor ich es nicht selbst gekostet habe 4, sagte er zu meiner Mutter. Als das Brot dann gebacken war, wagte er es nicht zu kosten, sondern warf dem Hund ein Stück hin und wartete ab, ob der Hund verrecken würde. Drei Tage wartete er. Und ich sah, daß der Aserbaidshaner ebenfalls herumdruckste und unseren Honig nicht nehmen mochte. ,Gebt mir diesmal nur Kartoffeln4, sagte er. So lebten wir, anscheinend friedlich, aber in Wirklichkeit unruhig. Ich erinnere mich, wie ich einmal mit 132


einem aserbaidshanischen Hirtenjungen in den Bergen j Bis spielte, das ist ein Messerwurfspiel. Plötzlich sah ich, daß dem Aserbaidshaner die Hände zitterten. Ich 1 biß mir in den Finger. Na, dachte ich, das kommt nicht von ungefähr, sei auf der Hut, Stepan. Dabei merkte ich, daß auch mir die Hände zitterten. Egal, dachte ich, ich gewinne bestimmt, und wenn er sich bückt, um sein Messer aus der Erde zu ziehen, versetz ich ihm eins mit meinem Messer. Er hatte offenkundig den gleichen Gedanken, denn plötzlich stieß er das Messer in die Erde, ohne das Ende des Spiels abzuwarten, und befahl: ,Zieh’s raus!4 — ,Aber vorher mußt du erst fertigspie[ len!4 sagte ich zu ihm. ,Bin ich denn noch nicht fertig? 4 ;՛ fragte er. — ,Nein4, antwortete ich. — ,Und wo hab ich i aufgehört?4 fragte er. — ,Das mußt du doch am besten 4 4 ( wissen , sagte ich. Und er:,Sicher beim Drsaptuit. I: Beim Drsaptuit konnte er nämlich ausholen und das [ Messer nicht in die Erde bohren, sondern mir direkt in I den Leib. Der Drsaptuit ist eine gefährliche Sadie.

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ji ,Nein4, widersprach ich, ,du hast beim Nersaptuit auf; gehört.4 Merkt ihr was? Der Nersaptuit ist ein Wurf, I bei dem man sich leicht selber verwunden kann, das f passiert häufig. ,Beim Nersaptuit hast du aufgehört. 4 — f ,Nein, beim Drsaptuit!4 behauptete er. Aber ich hatte j; recht, und Spiel ist Spiel. Er warf also den Nersaptuit und verletzte sich dabei den Kopf. Das Blut rann ihm aus der Wunde, und kläglich fragte er mich: ,Wo warst du stehengeblieben?4 Ich hatte eigentlich schon gewonnen, aber als ich das Blut sah, bekam ich Mitleid mit ' ihm. ,Auch beim Nersaptuit! 4 sagte ich. Da wurde er wütend, wohl am meisten auf sich selber, und sagte: ,Nein, den Nersaptuit hast du schon hinter dir.4 — I ,Weißt du was, Bruderherz4, setzte ich ihm auseinander,


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,wir kommen ohne euer Mehl nicht aus, und ihr könnt nicht ohne unsere Kartoffeln leben, deshalb streite lieber nicht mit mir.‘ Kurz, ich warf den Nersaptuit und verletzte mich gleichfalls am Kopf. Und wie! Es tat so weh, daß mir die Tränen kamen. Als er sah, daß ich weinte, genierte er sich nicht und weinte auch. Schließlich verband er mich und ich ihn. Damals gab’s noch kein Jod oder ähnliches, wir pißten auf den Boden, nahmen eine Handvoll von der nassen Erde und klebten uns gegenseitig die Wunden zu. Dann trieben wir unsere Lämmer weg, er nach der einen Seite und ich nach der andern. Aber Geduld, das ist noch nicht alles. Vor gar nicht so langer Zeit war ich mit Honig zu den Aserbaidshanern unterwegs, den wollte ich gegen Granatäpfel eintauschen. Ich hatte ihn auf einen Maulesel geladen. Da kam mir ein Aserbaidshaner entgegen, auch mit einem Maulesel. Ich nahm die Papacha ab und grüßte, und er nahm die Papacha ab und grüßte. Er hatte ’ne Glatze und ich auch, er hatte eine alte Narbe auf dem Schädel und ich ebenfalls. Da erkannten wir uns. Er wollte Granatäpfel zu uns ins Dorf bringen. ,Na?‘ fragte ich, ,Drsaptuit oder Nersaptuit? Und wo sind deine Haare? 4 — ,Und deine?4 parierte er. ,Wo sind die?4 — ,Ja4, sagte ich, ,die Zeit vergeht, aber die Narbe ist dir geblieben.4 — ,Dir auch!4 antwortete er. - ,Eine Narbe ist nicht so schlimm! 4 sagte ich. — ,Das ist wahr4, antwortete er, ,Hauptsache, der Kopf sitzt auf den Schultern, ob man ’ne Glatze oder ’ne Narbe hat, ist unwichtig.4 ֊ ,Richtig!4 sagte ich, ,und wir sind heilfroh über unsern Kopf, er leistet uns noch gute Dienste, die Narbe stört ihn nicht dabei und die Glatze auch nicht.4 Wir standen ein Weilchen beisammen, un-

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terhielten uns, gedachten der alten Zeiten, und uns wurde schwer ums Herz. Dann trennten wir uns, er brachte meinen Honig auf meinem Maulesel in seine Berge, und ich trieb seinen Maulesel mit den Granatäpfeln zu mir ins Dorf. Als bei uns der Kolchos gegründet wurde, trat ich ein und arbeitete zwei Tage wie die andern. Aber Abgar, der Vorsitzende, war unzufrieden mit mir, das sah ich wohl. ,Du arbeitest nicht, du schwatzt bloß und hältst die Leute von der Arbeit ab.‘ — ,Na gut 4, sagte ich, ,ich brauch euren Kolchos nicht, wenn’s so ist, dann geh ich und lenk dir weiter keinen ab. 4 Und ich ging zu unsrer alten Wiese Gras mähen. Ich mähte und mähte, und gegen Mittag sah ich den sich im Sattel wiegenden Abgar auf mich zureiten. ,Bleib da. Abgar!4 schrie ich ihm entgegen. Aber er scherte sich nicht darum. Ich packte die Sense. ,Bleib mir vom Halse, Abgar, sonst mäh ich dir den Kopf ah! Bring mich nicht in die Sünde, ich hab neun Kinder daheim, hab wenigstens mit denen Erbarmen, Abgar. Willst du, daß man mich ins Gefängnis steckt? Hab Mitleid mit meinen Kindern, komm nicht näher, du erbarmungsloser Kerl, ich bitte dich im Guten. Du verlierst deinen Kopf, Abgar, ich garantiere für nichts! Hast du denn kein Gewissen? Willst du mich unbedingt zum Mörder machen? Wie du willst, Abgar, wie du willst! Aber ich hack dir die Rübe ab, mag kommen, was will, ich hack sie dir ab, jetzt gleich.4 Dabei holte ich mit der Sense aus, aber er tat, als hörte er nicht. Als er dann bei mir angelangt war, schmiß ich die Sense weg, zerrte ihn vom Pferd, warf mich auf ihn und schrie: ,Jetzt erwürg ich dich, ohne Erbarmen!4 Und würgte ihn. Ich würgte und würgte, so stark ich konnte. Und ich sah, daß mein Abgar immer

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schwächer wurde, schon fast den Geist aufgab. ,lst es das, was du wolltest, Abgar? Du hist selbst schuld! 4 In diesem Augenblick fiel etwas Rotes ins Gras, ich sah hin - es war Abgars rotes Mitgliedsbuch. Die Knie wurden mir weich vor Angst. Ich wälzte Abgar auf den Rücken, beugte mich über ihn und flehte: ,Jetzt würg du mich. Abgar, würg mich, mein Lieber, so stark du kannst, das hab ich verdient, ich Hundesohn, bloß sag im Dorf nichts davon! 4 Und da fing er an, mich zu würgen, auch ohne Erbarmen. Bald merkte ich, daß es schlecht um midi stand, und ich dachte: Idi muß die Fäuste gebrauchen! Ich prügelte auf ihn ein, obgleich das ziemlich beschwerlidi war. Er saß nämlich rittlings auf mir. Da beruhigte er sich allmählich und ritt davon. Und Dank sei ihm, im Dorf hat er nichts davon erzählt.44 „Sagt er die Wahrheit, Abgar?“ Der allererste Vorsitzende des Dorfes und jetzige Tennenwächter lächelte vor sich hin. „Faktisch sagt er die Wahrheit, aber in Wirklichkeit ist es Schwindel.“ „Faktisch die Wahrheit und in Wirklichkeit Schwindel?“ Bidsa Stepan zuckte die Schultern. „Das verstehst du nicht, Stepan. Natürlich hast du midi gewürgt, beruhige dich, aber darum geht’s nicht.“ Abgar wandte sich an seine Zuhörer. „Die Sadie ist die, daß ich damals vierzig, Stepan aber siebzig war, genau wie heute. Und niemand wird bestreiten, daß jeder Vierzigjährige mühelos einen Siebzigjährigen besiegen oder, wie Stepan sich ausdrückt, würgen kann. Verprügeln mochte idi ihn nicht, denn es sdiidtt sich nicht. Siebzigjährige audi nur mit Worten zu kränken, geschweige denn, sie zu schlagen. Man schämt sich ohne-

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hin schon vor den alten Leutchen, weil man erst vierzig ist. Es ist das gleiche, als stände man nudelsatt vor seinem hungrigen Nachbarn.“ Abgar zündete sich eine Zigarette an und fuhr fort: „Moment noch, hört zu. Ihr müßt in Betracht ziehen, daß ich in der Partei war und Stepan nicht, daß ich zur Obrigkeit gehörte und er nicht. Und wenn nun ich, vierzigjährig und Genosse, einen siebzigjährigen Parteilosen gewürgt hätte, wie Stepan sagt, hätt’s Stepan da nicht vor Kränkung das Herz zerrissen? Das hätte es, Tatsache! Deshalb ließ ich auch zu, daß er mich ein wenig würgte. Er sollte sich nicht so gekränkt fühlen.“ „Faktisch war’s so, und in Wirklichkeit war’s auch so!“ bestätigte Bidsa Stepan. Ohne Rüdesicht darauf, daß gerade besonders viel zu tun und die Schafschurin vollemGange war, wurden die Hirten schließlich doch verhaftet. Der Vorsitzende fuhr in die Hauptstadt, um den General um Hilfe zu bitten. „Was Neues im Dorf?“ fragte der General. „Von unsern Leuten sind welche verhaftet worden, gleich vier auf einmal, das ist die letzte Neuigkeit. Du mußt bei der entsprechenden Stelle anrufen, das ist unsere einzige Rettung.“ „Aha! Erinnerst du didi, wie wir einmal Gurken geklaut haben?“ Der General bog sich vor Lachen. „Und weißt du noch, wie der Wächter auf uns schoß? Und wie er mir mit seinem Salz die Hinterbacken versengte? Auch meine Hose ging dabei in Fetzen. Und daheim kriegte ich von Mutter zusätzlich eine Tracht Prügel. Das waren die Gurken!“ Der General wandte sich nach seiner Frau um und setzte zu einem langen Bericht über die Gurken und seine Mutter an.

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„Eine prächtige Frau war das“, sagte der Vorsitzende, „behalten wir sie in gutem Andenken. Nämlich, Genosse General, die Jungs, die wurden ohne jeden Grund verhaftet.“ „Und erinnerst du dich“, der General wandte sich wieder dem Vorsitzenden zu, „wie wir beide einmal unterm Wasserfall gebadet haben? Wie heißt doch 4 ,Wasserfall bei euch? Tschyrtschyr? Ja, ja, Tschyrtschyr! Erinnerst du dich, wie wir unterm Tschyrtschyr gebadet haben? Das Wasser schäumte, riß uns um, aber dennoch wateten wir hinein. Ach, der Tschyrtschyr, der Tschyrtschyr! Was macht unser Tschyrtschyr?“ „Der Tschyrtschyr?“ sagte der Vorsitzende. „Die Hirten baden die Schafe darin, weil das Wasser so klar ist. Du erinnerst dich an alles, ich habe schon vieles vergessen. Die Jungs, Genosse General, wurden ohne jeden Grund verhaftet.“ „Und einmal“, sagte der General, „haben wir im Wald ein Ferkel geschlachtet, erinnerst du dich? Wir bekamen Hunger, hatten aber nichts zu essen, da schlachteten wir ein Ferkel und verspeisten es. Ich weiß nicht mehr, wem es gehörte. Ohne Salz, kannst du dir das vorstellen?“ fragte er seine Frau. „Ganz ohne Salz haben wir es gegessen. Wir hatten ja keins.“ „Ja, ja“, bestätigte der Vorsitzende eifrig, „so war das auch hei den Jungs, sie bekamen Hunger und schlachteten deshalb ein Schaf. Und dafür sollen sie nun . . .“ „Wer hat damals noch von dem Ferkel gegessen?“ Der General hing weiter seinen Erinnerungen nach. „Ach ja, Awak! Er besaß zu jener Zeit einen Borch, der Wölfe angriff. Was macht der Borch jetzt?“ „An den Borch kann ich mich nicht erinnern“, sagte

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der Vorsitzende, „das ist schon zu lange her. Vermutlich hat man ihn geschlachtet. Aber Awak ist verhaftet worden.“ „Warum?“ „Nicht nur Awak, sondern noch drei Mann, insgesamt vier. Sie haben ein paar Schafe geschlachtet, Rewas’ Schafe. Rewas selber hat sich überhaupt nicht beschwert, aber die Jungs wurden trotzdem verhaftet. Zudem ausgerechnet zu dieser Jahreszeit! Erinnerst du dich, Genosse General, wieviel Arbeit wir jetzt haben? Und einen von unsern Jungs hat der Untersuchungsrichter obendrein verprügelt. Ich hab mich über den Untersuchungsrichter beschwert, aber das wurde mit der Feststellung abgetan:,Jedes Verbrechen zieht seine Strafe nach sich.‘ Das ist natürlich richtig, aber es hat doch niemand ein Verbrechen begangen. Nicht wahr, Genosse General?“ „Schlimm, schlimm“, murmelte der General und ging ans Telefon. Während er schon nach dem Hörer griff, erkundigte er sich plötzlich? „Hat Awak eigentlich noch die Hose? Ich meine, was für eine Hose trägt Awak?“ „Eine ganz gewöhnliche, Genosse General. Was für eine soll er denn tragen?“ „Folglich ist die schon hinüber, die ich ihm mal geschenkt hab.“ Und der General berichtete seiner Frau und dem Vorsitzenden, daß Awak nach dem Krieg geradezu ohne Hose herumgelaufen sei und daß er, der General, ihm eine von seinen gegeben hätte. „Da hat Awak also meine Hose schon kaputtgekriegt.“ „Nicht ganz, Genosse General, aber die Schwiegertochter hat ihm eine neue genäht. Und deine hat Awak weiterverschenkt an einen gewissen Pawle, der auch in unseren Dorf wohnt. Als Pawle deine Hose trug, wurde 139


er ,Major4 getauft. Jetzt sitzt dieser Pawle in deiner Hose im Knast, Genosse General.“ „Moment, wie war das? War ich zu jener Zeit nicht schon Oberstleutnant?“ „Was wiegt am schwersten auf der Welt?“ „Wieso? Von den Metallen?“ „Ja, meinetwegen von den Metallen.“ „Blei.“ „Richtig. Aber noch schwerer als Blei wiegt Dankbarkeit.“ „Am allerschwersten, mein lieber Sawen, von den Metallen und überhaupt, wiegt die Hose eines Oberstleutnants.“ „Worüber sprachen wir gerade?“ überlegte der General laut. „Ach ja, von Awaks Borch. Den habt ihr geschlachtet, sagst du? Schade, es war ein prächtiges Tier. Solche Borche müssen gut gefüttert und dann auf Wölfe angesetzt werden. Wäre ich in Antarametsch, dann hätte ich nicht zugelassen, daß er geschlachtet wurde. So lange Hauer hatte er!“ Der General zeigte seiner Frau, wie lang die Hauer des geschlachteten Borchs waren. „Und krumm wie Türkendolche!“ Der Teufel soll dich holen, General! Kann ich dich wirklich nicht zum Telefonieren bringen? dachte der Vorsitzende und nahm sich die Frau des Generals vor. „Ja, Hauer hatte er wie das Messer hier. Und stellen Sie sich vor, jetzt sitzt der Besitzer dieses Borchs zusammen mit drei andern im Gefängnis.“ „Interessant!“ Die Generalin lächelte, und in dem Gefühl, daß das eine Wort nicht ausreichte, erkundigte sie sich gleichgültig: „Und was ist ein Borch?“

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„Ein Borch?“ Der General schüttelte sich fünf Minuten lang vor Lachen, dann stieß er, immer noch lachend, hervor: „Der Borch ist der Onkel, hahaha, der Kuh, wie der Bulle der Mann der Kuh, hahaha, und das Schaf die Tante vom Ziegenbock ist.“ In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Während der General den Hörer abnahm, sagte er noch: „Bitte, sich zu merken, daß der Borch der Onkel der Kuh ist, hahaha!“ Dann sagte er, nein, sie würden am Abend nicht fortgehen, sie würden zu Hause sein. „Genosse General. ..“ „Es handelt sich also um einen Diebstahl?“ „Ja, freilich. Aber das war gar kein richtiger Diebstahl, Genosse General. Was für Diebstähle kann es bei uns schon geben, du kennst doch unsere Leute.“ Der General brach wieder in Gelächter aus, in das gutmütige Gelächter des Satten. „Ich kenn unsere Leute genau, sie verzehren einen Ochsen und sagen dann: ,Ja, wir haben ihn aufgegessen, na und? Was macht ihr deswegen so ein Theater?1 “ „Stimmt, Genosse General.“ „Ich sage doch, daß ich unsere Leute kenne. Die verspeisen einen ganzen Büffel, ohne mit der Wimper zu zucken. ,Ja, wir haben ihn verdrückt! 4 sagen sie bloß. ,Na und?4“ „Da hast du genau ins Schwarze getroffen, Genosse General!“ Der Vorsitzende lachte. „Sie verdrücken einen Büffel, ohne mit der Wimper zu zucken.“ „Das sag ich ja, die würden einen Traktor runterschlingen, ehe man piep sagen kann. Gute Leute haben wir bei uns im Dorf! Die verändern sich nie, die bleiben sich immer gleich.“ „Wo denkst du hin, Genosse General, die haben vor 141


lauter Arbeit keine Zeit, sieb zu verändern! In diesem Jahr, Genosse General, hat der Kolchos dreißig Zentner Getreide pro Hektar erzielt, von hundert Schafen hundertzwanzig Lämmer erhalten und von jedem Apfelbaum eine halbe Tonne Äpfel geerntet, vom Honig ganz zu schweigen. Außerdem, Genosse General, welches Dorf hat sonst noch seinen eigenen General, das ist doch unser Stolz! Na, hin und wieder denken wir auch mit einem Schaschlyk an Sie. Ein Dorf, das seinen eigenen General hat, braucht sich doch nicht vor Unannehmlichkeiten wegen drei, vier lächerlichen Schafen zu fürchten, nicht wahr?“ „Tja-a-a . . m a c h t e der General gedehnt, gähnte und brummte etwas vor sich hin. „Was haben Sie gesagt, Genosse General? Ich hab nicht verstanden.“ Der Vorsitzende rückte näher zum General. Der General klopfte sich auf den Mund. „Ich hab gesagt, daß das eine häßliche Sache ist. Wußtet ihr nicht, daß man fremder Leute Hammel nicht abschlachten darf?“ Diese Bemerkung machte den Vorsitzenden sehr traurig. Er fand sich sogar damit ab, daß die Hirten

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unter Umständen zwei Jahre absitzen müßten, ja, diese Aussicht kam ihm nicht mehr betrüblich, sondern geradezu angenehm vor. Er nahm seine Mütze, der General begleitete ihn zur Tür und sagte zum Abschied: „Wenn ihr in die Stadt kommt, dann immer auf dem schnellsten Wege zu uns, geniert euch nicht. Ihr seht doch, mit Sophie Grigorjewna kann ich unmöglich über unser Dorf reden. Kommt auf einen Plausch zu uns. Und der Borch“ — der General gähnte — „ist der Vetter der Kuh, Mademoiselle Sophie.“ Das war keine Gerichtsverhandlung, sondern ein Dauergelächter. Anfangs saßen nur wenige Leute auf den Zuschauerbänken, aber diese wenigen gaben derart donnernde Lachsalven von sich, daß die heimkehrenden Kinobesucher nachzusehen beschlossen, was im Gerichtssaal los war. Na, und dann hatten sie ihren Spaß! Ganz Antarametsch war urplötzlich verblödet! Der Richter fragte, die Angeklagten antworteten, und der Saal wälzte sich vor Lachen. Der Richter verspottete die Angeklagten so kräftig, und die Zuhörer lachten so viel, daß man sich schämen mußte, Antarametscher zu sein: Mein Gott, wie weit bin ich hinterm Leben zurückgeblieben! Über Antarametsch donnern häufig Flugzeuge hinweg. Sie fliegen hoch über dem höchsten Berg, sogar hoch über den Wolken. Die Wolken liegen tief unter ihnen, und die Piloten halten sie vermutlich für Wälder oder Felder. Die Tragflächen der Maschinen funkeln täglich am blauen Himmel, aber kein Antarametscher Junge träumt davon, Flieger zu werden. Für einen Antarametscher Jungen ist die Arbeit in der Schmiede ebenso erstrebenswert wie der Pilotenberuf.

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Kein Antarametscher, der auf dem Maulesel Kartoffeln befördert, hebt den Kopf, um ein Flugzeug zu betrachten, das über den Himmel donnert. Doch nun, im Gerichtssaal, fühlten sich die Antarametscher so klein, wie die Piloten sie sehen mochten, wenn sie über ihr Dorf hinwegflogen. Im Geridhtssaal schämten sie sich plötzlich, daß sie Schnitter waren, daß sie sich lange nicht mehr rasiert hatten, daß sie so laut redeten wie auf dem Feld und daß sie nach Stall rochen, obgleich sie nach der Arbeit das Hemd gewechselt und sich gewaschen hatten. Und Telefon-Sako sagte zu Wani: „Das Leben vergeht, Wani, und du tust nichts als Schafe scheren.“ Was Pawle betraf, so brachte er das ganze Dorf in Verruf. „Was gackert ihr alle hier rum? Habt ihr nichts Besseres zu tun? Weg von hier, marsch! Zieht ab!“ Ganz wie ein waschechter Major. Weshalb war ausgerechnet Pawle ein Antarametscher? Und überhaupt, was war Antarametscli eigentlich? Schon der bloße Name! An-ta-ra-metsch! Pfui Teufel! Und dieser Awak! Sechzig Jahre hatte er auf dem Buckel, Großvater war er bereits, trotzdem genierte er sich nicht, einer jungen Frau zuzurufen: „Frauchen, Ihre Kniechen sind nackt!“ Er hörte nicht, daß der Richter ihm eine Frage stellte, glotzte nur die Zuschauer an, starrte unverwandt auf die Frau mit den nackten Knien, räusperte sich, der alte Bock, und es fehlte nicht viel, dann hätte er sogar gemeckert. Der Richter verwarnte ihn, doch er machte sich nichts daraus und stieß Ischchan an. „Was für Arme die hat, was, Ischchan?“ Natürlich 14 4


hätte er sich nicht auf die Arme beschränkt, hätte er nicht im Gerichtssaal gesessen. „Was meinst du, Ischchan, ob sie verheiratet ist?“ „So eine hat bestimmt ’n Mann.“ „Man weiß nicht, ist der Mann zu beneiden oder zu bedauern?“ Schließlich hielt Awak es nicht länger aus, erhob sich und bat den Richter: „Genosse Richter, befehlen Sie der Bürgerin, den Saal zu verlassen, sie hindert mich am Nachdenken!“ Der Richter rief ihn zur Ordnung. Aber Ischchan schnäuzte sich und sagte zu Awak: „Ich möcht wohl wissen, ob ihre roten Backen echt sind oder gefärbt.“ „Das ist bestimmt Farbe.“ „Den Mund hat sie sich auch geschminkt.“ „Bei der ist alles nachgemacht.“ „Bloß die Knie sind echt.“ „Die Knie, sagst du? Hähähä!“ Beim Anblick von Ischchans gewaltiger, unförmiger Nase und seinem verzückten Grinsen und von Awaks dummer, unbekümmerter Miene konnte einem wohl der Gedanke kommen, daß es besser gewesen wäre, die Hirten hätten einen schweren Diebstahl begangen, hätten zum Beispiel einen Ochsen oder einen Traktor gestohlen oder eine andere große Schuld auf ihr Gewissen geladen. Dann hätte der Richter sie zu zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren, ja zu lebenslänglich verurteilen können. Was sollten sie auch auf der Erde? Man hoffte, daß wenigstens Sawen etwas Vernünftiges sagen und daß es ihm gelingen würde, dem übermäßig glatten, übermäßig kunstvollen Redefluß des Richters Einhalt zu gebieten. 10 Matewoejan/Schelm

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Doch Sawen schimpfte bloß: „Bürokraten seid ihr, nichts als Bürokraten! Was soll man mit euch reden? Nach Medaillen strebt ihr, nach Ehrenurkunden, einen Lebenslauf schafft ihr euch, und dann trampelt ihr auf uns rum! Was soll man mit euch reden?“ „Sprechen Sie zur Sache!“ versetzte der Richter. „Zur Sache? Sie sind auch so ein Zarukjan, Bürger Richter!“ Richter und Zuhörer begriffen nicht, was er damit sagen wollte. Der Richter zuckte die Schultern. „Na schön, setzen Sie sich.“ Ein Unglück ist das mit diesem Sawen! Er ist doch ein gebildeter Mann, schon allein die vielen Bücher, die er gelesen hat, den ganzen Shakespeare, oder wie der heißt, kann er auswendig! Sag doch wenigstens was von diesem Shakespeare auf, aber so, daß alle Mund und Nase aufreißen! Aber nein, er quatscht von nichts anderem als von seinen Bürokraten. „Als jemand, der mit den örtlichen Bedingungen vertraut ist. . setzte der Vorsitzende an. Im Saal wurde es still, die Zuhörer fühlten sich augenblicks von Vertrauen zu einem so zungenfertigen Beginn durchdrungen. „Als Ortsansässiger, als jemand, der.. . mit einem Wort...“ Der Vorsitzende machte eine unbestimmte Handbewegung. „Nach meiner tiefen Überzeugung hat das Gericht unrecht.“ Schwerfällig plumpste er auf seinen Stuhl zurück. „Du lieber Gott!“ Der Richter bekreuzigte sich geradezu. „Als jemand, der dem Gesetz nicht übermäßig fern steht, als Richter, als Bürger .. . mit einem Wort“ - er wiederholte die Bewegung des Vorsitzenden -, „nach meiner tiefen Überzeugung sind in diesem Falle

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die örtlichen Bedingungen verkehrt.“ Er verspottete den Vorsitzenden noch einmal, indem er sich ebenfalls schwerfällig auf den Stuhl plumpsen ließ. Der ganze Saal lachte, ausgenommen die Antarametscher. „Der veräppelt uns, wie?“ erkundigte sich Awak bei Ischchan. „Allerdings.“ „Warum lachen unsere Antarametscher dann nicht?“ „Sie haben wohl nicht kapiert, daß er sich über uns lustig macht.“ Awak überlegte. „Wie nennt man nichtsowjetische Ware?“ „Ausländisch.“ „Nein, so nicht.“ „Wie denn?“ „Irgendwie anders.“ „Import?“ fiel es Ischchan ein. „Richtig“, bestätigte Awak, „er veräppelt uns auf Importart, deshalb haben ihn unsere Antarametscher nicht verstanden.“ Aber am schändlichsten benahm sich der rote Partisan Sarkis. „Genosse Richter!“ sagte er. „Laß die Jungs auf der Stelle frei. Ob sie die Schafe verdrückt haben oder nicht, braucht dich überhaupt nicht zu kümmern, verstanden? Beruhige dich, beruhige dich; so ist es!“ Doch der Richter unterbrach Sarkis trotzdem und entzog ihm das Wort. Da wurde der alte Partisan Sarkis ungemein zornig, ballte die knotigen Fäuste und sagte: „Du hast keine Schuld, daß du so bist.“ „Setzen Sie sich.“ „Ich sag ja, daß du keine Schuld hast.“ 147


„Setzen Sie sich.“ Über Sarkis lachten sogar die Antarametscher, lachte selbst Awak. Selbstverständlich wurde kein Antarametscher ins Gefängnis gesteckt. Alle kamen mit heiler Haut davon und kehrten zu ihrer Arbeit zurück. Dennoch hatte sich etwas in ihnen verändert. Awak war wie ausgewechselt. Ischchan rief er nicht anders als: „Wart auf mich, du Einfaltspinsel!“ Auch mit Pawle begab sich etwas Ungutes. Er kränkelte. Zwar sagte er, daß er gesund wäre, und war nach wie vor imstande, schwere Lasten zu heben. Aber Salzsäcke schleppte er nicht mehr. „Dafür werden keine Arbeitseinheiten angerechnet.“ Er wurde schweigsam und nachdenklich. „Man muß ihm helfen, sonst verliert er den Verstand!“ sagte Telefon-Sako verstört. Erwies darauf hin, daß Pawle einen Onkel namens Agassi gehabt hatte. Der war aus einem Krieg — aus welchem, wußte Pawle nicht mehr — mit Gold zurückgekehrt. Auf einer Bahnstation hatte man ihm das Gold gestohlen. Anschließend lief Agassi zwei Monate lang wie ein begossener Pudel durch die Gegend, dann raffte er einen Armvoll Heu zusammen, zündete es an und hüpfte um das Feuer. Später schnappte er vollends über und ging nur noch in Unterhosen umher. Doch eines schönen Tages kam er plötzlich zur Besinnung, und als er sah, daß er nichts als Unterhosen anhatte, stürzte er sich vom Felsen. Aus diesem Grunde hieß die Schlucht auch „AgassiSchlucht“. Allerdings unterschied sich Pawle von Agassi. Nachdem er lange genug überlegt hatte, nahm er seine Familie und zog in die Stadt. 148


Na, aus dir wird doch nie und nimmer ein Stadtmensch, du Einfaltspinsel! Die städtischen Kollegen, die ihn besuchen kommen, machen große Augen, wenn sie sehen, wie er dasitzt, das Brot in die Suppe brockt und sie dann schmatzend, mit gesenktem Kopf, auslöffelt. Außer der Suppe hat er noch ein Klavier. Wenn er Besuch aus Antarametsch erhält, führt er zuallererst das Klavier vor. „Hab ich für die Kinder gekauft, sie wollten unbedingt eins haben, es macht mich ja nicht arm, im Gegenteil.“ Er hat sein Haus mit allen möglichen Sachen vollgestopft. Eine Anrichte besitzt er, einen Küchenschrank und einen Kühlschrank. Bei seiner Tochter sollen musikalische Talente entdeckt worden sein. Von diesem Gesichtspunkt aus ist das Stadtleben wirklich gut. Antarametsch hat während seiner tausendjährigen Geschichte bei keinem einzigen seiner Bewohner musikalische Talente entdeckt, obgleich es sie aller Wahrscheinlichkeit nach massenweise gegeben hat, diese musikalischen Talente, aber sie sind verkümmert. So können wir also zu Pawles Tochter nur sagen: „Alles Gute für die Zukunft, Margo!“ In Antarametsch gab es nach dem denkwürdigen Zwischenfall mit Rewas’ Schafen keinen einzigen Diebstahl mehr. Andererseits wurde dort nach jenem Zwischenfall nur noch einmal Honig gewonnen. Man hatte den Bienen für den Winter sogar mehr Honig gelassen als erforderlich, dennoch ging ein Volk nach dem anderen ein. Ob an den Bienenstöcken etwas nicht in Ordnung war? Nein, sie standen richtig, bekamen keinen Frost, außerdem waren sie aus Lindenholz, dem wärmsten aller Hölzer. Oder ob die Bienen vielleicht 149


an einer Krankheit litten? Nein, von einer Krankheit konnte keine Rede sein. Früher hatte die Imkerei fünfhundertdreißig Völker, die Stödke waren numeriert und schachbrettförmig aufgestellt. Audi jetzt standen die Bienenstöcke schachbrettförmig, auch jetzt waren sie numeriert, aber jetzt sprangen die Zahlen: 9, 10, 21, 35, 70, 108. .. Und noch ein Unheil: Sarik läßt Sawen keine Ruhe mehr, sie will ihn unbedingt in die Stadt verpflanzen. „Wenn sich sogar Pawle dort eingewöhnt hat, dann können wir’s doch auch, oder?“ Und Ischchan? Ischchan strebt ebenfalls in die Stadt. Ohne dich, Ischchan, kommt die Stadt nicht aus, sie geht zugrunde, wenn du nicht hinziehst. Was du nicht sagst! — Du stellst dich noch mitten auf den Lenin-Prospekt und brüllst aus vollem Halse .. . Die Stadt wird schön ins Schwitzen kommen, bis sie einen Städter aus dir gemacht hat. Das hat der Stadt gerade noch gefehlt, daß ihr beide, du und Pawle, euch mit voller Lautstärke zugrölt: „Was kostet der Honig?“ - „Vier Rubel!“ - „So ein Schandpreis!“


Die orangeroten Pferde


August Andro zimmert einen Leiterwagen. Er braucht nur noeh eine Fichte glattzuhobeln, dann ist die Deichsel fertig. Die Löcher hineinzubohren macht keine Mühe mehr. Das ist dann alles, bis auf ein paar Kleinigkeiten. Erstaunliche Leute sind das! Sie behandeln die Dinge, als fielen sie vom Himmel. Aber wenn man es sich genau überlegt, haben sie recht. Natürlich will ich nichts gegen die Arbeitseinheiten sagen, aber sehufte du mal den ganzen Tag in der glühendheißen Sonne. Abends muß er noch ins Dorf, Sanassar um den Ochsen bitten. Sicher ist das Brennholz auf der Sommerweide schon aufgebraucht. Da will er hin, die Kiihe besehen und Mazun essen, Aschchen hat bestimmt welchen da. Schön und gut, aber das Wagengestell gefällt Andro nicht, es hat ihm schon nicht gefallen, als er die Bäume dafür fällte. Gegen das Vorderteil läßt sich nichts sagen, das ist einwandfrei gerundet, stromlinienförmig, geradezu schön, aber insgesamt ist der Wagen mißlungen, obgleich er sich große Mühe damit gegeben hat. Der Wagen ist irgendwie schief geraten, hängt seitlich über. Da bleibt wohl nichts anderes übrig, als eine Kette drumzuspannen und ihn zwei Tage damit stehenzulassen. Manchmal wirkt A sch eben auf ihn wie eine Fremde, wie ein junges Mädchen oder die Frau eines anderen. Hin und wieder wird sie verführerisch. Gott weiß, wo sie ihre zänkische Zunge verstecht, wenn sie ihn mit verhaltener Glut ansieht. Tja, so ist das eben, damit muß man sich abfinden. Einmal war Aschchen zu ihm auf die Erdbeerwiese

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gekommen; das Gras, das er dort gemäht hatte, mußte zusammengeharkt werden. Sie war als erste dagewesen. In aller Herrgottsfrühe hatte sie die Kühe gemolken und die Milch durchgeseiht, dann war sie hingegangen. Als er kam, sah er, daß das Gras zur Hälfte zusammengeharkt war und unter dem Baum eine Frau lag. Von weitem sah sie aus wie Sirusch, die Frau des verstorbenen Hamo, Gott schenke ihm die ewige Seligkeit. Doch dann mußte Andro über sich lachen, denn wie sollte Sirusch wohl hierherkommen! Aber wenn. .. wenn es Sirusch gewesen wäre, hätte er auch nichts dagegen gehabt. Doch es war Aschchen. Sie hatte in aller Herrgottsfrühe die Kühe gemolken, die Milch durchgeseiht und war nun hier. Auf der Waldwiese war es heiß, Aschchen schwitzte ein wenig. Er betrachtete ihr gerötetes Gesicht und ihre Augen. Aschchen schlief. Ehrenwort, wenn sie schlief, sah sie ganz verändert aus, ihr Bedsen war so hoch. Er kitzelte Aschchen mit einem Grashalm am Hals und lachte. Aber sie erwachte nicht, nur ihre Lider bebten, und sie sagte: „Du Tagedieb, du langer Lulatsch!“ Ja, sie erwachte nicht und umschlang im Schlaf seinen Hals, und es war, als ob sie weiterschliefe und im Traum lächelte, und bis zum Schluß wachte sie nicht auf. Hinterher lag sie dann mit offenen Augen da und starrte bis zum Mittagessen in den Himmel. Als sie sich dann aber lautlos erhob, wurde sie wieder zur wohbekannten dürren Aschchen, dem wohlbekannten alten Zankteufel. „Andere Leute haben ihr Heu schon eingefahren, helfen sich gegenseitig, aber meiner pennt. Eigentlich wollte er hier ja arbeiten! Aber für ihn gibt’s keinen Regen, keine Sonne, keinen Winter, er ist immer gemütlich, hat’s stets mit der Ruhe. Der erwartet, daß 154


mau ihm noch obendrein einen glatten runden Feldstein unterschiebt zum Sitzen.“ Er wollte ihr eins mit der Heugabel versetzen, hielt eich dann aber zurück. Sie tat ihm leid. Die Ärmste, sie schuftete, was das Zeug hielt, redete aber gleichzeitig unaufhörlich. Sie meinte es nicht böse, schimpfte aus reiner Gewohnheit. Und falls sie es böse meinte, konnte man es auch verstehen. Denn sie hatte es schwer, er war tatsächlich reichlich träge. Gikor beispielsweise, der war mal Kolchosvorsitzender und mal Brigadier, der hatte als Lagerverwalter, als Verkäufer und auch als Farmleiter gearbeitet; wenn man ihn vom einen Posten absetzte, besorgte er sich den nächsten. Du denkst im stillen: Das ist Zufall, wenn sie ihn durchschauen, setzen sie ihn wieder ab. Das ist ein Versehen, morgen wird alles anders! denkst du. Und tatsächlich, am nächsten Tag wird er abgesetzt, aber — hopp! — ist er im Laden und steht hinterm Ladentisch. Na wennschon, denkst du, auch hier wird er wieder rausfliegen. Natürlich fliegt er wieder raus, wieder und immer wieder, und dann wird er plötzlich sechzig und kriegt Rente. So hat er sich heimlich, still und leise durchs Leben geschlängelt und sich die fettesten Brocken herausgefischt. Und du hobelst derweil deine Kiefern und glaubst, das sei nur für kurze Zeit. Nachdem er Aschchen geheiratet und einen Monat in Streit und Hader mit ihr verbracht hatte, war ihm klar, daß er es mit dieser Frau keinesfalls auf die Dauer aushalten würde. Bis zum heutigen Tag hat er die Absicht, sich scheiden zu lassen. Im vergangenen Winter hatte sie ihn so wütend gemacht, daß er ihr eine verpaßte und sagte: „Geh zu den Deinen!“ Da hatte sie sich den Schal um die Schultern geworfen, sich auf dem 155


Absatz umgedreht und war gegangen. Doch am Abend kam sie zurück, mit dem Schwiegersohn und der ältesten Tochter, und hielt obendrein die Enkel an den Händen. „Opa-a-a!“ Noch bis zum heutigen Tag stieg ihm der aufpeitschende Genuß an der stämmigen Aschchen vom allerersten Monat das Rückgrat hinauf bis zu den Haarwurzeln, dazu der unvollständige Halbgenuß bei all den anderen Malen und die überzeugte Hoffnung, daß das Leben lang sei und es viele Frauen auf der Welt gebe. „Opa-a-a!“ Zum Teufel. Als er beim Militär diente, im vierhundertsten Regiment, war ihre Kompanie einmal ins Konzert geführt worden. Der Chor hatte gesungen: „Ach, du Pfauenweibchen, ach, du Pfauenweibchen, ach, dein Gang ist wie vom Pfauenweibchen . . .“ Schräg vor ihnen hatten zwei Mädchen mit sonnengebräunten Wangen gesessen, die wahrscheinlich aus den nahegelegenen Dörfern des Ararat-Tals stammten. Die steckten die Köpfe mit den roten Tüchern zusammen und drehten sich alle Nasenlang nach ihnen um. Martin . . . aus Idshewan stammte Martin, ein breites Gesicht hatte er, und bei Kertsch war der Ärmste dann gefallen, er war Sergeant und hieß mit Nachnamen Saakjan. Der arme Martin Saakjan ... „Andro!“ sagte er. „An die machen wir uns ran. Ich nehm die mit den Sommersprossen, und du nimmst die andere.“ Andro betrachtete die andere, er wollte sie, aber er traute sich nicht. Sie hatte so hohe Brüste. Dann betrachtete er Martin und sah, wie gut ihm die Uniform saß, wie auf Bestellung genäht, wie eng das Lederkoppel seine Taille umspannte. Er selber hatte nur ein Koppel aus Stoff, und die Stiefel paßten ihm auch nicht, sie waren

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so groß, daß die Füße darin herumrutschten. „Nein, Martin, ich hab zu tun!“ sagte er und bog von der Straße ab, mit dem festen Entschluß, den Starschina zu beschimpfen, passende Stiefel zu verlangen und auch ein Offizierskoppel zu ergattern. Abends kam Martin müde zurück und lächelte unaufhörlich. Mit schmachtendem Blick summte er vor sich hin: „Ach, du Pfauenweibchen, ach, du Pfauenweibchen, ach, dein Gang ist wie vom Pfauenweibchen .. .“ „Warum bist du nicht mitgegangen, du Dussel?“ fragte er, und Andro antwortete: „Du bist doch gegangen, war’s denn was Besonderes?“ Aber Martin summte, auf dem Bauch liegend, nur weiter vor sich hin. Dann wandte er ihm die feuchten Augen zu. „Ein Dussel bist du!“ Der arme Martin Saakjan mit seinem breiten Gesicht und den dichten Brauen. Lachen und Weinen war bei ihm dicht beieinander, so einer war das. Auf der Trage lag er mit übergeschlagenen Beinen, gelöst und schwer, und wieder schien es, als weinte er ein bißchen. Auf dem Hof des jüngeren Bruders kläffte wütend der alte Bassar, und unmittelbar danach schallte die aufgestörte Stimme ihrer alten Mutter über die Bohnenbeete und Komposthaufen herüber: „He-e-e-e! Ein Geier!“ Für ihre Augen war der helle Himmel schon halb getrübt, ständig sah sie Geier am Himmel schweben, sämtliche Geier, die sie je in ihrem langen Leben erblickt hatte, damals, als das Gotteslicht noch hell für sie gewesen war. „He-e-e-e! Ein Geier!“ Sie lebte in steter Angst, daß es im nächsten Augen157


blick regnen und das noch nicht eingefabrenc Heu verderben könnte und daß die Gänse die Bohnen abzupfen würden. Daß der alte Hund aufs Feld laufen und dort verrecken würde, wenn man nicht aufpaßte. Daß der Geier die Hühner holen würde, daß die Schwiegertöchter sich mit den Söhnen zanken könnten. „Verfluchte Gänse, verrecken sollt ihr! Los, holt das Heu rein! He, Schwiegertöchter, habt ihr das Heu drin? Ach, daß euch die Zunge verdorre, meine Kinder habt ihr mir verführt! Bassar!“ Die Früchte trockneten an der Sonne, der alte Hund wartete, was die Alte weiter sagen würde, die fleißigen Bienen über den himmelblauen Stöcken summten emsig, die Axtschläge vorm Haus des ältesten Sohnes verstummten, Mädchenlachen klang herüber. „Du solltest dich was schämen, Manuschak!“ rief die Alte. „Manuschak, wann bist du aus den Bergen heruntergekommen?“ Aber es erfolgte keine Antwort, und in einiger Entfernung erklang erneut lautes Lachen. Diesmal nicht von einem Mädchen, so lachte nur eine Frau. „Andranik!“ rief die Alte. „Andro! Andranik!“ „Was ist?“ „Warum hast du nicht geantwortet, Jungchen?“ Wieder lachte jemand hinter den Bäumen, und das mißfiel der Alten. „Wer lacht da, Andranik?“ „Weiß ich, wer da lacht?“ „Ich kann dich nicht verstehen, Jungchen.“ „Ich weiß es nicht, hab ich gesagt.“ „Andranik!“ „Ja?“ „Hast du das Pferd umgepflockt?“ 158


„Hab ich, hab ich.“ Über den Bienenstöcken summte es, und auf dem Pfad, der zur Schlucht führte, tauchten Saaks Sommerfrischlerinnen auf. Sie gingen zum Fluß hinunter. Eine von ihnen lachte sinnlich und heiser. So sinnlich und heiser lacht nur eine Frau. Vier waren es — zwei noch kindliche junge Mädchen, eine stattliche junge Frau, eine richtige Riesendame, mit einem Gang wie ein Kamel tja-a-a . . . Und die vierte war die Mutter der Mädchen. In Persien oder sonstwo sollte es einmal eine Königin gegeben haben, die ihre Soldaten antreten ließ und dann die Reihen abschritt. Wer ihr gefiel, den nahm sie zur Nacht mit in ihre königlichen Gemächer. Und am nächsten Morgen enthauptete sie ihn. Eine herzlose Königin, wie? Und warum fand sich eigentlich kein Schlauberger, der sich nach verbrachter Nacht rechtzeitig aus dem Staub machte? Beispielsweise aus dem Fenster sprang? Ein Fenster wird’s ja wohl gegeben haben! „Andranik!“ „Was ist, Mutter?“ „Es hört sich an, als ob die Bienen schwärmen.“ Andro horchte. Ja, das Gesumm hatte sich verstärkt. Er blickte zum Himmel. „Das kommt von der Hitze, die Sonne sticht.“ Es wäre wirklich nichts Unschickliches dabei, wenn er jetzt zum Fluß hinunterginge und das Pferd umpflockte. Der arme Alcho stand schon den ganzen Tag an derselben Stelle, durchaus möglich, daß der Strick sich verheddert hatte. Es ging das Gerücht, die Riesendame hätte ihren Mann verlassen, und jetzt mache der Schuldirektor ihr den Hof, sie sei wohl auch nicht ab-

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geneigt, denn sie hätte eingewilligt, für ein Jahr hierzubleiben. Ich möcht bloß wissen, warum du fremden Frauen nachsteigst, Ruben, währenddes andere vielleicht um deine Angetraute herumstreichen, du solltest lieber auf dein Eigentum aufpassen und die Nase in deinen eigenen Topf stecken. Andro warf die Axt in den Schatten, schüttelte die Hobelspäne von den Knien, zog die Mütze tief ins Gesicht und stieg durch die Schlucht zum Fluß hinab. So weit der Strick reichte, hatte das Pferd alles ratzekahl abgefressen, das Gras bis zu den Wurzeln abgezupft. Nun stand es mitten in dem kahlen Kreis in der heißen Sonne und trommelte sich gegen den Bauch. „Was machst du denn da?“ Andro lächelte. Falsch ist so was. Wenn du ein Tier als Packpferd verwenden willst, dann kastrier es, und wenn du es nicht kastrierst, dann führ es zur Stute. „Morgen nehm ich dich mit auf die Weide!“ sagte er laut. Dann zog er das Pferd flußabwärts, und während er es über die Steine führte, trat er aus Versehen ins Wasser und lächelte; als er es weiterführte, rutschte er wieder ab, und da hörte er durch das leise Wasserrauschen Gelächter klingen. Er ärgerte sich über das Pferd und ging mit gesenktem Kopf an den Urlauberinnen vorbei. Dabei grüßte er. Die am Ufer sitzende Mutter der Mädchen, sie ließ die Beine ins Wasser baumeln, grüßte freundlich wieder, die Mädchen, dünn, sonnengebräunt, in Badeanzügen, die wie schmale Bänder aussahen, standen mitten im Fluß auf einem glatten, glitschigen Stein und lachten. Das sinnliche, heisere Gelächter stammte von einem der Mädchen; was die Riesendame machte, konnte Andro nicht feststellen. Es verwirrte ihn, daß er die Riesendame nicht entdecken 160


konnte und daß die Mädchen die Bänder über gewisse Stellen ihres Körpers gezogen hatten, in der Annahme, dadurch genügend bekleidet zu sein. Wenn das seine Töchter wären, würde er den Ledergürtel abschnallen. „Uh, verdammtes Vieh!“ Andro drehte sich um und wollte dem Pferd eins überbraten. In diesem Augenblick sah er die Riesendame daliegen, nackt, auf die ; Seite gekehrt, ein Bein angezogen, eine dunkle Brille vor den Augen. Da schlug Andro dem Pferd das Strickende über den Kopf, mit aller Kraft. Alcho scheute und ging hinten nieder, stand auf, ging wieder hinten nieder und riß den Kopf hoch. Dann beruhigte er sich 1 keuchend. Da merkte Andro, daß das arme Vieh ' schweißgebadet war. !՛ „ Armes Wrack!“ sagte er mitleidig. Die Mädchen wollten sich ausschütten vor Lachen, ; die Riesendame aber blieb unbeweglich liegen auf ihrem Stein, jede Einzelheit war erkennbar. Während Andro den Pflock in die Erde schlug, sah er noch einmal ՛' hin. Sie trug eine schmale rote Hose und ein ebensolches Oberteil, lag auf der Seite, und ihre Beine waren rund und voll. ; „Wozu hat sie überhaupt was angezogen?“ sagte I Andro lachend. [; Als er die Frauen noch einmal betrachtete, mußte er \ an seinen Vater denken, der einst auf demselben Stein I gesessen und Leder für Sandalen gewässert hatte, an seine Mutter, die mit ihren dürren weißen Beinen im Wasser stand und Wolle wusch, und an sich selber, wie er auf einem Stein hockte und mit dem Wasser zweistimmig sang. Und er mußte lachen, weil er sich plötzlich vorstellte, wie der Vater den Kopf hob und auf Հ dem Stein die Riesendame in ihrem roten Badeanzug j

11 Matewosjan/Schelm

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liegen sah! Nein, so was! Andro war zum Lachen und Weinen zugleich. Zum Weinen, weil er den Vater wieder vor sich sah, wie er das Sandalenleder wässerte, damals hatte er schon einen schneeweißen Bart gehabt. Und auch, weil er an des Vaters stilles Grab denken mußte, still und lautlos wie Friedhofsgras. Und weil sich die Frau ausgerechnet dort in der Sonne rekelte, wo einst der Vater gesessen hatte. Und weil die Mutter mit so dürren weißen Beinen im Wasser gestanden hatte, als sie die Wolle wusch. Und weil er mit dem Wasser zweistimmig gesungen hatte. Und weil dem armen Alcho der Schweiß ausgebrochen war. Und weil die braunen Mädchen wie zwei kräftige Schößlinge wirkten, die mitten im Fluß durch den Stein hindurchgewachsen waren. Einmal hatte ihm der Vater einen Axtstiel gemacht. Er hatte auf dem alten schwarzen Komposthaufen gestanden und mit einem Kürbis gespielt, der Vater saß zwischen den Bienenstöcken und lauschte dem Gesumm. „Vater!“ hatte er gesagt. „Meine Axt hat keinen Stiel mehr!“ „Ich kann nichts verstehen, Jungchen!“ Der Vater hatte ihn offenen Mundes angelächelt, und sein Bart war schneeweiß gewesen. Da war er zum Vater hingestapft, hatte die Ellenbogen auf einen Bienenkorb gestützt und ihm ebenfalls zugelächelt. „Was soll ich tun? Meine Axt hat keinen Stiel!“ „Ich mach dir einen, Jungchen.“ Umständlich, unter freundlichen Reden, hatte der Vater den Axtstiel geschnitzt, glattgehobelt, abgeschmirgelt, mit einem Tuch und schließlich mit den Händen blankgerieben, den Sohn offenen Mundes an162


gebildet und geprahlt: „Gutes Esehenholz ist das, als ich so alt war wie du, hab ich den Ast abgesägt.“ Er blickte auf, um zu sehen, was der Sohn sagen würde. Wahrscheinlich meinte er, daß seine Worte einen tiefen Sinn enthielten, vielleicht war das auch der Fall, vielleicht aber auch nicht. Natürlich war es ein Eschenholzstiel, doch als er den Ast abgesägt hatte ... „Später bin ich hingegangen und hab nachgesehen, aber da war der Baum schon nicht mehr da.“ Und wieder hatte er den Sohn offenen Mundes angesehen. Danach war er aufgestanden und auf den Abtritt zugegangen, war aber von dem schmalen Pfad abgekommen, auf den Schuppen gestoßen und hatte gebückt nach den Knöpfen an seiner Hose getastet. „Andranik!“ „Ja?“ „Warum arbeitest du nicht?“ „Du bist ja wie ’n Brigadier, Mutter.“ „Ich kann nichts verstehen, Jungchen.“ „Ich arbeite doch!“ „Ja, mein Jungchen.“ Lautlos drehten sich die Sonnenblumen mit der Sonne, das Tomatenbeet sog das Wasser ein, vom Birnbaum tropfte eine Birne, der tiefe Baß einer Hummel störte das eintönige Bienenkonzert, auf dem Pfad erschien die Frau des Schuldirektors mit ihren Eimern, und während sie langsam zur Quelle watschelte, schlug der Saum ihres bunten Kittels vorn auf und zu, entblößte und verdeckte ihr Knie. Als sie sich über die Quelle beugte, ging sie gleichsam in die Breite, dann richtete sie sich auf und verschnaufte ein wenig, die Hände in die Hüften gestemmt. „Andranik!“ 163


Andro stand vor einem aufgeklappten Bienenstock und wollte das Tuch unter dem Deckel abnehmen. Der Mull ließ sieh jedoch nicht lösen; als Andro daran zerrte, geriet der Stock ins Wanken, und die auf gescheuchten Bienen schossen heraus. Eine Biene kroch ihm über den Handrücken und verirrte sich im Ärmel. Als Andro sie aus seiner Pfeife anschmauchte, löste sie sich von seinem Arm, schwirrte auf und klatschte ihm gegen die Stirn. „Andranik!“ „Die Alte verblödet allmählich.“ Aus dem oberen lichten Wäldchen tauchte ein mit Heu beladener Esel auf und kam langsam näher. Die Rahmen waren schwer von Honig, die vollen Waben schimmerten in der Sonne. In zwei Tagen könnte man sie schleudern. Von den unteren Rahmen durfte man wohl schon jetzt einen oder zwei durch leere ersetzen. Falls das Wetter umschlug, konnte man die alten Rahmen ja wieder einsetzen. An der Halsschlagader fühlte Andro plötzlich ein heftiges Brennen. Eine Biene, die sich in sein Haar verirrt hatte, summte und sirrte unter seinem Ohr und flog davon. „Andranik!“ „Was willst du von mir?“ rief Andro ärgerlich zurück. Der Hals tat ihm weh. Der Heuballen mit dem Esel war schief gerutscht und näherte sich seinem Haus. Aber der Eseltreiber war noch nicht zu sehen. Vermutlich ein alter Mann oder ein Kind. Stepan - ja, der hatte sich geschickt eingerichtet, schon zehn Jahre jammerte er über seine angeblichen Krankheiten, aber seine Kuh wurde immer satt, er hatte stets mehr Heu als alle anderen. Andro setzte einen Rahmen ein, nahm einen ande164


ren, zur Hälfte gefüllten, heraus, lehnte ihn an die Wand des Bienenstocks und machte in der Mitte Platz für ihn. Als er dann das Tuch über die Rahmen deckte, wurde er noch einmal gestochen, diesmal in die Hand. Er lächelte. Der Bienenstock würde ihm mindestens zehn bis fünfzehn Kilo liefern. Es war ein gutes Jahr. Andro klappte den Deckel zu und versuchte, sich den Stachel aus der Hand zu ziehen, aber seine Finger waren zu grob, sie bekamen ihn nicht zu fassen. Wollte ich krank spielen wie Stepan, müßte ich bestimmt erst sterben, bevor man mir eine Krankheit glaubt! Und wenn man sich überlegt, wie wenig Heu man für eine Kuh braucht! Das kann man an einem Tag mähen, 'wenn man gut ausgeschlafen ist. Der Heuballen glitt am Flechtzaun entlang, am Stall vorbei und bog am Birnbaum zu Andros Haus ab. Und da sah Andro, daß es gar kein Esel war. „Andranik!“ „Ja?“ „Wer ist das da mit dem Heu?“ „Mariam.“ „Sag mal, kannst du dir nicht weniger aufladen, das ist doch viel zu schwer.“ „Das hast du schon mal gesagt.“ Mariam kam heran, lehnte sich mit dem Ballen an einen Baum und verlor dabei das Gleichgewicht. Vergebens versuchte sie, sich auf einen Balken zu stützen. Mit dem Bündel auf den Schultern taumelte sie zu Boden. Ihr Mund verzog sich zu einem erloschenen Lächeln. „Wann bist du denn aus der Stadt zurückgekommen, Madame Städterin?“ „Hast du den Honig rausgeholt, weil du mich gesehen hast? Nett von dir!“ 165


„Na klar, einen Minister sieht man doch!“ antwortete Andre. Sie schob die Stricke auf den Schultern zurecht. „Ist unsereins vielleicht schlechter als ein Minister?“ gab sie zurück. „Im Gegenteil!“ Andre lachte. „Kein Minister besitzt so ’n Heuballen.“ „Von dem verdammten Ballen sind mir die Arme wie abgestorben.“ „Warum hast du die Striche denn so festgezogen?“ „Das haben die Schnitter gemacht!“ „Bist du mit der Last etwa den Berg runtergekommen, Mädchen?“ staunte Andro. „Wo findet man denn jetzt sonst noch Gras?“ „Tüchtig! Und wann bist du aus der Stadt zurückgekehrt?“ „Gestern.“ „Ist dein Käse gut gegangen?“ „Ich bin ihn nicht losgeworden, es wurde haufenweise welcher angeboten.“ „Warst du lange weg?“ „Vier Tage.“ „Das sieht man!“ sagte Andro. „Wieso, bin ich schöner dadurch geworden?“ „Hm.“ „Nicht so schön wie deine Frau.“ „Sag mal, du hast doch scharfe Augen, du solltest mir den Stachel hier rausziehn.“ „Oh, das ist aber geschwollen.“ „Manchmal merk ich so ’n Stich gar nicht, doch diesmal bring ich’s nicht fertig, den Stachel rauszuziehn. Bist du mit deinem Schwiegersohn zufrieden?“ „Ein Bursche wie jeder andere. Arbeitet fleißig.“ 16 6


„Wann willst du die Jüngste verheiraten?“ Mariam bekam den Stachel auch nicht heraus. Die Stricke behinderten sie und lähmten ihr die Hände. Andro lag ihr mit seinem ganzen Gewicht auf den Knien und hielt ihr den dicken Hals hin, außerdem störte sie ein harter Gegenstand unterm Fuß, ein Stein oder ein Stück Holz. „So ein Mann!“ schalt sie. „Du könntest mir wenigstens die Stricke abnehmen.“ Sie befreite sich von dem Ballen und richtete sich auf — kerzengerade, dürr und hart wie eine Bohnenstange. „Wenn sich ein Freier bei mir einstellt, geb ich sie weg. In diesem Jahr beendet sie die neunte Klasse.“ „Dann bleibst du ja allein.“ „Bin ich jetzt vielleicht nicht allein?“ „Ach Mädchen!“ — „Verheirate dich doch selber!“ Andro lachte. „Lach nur über mich.“ Als Andro die letzte Querstange angenagelt hatte und der Wagen fertig war, wußte er, daß die Fahrer auf ihn fluchen würden. Der hintere Teil des Wagens war zu breit. „Heirate, solange du noch Feuer in dir hast!“ sagte Andro zu Mariam. „Einen hübschen Wagen hast du gemacht, meisterhaft!“ „Red keinen Unsinn!“ versetzte Andro. „Nimm dein Heu und zieh ab.“ Doch als Andro mit der Kette in der Hand aus der Scheune kam, stand sie immer noch da, in ihrem schweißnassen, am Rücken klebenden Kleid, flachbrüstig, ohne Hintern, in Männerstiefeln. Er hatte ihr stets geholfen, wo er nur konnte, Wassils Tod vor ihr 16 7


verheimlicht, ihr das Pferd geliehen, wenn’s nötig war, und das Gras gemäht, wenn er Zeit hatte, aber Mariam blieb Mariam, flachbrüstig und dürr wie eh und je. Sie trank einen Schluck Wasser und spritzte Andro den Rest ins Gesicht. „Lach du nur über mich!“ Mühsam löste sie das Kleid vom Körper und rieb sich unterm Stoff die Schultern. „Ich bin zu faul zum Weitergehen, abgekühlt bin ich inzwischen, aber ich hab keine Lust, mich zu bewegen.“ Und sie setzte sich auf den Wagen. „Steh auf, du machst ihn kaputt!“ Andro klatschte in die Hände. „Stell dir vor, Mariam, was ich heute gesehen hab! Du wirst es nicht glauben, aber ich hab am Fluß eine weiße Büffelkuh gesehn! Na, wenn du mir zur Hand gehn willst, dann nimm die Brechstange, die da, und halt die Picke fest, sie steht drüben an der Wand, bist du blind?“ Er wickelte die Kette um die Brechstange. „Reich mir den Strick rüber. Schau in der Pferdebox nach. Den dicken Strick, dummes Ding. Ja, den. Wahrhaftig, eine Büffelkuh hab ich gesehn. Und was für eine! Aus der würde ein guter Zuschneider zehn Mariams rauskriegen, und für Aschchen bliebe auch noch genug übrig.“ „Da hast du ja anscheinend gründlich hingeguckt.“ „Aber Mariam!“ „Ja, so ist das!“ sagte Mariam. „Eure eigenen Weiber vcrgeßt ihr und zieht los, um euch fremde Büffelkühe zu besehen!“ Andro wurde verlegen und traurig. Diese Mariam, nun will sie ihre Tochter verheiraten, eine Enkelin hat sie auch schon und ist doch selbst erst an die Vierzig. Vierzig Jahre! Sie müßte doch noch Frau sein, aber sie ist nicht fraulich unter der Last von Kartoffelsäcken 168


und Brennholzbündeln, mit der Axt in der Hand, bei den Schimpfereien mit dem Brigadier. „Mariam!“ sagte Andro. „Was willst du?“ „Mariam, wie alt bist du, Mariam?“ „Sechzehn!“ Mariam lachte. „Noch ein Bachfisch.“ „Bist du vierzig?“ „Nein, sechsunddreißig. Sechsunddreißig bin ich, Andro.“ „Tsss! Man schätzt dich kaum auf vierzehn!“ „Dummkopf!“ brummte Mariam. „Alter Dussel, Esel!“ „Weiß ich schon lange!“ Andro lachte. „Mit zwanzig hab ich meinen Mann verloren.“ „Mariam!“ „Was?“ „Und hast bis zum heutigen Tag keinen Mann mehr gehabt?“ Mariam betrachtete den Birnbaum und die Bienenstöcke, und dann sah sie Andro an. „Du nimmst mich auf den Arm.“ Andro spielte mit dem Fuß an der Axt herum. „Mariam... Mariam... Ist’s sehr schwer ohne Mann? Verzeih, Mariam, ich meine nicht das Brennholz und das Heu und die Wirtschaft, da weiß ich Bescheid, aber so ... ist’s da sehr schwer ohne Mann?“ Mit zusammengepreßten Lippen starrte Mariam ihn an. „Mariam... Mariam... übrigens... ich frag ja bloß so... war da kein einziger?“ Wortlos starrte Mariam ihn an. Die dürre, arme Mariam. „Mariam“, sagte Andro, „wozu brauchst du die Kuh?

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Verkauf sie, heirate, zieh zu deiner Tochter und dem Schwiegersohn, wozu schindest du dich so, Mariam? Wir leben doch nur einmal auf der Welt, dummes Ding. Eine Kuh zu halten, das ist nichts für dich. Und schlepp nicht mehr soviel Heu auf deinem Buckel, Mariam, du Dummes .. Als Andro aus dem Haus trat, saß Fuchs Gikor unterm Birnbaum und tat, als sähe er Andro nicht. Einen Hund müßte man sich anschaffen! ging es Andro durch den Kopf, und dann fiel ihm ein, daß er ja einen Hund besaß, der aber in den Bergen war, auf der Weide. „Hast du ein Schläfchen gemacht, Andro?“ „Ja“, sagte Andro, „ich war eingeschlafen, aber da ist unsre Mariam gekommen und hat mich aufgeweckt.“ Er gähnte. „Gibt’s was Neues auf der Welt?“ „Deine Birnen sind reif.“ „Ja, kannst sie ja mal kosten.“ „Hab keine Zähne mehr. Deine Bienen sind gut. Meine sind verwildert, sie schwärmen dauernd, ein einziges gutes Volk hab ich besessen, jedenfalls war es im vergangenen Jahr gut, aber in diesem Jahr schwärmen sämtliche Bienen. Wirst du Schnaps brennen?“ „Mal sehen.“ „Da gibt’s doch nichts zu überlegen, wo willst du denn sonst mit dem vielen Obst hin, war doch schade drum, Andro!“ Gikor sah ihn an. „Ich hab eine Bitte an dich. Frag mich, welche.“ „Deine Bienen schwärmen, dir fehlt ein Bienenstock. Vielleicht findet sich doch noch einer bei dir, und wenn nicht, dann bau dir einen, außerdem brauchst du ihn ja nur für kurze Zeit, einmal werden die verdammten 170


Biester mit der Schwärmerei schon wieder aufhören. Sag mal, warum hast du eigentlich keine Zähne mehr? Wie alt bist du eigentlich?“ „Siebenundsechzig!“ „Hm.“ Andro lachte beleidigt auf. „Weshalb beschwindelst du mich, ich bin doch keine Rentenkommission.“ Lautlos kam Mariam aus dem Haus und blieb am Türpfosten stehen. Daraus, daß die beiden auf derselben Vortreppe standen und Andros Bart und Schnurrbart pechschwarz waren, schloß Gikor, daß sie schon lange etwas miteinander hatten. Die Frau steht allein, ohnedem kommt keine aus! Folglich mußte Andro den Balken weggeholt haben, der im vorigen Jahr vor ihrem Haus gelegen hatte, ein guter trockner Balken war es gewesen, er, Gikor, hatte auch vorgehabt, ihn zu nehmen, aber andere Leute waren flinker gewesen. „Ich bin achtundneunzig geboren, und jetzt haben wir fünfundsechzig. Zwei plus fünfundsechzig macht siebenundsechzig. Ich hab dich schon gekannt, als du noch ein Kind warst.“ „Ich mach doch bloß Spaß, sei nicht gleich gekränkt!“ Andro lachte. „Sei’s, wie es sei, auch wenn du keinen Spaß gemacht hättest, wär ich nicht gekränkt.“ Mariam ging schweigend an Andro vorbei, blieb einen Augenblick neben dem Heuballen stehen, schob dann die Arme durch die Schlaufen, kniete sich hin und stützte die Hände auf den Boden. „Warte, ich helf dir!“ Gikor ging auf sie zu. Sie antwortete nicht, löste eine Hand und ein Knie vom Boden und straffte langsam den Rücken. Als sie 171


sich aufrichtete, sah Andro, daß ihr Gesicht dunkel wurde und ihr vor Anstrengung die Halsadern anschwollen. „Oh, du bist aber noch stark!“ sagte er, nachdem sie aufgestanden war. Sie reckte sich, zerrte die Last auf dem Rücken zureeht, und wieder gewahrte Andro ihr erloschenes, trübes Lächeln. Und als sie den Pfad hinunterging und am Birnbaum vorbeikam, hörte er sie sagen: „Was hab ich davon, daß ich stark bin.“ Der Ballen verhakte sich an einem Ast, Mariam beugte sich vor, um nicht zu stürzen, wich dann ein paar Schritte zurück und ging geduckt unter dem Baum hindurch. Als sie die Zweige streifte, fielen mehrere überreife Birnen zu Boden. „Darf ich ’ne Birne haben?“ Sie hockte sich hin.


„Dummes Ding!“ rief Andro. „Pflück dir eine, sie s tecken sich dir ja von selber in den Mund.“ Sie hob eine Birne auf, pflückte eine zweite ab und lachte dazu. „Ein sehr gutes Weib“, sagte Fuchs Gikor. „Ein starkes Weib.“ Er wolle nämlich um ein Pferd bitten, aus Kassach müsse er ein paar Pud Getreide holen, höchstens fünf, sein eigenes Pferd sei dazu ungeeignet, es sei so schreckhaft, und die Straße dabin sei schlecht, nachts wolle er reiten, sein Pferd sei so dumm, daß es dabei abstürzen und ihn zum Krüppel machen würde, stark sei es wohl, aber zu dumm, und die Last sei klein, fünf Pud, höchstens sechs, nachts wolle er den Hinweg machen, damit es für das Pferd nicht zu heiß werde, tagsüber würde er ihm Hafer geben, dann könne es sich erholen, und nachts würde er zurückreiten, damit es nicht zu heiß würde für das Tier. Aschchen war als erste mit dem Melken fertig, lieferte vor allen anderen die Milch ab, lieferte auch am meisten Milch ab, putzte, striegelte und streichelte die Kühe, mistete dann den Kälberstall aus, sie hatte den saubersten Kälberstall, ihre Kälber waren große, munter umhertollende Tiere, übergab die Kälber dem Hirten, brachte ihr Zelt in Ordnung, wusch sich, zuerst mit schlechter, dann mit duftender Seife, kämmte sich, band sich ein Kopftuch um. Wenn andere sich ein Kopftuch umbinden, kämmen sie sich vorher nicht, kämmen sie sich aber, dann binden sie sich kein Kopftuch um. Aschchen jedoch war anders, sie war blitzsauber, sie kämmte sich also, band sich das Kopftuch um, steckte den goldenen Ehering an den Finger, so war sie nun

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mal, sie hatte eben Familiensinn, die Familie war ihr ein und alles, dann band sie die goldene Uhr um und baute sich — blitzsauber und akkurat, eine durch und durch fortschrittliche, anständige, redliche und schöne Frau — vor dem Farmleiter Lewon auf. So bescheiden, so still und demütig war sie, so gefügig, Armenierin vom Scheitel bis zur Sohle, so ganz und gar bäuerlich, daß sie sich scheute, das Gespräch zu beginnen, so voller Respekt vor den Älteren war sie, daß sie wartete, bis Onkelchen Lewon sie von sich aus fragte: „Was willst du,. Aschchen?“ „Onkelchen Lewon!“ So schamhaft und schüchtern, so ganz anders als die städtischen Schlampen und die ländlichen Dirnen, wartete sie darauf, daß Onkelchen Lewon selber err aten würde, um was ihn die f ortschrittliche Melkerin Aschchen bitten wollte. „Hast du was vor, Aschchen?“ Aschchen nickte. „Wenn du zum Abendmelken zurück bist, brauchst du doch nicht zu fragen. Es ist deine Freizeit, du kannst tun und lassen, was du willst.“ Aber so war Aschchen nun mal: Bevor sie nicht gefragt hatte, tat sie keinen Schritt. Und aufmerksam war Aschchen, sie wußte, daß die Arbeiter im Tal Mazun haben wollten. Und großzügig war Aschchen, nicht die Spur knausrig, der Mazun, den sie ihnen brachte, stammte von ihrer eigenen Kuh. Und fürsorglich war Aschchen, sie schleppte den Mazun, unter der Last gebeugt, ohne Rücksicht auf sich selbst. Und taktvoll war Aschchen, sie gab den Arbeitern zu essen und stand dann still und bescheiden, mit niedergeschlagenen Augen daneben und spielte mit einem Grashalm. Und dann äußerte Aschchen den Wunsch, mit Mariam zur

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Quelle zu gehen, um Wasser zu holen, waren sie doch alte Freundinnen, verstanden einander seit der Kindheit ohne viele Worte und wußten auch noch, daß Wasserholen Frauenpflicht war. Aschchen wusch den Eimer unter dem Wasserstrahl gründlich aus, stellte ihn unter die Schilfrohrrinne, vergewisserte sich, daß er fest stand und nicht umkippen würde, führte Mariam beiseite, damit keine Erde ins Wasser kam, nahm ihr das Kopftuch ab, damit es nicht zerfetzte, packte dann alle Haare gleichzeitig, damit sie einen dickenKnoten machenkonnte und kein Haar ausriß, und schlug zu - auf die Schultern, auf die Brust, auf den Bauch, auf den Rücken, auf den Hintern. Und dann wieder auf die Schultern, auf die Brust, auf den Bauch, auf den Rücken, auf den Hintern. Und dann nur noch auf den Rücken, immer tüchtig auf den Rücken, damit es weh tat und die blauen Flecke nicht zu sehen waren. Dann gab sie Mariam Wasser zu trinken, lieh ihr auch einen Kamm, damit sie sich kämmen konnte, band ihr das Tuch um, nahm ihr den Eimer ab und trug ihn selbst, denn Mariam konnte sich nur noch mit Mühe auf den Füßen halten.

Alcho „Aber ich wollte selbst in die Berge, Gikor.“ „Du willst in die Berge?“ fragte Gikor betreten. „Was machen wir denn da?“ Doch plötzlich hellte seine Miene sich auf, als hätte er einen Ausweg gefunden. „Dann nimm doch mein Pferd. Willst wohl Brennholz hinaufbringen, wie? Ist ein kräftiges Tier, dem kannst 175


du aufladen, soviel du willst. Allerdings scheut es vor Fremden“, gab er zu bedenken. „Dein Pferd hat immerhin seine sieben, adht Jährchen auf dem Buckel und ist kein Fohlen mehr, warum sollte es da scheuen?“ Andre schmunzelte. „Es hat noch was Männliches in sich, das steigt ihm gelegentlich zu Kopf!“ erklärte Fuchs Gikor. Und weil er das so ernsthaft sagte, erkundigte sich Andre ebenso ernsthaft: „Willst du damit sagen, daß es kastriert ist?“ „Nicht kastriert, bloß innen verstopft. Deine Bienen fliegen gut“, lobte Gikor. „Gibst du’s mir nun oder nicht?“ „Macht das denn einen Unterschied?“ „Es sollte keinen machen, aber nach meiner Meinung ist doch einer da. Willst du’s kastrieren, dann tu’s; alles nach innen drücken, was ist das für ’ne Mode? Wann war das bloß? Ach ja, gestern, glaub ich, da kam Sona von den Bergen runter und wurde plötzlich wild, die ganze Last hat er abgeworfen.“ „Der Sattel liegt im Stall, im Vorraum“, sagte Andro. „Das Pferd steht in der Schlucht. Lad ihm nicht soviel auf, Gikor, ich kenn deine Pude.“ Gikor ging mit langsamen leichten Greisenschritten auf die Stalltür zu und schalt im stillen als echter Bauer auf Andro: Du unglückseliger Schwächling, wenn du meine Pude so gut kennst, warum gibst du mir dann dein Pferd? Schau dir einer den Sattel an! Von Pferdehaltung verstehst du nicht gerade viel! Andro glaubte, er hätte den Alten beleidigt, weil Gikor mit verstörtem Gesicht aus dem Stall zurückkam. Deshalb wollte er seine respektlosen Worte wiedergutmachen. 176


„Ich mach doch nur Spaß, Gikor, wirklich!“ sagte er. „Wenn du in die Schlucht hinuntergehst, dann erschrick nicht, im Wasser sitzt eine weiße Büffelkuh.“ „Was du nicht sagst!“ Gikor glaubte ihm nicht. „Hast du sie mit eigenen Augen gesehen?“ „Als ich das Pferd umpflockte, hab ich sie gesehen.“ „Du bist jung, du siehst so was!“ Gikor mißfiel die Anordnung von Andros Bienenstöcken, er ärgerte sich, daß dem Mann die Birnen verdarben, und wurde erst richtig wütend. „Gehst und besiehst Büffelkühe, und inzwischen vergammeln hier deine Birnen!“ Und als wäre er noch Vorsitzender, ordnete er kurzerhand an: „Leg ein Faß in den Bach, laß es ordentlich durchfeuchten. Daß mir morgen keine einzige Birne mehr am Baum ist. Ein Tausender schwimmt ihm unter der Nase weg, er aber pennt am hellichten Tag!“ Als Gikor schon an der Schlucht war, rief Andro ihm nach: „Onkel Gikor, nimmst du den Weg über die Berge?“ „Weiß noch nicht.“ „Wenn, dann richte Aschchen aus, in zwei Tagen komm ich und bring ihr Brennholz!“ „Andranik!“ „Was willst du?“ „Wem hast du das Pferd gegeben?“ „Gikor.“ „Wozu braucht er cs?“ „Ich möcht mal wissen, was dich das angeht!“ „Was hast du gesagt, Jungchen?“ „Er will nach Kassach!“ „Tut dir das arme Tier nicht leid?“ „Er wird ihm doch nicht gleich den Rücken brechen, oder?“ 12 Matewosjan/Schelm

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„Ja, Jungchen!“ In der Schlucht plätscherte der Fluß über die Steine, die Mutter der Mädchen hatte den Kopf auf die Knie gelegt, man wußte nicht, döste sie bloß vor sich hin oder war sie traurig über den Fluß und über ihre ungebräunten weißen Beine. Eines der beiden Mädchen saß beleidigt da, abgewandt und mit angezogenen Knien. Die Schwester kitzelte es mit einem Strohhalm am Ohr, es schob schmollend die Lippen vor und wandte sich noch mehr ab. Die Riesendame rekelte sich noch immer geschmeidig in der Sonne. Alcho stand in der Nähe und ließ den Kopf hängen. Alles wirkte so erloschen und nutzlos wie der Teich neben einer stillgelegten, verlassenen Mühle, wie ein an der Wurzel faulender Baum, wie die Sonne, die kein Feld bescheint. Denn der Fluß hätte eigentlich Beete bewässern müssen, die Mutter der Mädchen saß wie eine Wollwäscherin da, die Mädchen hätten am Waldrand Himbeeren und wilde Birnen sammeln, Heu harken oder den Schnittern Wasser bringen sollen, und die Riesendame gehörte an einen Getreideschober zum Garbenaufsteeken oder sonst einer nützlichen Arbeit. Oder denken wir mal an die Hirten in den Bergen, die sterben doch ohne Frau ... Gikor stand eine Weile da und betrachtete alles gründlich, dann schüttelte er lächelnd den Kopf und ging zu Alcho. „Du verreckst ja bald vor lauter Faulenzerei!“ sagte er zu dem Tier. „Erinnerst du dich noch an die Straße nach Kassach? Oder hast du die vergessen?“ Wie im Halbschlaf ließ Alcho sich satteln und aufzäumen und trottete dann zwischen den Steinblöcken hindurch. Plötzlich brachte ihn ein Kiesel zu Fall. „Aber, aber!“ Das Zaumzeug schnitt in die alten Nar-

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en, die Gerte federte schmerzhaft unter den Bauch. {Daran erkannte Alcho, daß er von Fuchs Gikor geritzten wurde. Das war gleichbedeutend mit Atemnot, ,-Schweißausbrüchen, einem langen Ritt, zuckersüßen, i,Verlogenen Ermunterungsreden. Und einer schweren 'Last. Alcho seufzte und wollte sich in Trab setzen, aber sofort schnitt ihm der Zaum ins Maul und verlangte, ' daß er brav im Schritt ging. Erinnerst du dich nicht an .■mich? Der Zaum hatte recht, denn im selben Augenblick stand Alcho vor einer Steigung, im Trab wären ihm die Vorderbeine weggeknickt, und er hätte sich das Maul zerschunden. Gikor drehte sich im Sattel um und sagte für alle Fälle zu den Mädchen: „Ihr seid doch schon erwachsen! Und die Himbeeren sind reif, ihr solltet losgehen und welche sammeln, Konfitüre einkochen für den Winter. Euer Papa würde sich bestimmt freuen.“ Die Riesendame seufzte geräuschvoll und streckte ihren Nabel der Sonne entgegen, während die Mädchen heiser und heftig lachten. „Mit dir rede ich, Schwesterchen!“ wandte Gikor sich an die Mutter der Mädchen. Die blickte in fauler Sommerschwermut von ihren Knien auf, die Riesendame rückte sich bequemer zurecht, und in diesem Augenblick begriff Gikor - nein, zum Garbenaufstecken war sie wirklich ungeeignet, es wäre schade ums Heu. Und auch für die Hirten war sie nichts, die Hirten waren ungehobelte, ungebildete, unrasierte Btirschen. Nein, für die war sie auch nichts. ,,’ne Hure wahrscheinlich!“ brummte Gikor, blickte noch einmal verständnislos hin und fand sich schließlich mit der Erklärung ab, daß die ganze Welt nichts 179


tauge. „Verrottet ist die Welt!“ sagte er. „Verdorben und so kompliziert, daß man sie nicht mehr versteht.“ Als sie die Steigung geschafft und die Straße erreicht hatten, kam der Pfad zu Andros Haus in Sicht. In seiner Naivität versuchte Alcho, Fuchs Gikor zu täuschen, so zu tun, als wäre dies ein Tag wie jeder andere und als trottete er den gewohnten Weg die Straße und den Pfad entlang heimwärts. Er verlangsamte den Schritt und bog, dann ruckartig zum Pfad ab, doch da wurde die Kandare hochgerissen, und die Sporen bohrten sich in die alten Narben. „Sieh dir diesen Schlaufuchs an!“ sagte Fuchs Gikor und lenkte Alcho auf die Straße zurück ins Dorf. Aus den Bohnen sprang eine spitzschnauzige rote Hündin. Müde und gereizt schlug Alcho nach ihr aus. Er begriff, daß es wieder derselbe Weg sein würde, mit unerträglich schweren Lasten und brennendem Druck in der Lunge, und so schlug er müde und angewidert nach der Hündin aus. Er merkte, daß sein Huf in etwas Weiches eindrang und wieder herauskam. „Kannst du nicht deinen eigenen Weg benutzen, wenn du nach Hause willst?“ brauste der Schuldirektor Ruhen auf, der in seiner Haustür stand. „Das ist auch mein Weg, leg deinen Köter doch an die Kette!“ schimpfte Gikor zurück. „Sitzt auf anderer Leute Pferd, tötet anderer Leute Hund!“ „Lauf in den Dorfsowjet und beschwer dich!“ sagte Gikor, aber die federnde Gerte versengte Alchos Bauch trotzdem. Alcho wußte, daß die spitzschnauzige rote Hündin bösartig war, sie sprang ihn immer an, er mußte einfach nach ihr aussehlagen. Dadurch blieb ihr eine Weile

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die Luft weg, dann begann sie zu winseln, und die Menschen beschimpften sich gegenseitig. All das wußte er im voraus, aber die Gerte hatte er diesmal überhaupt nicht erwartet. Deshalb kam ihm die Welt der Menschen auch wirr und unbegreiflich vor. Nun trug er die Menschen und ihre Lasten schon seit zwanzig Jahren, und während er sie trug, dachte er über sie nach, aber er begriff sie ganz und gar nicht. Und nicht etwa, weil er, Alcho, ein Pferd war, sondern weil die Menschen unbeständig waren in ihren Taten, weil sie zwar ihre gestrigen Taten begriffen und sogar mit ihnen prahlten, aber sich im Heute nicht auskannten. Das Heute blieb ihnen unbegreiflich, und das Merkwürdigste war, daß sie überhaupt nicht darunter litten. Gikor lenkte ihn zur Schmiede. Alcho kannte den beißenden Metallgeruch, er verband sich für ihn mit einem starken, freundlichen Schmied vergangener Tage, der ihm immer die Augen gestreichelt hatte. Doch nicht er kam heraus, sondern ein junger Mann mit verschmierter, verrußter Schürze, eine Zigarette im Mund. Er renkte ihm das Bein — tschk, tschk — und ging wieder in die Schmiede zurück. Auf den Straßen, die die Menschen benutzten, konnte man sich nur mit den Hufeisen halten, die sie erfunden hatten, und für neue Hufeisen war Alcho ihnen dankbar, denn die Straßen waren hart und holprig. Ja, aber bei dem einen Hufeisen wurde ein Nagel schief eingeschlagen, traf einen Nerv, und das zweite Hufeisen drückte. Alcho war tödlich beleidigt. „He, Bursche, sitzt der Nagel nicht schief drin?“ fragte Gikor, während er auf die Geräusche in der Schmiede lauschte. „Heiß ist’s, weißt du, heiß!“ antwortete der Schmied 181


von drinnen und lachte. „Das sind die Arbeitseinheiten, weißt du, bei den Arbeitseinheiten kann man sich keine goldne Nase verdienen!“ Alcho hinkte auf zwei Beinen. Er trat vorsichtig auf, wie ein Kranker. Der Nerv tat weh. „Na, daran wirst du nicht sterben“, sagte sein Reiter. „Das vergeht.“ Vor Schmerzen vergaß Alcho Reiter, Gerte und die scheußliche rote Hündin, er vergaß, daß er gesattelt war und daß ihm ein ordentliches Stüde Weg bevorstand. Er blieb stehen, aber die Kandare riß ihm den Kopf hoch, und die Gerte pfiff ihm noch einmal unter den Bauch. „Los!“ Und Alcho wurde wieder einmal klar, so erbarmungslos, so ungeduldig und nachlässig konnte nur Fuchs Gikor sein. Wohin wir wohl reiten? Der Flechtzaun öffnete sich vor ihnen, ließ sie durch und schloß sich wieder, eine Glucke mit ihren Küken lief ihnen über den Weg. Wohin wir wohl reiten? Alcho hörte Kettengeklirr und sah einen schwarzen Hund. Es war ein verlauster, von den Läusen nervös gemachter Hund. Er lag immer an der Kette, die an einem quer über den Hof gespannten Draht entlangrutschte. Von früh bis spät rannte der Hund an dem Draht entlang, vom Stall zum Haus, vom Haus zum Stall. Als der Köter einen Augenblick stehenblieb und kläffte, daß der Speichel spritzte, wurde Alcho endgültig klar, daß er Gikor in die Klauen gefallen war. Und in seinem Gedächtnis stiegen sonnenheiße Straßen auf, Hummeln, ekelhaft abgestandenes Wasser und eine unbegreiflich tückische, kurze, geschmeidige Schlange, die sich eine Stunde lang in seiner Nähe herumgeschlän-

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gelt hatte und zwischendurch immer wieder verschwunden war, bis er sie vergessen hatte; dann war sie plötzlich auf ihn losgeschossen und hatte ihn gebissen. Ein stechender Schmerz durchzuckte sein Bein. Nach einer Weile verging er zwar, aber das Bein schwoll an, wurde empfindungslos. Schwindelgefühle überkamen ihn, sein Kopf wurde heiß und schien nicht mehr ihm zu gehören. Und obgleich er halb taub, halb ohnmächtig war, packte man ihm eine Last nach der anderen auf. Er hatte keinen Willen mehr - Erinnerungen und Wünsche vermengten sich, entschwanden, und das tat wohl. Es gab keine Hummeln mehr, keine Lasten, keinen Gikor, und er wünschte, es hätte sie niemals gegeben, die Schlange hätte ihn an einem einsamen Ort gebissen, und er hätte gelassen denTod empfangenkönnen. Doch die Menschen begriffen, was ihm zugestoßen war. „Das Pferd ist von einer Schlange gebissen worden, Gikor.“ „Na und? Verreckt es jetzt? Da wird mir Andro bestimmt einen Riesenskandal machen.“ „Nein“, sagten die anderen, „treib das Tier an, es muß ins Schwitzen kommen, treib es tüchtig an!“ Die trockene, geschmeidige Peitsche führte ihn in die Wirklichkeit zurück und erinnerte ihn an die Straße, andieLast. An das saftige Gras und die kalten Quellen in den Bergen. An die Mühsal zu Beginn des Weges und die Leichtigkeit an seinem Ende. An die unangenehme Pflicht, zur Bahnstation zu trotten, und an die Freude der Rückkehr. An den Schauer, der ihm beim Hufbeschlag über den Rücken lief, und an den naiven Stolz über die neuen Hufeisen. An die Sehnsucht nach der Stute und das Entsetzen vor dem Hengst. An das unbezwingliche Verlangen nach der Stute und an die un183


geheure Raserei des Hengstes. An die Gleichgültigkeit gegenüber der Last, der Freiheit, der Arbeit, gegenüber Gikor, gegenüber dem zu engen, unbequemen Hufeisen. Die Menschen machten ihn wieder zum Herrn über seinen verbrauchten knochigen Körper, sie führten ihn zurück; zu den langen Straßen, die kein Ende hatten, die breit begannen, dann schmal wurden, abbogen, ins Nichts führten, sich wieder verbreiterten, kein Ende hatten. Einst rief der selbstgefällige Herrgott Alchos Urururahn zu sich und sprach: „Höre, du Urururahn von Alcho, ich habe dich schlank und klug gemacht, ich habe grüne Wiesen für dich ausgebreitet, ich habe Wölfe erfunden, vor denen du, um deine Wohlgestalt zu bewahren, fliehen sollst, und über dich habe ich die Menschen gesetzt. Nun sage mir, Pferd, wie viele Lebensjahre willst du haben?“ Da überlegte Alchos Urururahn, und weil der Herrgott ihm Klugheit und Vernunft verliehen hatte, überlegte er gründlich und antwortete dann wohlüberlegt: „Zwanzig Lebensjahre, Herr!“ Gott gefiel seine Antwort, und er gab ihm zwanzig Lebensjahre. Und Mensch und Gott zwinkerten einander zu. Ja, und nun möchte ich wirklich wissen, Urururahn, weshalb und warum wünschtest du dir ausgerechnet zwanzig Lebensjahre, was hast du davon gehabt, und was habe ich davon? „Warum ist das Pferd so trübselig, Gikor?“ fragte Gikors Mutter. „Kiimmre du dich um deine eigenen Angelegenheiten. Wo sind die Säcke?“ „Willst du auf einem kranken Pferd nach Kassach reiten, Gikor?“ „Es wird schon nicht verrecken, sei beruhigt.“ „Das Pferd hat einen Nagel im Huf, Gikor.“ 184


„Pah! Na, wenn du das so genau weißt, dann hol mir die Zange.“ Aus dem Loch, das der herausgezogene Nagel hinterließ, sickerte der Schmerz langsam wie Honig. Es tat Alcho wohl, das nachlassende Brennen zu spüren und wieder die Härte der Sattelriemen, die Rauheit der Kandare zu fühlen und das speichelspritzende Gekläff des verlausten schwarzen Köters zu hören. Die Straße führte in die Berge. Windespfeifen in den Ohren und unaussprechlich wohlschmeckendes Gras. Alcho trabte fröhlicher. Noch eine Stunde Weg, das ließ sich mit leichter Mühe schaffen. Und dann würde er das wohlschmeckende, niemals ausgehende Gras naschen. „Hast du dir gedacht!“ sagte Gikor und lenkte ihn in die andere Richtung, nämlich auf den Pfad, der zu den Obstgärten des Kolchos führte. „He, Meister!“ rief er. Unter den Bäumen mähte der Wächter Gras. Im Unterhemd kam er ihnen entgegen, band seinen Hund fest, Gikor trat, Alcho hinter sich herziehend, auf ihn zu, und sie besprachen etwas miteinander. Den Wächter schien das Gespräch nicht zu befriedigen. Trotzdem vergrößerte sich Alchos Last um Apfel und Birnen. „Keine Gurken? Na, dann nicht. Wenn es dir Schwierigkeiten macht, dann gib mir keine. Soll ich dir etwas aus Kassach mitbringen?“ Der Wächter wollte nichts aus Kassach, aber die Gurken waren, wie sich herausstellte, noch schwerer als die Äpfel und Birnen. „Los, du verdammtes Aas! Du weißt ja gar nicht, was ’ne richtige Last ist. Da hab ich mir aber ein Generalspferd eingehandelt. Typisch Andros Mähre!“ 185


Gikor lenkte Alcho über den Pfad zurück, so lange, bis der Hund des Wächters nicht mehr zu hören war. Dann zog er kräftig am rechten Zügel. Alcho wandte sich nach rechts. Ja, natürlich, da lag ein reifes Feld, daran erinnerte er sich. Die Sporen befahlen ihm zu traben, die Stimme befahl ihm zu traben, aber vor sich hatte er doch ein Feld! Alcho scheute. Doch Sporen, Stimme, Gerte und Peitsche trieben ihn auf das Feld zu, so daß er gehorchen mußte. Merkwürdig sind die Menschen! dachte Alcho, ein und dasselbe erlauben die einen und verbieten die anderen. Aus eigenem Antrieb wäre er keinesfalls auf das Feld getrabt, denn er wußte, daß dann der einarmige Feldwächter kommen und ihn schimpfend in einen nassen, schmutzigen Stall sperren würde, und er mochte gar nicht gern in dem schmutzigen Stall sein. Nein, unbegreiflich waren die Menschen, wahrhaftig. Aber als Gikor ihn schweigend über den Bach lenkte, in den Wald hinein und dann um eine gemähte Waldwiese herum, da begriff Alcho, daß Gikor auf einen Diebstahl aus war. Dahinter lagen Kartoffelfelder. Kartoffeln will er stehlen, erkannte Alcho und blieb stehen. „Kluges Tier!“ meinte Fuchs Gikor erstaunt. „Grase nur!“ sagte er schmeichlerisch. „Grase nach Herzenslust.“ Aber an der Stelle gab es nichts zu grasen, zudem war Alcho schwer beladen. Deshalb blieb er nur stehen und wartete. Die Bäume wiegten sich nicht, die Stengel wiegten sich nicht, unbeweglich standen die blühenden Blumen. Jede wartete im Sonnenschein auf ihr Schicksal, arglos wie Alcho, in unbewußter ruhiger Traurigkeit. Alcho wartete mit scharf gespitzten Ohren auf die weitere 186


Entwicklung der Dinge. Gikor duckte sich, wie ein Hund in die Kartoffeln. In der Nähe stand der Wächter, das Kinn auf den Spatenstiel gestützt. Gikor buddelte die Kartoffeln mit bloßen Händen aus. Plötzlich lief der Wächter lautlos in den Wald, den Spaten schlagbereit in der Hand. Gikor buddelte weiter, an den Boden geduckt. Alcho blickte abwartend zu Gikor und zum Wald hinüber. „Was ist? Hast du jemand gesehen?“ Gikor wandte den Kopf. „Kannst du nicht Stillstehen?“ Und plötzlich sah Alcho aus den Augenwinkeln, daß sich der Wächter vom nächsten Baum löste; er hielt den Spaten noch immer schlagbereit in der Hand. Alcho kannte den Wächter, er hatte ihm die Kartoffeln gefahren, die dieser für seine Arbeitseinheiten erhielt. Es war ein friedlicher alter Mann, der ihn niemals schlug oder antricb, sondern ihn wortlos laufen ließ, wie er mochte. Alcho wollte seine Freude über das Wiedersehen ausdrücken, aber der Wächter legte den Finger an die Lippen: Sei still! Gikor buddelte unterdessen immer weiter. Und der Wächter und Alcho beobachteten verständnislos seine Bewegungen. Ohne wahrzunehmen, was er tat, starrten sie auf seinen Rücken, das einzige, was sich in dieser lautlos stillen Welt bewegte. Erst als der Sack randvoll war, löste sich Gikor vom Boden und stand auf. Als er den Rücken geradebog, bemerkte er den Wächter. „Hahahaha!“ lachte Gikor, und sein Gelächter klang wie Gewieher. „Was machst du da?“ erkundigte sich der Wächter. „Hahaha, ich hab mich gefragt, ob er’s wohl merkt oder nicht.“ „Wozu bin ich sonst hier angestellt?“

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„Es ist August, hab ich gedacht, da wird Adam wohl sein Gras mähen. Ich glaub, im Winter ist dir als erstem das Heu ausgegangen, stimmt’s?“ „Sanassar erlaubt mir nicht zu mähen.“ „Na wennschon, mähen kannst du trotzdem.“ „Ich hab keine Lust, mich mit ihm anzulegen.“ „Das ist richtig. Aber paß auf, daß du im Winter nicht wieder in Schwierigkeiten kommst“, sagte Gikor. „Hilf mir, den Sack festzumachen.“ „Was lädst du dem Tier alles auf, dauert es dich nicht?“ „Was soll ich sonst machen, es ist doch ein Packtier!“ „Du gehst schon?“ Der Alte sah ihm betrübt nach. „Solltest ein Weilchen hierbleiben, daß wir einen Plausch machen können.“ „In der Nacht will ich noch nach Kassach, deshalb hab ich es eilig. Soll ich dir aus Kassach was mitbringen?“ „Meine Gesundheit.“ Später atmeten die Berge Leichtigkeit und Kälte. Der Bergwind streichelte Ohren und Bauch, drang unter die Last und den Sattel, trocknete den Schweiß, spielte in den Nüstern und wippte mit der goldroten Mähne. Als es dämmerte, erschien eine Pferdeherde wie ein orangeroter Funkenwirbel am Horizont, der Wind verwehte ihr Gewieher, sie schien weit entfernt zu sein, doch dann erklang das Gewieher dicht neben ihnen. Aldho reckte den Kopf und wieherte mit, um kundzutun, daß er in der Nähe war, daß er nichts vergessen hatte, daß er sich an die Herde und an die Zeit erinnerte, da er mit ihr zusammen frei umhergeschweift war. Er beschleunigte den Schritt, Gikor sagte grinsend: „Prachtkerl!“, hielt ihn an und schwang sich 188


zwischen den Lasten in den Sattel. „Jetzt lauf!“ befahl er dann. Auf der Anhöhe vor ihnen rauchten die Feuer der Sommerweide von Zmakut. Die Straße schlängelte sich, mehrmals schwand ihnen die Weide aus dem Blick und tauchte dann wieder auf, die Straße führte abwärts, schwang sich aufwärts, abwärts, aufwärts, abwärts, aufwärts und stieß schließlich direkt auf die Weide und den Platz, wo die Zelte standen. Lautlos und kalt flackerten die Lichter der Hirtenfeuer, in den Pferchen waren die Herden bereits zur Ruhe gekommen, die Hunde hatten sich hingelegt, den Kühen triefte vor Sattheit der Speichel, in der Nähe wieherte ein junges Fohlen - grundlos, arglos und dumm, und der heisere, knochige Alcho bekam das Bedürfnis, sein Eintreffen im Lande der wandernden Nebel und feuchten Berge zu verkünden. Aber Gikor klirrte mit den Sporen, und Alchos Gewieher verhallte unbemerkt. „Andro?“ In der Dunkelheit rauchte jemand eine Zigarette. „Mesrop?“ „Gikor, du bist es? Das war doch das Gewieher von Andros Pferd.“ „Ja, ich hab Alcho mit.“ „Schwer hast du ihn beladen.“ Auf dem Pfad stand Andros Frau Aschchen, die Arme unter der Schürze, den Kopf gesenkt, ruhig, still, demütig. „Onkel Gikor?“ fragte sie. „Grüß dich, Aschchen.“ „Ist das nicht unser Pferd?“ „Freilich.“ 189


„Andro müßte doch kommen, Onkel Gikor, wo bleibt er so lange?“ „Er hat gesagt, daß er morgen oder übermorgen kommt, du sollst auf ihn warten.“ „Meine Butter verdirbt, Onkel Gikor, warum ist er nicht heute gekommen?“ „Das wird er dir selber sagen. Wie soll ich wissen, Aschchen, aus welchem Grund dein Mann nicht kommt.“ „Ja“, stimmte Aschchen zu. „Du hast Alcho aber reichlich viel aufgeladen.“ „Wieso denn? Einen Sack Kartoffeln und ein paar Äpfel.“ „Ich mein bloß so.“ Aschchen traf nur eine Feststellung. Dann ging sie zu ihrem Zelt zurück. Sie war die Frau. Der Mann im Haus war Andro. Aschdien mischte sich nicht in Männerangelegenheiten. Die Männer würden schon wissen, was sie taten. Sie war die Frau — sic melkte die Kühe, melkte die Schafe und wartete, bis Andro das Brennholz heraufbrachte. Für das Pferd war Andro zuständig. Aber er kam nicht mit dem Brennholz. Aschchen soll mit gesenktem Kopf warten. Die Butter verdirbt, aber das Pferd wird nach Kassach geschickt, und Aschchen soll sich das schweigend mit ansehen. „Einen Sack Kartoffeln, sagst du?“ Gikor wandte sich halb um — Aschchen stand da, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Gikor musterte sie schweigend. „Den Kolchos hast du zugrunde gerichtet, jetzt willst du die Leute ruinieren? Hast du einen Dummen gefunden? Hast selber ein Pferd, aber nimmst das von andern Leuten? Schonst dein Pferd und schindest das

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von andern Leuten? Na, antworte doch, warum hältst du den Mund?“ „Schwatz keinen Unsinn!“ sagte Gikor und befreite Alcho von seiner Last. „Du solltest dich lieber mit deinen Weiberangelegenheiten befassen.“ „Du willst hier die Leute ausrauben, und mich schickst du derweil zu meinen Weiberangelegenheiten? Du alter Fuchs!“ „Geh zum Teufel!“ Gikor nahm Alcho die Lasten ab, sagte ein paar Worte zu seiner Frau und trug die Säcke ins Zelt. Als Aschchen jedoch nicht aufhörte zu reden, platzte ihm die Geduld, und er schnauzte sie an: „Schluß mit dem dummen Gewäsch, halt’s Maul!“ „Rede ich deshalb dummes Gewäsch, weil ich an mich denke ?“ Da sagte Gikor — nicht zu Aschchen, auch nicht zu seiner Alten oder zur Weide, sondern zu sich selbst, aber weil die Zelte dicht nebeneinander standen, die Wände aus dünnem Filz waren und nächtliche Stille herrschte, zu allen: „Ihr Tagedieb vernachlässigt die Kolchosarbeit und befaßt sich mit andern Weibern. Und die hier glaubt, Gikor wär schuld, wenn ihr die Butter vergammelt.“ Gikors Alte stand einen Augenblick unbeweglich, die Hand vor den Mund geschlagen. Dann fragte sie heuchlerisch entsetzt und erstaunt, neugierig wie in vergangenen Tagen: „Mit was für Weibern denn wohl, Gikor?“ „Nach Kassach will ich, hast du alles fertig, was ich brauche? Mit was für Weibern?“ grölte er. „Mit Mariam oder sonstwem! Bind die Hühner fest!“ Danach herrschte wieder Stille, der Pferdehirt saß in der Dunkelheit und rauchte, die satten Kühe muh191


ten, bei den Schafhirten glimmte das Lagerfeuer, und sie riefen sich ins Gedächtnis, wie dürr Mariam war — bloß Haut und Knochen, aber wer begreift diese Welt, vielleicht hatte sie irgendwas an sich ... Alcho verschnaufte, ein Bein angezogen, und Aschchen tobte ihre Wut schweigend in ihrem Zelt aus. Unter dem Sternenhimmel im Pferch schliefen die warmen Stuten, der steile Hals des Hengstes überragte die aneinander gepreßten Kruppen, in der Dunkelheit gackerten aufgescheucht die Hühner, und Alcho spürte, wie ihm die schlafschweren Tiere und daneben feuchte Säckchen mit Mazun ад den Sattel gebunden wurden. „Die ganze Woche hast du gewußt, daß ich nach Kassach reite, konntest du den Mazun nicht rechtzeitig ausdrücken?“ „Unterwegs läuft das Wasser von allein raus, warum schimpfst du.“ Aus den Säcken tropfte Feuchtigkeit kitzelnd über Alchos Flanken, die Hühner beschmutzten ihn und flatterten mit den Flügeln, über alles wurde eine Plane gebreitet, und obendrauf ließ Gikor sich nieder. Dann wiegte sich vor Gikor geruhsam die flimmernde Nacht, er fand, daß sein Leben wohlgeregelt war, denn in Kassach erwartete ihn Winterweizen, und der Mazun preßte sich von allein aus, machte ihn aber nicht naß, da er oben auf der Plane saß. „Mazun hab ich mitgebracht, aus den Bergen, eigens für euch! Käse hab ich mitgebracht, wie er in den Bergen gemacht wird, handgeknetet, eigens für euch! Hühner hab ich euch mitgeb rächt, direkt aus den Bergen!“ Ja, im Unterland ist es wirklich erstickend heiß, doch in den Bergen weht stets ein erfrischend kühler 192


Lufthauch. Und die Leute aus dem Unterland glauben, daß sich die kühle Gebirgsluft in den Hühnern hält. Ja, das weiß Gikor ganz genau, deshalb sagt er ja auch „eigens für euch“ und „aus denBergen“. ImDorf nimmt man an, er hätte die Rentenkommission bestochen und Gott weiß wieviel Geld herausgeschunden. Audi seine eigene Frau ist dieser Meinung. Diese Narren! Sie haben keine Ahnung. Gikor hat bloß herausgekriegt, daß der Vorsitzende der Kommission aus Zachkut gebürtig ist. Daraufhin ist er, Gikor, zu ihm hingegangen und hat ein Säckchen Mazun mitgenommen. „Ich hab dir Zachkuter Mazun mitgebracht“, hat er gesagt, „unsere Berge liegen neben den Bergen der Zachkuter, demnach sind wir Nachbarn.“ An diesem Tag war es in der Stadt glühendheiß. In den Straßen, den Bäumen und Hauseingängen, in allen Ritzen saß die Glut, und die Ventilatoren wirbelten bloß die heiße Luft auf. „Zachkut liegt neben unsem Bergen, dicht unterm Himmel, eigens für dich hab ich den Mazun mitgebracht.“ Gikor und Alcho ritten an der Tränke vorbei bis zur Wegegabel. Im nahen Gebüsch schrie ein Vogel. Dann wurde es still. Später lief ihnen etwas über den Weg ein Wolf, ein Hase oder der leibhaftige Teufel? Im Herbst 1918 — oder war es 1919 gewesen? — hatte man Arschak aus Nessoi an dieser Stelle gefunden. Und fünf Jahre später wurde seine braune Stute in Kirowakan gesehen. Ihr neuer Besitzer sagte, er hätte sie in Kassach gekauft, und als man ihn fragte, wann und unter welchen Umständen, antwortete er: „Lassen Sie mich in Ruhe, haun Sie ab, verstanden!“ Eine neue Wegegabel. Der linke Weg führte in die Berge, schlängelte sich über das Plateau, verband eine 13 Matewosjan/Schelm

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Quelle mit der anderen, einen Pferch mit dem anderen, eine Pferdeherde mit der anderen. Er verlief neben den Wolken, es war ein herrlicher Weg. Aich о zögerte einen Augenblick, wandte sich ihm dann mit heftiger Bewegung zu und wollte nach links ausbrechen. „Halt!“ Die Kandare schnitt ihm in die Lippen, der Hals wurde hochgerissen, aber Alcho strebte dennoch zum Weg in die Berge. Die Kandare wurde noch härter angezogen, das Maul schmerzte noch mehr, doch die Füße trugen Alcho weiter nach links. „Brrrl Bist du verrückt geworden, verdammtes Vieh!“ Alcho wurde das Atmen schwer, die Sterne waren plötzlich sehr nahe, unmittelbar vor seinen Augen, aber seine Beine stemmten sich gegen den harten, trocknen Boden, die Hufe tasteten nach einem Abgrund, einer Steilwand, einem bodenlos tiefen Erdloch, um den alten knochigen Körper, der sich seltsamerweise immer noch aufrecht hielt, dieser Narr, zum Teufel zu schicken. Alcho wollte sterben. Doch der Reiter zog die Zügel wiederum an, diesmal nur von einer Seite. Er drehte Alcho herum, gab ihm mit aller Kraft die Peitsche und ließ die Zügel locker. Alcho trottete tief atmend den Hang hinauf, und die unvergleichliche frische Nachtluft liebkoste seine verhärtete Lunge. „Du hast wohl ganz denVerstand verloren, verdammter Wallach.“ Oben am Steilhang machten sie halt. Die Hühner hatten sich beruhigt, lagen still unter der Plane und kratzten nicht mehr, aus dem Käse und dem Mazun sickerte salziges Wasser brennend auf Alchos alte und neue Wunden, lautlos lag die kleine Stadt unten in der 194


Dämmerung. Aldio kannte die Stadt, kannte den Steilhang, und die Schmerzen im Körper kannte er auch. „Angelangt!“ In der Stadt gewahrte Alcho ein blutjunges Fohlen, schwerbeladen wie er selber, das sich zitternd mit den Beinen gegen das Weitertraben sperrte. „Lauf, sträub dich nicht!“ sagte Alcho zu ihm. „Das ist sinnlos und dumm.“ Unter den Hufen hallte der Asphalt, lärmend rasten die Autos vorbei, zuweilen hörten sie den Fluß rauschen, das klang wie ein vertrautes Schnauben. Doch das arme Fohlen .wurde nicht an einer Furt durch den Fluß geführt, sondern zu einer Brücke gezerrt, gestoßen, beschworen, geprügelt. Das Fohlen aber, an die weichen Bergpfade gewöhnt, sträubte sich, zitternd vor fassungslosem Entsetzen. Alcho trabte näher zu ihm hin und ließ sich von ihm betrachten. „Fürchte dich nicht“, sagte er. „Das ist kein Abgrund, 195


das ist eine Brücke, lauf! Die Menschen haben das Ding gebaut, es sieht wacklig aus, aber es ist fest, du wirst nicht verrecken, und selbst wenn du verrecktest, war’s kein großes Unglück, du würdest nichts verlieren. Lauf.“ Und das Fohlen glaubte ihm und lief. Ihm selbst waren Brücke und Autogebrüll gleichgültig, denn er war schon halb taub und halb blind und hatte ein hartgegerbtes Fell. Das Fohlen lief, an Alcho geschmiegt, doch am Markt trennte man sie, band das Fohlen ans Tor und ließ es mutterseelenallein zurück mit seinem Abscheu gegen seine Umwelt, ließ es in Staub und Schmutz und Sonnenglut stehen, bis alle Butter bis zum letzten Gramm verkauft war, bis in den Läden alle notwendigen Einkäufe — Baumwolle, Brot, Schuhe — erledigt waren. Die Autos sausten an Alcho vorüber, fröhliche Radfahrer kamen, sie lachten über Gikor und sein Pferd, Ausflügler fuhren in einem Autobus vorbei, warfen Alcho einen Blumenstrauß vor die Füße, winkten, rollten davon und ließen Alcho zurück. Gikor frühstückte an einer Quelle, der Schafskäse schmeckte gut zum Brot, und das Quellwasser war Gott sei Dank kalt. Wieder kamen Radfahrer vorbei, es waren dieselben, sie befanden sich auf dem Rückweg, kräftig waren sie und fröhlich, ihre Fahrräder waren gut geölt, glitten leicht über den Asphalt, und sie selber wirkten ebenso hübsch, behende und wohlgebaut wie ihre Räder. Am nächsten Tage würden sie Gras mähen, aber heute vergnügten sie sich mit solchen Spielzeugen, und Gikor rief ihnen in Gedanken nach: Ich möcht euch mal radeln sehn, wenn ihr schwere Lasten auf dem Buckel habt! Dann überlegte er sich behaglich, daß er 196


I am nächsten Tag mit seinem Winterweizen zu Hause I sein und daß der Weizen unauffällig für vier Jahre К reichen würde. Amerika sollte Frankreich ja eine Note I geschickt haben ... I „Hast dich ausgeruht?“ sagte Gikor zu Alcho. „Dann К reiten wir weiter.“ I Wieder mündete die Chaussee in einen Pfad, aus I dem Wald wurden Sträucher, dann blieben auch die I Sträucher zurück, ein Fluß rauschte neben ihnen, f trübte sich, die letzte Quelle stank, spie warmes, fauI liges Wasser aus, eintönig und einsam zog sich der rötI liehe Weg dahin. r Irgendwo auf der Welt müßte es ein grünes Tal I geben mit einer Quelle. Und Andro müßte von diesem r Tal keine Ahnung haben. Dann würde in dem grünen I Tal ein weißes Pferd an der Quelle grasen. Niemand I würde wissen, daß es Alcho war. Aber es würde Alcho в sein. Er würde durch sein Tal kreisen, aus der Quelle է trinken, die wenigen Fliegen, die ihn belästigen wollten, mit dem Schweif verjagen, seinen Gedanken nach■ hängen, nach Herzenslust umherstreifen, sich dann in die Sonne legen und alle viere von sich strecken. Der feuerrote Fuchs würde meinen, daß er verreckt wäre, sich in einiger Entfernung hinsetzen, ihn zweifelnd betrachten und sich schon die Schnauze lecken, aber Alcho würde plötzlich schnauben, dermaßen schnauben, daß der Fuchs in Windeseile Reißaus nahm. Ach, und dann würde Alcho fröhlich auf die Beine springen und am anderen Ende des Tals eine Stute erblicken, eine breitflankige, dunkelrote Stute auf der grünen Weide. So ein Tal müßte es geben, ein grünes Tal, und Alcho müßte mit der dunkelroten Stute dort sein. Er würde über die grüne Weide kreisen, im grünen Gras

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liegen, über ihm würden schneeweiße Wolken dahinziehen, schön und traurig würde alles sein. Und später mochten dann die Wölfe kommen. Der satte, gutmütige Alcho würde sie und sich nicht lange quälen, er würde sich ihnen zum Fraß überlassen, sollten sie ihn verschlingen. Gegen Abend wurde der Weg lebendig. Aus einem abgemähten Feld rief sanft ein Wachtelweibdien, ein ferner roter Stein entpuppte sich als roter Hund, der sie anbellte. Die hiesigen Hunde waren ebenso bösartig wie die hiesigen Schlangen. Gikor schwang sich aus dem Sattel und versuchte, den Hund zu verjagen. Das mißlang, der Hund sprang ihm fast ins Gesicht. Gikor versetzte ihm eins mit der Peitsche und lachte heuchlerisch dazu, damit der Besitzer nicht gekränkt wäre, falls er sidi in der Nähe aufhielt. Der Hund schien von ihm abzulassen, aber als Alcho und Gikor eine kleine Strecke weitergeritten waren, schlich er sich lautlos an, verbiß sich in Aldios Schweif und ließ nicht los, so sehr Gikor auch auf ihn einprügelte. Alcho verlor die Geduld und ging durch, doch dem Hund, der ihm als roter Fleck vor den Augen flimmerte, vermochte er nicht zu entrinnen. Die hiesigen Wölfe waren ebenso unverschämt. Wenn sie einen aufs Korn genommen hatten, wurde man sie nicht mehr los. Im vergangenen Winter hatte der Filmvorführer des Kreises die ganze Nacht auf einem Telegraphenmast sitzen müssen, soweit man dabei überhaupt von Sitzen reden konnte. Und Alcho ging durch. . . . Als erstes fand Gikor ein Säckchen Mazun, dann trat er auf die Plane. In der Ferne raste die rote Töle umher, Alcho jedoch war nirgends zu entdecken. Eine 198


alte Frau, die Gikor entgegenkam, sagte, ja, sie habe ein Pferd gesehen, ein dunkelblaues, an dem mehrere Hühner baumelten. Aber dann stellte sieh heraus, daß sie es am Vortag gesehen hatte. Gikor hielt Umschau — Alcho war nicht da. Zum Zurückgehen konnte Gikor sich nicht entschließen, er hatte Angst, wieder auf den roten Hund zu stoßen. Plötzlich fiel ihm ein, wie sie vor vielen Jahren, damals war er noch jung, in diese Gegend geritten waren, um Weizen zu kaufen. Bei Tagesanbruch saßen sie ah, um ein Weilchen zu rasten. Als alle vom Pferd gesprungen waren, sagte Akop plötzlich: „Eine Schlange!“ Da schwang Gikor sich aufs Pferd und nahm Reißaus. Als er haltmachte, um Atem zu schöpfen, und zurückblickte, standen seine Freunde da und hielten sich den Bauch vor Lachen. Damals erhielt er den Spitznamen „Reiter“. Und später, im Krieg, als er es geschafft hatte, seinen Sohn vom Wehrdienst zu befreien, tauften ihn die Frauen „Fuchs“. „Fuchs Gikor“. Mit tiefem Gebrumm flog ein Flugzeug vorbei. Es sollte ja bloß zwei Stunden bis Moskau brauchen. Aber im Jahre neununddreißig hatten er und Lewon sechs Tage mit der Eisenbahn benötigt. Er wußte es noch wie heute: Im Kreml war Lewon zu der großen Glocke gegangen, die man Glocken-Zar nennt, hatte sie betrachtet, ihre schimmernden Wölbungen betastet und gesagt: „Und vor einer Woche waren wir noch in Zmakut, Gikor!“ Alcho war noch immer nicht zu sehen. Rasch zog die Abenddämmerung herauf. Eine Kuh, alle Schafe und mein Pferd will ich verkaufen, beschloß Gikor. Und dann nehme ich den Erlös, dazu auch das, was ich auf der Sparkasse habe, und 199


schicke es meinem Sohn Gewik in Kirowakan. Er soll dort für seine Eltern ein Haus bauen. Ich will auch in die Stadt ziehen. Das Dorf kotzt mich an, Schluß damit! Er büdkte sich und hob ein Käsesäckchen auf. Ja, der Käse war ziemlich zerdrückt und zerkrümelt, vermutlich hatte der Hund das gemacht. Und als er noch einmal im Halbdunkel nach Alcho ausspähte und sich wieder nicht zum Umkehren entschließen konnte, kam plötzlich Simon, der Mann, bei dem er Weizen holen wollte. Simon blieb vor Gikor stehen und lachte. „Da bist du ja! Ich hab mir schon den Kopf zerbrochen, wo du wohl abgeblieben bist. Den hat das Pferd abgeworfen, hab ich mir gesagt. Bist im Sattel eingeschlafen, was? Hahaha!“ „Ist das Pferd da?“ „Ja, schon lange.“ „Direkt zu dir gelaufen?“ „Ja, es kam auf den Hof und blieb stehen. Wessen Pferd mag das sein? dachten wir und beobachteten es eine Weile. Und weil es tatsächlich nicht wieder wegging, kamen wir auf den Gedanken, daß es das Pferd sein müßte, mit dem du einmal zu uns gekommen bist, hahaha!“ „Das verfluchte Biest ist durchgegangen, vor einem Hund weggerannt. Der ganze Käse ist zerbröckelt. Hat es die Hühner noch?“ „Ja, die sind noch da.“ „Die hab ich eigens für euch mitgebracht, von den Bergen. Ich sehe, dies Jahr habt ihr gutes Korn.“ „Ja, in Hülle und Fülle.“ „Mazun hab ich euch mitgebracht, von den Bergen. Das Tier kam auf euren Hof und blieb da stehen, sagst du?“ 200


„Wie angewurzelt.“ „Es kennt eben seine Pflichten!“ Gikor lachte. „Man kann ihm aufladen, soviel man will, schickt man es dann auf den Weg, läuft es ganz allein nach Zmakut, schnurstracks zu mir.“ Im ersten Kriegswinter hatte Gikor Simons Frau und dessen fünf Kinder mit Kartoffeln durchgefüttert, in der Scheune hatten sie gehaust. Außerdem hatte er noch andere Leute beherbergt, die jetzt, wie er gehört hatte, in Jerewan wohnten und eine hohe Stellung bekleideten, ihre Tochter sollte an einem Institut Dozent oder so was sein. Die Leute müßte er mal ausfindig machen, das würde was einbringen. Ja, dachte er, hier ist das Dorf groß und eng, die Häuser hocken geradezu aufeinander. Hat man hier ein Grundstück von tausenddreihundert Quadratmetern, dann nimmt es auch genau diese Fläche ein und keinen Zentimeter mehr. Hier ist der Dorfsowjet wirklich ein Dorfsowjet, der Zwistigkeiten und Beschwerden entscheidet. Wenn hier die Mädchen vor der Hochzeit schwanger werden, ist der Dorfsowjet zur Stelle. Bestimmt können die Burschen, die hier wohnen, auch mähen, aber sie tun es nicht. Sie tragen nagelneue Anzüge, stehen vor dem Klub herum und werfen sich Blicke zu. Und der Vorsitzende sieht sich das mit an, ohne sie auszuschimpfen, denn das wäre Ausdruck einer gewissen Vertraulichkeit, und dafür ist das Dorf zu groß. Zu Kriegszeiten bricht die Hungersnot zuerst in Dörfern dieser Art aus und dann erst in der Stadt, denn hier fehlen die städtische Ordnung und Disziplin, andererseits aber auch der Überfluß, der in kleinen Dörfern herrscht. Ja, hier kann man tatsächlich dicke Männer auf der Straße sitzen und Nardy spielen sehen; 201


kommt ein Regenguß, dann gehen sie ins nächste Haus und spielen da weiter. In Zmakut dagegen ist ein Regen gleichbedeutend mit der Sorge um das Heu. Nein, beschließt Gikor, ich ziehe nicht in die Stadt, da grölt nachts ein betrunkener Schuster mit dem Messer in der Hand unterm Fenster, und am nächsten Morgen erfährt man, daß in der benachbarten Straße der Nachtwächter erstochen wurde. Ich hab noch an die zehn, fünfzehn Jahre zu leben, die will ich in Zmakut verbringen, und wenn ich sterbe, begräbt man mich Seite an Seite neben Adam, Mowses, meinem Großvater, Saak und Lado. Aus dem Lautsprecher dröhnte eine Stimme. „Ein ruhiges Volk ist das bei euch“, sagte Fuchs Gikor. „Warum sollte es unruhig sein?“ „Das meine ich nicht.“ Gikor blieb stehen. „Ihr spielt hierzulande sogar Nardy.“ Vor dem Klub, dem Kaufhaus und der Verwaltung standen dermaßen viele Leute, daß Gikor nicht erkennen konnte, wer von ihnen ein Vorgesetzter war und wer nicht. Und allesamt waren elegant. Der Lautsprecher hing über der Verwaltung. Aber daß die Leute der Sendung zuhörten, konnte man wahrhaftig nicht behaupten. Ob sie bloß dastanden und über irgendwas nachdachten? Nein, die Hiesigen waren aufs Nachdenken wohl nicht übermäßig versessen. Gikor hatte sie im Krieg kennengelernt, recht gut sogar, er hatte sie geradezu studiert. Obgleich es eigentlich nichts zu studieren gab, weil sowieso alles sonnenklar zutage trat. Diese Leute verbrachten den Krieg, indem sie Kartoffeln aßen, zu Bett gingen und schliefen. Hatten sie Kartoffeln, dann aßen sie welche, hatten 202


sie keine, dann saßen sie da und warteten, bis es welche gab. Aber woher die Kartoffeln kamen und wie sie beschafft wurden, das war ihnen schnurzegal. Die Welt ist groß, Gott wird uns nicht verhungern lassen. „Simon“, sagte Gikor, „steht es bei euch wirklich so gut mit dem Getreide, oder machst du Witze?“ „Ich allein hab an die drei Tonnen.“ „Hör mal, aber wer mäht denn eure Felder? Das kapier ich nicht!“ „Die Kombine.“ „Hoch die Kombine!“ Gikor grinste. „Ist ja ein Prachtstück, diese Kombine!“ Ein Motorrad knatterte vorbei; im Sattel saßen drei finster blickende Bursdien. „Das Leben hat sich verändert“, sagte Gikor, „zehn Pud Getreide waren früher zehn Pud Getreide, und du konntest sie weder verschenken noch geschenkt bekommen. Aber“, säuselte er, „man kann nichts dagegen madien: Bei uns wächst so schlechtes Korn und bei euch so gutes, daß einem kein anderes mehr schmeckt, wenn man es einmal gekostet hat.“ Ihnen entgegen kam ein Mädchen, ernsthaft und städtisch anzusehen, und Gikor wurde bewußt, daß er unter dem Arm die schmutzige Plane und in der Hand das stinkende, nasse Säckchen trug. In diesem Augenblick rasten wieder die Burschen mit ihrem Motorrad vorbei, der letzte beugte sich seitwärts, klatschte dem Mädchen auf den Hintern, und dann fuhren sie davon, ohne überhaupt richtig zu lachen. Und das Mädchen wurde nicht wütend, schimpfte nicht. Ja, du lieber Gott, es wunderte sich nicht mal! Und Simon auch nicht, er ging weiter, als wäre überhaupt nichts passiert. „Pfui-i-i!“ Gikor kam die Erkenntnis, daß sein Sohn 20 3


Gewik in der Stadt ebenfalls solche Dinge anstellen könnte. „Pfui-i-i!“ In der Stadt wimmelt es von Frauen, du kennst sie nicht alle, weißt nicht, wer wessen Tochter und wessen Frau ist, und weil du das nicht weißt, verschwindet dein Schamgefühl, klarer Fall. „Simon“, sagte Gikor, „Simon, immer mehr Leute scheinen nicht zu arbeiten, das muß sich doch auf das Brot auswirken, dabei wird das Leben immer leichter, ist das nicht sonderbar?“ Simon hatte angebaut, zwei Stuben auf seinem Hanse aufgestockt. „Schau sich das einer an!“ stotterte Gikor. Alcho stand in der Dunkelheit vor dem Stall. Er fraß nicht, obwohl man ihm so etwas wie Heu vorgeworfen hatte. Er machte einen trübseligen Eindruck. Simons jüngster Sprößling, ein dreizehnjähriger Junge, stand neben ihm und knipste eine Taschenlampe an und aus. Das Radio dröhnte in voller Lautstärke, niemand schaltete es aus. Wieder knatterte das Motorrad vorüber. Vermutlich ist Alcho so trübselig, weil der Hund ihn gebissen hat, dachte Gikor. „Als was arbeitest du?“ erkundigte er sich bei Simon. „Wie es sich trifft. Ich hin Mechanisator.“ „Was heißt Mechanisator? Traktorist?“ „Ja, ich kann beispielsweise als Traktorist gehen oder auch als Kombinefahrer.“ „Lügst du auch nicht?“ Simon zuckte die Schultern. Warum sollte er lügen? Sein Sohn hielt noch immer die Taschenlampe in der Hand und knipste sie an und aus. „Hast du eine Kuh?“ „Was soll ich damit?“ 204


„Ja, das wäre woh! eine überflüssige Belastung!“ Der fragt mich, was er mit einer Kuh soll! „Und wie steht es mit Butter und Käse ?“ „Das findet sich.“ „Na, wenn’s sich findet!“ Das ist mir aber ein schlampiges Volk, ein schlampiges! Ich möcht bloß mal wissen, warum ich im Krieg die vielen Kartoffeln an euch vergeudet hab! ,Ieh kann als Traktorist gehen oder auch als Kombinefahrer. .Blöder Aufschneider! Eine Kuh braucht er nicht. „He, Junge, mach das Ding nicht kaputt! Leg es weg!“ Simons Sprößling warf Gikor einen gleichgültigen Blick zu, drehte ihm den Rücken und spielte weiter mit der Lampe. „Was hat er? Ist er beleidigt, hast du ihn verprügelt?“ erkundigte Gikor sich bei Simon. „Nein.“ „Aber er benimmt sich doch, als sei er beleidigt, oder?“ „Meine Jungs sind alle so — jeder ist gern für sich.“ „Das ist schlecht“, sagte Gikor. „Was kümmert’s mich, sie betteln mich nicht um Brot an.“ „Nein?“ fragte Gikor. „Selbstverständlich ernähre ich sie, aber sie wissen allein, was sie zu tun haben, es sind selbständige Leute.“ Der rote Köter hatte Alcho tatsächlich in den Hals gebissen. Gikor bat um kochendes Wasser. Gewik wird in der Stadt natürlich auch den Weibern nachstellen. In der Stadt gibt es wohl viele von der Sorte. 1st doch klar, daß er ihnen nachläuft, wo er so viel freie Zeit hat — fünf, sechs Stunden sitzt er bloß im 205


Büro, mit dem Chef versteht er sich gut, sie saufen zusammen, was soll er sonst machen? Klarer Fall. Deshalb ist er auch so piekfein angezogen, richtig städtisch, und bei der Krawatte merkt man die Frauenhand, so was brächte er allein nicht fertig. Ja, da ist zweifellos eine Frau im Spiel. Und wenn er mal ins Dorf kommt, hält er es keine drei Tage aus. Bei der Ankunft heißt es überfreundlich: ,Guten Tag, wie geht’s, wie steht’s? 1 Aber kurz darauf fängt er an zu gähnen, und ehe man’s sich versieht, packt er schon seine Sachen. ,Wo willst du hin?‘ — ,Auf Wiedersehen!1 — ,Ja, hist du von Sinnen?1 — ,Ich muß zum Dienst.1 Aber Kartoffeln, die braucht er. Kartoffeln und Kohl. Und Butter, Käse, Obst, Gemüse. Nein, dagegen hat er nichts, das braucht er, aber er kann das nicht alles mitschleppen. ,Seid doch um Gottes willen so liebenswürdig und schickt es mir bei Gelegenheit.1 Und ich kann dann rumrennen, einen Fahrer anflehen, die Sachen mitzunehmen, und hab ich ihn mit Müh und Not überredet, darf ich die Säcke aufladen, und wenn ich mir in der Eile den Kopf an der Querstange stoße, muß ich dem Fahrer obendrein noch zulachen. ,Gleich, gleich, noch einen Augenblick, der Kohl ist noch nicht drauf.1 Und dann, nachdem ich auch noch den Kohl verladen hab, darf ich mir den Schweiß von der Stirn wischen und aufatmen, daß alles so gut klappt. Und hinterher darf ich in jedem Brief die Säcke zurückverlangen, doch nur in Gewiks Interesse. Da kann ich bitten und betteln, aber er stellt sich taub und tut, als war er ungeheuer beschäftigt. Und womit, frage ich mich? Mit seinen Schlampen! Als Gikor annahm, daß das Wasser kochte, stellte sich heraus, daß niemand seiner Bitte nachgekommen war. Er wiederholte sie. 20Ճ


„Na, das ist doch bloß ein Pferd, was kann dem schon passieren?“ Da begriff Gikor, daß Alcho hier das einzige Lebewesen war, das ihm nahestand. „Natürlich!“ Er grinste bitter. „Ein Pferd ist kein Traktor. Und keine Kombine.“ Doch dann fürchtete er, daß Simon glauben könnte, er wolle sich über ihn lustig machen. „Das Pferd gehört mir nicht.“ „Vielleicht war Jod das richtige?“ Will der mich obendrein verhöhnen? „Laß welches holen!“ sagte Gikor und dachte: Laß es dir doch bringen, was bist du denn für ein Mann! Dein Rotzbengel, dieser Dreikäsehoch, spielt mit der Taschenlampe, und du holst das Jod selber! - „Gib her.“ Als sie Watte auf die Wunde legten, erzitterte das Pferd, der Schweiß brach ihm aus, und es preßte sich an Gikor. Das Pferd werde ich Andro abkaufen! beschloß Gikor. Jeden Preis, den er verlangt, werde ich zahlen. Darin will ich es hegen und pflegen, und wir werden zusammen unseren Lebensabend verbringen. Er nahm ihm den Sattel ab und säuberte ihn. „Und wie wollen wir zwei die Steigung bewältigen, Alcho? Du bist alt, und ich bin alt, nicht wahr?“ Wieder verfluchte er Andro, weil der sein Pferd jedem gab, der ihn darum bat. Ein solches Pferd! „Und jetzt will ich Alcho zur Tränke führen.“ „Das macht der Junge.“ Simon hielt ihn zurück. „Makbet!“ „Na ja, der kann das besser als unsereins“, sagte Gikor lachend, doch die kalten blauen Augen des Jungen mißfielen ihm. Und auch, daß er nicht aufhörte, seine Taschenlampe an-und auszuknipsen, immer an und aus. 207


„He, Makbet, wir machen ein Wettrennen!“ Draußen knatterte das Motorrad. Sie saßen am Tisch und tranken Tee, ihr Brot schmeckte gut, und auf dem Tisch stand Feigenkonfitüre. Ihr Weißbrot schmeckte ausgezeichnet. Sie versprachen, ihm so viel Korn mitzugeben, wie er fortschaffen konnte. „Ich hab Geld mit, ich werd’s bezahlen!“ sagte er, doch seine Gastgeber winkten nur ab, laß das Geld, unsere Vorratskammern platzen. Ja, danke, daheim in Zmakut sei alles in Ordnung, bis auf das Korn, alles gedeihe, bloß das Korn sei schlecht, es reiche auch nicht. „Verbraucht ihr staatliches?“ — „Ja, wir nehmen Korn und Mehl, trotzdem schmeckt’s nicht.“ Und seine Frau sei ’ne richtige Greisin geworden, da sei seine Mutter ja noch rüstiger. Sie hätte ihnen eigentlich Oliven mitschicken wollen, aber gefürchtet, daß sie unterwegs auf den heißen Asphaltstraßen verderben würden. Während der ganzen Zeit horchte Gikor nach draußen. Der Junge kam nicht wieder mit Aleho, reichlich lange blieb er weg, „Wo bleibt denn dein Sohn?“ fragte Gikor. „Keine Sorge, dem passiert nichts“, beruhigte ihn Simon. „Wie lernt er in der Schule — gut?“ „Ja, ganz gut, er interessiert sich bloß zu sehr für Traktoren.“ „Mir kommt er etwas ... etwas undurchsichtig vor, hab ich recht?“ „Stimmt, das trifft zu!“ Der Vater lachte. „Bei der Prüfung haben sie sich ein Telefon gelegt und sich gegenseitig vorgesagt.“ „Tüchtig!“ Gikor zog ein saures Gesicht. 208


Sie schlugen Aleho nicht. Sie führten ihn zur Quelle und sahen zu, wie er trank und wie sein Bauch anschwoll. Dann fürchteten sie, daß er zuviel trank, und zerrten ihn weg vom Wasser. Als aber ein Junge sagte, er hätte festgestellt, daß die Pferde das Wasser mit geschlossenen Lippen tränken, führten sie ihn zurück, um das nachzuprüfen. Tatsächlich, er trank mit fest geschlossenen Lippen, damit ihm kein Sand oder Schmutz ins Maul kam. Danach führten sie ihn aus dem Dorf hinaus auf die Landstraße. Aleho hatte Angst vor dreizehn- bis fünfzehnjährigen Jungen. Lieber unerträglich schwere Lasten, lieber den Weg zur Bahnstation, die spitzschnauzige Hündin, den roten Köter, die verlauste Töle, alle Hunde zusammen genommen, eine Schlange obendrein und noch Hummeln dazu, denn dabei wußte er wenigstens, was passieren würde. Als die Jungen ihn jedoch die Landstraße entlangführten, rechnete er mit einem Abgrund. Er wartete auf einen Abgrund zu seinen Füßen, aber es kam keiner, nur ein Motorrad fuhr hinter ihm her. Trotzdem traute Aleho ihnen nicht, selbst als sie ihm zu trinken gaben, traute er ihnen nicht. Sie führten ihn eine Weile, blieben dann plötzlich stehen, stritten sich, wer sich auf ihn schwingen sollte, kletterten dann zu dritt auf seinen Rücken und ließen ihn traben. Es war Aleho unbequem, aber egal, er konnte es aushalten. Doch als das Motorrad ihnen nachjagte, begann die Folter: Das Motorrad kam von hinten, von vorn, von der Seite, kreuzte ihm vor den Beinen herum. Da dachte er, daß es wirklich besser wäre, wenn sie ihn verprügelten und es damit genug sein ließen. „Schluß, das Tier ist müde, laßt es verschnaufen.“

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„He, Makbet, sein Brennstoff ist zu Ende, hörst du!“ Sie stritten sich, was. besser sei, ein Pferd oder ein Motorrad. Dann war das Motorrad weg, aber sie machten Blödsinn mit seinem Schweif, trieben ihn an, hielten sich dabei an seinem Schweif fest und rissen ihn beinahe aus. Selbstverständlich riß er nicht wirklich ab, aber es tat weh. Und besser war’s gewesen, wenn sie ihn gleich richtig ausgerissen hätten. Als sie ihm die Taschenlampe auf der Stirn befestigten, drehte sich ihm vor Ekel fast der Magen um. Obendrein kamen sie plötzlich auf den Einfall, ihn zu füttern. „Und jetzt frißt du Gras!“ sagte der eine. „Gras sollst du fressen!“ sagte der zweite und drückte ihm den Kopf hinunter. Der dritte hielt ihm eine Blume unter die Nase. „Friß die Blume, freu dich, daß du eine kriegst.“ „Der kapiert nicht.“ „Es ist dunkel, wahrscheinlich sieht er nichts.“ Der Mond überflutete die Erde mit milchigem Licht, ruhig goß seine große Scheibe das Licht über die Erde aus. Die Steine zwinkerten. Nur zur Hälfte waren es Sterne. Die andere Hälfte waren Planeten, ebensolche wie der unsrige. Auf den Planeten wohnten vermutlich Menschen. Und vermutlich betrachteten die Menschen auf den Planeten augenblicklich durch große Fernrohre die Erde; sie sahen ein gemähtes Feld, drei Jungen, ein Pferd und das seltsam traurige Licht einer Taschenlampe, die dem Pferd an der Stirn befestigt war. Traurig und komisch. Als Gikor und Simon hinzukamen, lag das Feld noch immer in milchig weißem Mondlicht da; der Schatten des Pferdes schwankte, leise erloschen blasse Sternschnuppen, und mit weit aufgerissenen Augen, kon210


zentriert und schweigend, starrten drei bräunliche dunkeläugige Knaben das Pferd mit der Lampe an. „Wir hypnotisieren es.“ Gikor verprügelte sie nicht, es waren immerhin fremder Leute Kinder. Und Simon schalt seinen Sohn nicht, weil er glaubte, daß die Jungen nichts angestellt hätten, da sie nicht wegliefen. Wortlos nahm Gikor dem Pferd die Lampe ab und steckte sie in die Tasche. Er wollte sie behalten. Simon würde es nicht wagen, sie zurückzuverlangen. Folglich würde es nun in Zmakut eine Taschenlampe geben - das stand bereits fest. Vielleicht sollte er Alcho nicht so unmenschlich beladen, wie? Es herrschten schließlich weder Hungersnot noch Dürre. Seine Gastgeber dachten nicht daran, für das Pferd einzutreten. Sie hatten wohl Angst, geizig zu wirken, wie? Alcho nahm die ganze Last auf sich, er verschwand unter ihr, als wäre er bereits gestorben. „Das ist doch wohl ein bißchen reichlich!“ In England, oder wie das Land heißt, sollen ja die Söhne, wenn sie in einer anderen Stadt wohnen, einmal monatlich nach Hause schreiben. So und so, es geht mir gut, was ich auch von euch hoffe. Und Geld schicken, Monat für Monat, gewissenhaft ihre Sohnespflicht erfüllen, die Teufel. Na ja, England ist auch ein anständiges Land, dort kennt man noch Zucht und Sitte! Alcho wird den Heimweg bestimmt nicht schaffen! Bei diesem Gedanken fühlte Gikor sich erschöpft, seine fünfundsechzig Jahre kamen ihm zu Bewußtsein, und er spürte eine verschwommene Angst. „Alcho!“ Er richtete ihm Zaumzeug, Sattel, Packriemen. „Alcho!“ Aber Alcho trabte weiter, mit dumpfem, kaum hör-

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barem Stöhnen. Alcho trabte, der Last zum Trotz, seinem Leben zum Trotz. Ich möcht wohl wissen, warum sie den Arschak aus Nessoi umgebradit haben. Wahrscheinlich hatte er Geld bei sich, die paar Kopeken, die er in der Stadt für seine Butter erhalten hatte. „Wie sollen wir zwei bloß nach Hause kommen, Alcho?“ Gikor begriff, daß er alt geworden war, daß der Ritt ihn angestrengt hatte. Der fröhliche Autobus vom Morgen fiel ihm ein, und er fluchte: „Der Teufel soll euch holen, ihr blöden Idioten!“ Aber den Autobus vergaß er gleich wieder und sah nun Andro vor sich, wie er mit seinem Eselsgesicht am Leiterwagen gestanden hatte. Dieser Schlappschwanz! Wegen der Weiber ist er zu allem bereit. Auch Aschchen kam ihm ins Gedächtnis, aber er grollte ihr nicht. Dagegen erinnerte er sich angewidert und verächtlich an den roten Mund seines Sohnes. Und er sah den Fluß vor sich, Alcho am Ufer, die beiden Mädchen, die in der Sonne bratende Riesendame, und fluchend stellte er sich seinen Sohn neben ihr vor. Und er fluchte noch einmal, weil Gewik klein und schmächtig wirken würde neben der Riesendame und es ihm sehr mißfiel, daß die Riesendame imstande wäre, den Sohn an der weißen Nase zu packen, so daß ihm die Luft wegbliebe. „Seit dem achten Schuljahr raucht er, der Hundesohn!“ Und er dachte an das verqualmte Zimmer im Kreiskomitee, wo man ihn aus der Partei ausgeschlossen und seines Postens als Vorsitzender enthoben hatte. Damals war er auch so ein Packpferd gewesen. Noch während der Sitzung hatten seine Gedanken um das Heu daheim in Zmakut gekreist, und er batte sich Sorge gemacht, ob die Kartoffeln auch

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nicht verderben würden. Immer schon hatte er Angst vor Hungerzeiten und Dürrejahren gehabt. Und als er jetzt an das Korn im Speicher und an die Weizenfelder dachte, begriff er, daß er auf Tod und Leben an diese Felder und Speicher gefesselt war, ebenso wie Alcho an seine Last, gleichgültig, ob die Felder ihm gehörten oder nicht, wenn sie nur in Zmakut lagen. Er fluchte auf den Bäcker Wago, der so schlechtes Brot buk, und malte sich aus, wie es sein würde, wenn er seinen gesamten Besitz verkaufte und in die Stadt zöge. Aber auch in der Phantasie konnte er keine Minute lang in der Stadt leben. „Alcho, mein Alcho!“ Und während er an seinen Sohn Gewik dachte, fiel ihm ein, daß er ihm einmal ein Lamm mitgebracht hatte. Da hatte Gewik seine Arbeitskollegen und eine langbeinige Sekretärin eingeladen, er, Gikor, hatte zusammen mit der Schwiegertochter Schaschlyk gemacht, und der Rauch hatte ihnen in den Augen gebrannt. Als dann schließlich alles fertig war und Gikor ins Zimmer kam, sah er die Gäste seines Sohnes stieren Blicks vollgefressen und vollgetrunken dasitzen. „Wir haben nicht auf dich gewartet, Vater, Schaschlyk muß doch heiß gegessen werden, trink jetzt auf unsere Gesundheit!“ Gikor erinnerte sich an den dummen Stolz, der ihn plötzlich überkommen und veranlaßt hatte, von seiner und Lewons Reise nach Moskau zu erzählen, obgleich niemand ihm zuhörte. Und es kam ihm wieder ins Gedächtnis, wie sich Gewik damals seines Vaters und seiner bäuerlichen Ehefrau geschämt hatte. Ach, du lieber Gott! Und dann dachte Gikor, wie viele Schmarotzer es doch auf der Erde gibt, und daß man auch den Staat bedauern muß, weil er dermaßen viele Schma213


rotzcr zu versorgen hat, die nur auf der faulen Haut liegen. „Alcho, mein Lieber! Nein, es ist nichts. Na, aber weil du nun schon mal stehengeblieben bist, rüde ich dir den Sack zurecht. So! let’s nun besser?“ „Deck die Plane über die Säcke!“ sagte Gikor zu seiner Frau. „Reib das Pferd gründlich ab, wirf ihm die Filzdecke über, damit es sich nicht erkältet. Jag die Schweine weg, ich leg mich jetzt schlafen. Und klappre nicht mit deinen Kochtöpfen!“ brüllte er. „Aus Kassach komm ich, der Teufel soll dich und deinen Mazun ...“, brabbelte er beim Einschlafen vor sich hin. Und später? Später blies ein lauer Wind, wie es ihn nur in den Bergen gibt, über die Gipfel, zauste ein wenig an den Wolken, der Farmleiter Lewon schalt mit dem Pferdehirten Mesrop, die Frauen melkten die Schafe, die hungrigen Hunde kläfften, in der Ferne wieherte die orangerote Pferdeherde, Gikors Frau schlachtete ein Huhn, und Alcho schlummerte still und friedlich. Die Schafe zogen auf die Weide, die satten Hunde hatten keine Lust, sie zu begleiten, und trotteten nur widerstrebend hinterher. Alcho stand und ruhte sich aus. Gikor trat aus dem Zelt, setzte sich vor den Eingang und gähnte. Er war miserabler Laune. Aschchen kam. „Du hast ihm doch zuviel aufgeladen!“ sagte sie. „Mach, daß du wegkommst, davon verstehst du nichts!“ schnauzte Gikor. Die Hirten trieben ein fremdes Kalb von der Herde 214


weg, an die zwanzigmal flitzte ein Fuchs dicht vor den Hunden vorbei, und zwanzigmal verschwand er, von den Hunden verfolgt. Gikor ging zur Schlucht hinunter. Lewon hackte Brennholz für die Farm. Mesrop machte sich auf den Weg zu den Pferden, und Alcho zupfte Gras. „Friß nur“, sagte Gikor zu ihm. „Grast du immer noch?“ sagte Gikor am nächsten Morgen zu Alcho. „Das ist recht. Bist ein tüchtiges Pferd. Friß nur, friß.“ Der laue Wind, den es nur in den Bergen gibt, blies über die Gipfel, zauste ein wenig an den Wolken, die Frauen melkten die Schafe, und in der orangeroten Herde wieherte es. Alcho warf den Kopf zurück — die breitflankigen Stuten verströmten einen Duft, der süße Erschöpfung verhieß, eine andere Erschöpfung, als sie das Lastenschleppen hervorruft. Leise wiehernd trabte Alcho auf die Stuten zu. Aus der Herde brach der Hengst hervor, musterte Alcho und stürzte sich auf ihn. Er warf ihn zu Boden, trat ihn mit den Hufen und galoppierte schnaubend davon. Dann kehrte er zur Herde zurück und spähte mit bösen, verächtlichen Blicken auf das jämmerliche Nichts, das es gewagt hatte, sich der Herde zu nähern. Alcho richtete sich auf, stellte sich auf die Beine, blickte zur Herde hinüber — die Stuten verströmten Wärme und Blumenduft. Alcho wieherte. Der Hengst umkreiste seine Herde in leichtem Trab und stürzte sich wiederum auf Alcho, trat ihn aufs neue unter sich und kehrte siegreich und böse zu den Stuten zurück. Über den Himmel glitten Wolkenfetzen, im Grün leuchtete die orangerote Pferdeherde, die ausgehun215


gerteii Hunde winselten und jaulten. Alcho richtete sich auf, stellte sich auf die zitternden Beine, hob den Kopf — die Stuten verströmten Wärme und Blumenduft. Alcho wieherte und strebte zur Herde. „Gikor! Sie bringen das Pferd um! Gikor!“ „Gikor! Zurück, Gikor, er zerquetscht dich! Zurück! Um Christi willen!“ Mit der Heugabel in der Hand stellte Gikor sich dem Hengst in den Weg. „Du Tagedieb! Du Hund! Die Gedärme zieh ich dir raus, du Luder!“ Die Hunde retteten Gikor. Sie kreisten den Hengst ein und drängten ihn von Gikor und Alcho ab. Doch Alcho zog es weiter zu der orangeroten Herde, er setzte sich in Bewegung, ohne auf Gikor zu achten. Alcho lief und lief und trampelte Gikor nieder. Der orangerote Hengst sprengte den Ring, den die Hunde um ihn geschlossen hatten, trat nach Alcho, hiß ihn, schleuderte ihn zu Boden und kehrte zu seiner Herde zurück, die feuerrote Mähne schüttelnd. Bei der Herde angelangt, blickte er zurück und sah, daß Alcho sich wieder auf die Beine stellte, einen Augenblick dastand und dann hinter Gikor hertrottete, die Straße entlang, die zu den kommenden Lasten führte, zurück ins Dorf und von dort zur Bahnstation. „Allerherzlichster Dank!“ wurde Andro gesagt. „Allerherzlichster Dank!“ Da Gikor unbedingt nach Kassach wollte, muß Alcho sich nun hier ausruhen, und der Junge kann zwei Tage lang auf der Bahnstation hocken, denn Alcho ist ja so erschöpft. „Allerherzlichster Dank!“ „ Andranik!“ rief Andros Mutter. 216


„Warum schreist du dauernd Andranik, Mutter?“ „Der Sohn deines Bruders sitzt auf der Bahnstation, Andranik!“ „Hab ich etwa schuld, daß er da sitzt? Hab ich etwa schuld?“ Auf der Bahnstation Im Herbst ereignete sich folgendes: Wir gingen in die neunte Klasse. Im Verlauf eines einzigen süßen, harten, heißen Sommers waren wir erwachsen geworden, und Genosse Dawtjan, unser Schuldirektor und Geographielehrer, dem unsere guten oder schlechten Lernerfolge ebenso gleichgültig waren wie der verborgene Spott, mit dem die anderen Lehrer ihn bedachten, sagte lässig, aus seinem Wohlbehagen und seinem vorgerückten Alter heraus: „Maul halten, ihr Affen!“ Nachts, bei der Heuernte, war der schamlose lahme Spandar leise, die Schuhe in der Hand, hinter einem Heuhaufen hervorgekommen und in der Dunkelheit verschwunden. Gleichzeitig hatte sich die lange Lena im Mondlicht aufgerichtet, einen Augenblick besorgt gehorcht und war dann mit ihren kräftigen ausholenden Schritten in dieselbe Dunkelheit hineingegangen. Und aufgescheucht von ihren Schritten, hatte sich die Witwe Gino schlaftrunken aufgesetzt. „He, wer läuft da?“ Das und ähnliches hatte sich im Sommer zugetragen. Ich hatte das „Decamerone“ gelesen, die Vorjahrskleider waren den Mädchen zu eng geworden, Dshemma Ignatowa hatte mir auf dem Rückweg den Ranzen zugeworfen - „Gib ihn bei meinen Leuten ab!“ — und war

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mit einem Chauffeur aus Kirowakan durchgebrannt, um seine Frau zu werden. Der schmächtige Garusch aus Schamut hatte im Hof der neuen Lehrerin einen Büstenhalter auf der Wäscheleine hängen sehen, die grünäugige Anahit starrte midi unverwandt an, den Kopf in die Hände gestützt, und da sagte Genosse Dawtjan im Halbschlaf: „Maul halten, ihr faulen Affen.“ Und ich erwiderte, bloß um festzustellen, ob er richtig schlief oder bloß döste, ich erwiderte: „Wir sind keine Affen.“ Wie sich herausstellte, hatte er überhaupt nicht geschlafen. „Wer denn sonst?“ fragte er. Die Vorjahrskleider waren den Mädchen zu eng geworden und krachten in den Nähten, wir hatten die Wäsche gesehen, die im Hof der neuen Lehrerin hing, im Sommer hatte Gino die beiden - die lange Lena und den lahmen Spandar - gestört, und bei Anahit drohten die Brüste das Wollkleid und die Haut zu sprengen. Langsam, mühsam stand ich auf, senkte verächtlich den Kopf und wartete. „Wenn ihr keine Affen seid, wer denn sonst?“ fragte er. Von der Vorderbank blickte mich Garuschs magere kleine Schwester erschrocken an, hinter meinem Rükken füllten sich Anahits herrliche Augen mit Entsetzen, vorsichtig stützte ich mich auf die Bank und zuck te die Schultern. „Irgendwer!“ sagte ich und blickte ihm gerade ins Gesicht. „Fahr fort!“ gab er zu rüde. „Das fehlte noch“, sagte ich. Er wies mich aus der Klasse. 218


„Geh Schweine hüten, hier bist du nicht am rechten Platz.“ Für das Geld, das ich in diesem Sommer verdient hatte, kaufte ich ein Oberhemd, ein Jackett, eine Uhr, ein Paar Schuhe, eine Hose, eine Badehose, einen Füller, für die Mutter ein Umschlagetuch, für die Kleinen Bonbons; in diesem September spürten wir die geheimnisvolle Glut, die von unserer Französischlehrerin, unserer Pionierleiterin, von allen Mädchen aus der achten, neunten und zehnten Klasse ausging. „Denkste!“ sagte ich. Und weil dieLehrer, die Schüler, die Eltern der Schüler ihn nicht nur dann respektieren sollten, wenn sie ihm begegneten und mit ihm sprachen, sondern auch in der übrigen Zeit - bei sich daheim, beim Mittagessen, auf der Toilette, beim Zeitunglesen, heim Ausgehen —, jagte er mich aus der Schule. „Affe“, sagte er zum Schluß. Ich antwortete nicht: „Das sagt mir ein Affe!“ Und deshalb blieb mir noch die Hoffnung, daß er mich vielleicht wieder aufnehmen würde, wenn ich ihn dringlich bat. Doch mein Vater war anderer Ansicht — er schickte mich in die Gewerbeschule. Bei uns daheim krakeelten zehn Kinder, meine Brüder, die blitzschnell sämtliche Wurstbrote vertilgten. „Werde Maurer, dann kannst du was für die Familie beisteuern.“ „Boxen! Stop! Mit der Linken! Nur mit der Linken! Du hast keine Rechte! Boxen! Links! Links! Links! Links! Prima!“ In der ersten Runde zerquetschte ich Karapet Karapetjan die Nase. Er war aus Aharan in die Gewerbeschule gekommen und kämpfte wie ein massiver Stier, als wollte er mit den Hörnern stoßen. Bei den fünfzehn 219


Kämpfen dieses Jahres zerkeilte ich ihm vierzehnmal sein dümmliches, breites Gesicht. Er wurde mir allmählich langweilig, er erschöpfte mich durch seine unerschütterliche Bereitschaft, sich besiegen zu lassen, seine Anwesenheit beunruhigte und mobilisierte mich nicht mehr. Doch bei unserem fünfzehnten entscheidenden Kampf ließ er seine Faust mit vernichtender Kraft gegen mein Kinn sausen, meine Nase stieß gegen den Boden, und auf meinen Lippen schmeckte ich mein Blut, vermischt mit Staub. „Links, links, links!“ Unser Trainer sprang um mich herum. „Warum vergißt du immer deine Linke, du Schlafmütze!“ Im Herbst dieses Jahres schickte man uns nach Moskau. Ein ernst zu nehmender Gegner war nicht vorhanden. Er existierte nicht. Im Ring, im Seilquadrat, gab es nur einen Sieg und eine Niederlage, den Sieg für Makanin, die Niederlage für mich. Wir waren die beiden Gegner. Aber bei Gott, ich nahm Makanin gar nicht wahr, meine Faust fand ihn überhaupt nicht. Anscheinend befand er sich in der Nähe, dicht vor mir, denn ihm wurde Beifall geklatscht, aber nein, er war nicht da, er war nicht da — ich sah ihn nicht, ich boxte gegen die Luft, gegen die Seile, hielt den Ringrichter für Makanin. „Nimm die Linke! Links!“ flüsterte der Trainer, ich schnellte herum, um Makanin mit der Linken zu treffen, aber auch mit der Rechten, mit dem Knie, mit dem Kopf, um ihm seine Wendigkeit zu nehmen, um ihn endlich zu einem realen, sichtbaren Gegner zu machen, wie es sich gehörte, aber er war wieder nicht da. Ich flog gegen die Seile. „Laß mich mit deiner Linken zufrieden!“ brüllte ich den Trainer an. 220


Und das Stüde Brot blieb mir in der Kehle stecken, das Schneeweiß meines Bettes ließ mich gleidigültig, die Mädchen erweckten in mir nicht den Mann. In diesem Jahr wurde eine lange Skizze von mir veröffentlicht. Meine Boxgeschichte druckten sie nicht, sie sagten: „Schau hin, da ist der Ring, da sind die Seile, im Ring befinden sich die Gegner, der Ringrichter ist auch da. Alles vorhanden? Fehlt was? Nein. So, und nun holen die Gegner den Sieg aus dem Ungewissen, der Stärkere siegt, und die Worte: ,1m Seilquadrat gab es nur einen Sieg und eine Niederlage 1 haben dabei überhaupt nichts zu suchen.“ Meine Skizze über die Bauleute erhielt in einem Wettbewerb den ersten Preis. Mit achtzehn Lenzen lernte ich, was Liebe ist. An jenem Tag mußte ich an die Schule in unserm Dorf und an ihren Direktor, den Genossen Dawtjan, denken, und ich lachte. Ich lachte über die ganze Entwicklung: Dawtjan hatte mir das Schicksal eines Schweinehirten prophezeit, und als ich midi in der Tür umdrehte, um „denkste“ zu ihm zu sagen, sah ich, wie Merushan, ein Junge aus Schamut, eifrig die Hand hob, um die Lektion herzubeten. In meiner Erinnerung hob er weiter die Hand und strebte zur Klassentafel, ich aber besuchte inzwischen Moskau, errang einen Sieg, erlitt eine Niederlage. Und nun saß ich in einem Hotel, und während ich mich im Bad wusch, schlief in meinem Zimmer eine Frau, deren Namen ich nicht genau kannte, Ehrenwort! Ida hieß sie wohl oder Aida. Die mittlere Reife erwarb ich an einer Abendschule. Und während die Schamuter und Schamuterinnen in der Universität auf den Gängen standen, in ihren unbequemen Sonntagskleidern, schwitzend vor Examensfieber und Asphaltglut, vor Ungewißheit und vor der 221


ungeheuerlichen Strenge der Examinatoren, da war ein Werk in aller Munde, das die Reife einer Diplomarbeit und die glanzvolle Form klassischer Literatur besaß. Es war meine schriftliche Arbeit. „Na, wie geht’s dem Affen?“ fragte ich die Sefaamuter und Schamuterinnen. Und großmütig fügte ich hinzu: „Er ist schon ein alter Mann, Gott schenke ihm Gesundheit, mag er in Frieden seinen Lebensabend verbringen.“ Und dann sagte ich noch zu den Schamutern: „Was für eine Meinung hat mein Vater jetzt über den Maurerberuf?“ „Na, hast du deine Lektion gelernt, Brüderchen?“ fragte ich Merushan im singenden Dialekt unserer Gegend. „Willst also ans Institut?“ Im selben Jahr mißlang ein zweiter Versuch, mich in die Boxstaffel des Landes hineinzubringen, aber dieser Mißerfolg betrübte mich nicht, weil ich zahlreiche andere Erfolge aufzuweisen hatte. In dichter Folge erschienen drei Skizzen und eine Erzählung aus meiner Feder. Ich eröffnete einen Diskussionsabend mit einem bekannten Lyriker. Während sich die anderen Studenten schon vor dem Schatten des Dekans fürchteten, wurde seine Sekretärin mein, ohne irgendwelche Verpflichtungen meinerseits. Die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Konferenz in Tbilissi, zu der meine Kommilitonen ausnahmslos gefahren wären, bebend vor Ehrfurcht und mit klopfendem Herzen, lehnte ich kühl ab. Als ich den weltberühmten Sarjan interviewte, er sich aus Unaufmerksamkeit versprach und etwas Falsches sagte, verbesserte ich ihn: „Vielleicht ist es so und nicht so?“ Und er stimmte mir sofort zu und berichtigte sich. Während einer Vorlesung über Politökonomie schrieb ich an einer ausführlichen Skizze für

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die Zeitung, hob aber von Zeit zu Zeit den Kopf und widersprach dem Lektor, der daraufhin den Faden verlor, während ich mich wieder in meine Skizze vertiefte, Wer shine zublinkerte, Aelita in den glatten Nacken blies und über die Schulter hinweg zu Suren sagte: „Stör mich nicht, du Teufelssohn, wir gehen nachher zusammen saufen, laß mich fertigschreiben.“ Und während Alcho still, Schritt für Schritt, seine eigene und Fuchs Gikors Last dem Ort Zmakut naherbrachte, saß ich in der Polsterklasse des Zuges Jerewan-Moskau und bildete mir ein, ein Günstling des Schicksals, ein Erfolgsmensch, ein Publikumsliebling sowie unwiderstehlich für jede Frau zu sein. „Ach, dieser Hrant Karjan!“ Dumas der Ältere, weltberühmt, von Frauen umgeben — das war ich. Kutusow, der während der Entscheidungsschlacht ruhig schlief — das war ich. Der armenische König Artawas, der hoch erhobenen Hauptes an der Hetäre Kleopatra vorüber zum Richtblock schritt — das war wiederum ich. Der Nobelpreis, ein Souper im „Montparnasse“: „Zwei Flaschen Kognak für Tisch drei!“ Und das Kätzchen Brigitte Bardot. Und Picasso: „Das Mädchen auf der Kugel“. Und Gespräche wie: „Ich hasse Sie!“ — „Der Kaiser läßt bitten.“ — „Richten Sie dem Kaiser aus, daß ich noch eine Stunde hier aufgehaltcn werde.“ „Wershine! Wershine!“ „Zu spät.“ „Wershine!“ „Vier Jahre lang, vom ersten Tage an. Daheim, bei den Vorlesungen, in der Universität, heim Unterricht, im Lager, bei den Ausgrabungen. Vier Jahre lang! Wo hattest du nur deine Augen?“ „Wershine!“ 223


„Zu spät!“ „Na gut, Wershine, dann wünsche ich dir ein glückliches Hausfrauendasein!“ Übrigens sollte dieser Wunsch später in Erfüllung gehen. Wershine heiratete einen Ingenieur, kam atemlos, mit Schweißperlen auf der Oberlippe, zum Staatsexamen gerannt, stürzte mitten in den Prüfungen hinaus, um ihrem Kind die Brust zu geben. Und irgendwann würde auch jene unwiderstehliche junge Französin, der Star des französischen Films, nach Jerewan kommen, oder Hrant aus Zmakut würde ganz einfach nach Paris fahren. Als Piedestal dienten mir das lautstarke Entzücken meiner Mutter über mich, die verblüfften Blicke unserer zehn Knirpse, Vaters geheimer Stolz und der Vorschlag, den mir der Dozent Achwerdjan im Korridor der Universität machte: „Bleib in der Aspirantur.“ Und auch, daß ich den Zug Jerewan-Moskau benutzte, daß es ein Schnellzug war und ich mich darin zu Hause fühlte — nach Belieben konnte ich, mit einer frischgebügelten Hose bekleidet, im Gang auf und ab schlendern, ich konnte auch das Fenster öffnen oder rauchen, denn ich wußte, wo sich die Aschenbecher im Zug befanden, und wenn ich Lust bekam, konnte ich mich mit übergeschlagenen Beinen auf meinen Platz setzen. Im Jahre 1939 waren allerdings Fuchs Gikor und mehrere Melkerinnen nach Moskau gefahren und hatten vermutlich ebenfalls den Schnellzug benutzt, aber sie waren sich ihrer Bequemlichkeiten sicherlich nicht bewußt gewesen, hatten sich wie Frachtpakete befördern lassen und waren auch durch Moskau wie Frachtpakete gefahren. „Da ist der Kreml, dies ist die Moskwa, jenes ist das Mausoleum.“ Danach waren sie wieder in den Zug verladen und zu224


rückbefordert worden. Ich dagegen werde von einer unglücklichen Georgierin angestarrt, sie trägt lange Hosen und hat hühnereigroße Augen. Und ich nehme das zur Kenntnis oder auch nicht, wie es mir paßt! Bedauernswerte Frau! Der zweite Reisende des Abteils ist kurzsichtig und hat schon eine Riesenglatze, ich hingegen bin erfolgreich und schön, meine graugestreifte Hose ist gebügelt, die schwarzen Schuhe sind auf Hochglanz geputzt, und weich liegt die dunkle Krawatte auf dem weißen Hemd. Lässig lehne ich auf meinem Platz, mit übergeschlagenen Beinen, die unglückliche Georgierin läßt meine Abteiltür vermutlich nicht mehr aus den Augen, und die dritte Reisende, wohl die Ehefrau des Bebrillten, hat die Finger im goldblonden Haar vergraben und bemüht sich, nicht ständig zu mir hinzusehen, bringt es jedoch nicht fertig. Lord Byron wirft einen flüchtigen Blick auf ihre traurigen Augen, die wundervolle hohe Stirn, die zarten Finger im goldenen Haar, die schlanken Beine unterm Tisch, klopft sich mit der Hand gegen den Mund und gähnt. „Bleibst du in der Aspirantur? Bleib doch!“ Ach, wie langweilen mich all diese halbgebildeten Pädagogen, diese halbgebildeten Dozenten. „Entstehung des Verbs — Meje sagt, Atscharjan sagt, Wwedenski sagt, Atscharjan sagt. . .“ Daraufhin von mir die vernichtend scharfe Replik: „Und was sagen Sie selbst?“ Begleitet von entsetzten Mädchenblicken. Ein heißer Julitag. In den Anlagen vor der Universität gibt Wershine ihrem Kind die Brust, ihr Mann stellt sich vor sie, um sie zu verdecken, doch oben wird sie inzwischen aufgerufen, sie weiß, daß sie schlecht vorbereitet ist. „Der Ursprung des Geldes . . . Das Geld entstand durch . . . “ — „Trink doch, du verdammtes Balg, du fällst mir auf die Ner15 Matewosjan/Schelm

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ven!“ Hinter blauen Schatten schreitet indessen Hrant Karjan durch die Julisonne. Ach, dieser Hrant Karjan, hochgewachsen, schlank, ein Teufelskerl! Schon sein Gang ist schön. Wenn er verschlafen zur Vorlesung kommt, ist er schön, wenn er an der Novemberdemonstration teilnimmt, ist er schön, wenn er mit Karine aus dem Polytechnischen einenTwist tanzt, ist er schön, wenn er bei einer Exkursion mit leichtem Lächeln einen Kurdentanz hinlegt, ist er wieder schön! Der Karine aus dem Polytechnischen hat er eine Ohrfeige gegeben, in die Universität kommt er mit blauem Auge und geschwollenen, geplatzten Lippen, ja, drei gegen einen waren es, und sie drängten ihn gegen eine Mauer. Und dennoch ist der Hundesohn schön, der Schlag soll ihn treffen, aber er ist schön! „Kirowakan! Station Kirowakan!“ Ach, dieses Kirowakan! Rundliche Hausfrauen kochen Konfitüre, schon die dreiundzwanzigste Sorte, in Kittelschürzen, mit gerötetem Gesicht, schwitzend. „Hast du gesehen?“ — „Was?“ — „Das schwarze Auto von Gratschik, vom Stadtsowjet.“ — „Wann hat er das eingetauscht?“ — „Vor fünf Tagen, am Siebzehnten.“ — „Das ist ein Kerl!“ — „Freilich.“ Und die Suite „Kirowakan“, gesungen vom Laienchor des Chemiekombinats: „Mein Kirowakan, dein wundervoller Anblick bezaubert jeden Gast, du Stadt der Lieder, Stadt der Seufzer, du mein Kirowakan!“ Und die Worte meines Vaters: „Laß dich als Lehrer in Kirowakan nieder, dann bauen wir dort ein Haus und werden Kirowakaner.“ Sieh einer an, Provinzkönige wären wir dann, wenn wir in die Dörfer fahren, würde man einen Hammel für uns schlachten, wollen wir nach Jerewan, lassen wir uns jedesmal einen Reiseauftrag geben, bei An226


kunft des Zuges Tbilissi-Jerewan stellen wir uns auf dem Bahnhof ein, um zu sehen, ob etwa passende Sommerfrischlerinnen aussteigen, junge Frauen ohne Mann, und wenn schon mit Mann, dann mit einem Waschlappen. „Na, wie steht’s, hast du die Deine rumgekriegt?“ - „Ich muß abwarten, einstweilen sträubt sie sich noch.“ — „Das tun sie anfangs alle.“ - „Weiß ich.“ Draußen tauchte sekundenlang die winzige Station Fambak auf und verschwand. Arme kleine Station Fambak — nichts als eine rote Mütze, ein grünes Signal und ein einziges Klingelzeichen. Wie viele hochmütige Schnellzüge sind wohl schon an dir vorbeigerast, während du nach wie vor am Hang liegst — ein grünes Signal, eine rote Mütze, ein einziges Klingelzeichen! Auch der zweite Fahrgast des Abteils lebt nur einmal auf der Welt, obendrein kurzsichtig und glatzköpfig. Und die Frau neben ihm ist voll sehnsüchtiger Weiblichkeit. Doch als die Abteiltür sich öffnet und Brigitte Bardot eintritt, schämt sich die Arme, daß sie so ausländisch dagesessen hat, die Finger im Haar vergraben und mit nackten Beinen* und daß sie sich bisher für schön gehalten hat. „Fährt der junge Mann nach Moskau, zum Examen?“ „Der junge Mann hat die Universität gerade hinter sich“, antwortete ich, ohne meine Haltung zu ändern, im Schmuck meiner weichen Krawatte, und sagte mir, daß die Unterhaltung Pariser Niveau habe. „Tatsächlich?“ „Es tagt. Sie haben durchaus nicht geschlafen.“ „Wohin fährt der junge Mann?“ „Nach Zmakut. Das liegt in der Tschechoslowakei“, antwortete ich und stand auf. 227


Der verschlafene Schaffner kam, um mir mitzuteilen, daß der Zug gleich in Kolageran einlaufen und dort nur eine Minute Aufenthalt haben würde. „Npch Zmakut!“ wiederholte ich, schleppte meine Körbe und Koffer auf den Gang und spürte, wie das Dorf Zmakut an Bedeutung gewann. Meine Gesprächspartner waren selbstverständlich der Meinung, daß sich in diesem Augenblick eine Ungerechtigkeit ereignete - der junge Mann, der für Paris wie geschaffen war, sollte in einem gewissen Kolageran aussteigen, um in ein gewisses Zmakut weiterzureisen. Langsam glitt der Zug davon, und gleichmütig, die Hände in den Hosentaschen, beobachtete Hrant Karjan sein Entschwinden. Die auf dem Bahnsteig stehenden Körbe und Koffer waren herrenloses Gut, da Hrant Karjan in keinerlei Beziehung zu ihnen stand. Kolageran gewann an Bedeutung. Hrant Karjan stand auf dem einzigen Bahnsteig Kolagerans, mit weicher Krawatte auf weißem Hemd. Er wartete, bis der letzte Wagen an ihm vorübergerollt war, bis wieder Stille herrschte und ein Hahn in seinem dunklen Hühnerstall krähte. Da lächelte Hrant Karjan und fühlte sich von herablassender Sympathie für diesen Hahn durchdrungen, ganz so, wie man sich im lärmenden Straßengetümmel von Sympathie für ein fremdes Kind durchdrungen fühlt und ihm im Vorübergehen über den Kopf streicht. Hrant Karjan, hochgewachsen und schlank, begab sich energischen Schritts zur Telefonzentrale der Station, gähnte und betrat, hochgewachsen und schlank, den Raum, der nach ungelüftetem, warmem Schlafzimmer roch. Die verschlafene Telefonistin brummte durch den Schalter: „Was willst du?“ Hrant Karjan be228


griff, daß sie zu Hause Kinder hatte, und dachte: Armes Arbeitsvolk! „Wie spät ist es?“ „Fünf Uhr. Verbinde mich mit Zmakut.“ „Mit was für einem Zmakut?“ „Mit dem Dorf Zmakut. Da bin ich zu Hause.“ Die Telefonistin riß sich für einen Augenblick aus ihrer Schlaftrunkenheit und lächelte. „Bist du nicht der Sohn des schlitzäugigen Jegisch?“ ; ■ „Allerdings“, stimmte ich zu. Sie ließ den Kopf wieder auf die Hände sinken, verdrehte die Augen und brummte in schlaftrunkener Zerfahrenheit : „Hör mal, du, die Uhrzeit ist dir wohl egal ? Zmakut! Hör sich einer das an! Aber in dem Dorf sind alle so.“ In dem halbdunklen Raum hob ein Milizionär den Kopf von seinem aus zusammengeschobenen Stühlen j bestehenden Lager und richtete sich auf. „Wieso?“ erkundigte ich mich bei der Telefonistin und sagte mir im stillen, daß mir der harmlose Humor ; der Einheimischen gut gefiel. „Hör mal, wer sitzt denn dort um fünf Uhr früh am Telefon und wartet auf deinen Anruf?“ Der wachhabende Milizionär starrte mich aus geröteten Augen an, musterte midi verständnislos und If

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,, w aiirscneiuucn паи sicu uer Nachtwächter in Verwaltung auf“, sagte ich zur Telefonistin,՛ aber gleich schämte ich mich meiner Worte — was hatte Naditwächter zu dieser Stunde in der Verwaltung suchen? .Klar“, erwiderte sie lässig, ohne den Kopf vom Tisch 22 9

der soder zu


zu heben, „die Millionen deines Vorsitzenden könnten ja weggeschleppt werden, deshalb hat man einen Nachtwächter davorgesetzt und ihm ein Maschinengewehr in die Hand gedrückt.“ „Nach Zmakut willst du?“ fragte der Milizionär. „Ja.“ „In die Gegend ist gestern abend ein Auto gefahren, gestern abend hättest du kommen müssen, dann wärst du schon zu Hause.“ Er schob auf dem Stuhl die Hände unter sich, sah midi an und fragte dann: „Wieviel Uhr ist es?“ „Fünf.“ „Ja“, wiederholte er gähnend, „wenn du gestern abend gekommen wärst, säßest du bereits zu Hause, das Auto ist hier gegen zwölf Uhr abgefahren. Wieviel Kilometer sind es bis dahin?“ „Fünfundzwanzig.“ „Hm“, machte er und streckte sich wieder auf den Stühlen aus. „Nachts ist es weg. Aber es ist nicht nach Zmakut gefahren, sondern nach Schamut, na, und das liegt ja in der Nähe. Wieviel Kilometer ist es entfernt?“ „Sieben.“ „Ja“, sagte er, „euer Farmleiter ist damit gefahren. Euer Farmleiter heißt doch Lewon?“ „Ich glaube, ja“, sagte ich. „Heißt er nicht Lewon?“ „Ich weiß nicht“, sagte ich. Es war eine enge Station. Äußerste Notwendigkeit hatte die Ingenieure gezwungen, die Bahnstation an einer unglaublichen Stelle zu errichten, wo die Felsen gerade so weit auseinandertraten, daß zwei Paar Schienen verlegt werden konnten. Als Bahnsteig diente ein


schmaler Gehsteig, das Stationsgebäude war über dem Fluß errichtet. Doch auch hier wohnen Menschen. Sie gebären Kinder, die bis zur siebten Klasse die Schule besuchen, dann aber den Zug besteigen und der Schlucht entfliehen, um niemals mehr dorthin zurückzukehren. Später werfen sie aus dem Arbeiterzug Alawerdy-Leninakan, dem Durchgangswagen Tbilissi-Jerewan oder dem Schnellzug Moskau—Jer ewan einen kurzen Blick auf ihr Vaterhaus, und vielleicht wird ihnen dann schwer ums Herz beim Anblick der Gänse, die zwischen den Gleisen herumwatscheln, und des gelben Sonnenstrahls, der in die Schlucht hinabgleitet und den senfgelben Fluß und das zwischen den Schienen vertropfte Maschinenöl streichelt, um dann langsam die andere Seite des Berges zu erklimmen und weiterzuwandern durch Felder und Täler, Wälder und Stille. Hrant Karjan schlenderte den Bahnsteig entlang, trank einen Schluck. Wasser aus der Denkmalsquelle, schlenderte zurück und dachte: Du meine arme unglückliche Bahnstation. Sodann betrat er den Wartesaal, der kurz zuvor gefegt worden war und nach nassem Staub und Morgenfrische duftete. In dem leeren Wartesaal gähnte Hrant Karjan und sprach: „Du mein armes Kolageran!“ >

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Hrant Karjan ließ siA auf einer Bank nieder, streckte sieh aus, konstatierte erfreut, wie lang er war, ließ sieh von den vereinzelten Schmutzflecken auf seinem weißenHemd ni At die Laune verderben und sagte siA: Da wären wir nun in Kolageran. Als neben seinem Kopf ein Finger auf die Bank klopfte und jemand ihn am Bein zog, erwaAte Hrant Karjan. Der Milizionär stand vor ihm und läAelte bekümmert. „Siehst doA wie ein Gebildeter aus! Weißt du niAt, daß es verboten ist, auf den Bänken zu liegen?“ „So?“ fragte Hrant Karjan, glattrasiert, breitsAultrig, sAön und wohlgestaltet, von unten herauf und legte si A wieder hin, die Hände in den HosentasAen. „Kannst du niAt hören!“ Hrant Karjan setzte siA auf. „Da reisen die Leute na A Jerewan, vergessen da ihren Kopf und kommen ohne zurüA. Was verboten ist, bleibt verboten!“ „Na sAön, sei niAt gleiA böse“, erwiderte Hrant Karjan und verließ den Wartesaal. Er erinnerte siA besAämt, daß er mit Karine vom PolyteAnisAen überhaupt keinen Twist getanzt hatte, und fragte siA beim Anblick der Körbe und Koffer, die auf dem Bahnsteig aufgetürmt waren: Wie soll ich bloß damit nach Hause kommen? NaAdem der Milizionär solAerart die Ordnung wiederhergestellt hatte, spazierte er zufrieden auf dem Bahnsteig hin und her, ging bis zur Quelle, maAte kehrt, sah miA an, warf einen kurzen BliA auf die SAienen und sagte: „Steh hier niAt rum, nimm deine SaAen und geh zur Chaussee, da kannst du ein Auto anhalten.“ 232


„Kommen denn dort Autos vorbei?“ „Manchmal ja, das weißt du doch.“ „Danke“, sagte ich. Um sieben kam ein Auto. Als ich das Geräusch hörte, sagte ich mir: Hrant Karjan war schon immer ein Glückspilz. Dann tauchte das Auto auf, es war kein Lastwagen, sondern ein „Willis“ mit einer Schamuter Nummer, und meine Hoffnung welkte und schwand wie vor acht Jahren, als ich es auch nicht wagte, einen Personenwagen anzuhalten. Die Welt des süßen Lebens nahm Hrant Karjan nicht an, Hrant Karjan nahm das süße Leben nicht an. Er saß gesenkten Hauptes auf den Körben, mit denen seine letzten Stipendien und die Hoffnung, der Mutter eine kleine Freude zu machen, verbunden waren. „He, Städter!“ Jemand pfiff mir zu. „Genosse Journalist!“ Im Auto saß lächelnd der Schamuter Arzt, mein ehemaliger Klassenkamerad Merushan, er war es, der mir zugepfiffen hatte, und dieser Pfiff brachte mich um. So pfeift kein Genosse seinem Genossen zu, so pfeift kein Herr seinem Diener, so pfeifen diejenigen, die sprunghaft über alle anderen emporgestiegen sind. Als sie noch in die neunte Klasse gingen, war jeder Sommerfrischler aus Jerewan für sie ein Gott. Später hielten sie nur noch die Sommerfrischler, die Verbindungen zum medizinischen Institut hatten, für Götter. Merushans Mutter war ihre Dienerin und Sklavin. Sein Vater, der Schafhirt, schickte ihnen von den Bergen Säckchen mit Mazun. „Herbstmazun ist das, der schmeckt am allerbesten, was hat ein Hirt denn sonst zu bieten?“ Und lächelnd, mit bäuerlichem Weitblick, hatte sich Merushan heimlich, still und leise nach und nach — hier mit Mazun, dort mit List und da mit Ho23 S


nig - das Diplom eingesackt. Nun stand er vor mir und klopfte sich den Staub vom Bauch. Und ich mußte daran denken, daß ich durchaus nicht lächelte, nachdem man mich verprügelt hatte. Und daß mich auch nicht drei Mann verprügelt hatten, sondern nur einer, der nicht einmal Boxer war, sondern Bauleiter und Wershines Angetrauter. Er brachte Zement zu seiner Baustelle, sprang, als ich gerade in die Bibliothek wollte, von dem fahrenden Lastwagen und packte mich am Arm. „Erkennst du mich nicht?“ Ich erkannte ihn tatsächlich nicht. Trotzdem hieb er mir zweimal in die Fresse und fuhr dann mit seinem Zement weiter. „Was Neues, Genosse Korrespondent? Wohin des Wegs?“ Der Hund platzte beinahe vor selbstgefälliger Ironie, und ich schämte mich meiner wenigen veröffentlichten Artikel und skizzenhaften Machwerke. Immerhin gab es Tausende von Berufen auf der Welt, weshalb war es ausgerechnet mir beschieden, verdammtes Papier zu beschmieren? „Ich fahre nach Hause, Merushan. Nach Zmakut.“ „Ah! Bravo, bravo. Nett, daß du uns noch nicht vergessen hast.“ „Ich bin mit dem Zug gekommen, aber ich finde kein Auto, deshalb sitze ich hier und warte.“ Hrant Karjan stand auf, redete sich und lächelte bezaubernd. „Du wartest also? Was Neues in Jerewan?“ „Jerewan ist wie immer, Merushan, heiß und staubig.“ „So ist’s“, antwortete er, gähnte und klopfte sich mit der Hand vor den Mund. „Ich hab die Nacht nicht geschlafen. Wir haben den Geburtstag von Tochjans Tochter gefeiert.“ 234


Und du hast bestimmt Mazun mitgebraeht anstelle eines Gescbenks. „Wenn du willst, dann gib mir die Koffer, ich nehm sie mit, die Körbe wirst du wohl selber tragen können.“ „Wie steht’s eigentlich mit deinen Rückständen?“ fragte Hrant Karjan plötzlich. „Was für Rückstände?“ Merushan wechselte die Farbe. „Hattest du nicht noch die Chemieprüfung abzulegen?“ „Nein.“ „Hm -!“ machte Hrant Karjan gedehnt. „Nun, dann ist’s ja gut. Und ich hab geglaubt, du hättest noch Prüfungsrückstände. Na, dann bravo, bravo, wenn’s so ist.“ Der andere überlegte. „Du willst also nicht mitfahren?“ fragte er dann. „Vielen Dank, Merushan.“ „Da tust du recht daran, Genosse Korrespondent. Ich hab Glas mit, das könnte unter Umständen zerspringen, außerdem habe ich unterwegs noch etwas zu erledigen, da würde ich dich mit deinen Koffern nur aufhalten!“ Er grinste. „Du bist doch jetzt ein hohes Tier.“ „Fahr los, laß dich nicht stören.“ Der hat ganz bestimmt Mazun im Auto! Merushan grinste wieder. „Na, dann auf Wiedersehn, Genosse Korrespondent, besuch mich mal.“ Und winkte. Ich aber rief mir den Universitätskorridor ins Gedächtnis und den Dozenten Achwerdjan. „Willst du dir das mit der Aspirantur nicht noch einmal überlegen?“ Und wie in diesem Augenblick die sehr gescheite, weibliche, mollige, sympathische Karrieristin Aelita an uns 235


vorbeigegangen war, eine Kandidatin für die Aspirantur und jederlei andere Leitungstätigkeit. Sie trug ein eng anliegendes Kleid auf ihrem schönen Körper, und ich starrte feindselig auf ihren gelassenen Rücken und blickte ihr bis ans Korridorende nach, wo sie im Dekanat verschwand. „Überleg es dir.“ — „Ja, ich werd’s mir überlegen.“ Anschließend rutschte ich das Treppengeländer hinunter, und am Ausgang, wo der Pförtner stand, der seit vierzig Jahren sommers wie winters Uniformjacke, Uniformstiefel und Uniformmütze trug, sagte ich: „Lange genug bist du als Hauptmann rumgelaufen, Nikol, willst du nicht endlich deinen Doktor machen, wie?“ Und der würdevolle Nikol dachte, daß ihm der Doktorhut natürlich weit besser stehen würde als mir und daß die Universität nicht der rechte Ort sei für solche verrückten Hrant Karjans. Ich aber schlenderte bereits im hellen Sonnenschein die Straße entlang und lachte mir eins. „Das Auto war doch leer, weshalb bist du nicht mitgefahren?“ forschte der Milizionär neugierig. Er machte ein ernstes Gesicht, als wäre er darüber bekümmert, aber im stillen lachte er, denn er wußte, welchen Preis ich hätte bezahlen müssen - mindestens fünfzehn Rubel. Es war eben derselbe alte Esel, bloß den Sattel hatte man ihm ausgetauscht. „Das Auto war nicht leer, es hatte Mazun geladen“, antwortete ich. Die Worte Hrant Karjans hatten vielleicht einen tieferen Sinn, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise machte er sich auch über ihn lustig, deshalb fiel der Milizionär nur vorsichtig in sein Gelächter ein. 236


„Deck mit der Pistole den Rüdezug“, sagte Hrant Karjan und kehrte ins Stationsgebäude zurück. „Ich glaube, daß man jetzt schon anrufen könnte. Verbinde mich mit Zmakut.“ „Guten Tag, Sanassar, hier spricht Hrant. Von der Bahnstation.“ Und lachend bestätigte er, ja, er sei der Älteste vom schlitzäugigen Jegisch. Und weil alles so gut ging, zwinkerte er der Telefonistin zu. „Sanassar, ich bin eben angekommen und sitze jetzt auf der Bahnstation. Sag doch meinen Leuten, daß sie ein Pferd herschicken sollen. Nein, ich kann das Gepäck nicht selber schleppen. Ich habe zwei Körbe und zwei Koffer. Auf Wiedersehn, ich warte.“ Hrant Karjan zog seine Brieftasche aus der Tasche seiner gestreiften Hose, entnahm dem Bündel von einhundertsiebenundvierziglausendeinhundertfünfzehn Rubeln einen Fünfrubelschein und reichte ihn der Telefonistin. „Gib mir lieber Kleingeld.“ „Ich hab keine.“ „Such mal, du findest bestimmt was.“ „Ich hab nie Kopeken hei mir.“ „Wie wollen wir dann verbleiben?“ „Behalte den Fünfer, du kannst mir den Rest ja später geben.“ „Bist du verrückt geworden?“ „Warum?“ Hrant Karjan lachte. „Hör mal, wer soll hier bei mir so viel telefonieren, daß ich deinen Fünfer wechseln und dir rausgeben kann?“ Hrant Karjan lachte wieder. „Na schön, dann geh ich zur Kasse, wechsle den Fünfer und bring dir Kleingeld!“ Er lachte noch immer. 237


„Die Kasse macht erst abends auf.“ „Dann behalt es“, sagte Hrant Karjan ernst. „Wenn ich in eurer Gegend bin, hol ich mir den Rest ab.“ Die Telefonistin starrte ihn verwundert an, und Hrant Karjan lachte aufs neue. Die Telefonistin zwinkerte eine Weile mit den Augen. „Hör mal!“ sagte sie dann. „Noch ein Verrückter. Dein Vater ist bescheuert, und du bist es auch, das ist wohl erblich in eurer Familie, was?“ „Wieso?“ fragte Hrant Karjan lachend. „Da fragst du noch!“ „Nein, wirklich?“ „Hör mal, wenn ich dir jetzt das Geld abnehme, du ein Auto erwischst und heute mit Gottes Hilfe heimfährst, dann hast du doch keine Kopeke mehr, um dir Zigaretten zu kaufen.“ Hrant Karjan lachte Tränen und stellte fest, wie sympathisch ihm das alles war — die Bahnstation und die Telefonzentrale, die keine einzige Kopeke in der Schieblade hatte, und die Telefonistin, die vier Kinder haben mochte, der Milizionär und — bei Gott! — auch Merushan und sein Vater mit den Mazunsäckchen, und überhaupt der gutmütige, großzügige Humor seiner Landsleute. Und auch sein schlitzäugiger Vater und seine zehn schlitzäugigen Brüder. Und wie sympathisch er selber sich war, der es wie durch ein Wunder fertiggebracht hatte, großäugig zu werden und nicht schlitzäugig. Dann setzte ich mich in den Wartesaal. Militärischen Schrittes näherte sich der Milizionär und baute sich vor mir auf. „Sitzen ist gestattet.“ „Wie?“ 238


„Schlaf nur, du hast wahrscheinlich die ganze Nacht kein Auge zugetan.“ Nach acht Uhr füllte sich die Bahnstation mit Bauern, um neun kam der Arbeiterzug und nahm Hühner und Eier, Lärm und Grünzeug, Butter und Äpfel, Radau und Gejammer, Fleisch, Käse und schlechte Laune mit sich fort. Zurück blieben ich, der Milizionär und das alte Stationsgebäude mit der alten Stationsklingel. „Gehn wir was essen!“ schlug der Milizionär vor. „Danke.“ Ich begriff, daß er das zu sich selber sagte, schließlich hatte er keine Veranlassung, jeden hier ausgestiegenen Reisenden zu bewirten, er lebte nur von seinem Gehalt, und auf der Station stiegen täglich Tausende von Menschen ein und aus. „Genier dich nicht“, sagte der Milizionär. „Vielen Dank, aber ich hab keinen Hunger.“ „Na, wenn du nicht willst...“ Um zehn rief ich noch einmal in Zmakut an, doch niemand kam an den Apparat. Um halb elf läutete ich abermals an, und wieder schrillte das Telefon durch das hitzeglühende Dorf, wo der Klub geschlossen war, wo der Kramladen geschlossen war, wo der Dorfsowjet geschlossen war, wo das Schulgebäude nach Kalk und Farbe roch, wo sich das dunkle Brunnenloch mit Wasser füllte, wo am oberen Hang eine Frau den Kopf in den Nacken legte, weil sic,, einen Geier zu sehen glaubte, wo der Hahnenschrei auf dem Flechtzaun plötzlich abbrach. Klar und deutlich sah ich das Dorf vor mir, mit all seinen Farben. Ich hörte auch das Telefon in der leeren Verwaltung schrillen, und plötzlich wurde mir elend und beklommen zumute. Dort, in Sonne und Schwermut, alterte langsam ein Hund namens Bassar, spazierten die Glucken mit ihrer Brut 239


umher, verblichen und verstaubten reihenweise Bände von Tolstoi, Schirwansade, Maupassant. Dort summten monoton und einschläfernd die Telegraphendrähte, dort stand nun schon seit zwanzig Jahren unbeweglich, wie auf einer Illustration, dasselbe rote Pferd in der Schlucht, dort hatte die verlassene Mühle noch immer ein schiefes Dach, das nie herunterfiel. Wo fahre ich da bloß hin! Zusammen mit den anderen Burschen werde ich Gras mähen, in den Ruhepausen werden wir Lawrenti Wardanjan hänseln, weil er nicht weiß, daß Speiseeis wirklich eiskalt ist, und seine ganze Portion auf einmal hinunterschlückt. Und während wir über ihn lachen, wird er sich im Schatten ausstrecken, die Mütze über die Augen ziehen und ein Nickerchen machen. Und dann werden wir wieder mähen und mähen und mähen, unablässig weitermähen, und anschließend beginnt dann die Getreidemahd auf den Feldern, und es wird nur noch Hitze geben, rauhe, stachlige Ähren, einen verschwitzten Hals, der nicht mehr zum eigenen Körper zu gehören scheint, und einen ausgedörrten, bitteren Mund. „Schon seit zwei Stunden ist sie nach Wasser unterwegs, die verdammte Hündin!“ - „Halt deine Zunge im Zaum!“ Und ich dachte zurück an den Universitätskorridor und an den geraden, kräftigen und weichen Rücken der erfolgreichen Karrieristin Aelita. Niemand brachte es fertig, mit ihr zu reden, ohne zu lächeln. Sie war nicht dumm und auch nicht billig: ein wenig Wissen und ein volles Maß an unaufdringlichem, sanftem Zauber. „Eine äußerst geeignete Kandidatin für die Aspirantur.“ Ich stand auf dem schmalen Bahnsteig des schmalen Bahnhofs und kochte vor Wut. Ich stand auf seinem einzigen Bahnsteig und beschimpfte Aelita Mirsaeban240


jan in allen Tonarten: Dämliches Gör! Alle Mädchen deiner Gruppe waren klüger als du! Karrieristin! Hast didi durch deine organisatorische Arbeit nach vorn gespielt! Arrogante Gans! Ich möcht bloß wissen, was du da organisiert hast! Willst du’s mit deiner Schönheit schaffen? Wo ist denn eigentlich deine vielgerühmte Schönheit? Ich dachte an die schlechte Straße zum Dorf und daran, daß das Ministerium schon sieben- oder siebenundzwanzigmal Geld für ihre Ausbesserung bewilligt hatte, sich aber in der Kreisstadt jedesmal ein Trunkenbold fand, der am Jahresende vor Gericht gestellt wurde. Und außerdem dachte ich flüchtig an vieles andere, zum Beispiel daran, daß meine Eltern sich überhaupt keine Sorgen machten, wie sie so viele kleine Kinder durchbringen sollten — sie setzten sie ganz einfach in die Welt, liebten sie gleichermaßen, und alle liefen barfuß und zerlumpt umher. Weiter dachte ich daran, daß ich ebenfalls zwei Jahre lang fast barfuß durch Dreck und Matsch von Zmakut nach Schamut zur Schede gelatscht war. Und daran, daß dieser widerliche Merushan der dämlichste von allen Dummköpfen der Schule und gleichzeitig der vorsichtigste gewesen war; daran, daß mein Vater zur Regenzeit immer starke Schmerzen in den Beinen hatte und trotzdem Heu und Brennholz auf seinem Buckel heransehleppte, daß er den Stall ausmistete und ins Dorf ging, auf beiden Beinen hinkend, anstatt zu Hause zu bleiben und sich die Beine zu massieren; und daran, daß die Bahnstation gar so schmal und winzig war. Aus all diesen Gründen verfluchte ich Aelita Mirsachanjan mit allen gotteslästerlichen Flüchen, die mir zu Gebote standen. Sie aber lächelte nach wie vor, war nach wie vor hübsch anzusehen, koket16 Matewosjan/Schelm

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tierte im Dekanat und versah sich nie auch nur um Haaresbreite. Alle lächelten ihr zu, auch der Dozent Achwerdjan, alle anerkannten ihren Verstand, ihr Wissen, ihre sonstigen hervorragenden Eigenschaften. Aelita braucht nur zu wollen, dann wird sie berühmt, sie braucht nur zu wollen, dann wird sie halb Afrika erobern, und wenn nicht, dann hat sie eben keine Lust dazu. Alle anderen „Berühmtheiten“ sind nicht die Spur klüger als sie. Da saß zum Beispiel der amerikanische Präsident Wilson in seinem Weißen Haus und fand die Welt so freundlich und nett, daß ihn die Lust anwandelte, ein gutes Werk zu tun; er überlegte und kam auf den Einfall, eine Karte von einem „Großarmenien“ zu zeichnen, er zeichnete die Karte, sanft und mühelos glitt sein Bleistift über das Papier, und als die Historiker später sein Archiv durchforschten, sagten sie: „Ach, was für ein Christenmensch!“ Oder der Hitler, was der sich alles vorgenommen hatte! Der wollte die ganze Welt „in Ordnung bringen“, als wäre bei ihm selber alles in Ordnung gewesen! Und was dieser armenische Offizier aus dem Türkenheer anstellte: Er befreite den türkischen Minister Enver aus harter Kerkerhaft, woraufhin Enver, nicht faul, stracks eine Massenabschlachtung von Armeniern organisierte; und weil er die Schlüssel zum Lager besaß, ging er anschließend hin und steckte sich das Generalissimus-Abzeichen an. Und die dußligen Kreuzritter! „Wir wollen ausziehen, die Gebeine des Herrn zu befreien!“ sprachen sie und zogen los. Sie ritten über Berg und Tal, und dann? Dann stießen sie auf Gewürze, die Hundesöhne, auf Pfeffer und Ingwer. Die nahmen sie mit und kehrten befriedigt heim. „Und die Gebeine des Herrn?“ 242


wurden sie gefragt. „Was für Gebeine?“ entgegneten sie. „Nun, die heiligen Reliquien!“ setzte man ihnen auseinander. Sie aber aßen ein mit Pfeffer gewürztes Mahl, das ihnen vorzüglich mundete, und hatten keine Zeit zu antworten. Oder nehmen wir das Rom der Philosophen, Gesetzgeber, Dichter und Redner! Es sandte Karthago eine derartige Botschaft, als gäbe es in seinen Mauern weder Philosophen noch Redner, Dichter oder Gesetzgeber, sondern ausschließlich Ignoranten und Barbaren, denn in der Botschaft wurde verlangt, daß Karthago dreißig Werst vom Meer abrücken solle. Auch Mesrop, der Zmakuter Pferdehirt, ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Da es ihm nicht genügte, bloß Pferdehirt zu sein, ging, er hin und erklärte, er sei ein nationalistischer Pferdehirt, und deshalb wurde er dann auch verhaftet. Und stellt euch vor, das gefiel ihm sogar. Und seine Untersuchungsrichter hatten an ihrer eigenen sturen, aufgeblasenen Humorlosigkeit auch ihre Freude! Was ist das alles für ein Alptraum, du lieber Gott! Verzeih, Aelita! sagte ich in Gedanken zu Aelita Mirsachanjan, studiere du nur nach Herzenslust deine Gerundien! Und als der Zug Jerewan-Tbilissi einlief und schnaufend hielt, lächelte Hrant Karjan. Zweifellos hatten seine Augen einen klugen Ausdruck, und sein Mund lächelte berückend. „Heiß, was?“ sagte er zu einem bärtigen Mann und seiner dicken Frau, die aus dem vorbeigleitenden Fenster auf ihn herabglotzten. „Essen Sie, essen Sie, essen ist gut gegen die Hitze!“ „Wohin fahrt ihr?“ fragte er zum nächsten Fenster hinauf, zu mehreren Gauner- und Schiebergesichtern. 243


„Pfeffer holen? Den haben doch schon die Kreuzritter weggeschafft.“ Und zum dritten Fenster mit den russischen Mädchen sagte er: „Steigt hier aus, in Jerewan ist es zu heiß.“ Sie zeigten auf das Stationsgebäude und verzogen das Gesicht. „Glaubt ihr denn, in eurem Moskau ist alles schön und gut?“ „Wir sind aus Kursk“, erwiderten sie. „Tüchtig!“ schlußfolgerte Hrant Karjan und sagte zu dem bejahrten Mann im nächsten Fenster unter Hinweis auf dessen mädchenhafte Frau: „Wohin verschleppst du das Kind?“ Und zu den Bauern in einem anderen Fenster: „Der Markt ist jetzt mit Eiern überschwemmt, ihr solltet lieber bis Januar warten, dann würdet ihr fünfzig Kopeken pro Stück kriegen!“ „Wir wünschen Gesundheit, Genosse General!“ rief er salutierend, als ein Wagen mit Soldaten an ihm vorbeirollte. Und zu einem lächelnden schnurrbärtigen Mann: „Willst du nach Kirowakan? Konfitüre futtern?“ Und zu dem Dichter im vorletzten Wagen: „Naturalismus, Kapitalismus, Pantheismus, Sozialismus.“ Und zu den Betrunkenen daneben: „Sch — sch — seht, macht keinen Krach!“ Und siegesgewiß blamierte er ein Liebespaar im letzten Wagen: „Miau, miau — u - u!“ Das Mädchen sah wie ein verliebtes Kätzchen aus und der junge Mann wie ein Kalb. Anschließend hockte ich ganze fünf Stunden allein auf der Bahnstation. Ich fürchtete, verrückt zu werden.

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Grinsend miaute ich vor mich hin und meckerte wie ein Ziegenbock, aber das heiterte mich nicht auf. Ich versuchte, midi mit dem Stationsvorsteher zu zanken, aber auch das mißlang. „Warum gibt es bei euch keine Gepäckaufbewahrung?“ „Wer sagt dir, daß es keine gibt?“ „Wo ist sie denn? Ich seh keine.“ „Das ist eine andere Frage. Sie ist geschlossen.“ „Warum ist sie geschlossen?“ „Weil der Angestellte nach Jerewan gefahren ist.“ „So, nadi Jerewan ist er gefahren. Und was soll ich machen?“ „Das ist auch eine andere Frage. Stütz den Kopf in die Hand und stimm ein Bajadi an.“ Die Bajadi sind aserbaidshanische Lieder, und es gibt nidits auf der Welt, was länger wäre. Ich rief wieder in Zmakut an, und wieder klingelte das Telefon in dem menschenleeren, heißen Dorf, wo ein Hund trübselig alterte. Dann schlief ich ein. Der Milizionär zerrte mich am Bein und schnipste gegen meinen Kopf. „Was ist los? Ist ein Auto gekommen?“ „Nein, ein Flugzeug. Eine Sondermaschine. Liegen ist verboten!“ Ich mochte nicht aufwachen, denn ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Ich sah auf die Uhr und streckte mich wieder auf der Bank aus. „Aufstehn!“ Ich sprang auf. Wortlos führte er mich am Ellenbogen zwischen den Bänken hindurch, öffnete dann eine Tür, und während ich noch dachte, daß es sich um einen Fehler in den Aufschriften handle, daß dies alles 245


Theater und daß jeder, der auf der kleinen Station wohnte, bedauernswert sei, ging er weiter, setzte sich an den Schreibtisch und grinste midi an. „Was nun?“ fragte ich. Auf dem Schreibtisch stand ein schweigendes Telefon, unter dem Telefon lag eine dicke Glasplatte, unter der Glasplatte war der Schreibtisch, unter dem Schreibtisch waren die körperwarmen Stiefel des Milizionärs, unter den Stiefeln war der alte, abgetretene Fußboden, unter dem Fußboden der Keller, unter dem Keller der Fluß. Der Fluß floß schon seit Tausenden, seit einer Million, seit einer Milliarde von Jahren durch dasselbe Bett, schäumte gegen dieselben Steine, und das war herzzerreißend langweilig. Doch der Milizionär grinste, er war froh, daß er nicht zu mähen brauchte, daß er neben der Bahnstation ein eigenes Haus bewohnte, daß er mit etwas so Großem, Wichtigem wie dem Schnellzug Moskau—Jerewan zu tun hatte, daß er zwei Schweine besaß und keine Schwierigkeiten hatte, sie zu füttern, denn seit die Strömung die beiden Ferkel des Stationsvorstehers fortgerissen hatte, gab es hier keine anderen Schweine mehr, und die Abfälle der Imbißstube blieben jetzt ausschließlich seinen Schweinen überlassen. Ja, und die Tage - die ließen sich schon ausfüllen. Da kamen die Züge an und fuhren wieder ab, da sausten Autos vorbei, in der Imbißstube war von Zeit zu Zeit ein Skandal zu schlichten, Lastwagen kamen durch, mit Steinkohle und Baumaterial beladen, die konnte man anhalten und sich vom Fahrer die Papiere zeigen lassen, das Radio brachte Meldungen, und man erfuhr, daß so ein Rotzbengel in Amerika oder sonstwo einen Goldbarren aus der Bank geklaut hatte. Was er mit dem Gold bloß vorhatte? Das war doch kein 246


Bargeld, für das er sich einen Anzug oder sonstwas hätte kaufen können, außerdem würde er bestimmt erwischt und verhaftet. Und schließlich konnte man einen dicken Reisenden, der ausgestiegen war, um sich vom Hydranten Wasser zu holen, fragen: „Ist es heiß in Jerewan?“ Und dann zustimmend und mitfühlend den Kopf wiegen. „Gestern ist er in die Stadt gefahren“, sagte der Milizionär grinsend, „heute ist er wieder da, und wir sind keine Menschen mehr für dich, nicht wahr, so sieht’s doch aus? Hat man dir dafür das Diplom in die Hand gedrückt?“ „Weiter!“ sagte ich. „Nein, antworte mir erst, ob du dazu das Diplom gekriegt hast oder wozu sonst.“ „Ich hab gar kein Diplom.“ „Das fehlte auch noch, daß du eins hättest!“ Er grinste. „Und wenn ich nun doch eins hab?“ „Na, ansehn tut man’s dir nicht.“ Meine Hose war zerdrückt, das Hemd schmutzig, wahrscheinlich hatte ich ein staubiges Gesicht, außerdem taten mir die Augen weh. „Ich hab die Nacht nicht geschlafen“, sagte ich. „Was geht mich das an?“ „Nichts.“ Er lehnte sich im Stuhl zurück und grinste hinterhältig. „Ich bin auch nur ein Mensch. Wenn ich jetzt die Tür abschließe und dir ein paar in die Schnauze haue, wer könnte mir das später beweisen?“ „Kannst du machen“, sagte ich. „Wir haben keine Zeugen.“ 217


„So was! Redet von Zeugen!“ Er stand auf. „Fünf Jahre hat er auf Staatskosten sein Brot gegessen, damit er jetzt ankommen und von Zeugen reden kann!“ Nein, er gehörte nicht zu denen, die prügeln, er wollte sich bloß die Zeit vertreiben. „Weißt du was? Mach dich nicht so wichtig!“ sagte ich. „Na, na, na!“ „Mach dich wirklich nicht so wichtig!“ Er nahm den Hörer, ließ sich von der Telefonistin mit Kirowakan verbinden und rief die Kirowakaner Miliz an. „Mach dich nicht so wichtig, sagt dieser Kerl.“ Er verlangte den Diensthabenden und meldete, Kolagcran sei am Apparat. „Hier sitzt ein Bürger, der gesagt hat, daß ich mich nicht so wichtig machen soll.“ Während er auf den diensthabenden Hauptmann wartete, lachte ich frech, aber im stillen weinte ich, Ehrenwort. „Jetzt machen wir’s mit Diplom, das wirst du erleben!“ „Halt die Fresse, du Idiot!“ brüllte ich. Er meldete alles exakt dem Hauptmann, ohne etwas hinzuzufiigen oder wegzulassen. Für diese Exaktheit war ich ihm dankbar. Der Hauptmann am anderen Ende der Leitung antwortete nicht gleich, er tat mir geradezu leid. Der Milizionär schloß seine Rede mit der Wiedergabe meines letzten Zwischenrufs: „Genosse Hauptmann, ich habe ihn zur Ordnung gerufen, und da hat er zu mir gesagt: ,Halt die Fresse, du Idiot!4 “ Der Hauptmann schwieg, und ohne ihn zu kennen, war er mir sympathisch, denn er und ich, wir kämpften gemeinsam gegen die Sturheit. „Soll ich ihn in die Stadt überstellen, Genosse Hauptmann?“ 248


„Nicht nötig!“ sagte der Hauptmann. „Was soll ich dann mit ihm machen, Genosse Hauptmann?“ fragte der Milizionär beleidigt. Der Hauptmann antwortete erst nach einer Weiie. „Mit einer Geldstrafe belegen!“ sagte er. Ich an seiner Stelle hätte genauso gehandelt, hätte auch gesagt: „Mit einer Geldstrafe belegen!“, den Hörer aufgelegt und basta. Lächerlich. Aber ich war Hrant Karjan, ich saß auf der Bahnstation fest, wart^fe auf ein Auto oder ein Fuhrwerk, doch kein Auto und kein Fuhrwerk kam. Ich mußte in Zmakut mähen, ich mußte auf irgendeine Weise — wie, wußte ich selber noch nicht - den Genossen Ruben herumkriegen und in der Schule ein paar zusätzliche Stunden ergattern, denn zu Hause erwarteten mich unsere zehn Kinder, meine Brüder, mit ihrem Radau, der Geruch ihrer sauberen und schmutzigen Hosen und der dicken Wollsocken meines Vaters. „Ich hab keine Kopeke, du Dummkopf.“ „Und wenn ich gleich noch einmal anrufe?“ fragte er kopfschüttelnd. „Hör zu“, sagte ich, „wenn du eine Spazierfahrt nach Kirowakan machen willst, dann tu’s doch, dein Schreibtisch und der Stationsvorsteher werden inzwischen nicht abhanden kommen.“ „Was du nicht sagst!“ staunte er heuchlerisch. „Hat ein Diplom und ärgert sich. Dein Vater ist so ein ruhiger Mann, wieso bist du so nervös, he?“ Der Milizionär machte natürlich Witze. Aber er hatte die Macht, mich durch solche Witze nach Kirowakan zu verschleppen, mit Geldstrafen zu belegen und hinterher zu prahlen: „Da hat so ein Rotzjunge mit einem nagelneuen Diplom gesessen, den haben wir sachte auf


die Palme gebracht, und eine Weile hatten wir unsern Spaß mit ihm.“ „Hol das Portemonnaie raus.“ ։ „Ich hab kein Portemonnaie. Daß ich in einer Redaktion arbeite, ist dir doth bekannt? Ach, das weißt du nicht?“ Wenn ich in einer Redaktion gearbeitet hätte, wäre ich mit dem Auto hergefahren und hätte diesen Idioten n^tsamt der ganzen Bahnstation Kolageran gar nicht bemerkt, ja, ich hätte überhaupt nicht gewußt, daß es eine Bahnstation dieses Namens gab. „Na wennschon! Was kannst du mir tun?“ Er wandte die erschreckten Augen ab und fuhr sich ein paarmal lautlos mit der Zunge über die bleich gewordenen Lippen, offenbar war ihm die Luft weggeblieben. Ich kenne nichts Widerlicheres als den Neid eines Halbgebildeten. „Schreiben willst du? Den Leuten die Hucke vollügen? Na, dann schreib doch, das macht mir gar nichts, wenn man mich von dieser Station wegversetzt, dann ist das höchstens ’ne Beförderung. Da hab ich plötzlich ’n Chef vor mir, in einer Redaktion arbeitet er, sieh einer an! Wenn der was über mich schreibt, werd ich entlassen. In ’ner Redaktion arbeitet er, Löcher hat er in den Taschen, keine Kopeke drin, aber in ’ner Redaktion arbeitet er. Er ist nicht aus Zmakut, von der Zeitung ist er, sieh einer an!“ Ich griff in die Tasche, um hunderttausend Rubel hervorzuholen, um zehntausend Rubel hervorzuholen und sie ihm an den Holzkopf zu schmettern. Ich zog meine letzten Rubel hervor, die, welche er mir am Morgen selber gegeben hatte, als er mir meinen allerletzten Fünfer wechselte, und bezahlte die Strafe.

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Dann stand ich auf dem schmalen Bahnsteig und betrachtete den eingelaufenen Schnellzug Moskau—Jerewan, und hinter mir machte der Milizionär eine Kopfbewegung in meiner Richtung und erzählte dem Stationsvorsteher: „Der Junge hat ein Diplom! Er arbeitet bei der Zeitung. Halt den Zug nicht auf, sonst verewigt er dich in seinem Blättchen, rück die Mütze gerade, sonst schreibt er darüber. Sein Vater ist auch bei der Zeitung. Vater und Sohn — beide sind Zeitungsschreiber.“ Ich aber weinte stumm im tiefsten Innern und sagte zum Schnellzug: „Kommen Sie würdevoll an, fahren Sie würdevoll weiter. Halten Sie auf der Station Kolageran eine Minute. Ergebensten Dank. Wir sind Ihnen sehr verbunden. Nehmen Sie die Dienstreisebescheinigungen, setzen Sie irgendwo einen Stempel drauf, und damit hat sich die Sache. Klappen Sie Ihr Bett herunter und schlafen Sie ungestört die ganze Nacht. Gehen Sie in den Speisewagen. Knabbern Sie ein Hähnchen, trinken Sie einen Kognak. Wachen Sie auf und gähnen Sie.“ Noch einmal rief ich in Zmakut an, in meinem armseligen, unglücklichen winzigen Dorf. Im nächstgelegenen Kraftwerk hatte man vergessen, Zmakut ans Stromnetz anzuschließen, es wurde nur vom großen Mond am Himmelszelt beleuchtet, aber sein Licht fiel nicht auf Häuser, Gärten und Wege, denn der dichte Wald ließ keinen Strahl hindurch. Wenn die Leute von den Feldern kamen, gingen sie zu Bett und brauchten deshalb weder Zeitungen noch Radio oder Diskussionen. „Fünfzig Kopeken sind noch übrig“, sagte die Telefonistin zu mir. „Das ist für morgen. Morgen rufst du 251


so lange an, bis ein Auto kommt und unsern Jerewaner abholt. Hör mal, was hast du denn? Ist was passiert?“ fragte sie auf unsere vertraute Art, halb ernst und halb lachend. „Hat man dich runtergeputzt? Na klar, das Kind hat man runtergeputzt.“ Der Teufel soll1 sie allesamt holen! dachte ich. Verkriechen sich in ihre Wälder und haben keine Ahnung, was in der Welt passiert, wissen es nicht und wollen es auch nicht wissen. Sie mähen ihr Gras, schobern es auf, melken die Kühe, hüten die Schafe, machen Käse und Butter und schlachten Rinder. Wenn sie wenigstens näher an der Eisenbahn wohnten! Aber nein, sie haben sich wer weiß wohin verkrochen! Kolageran hatte längst seine Lampen und Laternen angezündet und blickte mit seinen traulichen Fenstern auf die Bahnhofsstille. Ein Güterzug fuhr ohne anzuhalten durch. Die Einsatzlokomotive brachte ihn bis fast zur höchstgelegenen Station und kam dann zurück. Zwei Arbeiter standen nun schon seit fünf Stunden am Imbißstand und tranken Bier. Die Gänse hatten das Bohnenkraut beim Weichensteller verwüstet, watschelten, friedlich schnatternd, die Gleise entlang, bogen ab, überquerten die Brücke, überquerten die Chaussee und suchten sich ein ungestörtes Plätzchen. Gute Nacht bis morgen. So eine Station ist gar nicht schlecht! dachte ich. Sie ist gleichzeitig Stadt und Dorf. Zwar gastieren hier niemals Sänger oder Schauspieler, aber man kann sich jederzeit in den Zug setzen und einen kleinen Rutsch nach Kirowakan, Tbilissi oder Jerewan machen. Willst du dir Schweine halten, bitte sehr. Ja, verdammt noch mal, Stadt und Dorf zugleich, und vor Wölfen braucht man keine Angst zu haben, die kommen nicht bis hier252


her. Und immer hat man Bratkartoffeln, Wurstringe, Tee auf dem weißgedeckten Tisch, das Radio spielt mit voller Lautstärke, täglich gibt es frisches Weißbrot, die Bäckerei liegt neben dem Kraftwerk, direkt vor deiner Nase, immer hat man elektrisches Licht, hier kommt es nicht vor, daß man aus Vergeßlichkeit nicht ans Stromnetz angeschlossen wird. Verflucht, wenn mein Vater hier wohnte, könnte er Bohnen stecken, Schweine züchten und außerdem als Weichensteller arbeiten, als Milizionär oder als Bäcker in der Bäckerei, und morgens würde er noch heiße, weiche Langbrotc mit nach Hause bringen. Ach, verflucht! In Zmakut ist die Nacht pechschwarz. Die Erde scheint einem unter den Füßen davonzulaufen, das Flüßchen schäumt gegen die Ufer, in der Finsternis schleppt eine Wolfsmeute den Hund glatt von der Haustür weg. Für jeden frisch gebackenen Zeitungsschreiber wird unbedingt ein Lamm geschlachtet, und dann wartet man schweigend, mit aufgerissenem Mund, was der Lausejunge über das Wetter, über das Feuer, über den Schasthlyk und über Mesrop zu sagen hat. Und wieder verfluchte ich Aelita Mirsachanjan, in der Erkenntnis, daß ich im Vergleich zu ihren rundlichen Waden, ihrem strahlenden Lächeln und ihrem sachlich berechnenden Kopf vollkommen machtlos war. Und dann erkannte ich klar, ebenso klar, wie meine Erinnerungen an das Dorf Zmakut waren, daß Diwan, Sessel, Telefon und reizende Gelächterkaskaden nur zu Aelita paßten, die Körbe, das schmutzige Hemd und die geröteten Augen dagegen bloß zu mir. Jeder von uns war da, wo er hingehörte. Die alten Minister und Professoren werden sterben, in den Ruhestand treten. Wer

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soll sie ersetzen? Wir haben das Studium beendet, wir schleichen uns still und heimlich ans Professoren- und Ministeralter heran. Doch wer von uns wird Lektor oder Minister werden? Aelita. Wir standen auf dem Korridor, an uns vorbei ging der Englischprofessor Hamlet Taronjan. Sein federnder Gang war dermaßen extravagant, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, mich an seine Fersen heftete und ihn nachäffte. Vorher erzählte ich noch den letzten Witz, so daß wir alle lachten. Als Hamlet Taronjan sich umblickte, kratzte ich mir die Nase und ging gesenkten Hauptes in seinem Gang weiter, als wäre es mein eigener. Er starrte mir nach, bis ich ins Treppenhaus abbog und die Treppe hinunterstürzte, lachend, glühend vor Scham. „Schseht, was soll das!“ „Ach, Aelita! Ich hab eine Dummheit geiflacht. Verdammt!“ „Was denn für eine?“ fragte sie gleichgültig und stieg weiter mit dem Klappergreis Asrjan die Treppen hinauf. Ungefähr zwei Jahre lang war ich Hamlet Taronjans psychologischer Sklave, Aelita hingegen bemerkte Hamlet einfach nicht, schenkte ihm nicht die geringste Beachtung, denn seine Stimme galt nichts im Dekanat, er wurde nicht respektiert, sie besaß das erforderliche Quantum an Englischkenntnissen und kam nie auf den Einfall, seinen Gang nachzuäffen. Aelita würde Minister werden. Aelita hatte keine Schuld. Weshalb war sie nicht so wie ich? Weshalb war sie ernst und niemals albern, weshalb lagen ihr dumme Streiche fern? Aelita würde Minister werden, und ich würde den Schnittern in den Bergen erzählen, daß wir in einem Seminar 25 4


waren. „Wir waren Kommilitonen“, würde ich sagen. Die Schnitter würden Aelitas Bild in der Zeitung betrachten, die Liste der Ehrengäste lesen, die auf dem Empfang zugegen waren, mich ansehen und sagen: „Dein Vater war ein Aufschneider, und du entwickelst dich auch dazu.“ In tiefer Nacht auf der schmalen Bahnstation Kolageran sitzend, flehte ich sie an: „Du darfst keine Karrieristin sein, Aelita, das tut man nicht. Das ist gewissenlos, Aelita! Natürlich liegt so etwas im Bereich der Möglichkeiten, das begreife ich ja, es wird immer so gemacht, aber es ist unfair, gleichzeitig so schön und so karrieresüchtig zu sein, Aelita!“ Der Schnellzug Jerewan—Moskau lief ein. Um fünf Uhr morgens. Genau vierundzwanzig Stunden, nachdem ich in Kolageran eingetroffen war. Er glitt an mir vorbei und entschwand. Als er einfuhr, sah ich auf die Uhr und sagte: Ausgezeichnet, diese Pünktlichkeit, er hat keine Verspätung, gestern lief er ebenfalls pünktlich ein, auch ohne Verspätung. Ich hatte das Bedürfnis, den Lokomotivführer wegen seiner Pünktlichkeit zu loben, doch da wurde mir plötzlich klar, daß ich schon vierundzwanzig Stunden auf der Station herumsaß, und fand es entsetzlich unsinnig, daß ich in Jerewan mit einem Taxi zum Bahnhof gerast war, nach Verladung der Körbe und Koffer sowie einer eigens gekauften Flasche Limonade den Finger an die Schläfe gepreßt und überlegt hatte, ob ich auch nichts vergessen hätte, daß ich den Taxifahrer angewiesen hatte, durch die Straße zu fahren, in der Wershine wohnte — „Hrant Karjan fährt für fünfundzwanzig Jahre nach Australien!“ —, daß ich eine Zigarette hervorgeholt und den Fahrer gebeten hatte, möglichst schnell zu fahren, 255


daß er dann tatsächlich blitzschnell gesaust war und deshalb keine Zeit mehr fand, die Zigarette, die er schon zwischen den Lippen hielt, auch anzuzünden. Ich ging in den Wartesaal, denn ich schämte mich. Ich schloß die Augen, weil ich das Gefühl hatte, als wäre mein gestriger Schnellzug bereits auf dem Rückweg von Moskau. Natürlich stimmte das nicht, er sollte erst in vier Tagen zurückkehreu, zur Zeit befand er sich vermutlich irgendwo in der Gegend von Rostow. Na wennschon, er würde nach Moskau fahren, entladen, geschmiert, gesäubert werden, und wenn er auf dem Rückweg hier vorbeikäme, würde ich immer noch dasein, ebenso wie die Brücke, die Gänse und der Imbißstand, und wie aus den Bänken des Wartesaals würden Holzwürmer aus meinem Leib kriechen. „Sanassar!“ brüllte ich. „Was ist denn da bei euch passiert, ich hocke nun schon zehn Stunden hier!“ Er aber hatte mich vergessen, er schwieg und fragte erst nach einer ganzen Weile: „Wer ist am Apparat?“ „Was soll das, Sanassar!“ sagte ich. „Was heißt das, he?“ „Ja, wer spricht da eigentlich?“ „Ich bin’s, Sanassar, seit dreißig Stunden sitze ich hier herum und warte.“ Er schwieg noch ein Weilchen und lachte, offenbar malte er sich das unglückliche Gesicht des Wartenden aus, der bereits dreißig Stunden auf der Bahnstation saß. Dreißig Stunden lang hockt der Dussel da und wartet, daß andere Leute etwas für ihn unternehmen. Er selber aber rührt keinen Finger, telefoniert bloß und gibt Telegramme, auf. „Ja, wer bist du denn?“ fragte er lachend. 256


„Hrant, Sanassar, ich bin Hrant Karjan.“ „Aha!“ sagte er erfreut. „Der Hrant vom schlitzäugigen Jegiseh. Tag, Hrant!“ „Tag, Sanassar!“ „Ich hab dir doch gesagt, wir haben keine Ochsen frei, sie sind alle im Einsatz, ich kann keine hergeben!“ brüllte er plötzlich, aber das war nicht an meine Adresse gerichtet, sondern an irgendwen dort in Zmakut. „Was geht’s mich an, daß du in die Stadt mußt, nimm deine Siebensachen und hau ab in deine Stadt, aber solange du hier bist, tu gefälligst, was man dir sagt. Sieh einer an, alle wollen kommandieren!“ Er tobte in der Verwaltung herum, ging zum Telefon und schmiß den Hörer auf die Gabel. Was sollte man dazu sagen? Und was konnte ich dagegen machen? Na gut, ich hatte mit Karine vom Polytechnischen gar nicht Twist getanzt, ich hatte mir nur selber vorgeprahlt, daß ich es getan hätte. Jawohl, ich bin der widerwärtigste Mensch der Welt, ein Unhold, der gräßlichste aller Menschenfresser, ich habe das Gemetzel organisiert, das die Türken unter den Armeniern anrichteten, ich will unbedingt einen neuen Weltkrieg entfesseln und unter dem Schutz seines Getöses und seiner Rauchwolken in aller Stille die letzten Reste von Armeniern und Juden ausmerzen und dann aus diesem Anlaß in Trauer gehen. Ich meine, daß die Welt ohne diese Bahnstation auskommen könnte, all das ist überflüssig — Eisenbahn, Telefon, Radio, Asphalt, Hämmer, Zement, Kohlen, Knöpfe, Uhren, Betten, Lächeln, Klaviere, Wartesäle, Mahlzeiten, Buchstaben. All das ist überflüssig, der Mensch ist dessen unwürdig, ich will das Leben von vorn beginnen, mit Urwäldern, Wurzeln, Skorbut. Jawohl, aber weshalb vereiteln die Men-

17 Matewosjan/Schelm

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sehen in ihrer Güte nicht meine schrecklichen Unternehmungen? Das Ungeheuer Hrant Karjan saß auf seinen Körben und sagte sich: Wärst du ein Mann, dann wärst du zu Fuß gegangen oder mit Merushan gefahren, du bedauernswerter Waschlappen! Hrant Karjan raffte sich auf und ging aufs neue zum Schalter der Telefonistin. „Verbind midi noch mal.“ „Du solltest als Lehrer bei uns bleiben, das sag ich dir!“ Sie stellte die Verbindung zu der anderen Diensthabenden her und fuhr fort: „Wenn eure Leute hier ankommen, fragen sie: Wo sind wir da bloß hingeraten, nach Moskau oder nach Jerewan?“ „Sanassar!“ schrie ich. „Bist du denn kein Mensch? Was soll ich anstellen, daß du dich meiner erbarmst, wie soll ich dich herumkriegen, sag es mir, und ich tu’s! Vier Sommer lang hab ich auf deinen Kolchosfeldern gemäht!“ „Willst du vielleicht eine Medaille dafür?“ „Nein!“ schrie ich. „Aber menschliche Behandlung!“ „Wieso behandle ich dich unmenschlich?“ „Seit dreißig Stunden hocke ich nun auf der Bahnstation.“ „Wirklich? Von wo sprichst du denn?“ „Von der Bahn-sta-ti-on!“ „Warst du nicht gestern auch schon auf der Bahnstation? Demnach bist du noch immer da! Ach, daß bloß das Dach nicht über dir einstürzt, fünf Jahre hast du nun in der Stadt studiert, aber bist immer noch von Jegischs Schlag, hohoho!“ „Sanassar!“ sagte ich. „Ich hab doch Gepäck.“ „Ich laß deinen Leuten gleich Bescheid sagen.“ 258


„Ich hab schweres Gepäck, Sanassar, schick mir bitte ein Pferd.“ „Ein Pferd hab ich nicht und krieg ich nicht, ich sag gleich deinen Leuten Bescheid.“ „Meine Leute haben kein Pferd, Sanassar, und ich hab schweres Gepäck.“ „Ich weiß nicht, was ich deinen Leuten ausrichten soll“, sagte er. „Soll ich sagen: Hrant sitzt auf der Bahnstation und bringt es nicht fertig, sein schweres Gepäds herzubefördern?“ „Genosse Vorsitzender“, sagte ich, „meine Leute sind keine Grundbesitzer. Als der Kolchos gegründet wurde, hat man alle Pferde zusammengeholt und den Bauern gesagt, wenn ihr eins braucht, kriegt ihr eins zur Benutzung.“ „Das hast du wohl in deinem Diplom gelesen?“ erkundigte Sanassar sich gelassen. „Ich hab den Eindruck, daß so etwas zuallererst in deinem Diplom stehen müßte.“ „Müßte. Wir sind kleine Leute, wir brauchen keine Diplome.“ „Was hältst du dann von der elementarsten menschlichen Logik?“ „Unsere Sache ist es zu arbeiten, nicht aber, sich mit Logik abzugeben.“ „Ein Pferd, Sanassar!“ „Jetzt reicht’s aber!“ sagte er und warf den Hörer hin. Und während ich meinen ebenfalls hinknallte, sagte er noth etwas. „Was ist?“ „Nichts“, sagte er. „Ihr seid zu Hause genug Leute, ihr werdet auch ohne Pferd auskommen.“ „Bitte!“ sagte ich. „Du brauchst meinen Leuten nicht

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mal Bescheid zu sagen. Überhaupt kann midh dein Pferd mal! Und deine Mutter auch! "Wiedersehn!“ Und Hrant Karjan legte den Hörer auf. Anschließend begab er sich schlank, hochgewachsen, in wirkungsvoller Lässigkeit, wenn auch ein klein wenig unrasiert, mit beherrschten, gemessenen Schritten ins Polytechnische Institut, suchte dort Karine auf, tanzte mit ihr einen Twist, ging sodann in die Universität, in die Aspirantur, verteidigte seine Dissertation, und es gab keinen Dozenten, der so jung, so erfolgreich, so scharfsinnig und geistreich war wie er. Er war der berühmteste Mann von Jerewan, alle Leute redeten nur von Hrant Karjan, sogar in Tbilissi und Kiew sprach man von ihm, auch in Moskau war er bereits bekannt. Erstaunlich, er lebt in Jerewan und ist doch so gebildet, so talentiert! Und dann zog Hrant Karjan, der hochgewachsene, schlanke Hrant Karjan mit der weichen Krawatte auf dem weißen Hemd, achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt, dann zog ebendieser Hrant Karjan, ohne von seinem Schreibtisch aufzustehen, eine Pistole hervor und schoß sich in den Mund. „Schwer, Genossen, ist das Joch des Siegers!“ Und niemand, niemand erfuhr jemals, wie sich sein junges Herz bei der Erinnerung an die Bahnstation Kolageran unablässig vor Gram zusammengekrampft hatte. Zum Teufel mit den ausländischen Filmen, zum Teufel mit der Zmakuter Bibliothekarin, die mir in meiner Kindheit kein neues Drecksbuch in die Hand gab, bevor ich mir das alte nicht von der ersten bis zur letzten Zeile zu Gemüte geführt hatte. „Wenn du ein Buch entliehen hast, mußt du es auch durchlesen.“ „Bitte!“ sagte ich. „Du brauchst meine Leute nicht 260


mal zu benachrichtigen. Überhaupt kann mich dein Pferd mal! Und deine Mutter auch! Wiedersehn!“ „Macht nichts“, sagte Sanassar. „Meine Mutter ist dran gewöhnt, ’s ist nicht das erste Mal. Wiedersehn.“ „Wiedersehn!“ sagte ich. „Ich bin nicht dran gewöhnt. Zum zehntenmal treff ich auf dieser verdammten Bahnstation ein und setz Schimmel an, bis ich hier wegkomme. Herzlichen Dank, sehr verbunden!“ „Ihr habt mich zum Vorsitzenden gewählt, und nun zieht ihr mich in den Dreck! Was muß ich mir nicht alles anhören. Andro kläfft mich an, der Inspektor kläfft midi an, der Nachtwächter, der Nachbarvorsitzende auch, jeder, der dazu Lust hat. Und jetzt bist du an der Reihe. Bitte sehr!“ „Entschuldige!“ sagte ich. „Bitte. Aber wegen dem Pferd mußt du entschuldigen.“ „Na schön“, sagte ich. „Wer bist du schon, daß man sich über dich ärgern könnte! Über dich und dein Pferd und deine Mutter ...“ „Na, Jegischs Söhnchen ist ja ein feines Früchtchen geworden! Eijeijei! Warte da ruhig noch ein Weilchen!“ „Wieso warten? Ich red nicht mehr mit dir.“ „Ach so! Na, dann auf Wiedersehn!“ „Alles Gute, zu Hause haben sie kein Hirsekörnchen mehr.“ „Komm zu mir, mein Haus ist voll, kannst dir ’ne Tonne leihen.“ „Was beschwerst du dich bei mir? Ich bin nicht dein Lagerverwalter. Wiedersehn!“ „Und ich bin nicht dein Diener. Von mir kannst du kein Pferd verlangen!“ 261


„Ich verlange überhaupt nidhts von dir.“ „Sehr angenehm. Wiedersehn.“ „Erinnere dich, wie ihr meinen Vater hinters Licht geführt habt, als ihr zu ihm gegangen seid und gesagt habt: ,Du hist unser ehrlichster und vorbildlichster Arbeiter!4 Und dann habt ihr alle Wolle aus den Matratzen geklaubt und damit euren Ablieferungsplan gestopft, ihr vorbildlichen und ehrlichen Leute. Wiedersehn!“ „Na klar, und später haben wir ’n Orden dafür gekriegt, und dein Vater hat seitdem Rückenschmerzen, weil er auf ’ner Holzpritsche schlafen muß. Wiedersehn!“ „Dich geht es gar nichts an, worauf mein Vater schläft.“ „Was geht mich nichts an?“ „Ob mein Vater Rückenschmerzen hat oder nicht.“ „Wieso hast du mich dann daran erinnert?“ „Erinnern schadet nichts. Wiedersehn!“ „Dann erinnere dich auch manchmal an diese Unterhaltung. Wiedersehn!“ „Werd ich. Wiedersehn!“ „Gut, vergiß es nicht.“ „Und du solltest dich daran erinnern, wie einmal einer aus der Kreisstadt kam und ihr angeblich nichts im Hause hattet und wie ihr dann unser Schwein, das wir gerade erst geschlachtet hatten, weggeschleppt habt! Weißt du das noch?“ „Ja, das weiß ich noch, und ich weiß auch, daß ihr zwei Tage später einen Räucherschinken erhalten habt.“ „Dann müßtest du auch wissen, daß wir außerdem das Leder gebraucht hätten, wir waren elf barfüßige Kinder daheim, und wenn wir räuchern müssen, dann kön-

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nen wir auch ohne fremde Hilfe räuchern, verstanden?“ „Ich räuchere, du räucherst, er räuchert, wir räuchern, ihr räuchert, sie räuchern, du hast ein Diplom in der Tasche. Weiter?“ „Erst schreibst du meiner Mutter eine offizielle Unterstützung aus, und dann sagst du ihr nach, daß sie Kinj der kriegt wie Karnickel.“ „Sie kriegt doch auch ein bis zwei pro Jahr, was soll [ man denn sonst sagen? Die Leute reden, daß sie jetzt noch eins zur Welt gebracht hat, wie viele seid ihr demnach nun?“ „Zwölf! Ist es ein Mädchen oder ein Junge? Sanassar! Mädchen oder Junge?“ „Ihr seid so viele, daß man nicht mehr unterscheiden kann, ob Junge oder Mädchen.“ „Sanassar, ich...“ „Die Leute reden, nachdem es auf der Welt war, mischte es sich sofort unter die übrigen, deshalb konnte der schlitzäugige Jegisch nicht unterscheiden, welches das Neugeborene war.“ „Wie geht es Mutter?“ Meine träge, sanfte Mutter mit dem verhaltenen Lächeln. Ein geheuchelter Seufzer und ein verstecktes Lächeln, gekünstelter Emst und belustigtes Lächeln. „Ich zieh dir die Ohren lang, du gewissenloser Bengel, ach, was quält ihr mich, ihr bringt mich noch unter die Erde, nimm dir das halbe Ei, und du kriegst die andere Hälfte. Und dann verschwindet nach draußen. Hrant liest ein Buch. Schscht. Da kommt euer Vater. Da kommt euer Marschallvater, er schleppt was. Araik, lauf ihm entgegen. Hrant, du hast noch nicht Chemie gemacht! Euer Marschallvater hat zwei Waggons mit

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guten Sachen aus Deutschland mitgebracht, in den Waggons waren zwei Kilo Käse, was werden wir morgen essen, lieber Mann?“ — „Darüber werden wir morgen nachdenken.“ — „Na, das ist doch nicht bloß ein Mann, das ist doch geradezu ein Marschall!“ „Sanassar!“ schrie ich in den Hörer. „Ein Pferd oder was Ähnliches. Ich bleib auch einen ganzen Monat auf dem Feld und mäh von früh bis spät.“ „Und die Beschimpfungen?“ „Ich bitte um Verzeihung.“ „Erst beschimpfst du midi, und dann bittest du um Verzeihung.“ „Aber ich sitz schon seit gestern hier!“ „Ich hab dich doch nicht zur Bahnstation geschickt. Du hast es dir selber zuzuschreiben, wenn du da sitzt und beleidigt bist!“ „Ich bin doch bloß beleidigt, weil du mir kein Pferd schickst.“ „Aha, dann sei ruhig beleidigt, immer sei beleidigt nach Herzenslust.“ „Na gut, ich bin nicht mehr beleidigt, Sanassar.“ „Das ist recht.“ „Sanassar!“ „Du bist nicht bei Trost, jetzt kann dir niemand ein Pferd leihen, der August steht vor der Tür.“ „Zum Teufel mit deinem August und deinem Pferd und deiner Mutter und meinen Körben und dieser Bahnstation! Was bist du bloß für ’n Mensch!“ „Wie bitte? Du schreist so laut, daß ich nichts verstehen kann.“ „Wer schreit?“ „Ich kann nichts verstehen!“ „Wieso kann ich dich so gut verstehen?“ 264


„Ich versteh dich nicht, komm ins Dorf, dann unterhalten wir uns hier weiter.“ „Schick ein Pferd, wie soll ich sonst ins Dorf kommen?“ „Was, ein Pferd? Ein Pferd gibt’s nicht. Wiedersehn.“ „Wiedersehn, Sanassar, das vergeß ich dir nicht.“ „Woderson, Sonossor, dos vergoß och dor nocht.“ „Was? Hör mal zu. Du bist ein Teufel! Und dir hat man unser Dorf anvertraut!“ „Wos? Hör mol zo, do host on Tofel, ond dor hot mon onser Dorf onvertrot!“ „Du kotzt mich an!“ „Wieso denn? Wenn ich Vorsitzender bin, kann ich doch mal einen Witz machen!“ „Seit zwei Tagen sitz ich bereits hier, Sanassar!“ „Ich fühle mit dir!“ „Du hast ein Auto zur Verfügung und kriegst jederzeit ein Pferd, du kannst überhaupt nicht mit mir fühlen.“ „Das arme Kindchen sitzt auf der Bahnstation, mit der Sense in der Hand, die Sonne brennt, kein Schatten, kein Wasser, ein Regenguß droht, die Beine tun ihm weh, ein Wolf schleicht herbei, und das Kindchen weiß nicht, soll es erst seine nassen Socken über dem Lagerfeuer trocknen oder erst den Wolf verjagen! Armes Kindchen!“ „As waß nacht, sali as arst sane nassen Sacken tracknen ader arst dan Walf varjagen.“ „Os woß nocht, soll os erst sone nossen Socken trocknen oder erst don Wolf vorjogen.“ „Mazun hat ar ahnen gabracht, da haben sa ahn zam Varsatzenden gemacht, und als sa ahn absatzen wal265


ten, brachte ar ahnen Batter, dram ist ar hate nach Yarsatzender und Leitar!“ „Botter hot er mitgebrocht und sie solber gef rossen, selber gefrossen, hot sie soch of do Ogen gelogt, of do Ogen gelogt, do ist or Profossor goworden, Professor goworden, zor Bohnstotion gefohren, zor Bohnstotion gofohren, will jotzt Leitor son, und koner gehorcht ohm!“ „Nein“, schrie ich, „Schluß damit! Ich bitte dich bloß um ein Pferd, leite selber, wen du willst, aber schick mir ein Pferd.“ „Ich bin nicht durch die Butter Vorsitzender geworden, das sollte Ihnen bekannt sein, Genosse Karjan!“ „Du hast recht, Sanassar.“ „Bitte, bitte, keine Ursache!“ „Entschuldige, daß ich dir die Zeit geraubt hab.“ „Macht gar nichts, wir haben nur ein wenig geplaudert.“ „Aber was du tust, ist unmenschlich.“ „Von dieser Ware haben wir nichts, bring uns von der Bahnstation ein bißchen davon mit.“ „Schick mir ein Pferd, dann bring ich was mit.“ Zum Teufel, einmal schwebte ich im siebten Himmel, und dann wieder war ich ganz zu Boden geschmettert, er war für mich mal ein Gott, mal ein Vieh, mal ein Gott, mal ein Vieh. Und ich war in diesem Augenblick einfach außerstande zu begreifen, daß er weder ein Gott noch ein Vieh war, sondern ein Mensch. In Zmakut regnete es, die Leute saßen schläfrig beim Kartenspiel oder beim Domino, alberten, sagten gleichgültige Dinge, warfen einen Blick in die Zeitung oder hockten schweigend ums Telefon. Wenn in den benachbarten Bergen ein Blitz einschlug, riefen sie sich verschlafen 266


ins Gedächtnis, daß der Blitz im vergangenen Jahr den Büffel Latschin an der Weißen Quelle erschlagen und im vorletzten Jahr Asehots Rosa getroffen hatte und daß Asehots neue Frau die Kinder besser versorge als die alte und daß sie auch als Ehefrau mehr tauge. Und wegen der fehlenden Blitzableiter solle man sich mal im Ministerium beschweren, oder ob das keinen Sinn hatte? In der Zeitung sollte ein Artikel darüber gestanden haben, jemand aus dem Dorf hatte ihn gelesen, wer hatte ihn eigentlich gelesen? Du lieber Himmel, selbstverständlich kannst du auch gleich nach Moskau schreiben und nicht erst ans Ministerium, aber wo willst du die Blitzableiter anbringen! Meistens schlägt der Blitz doch in den Bergen ein! Na ja, in den Bergen passiert das häufig, aber letztes Mal hat es doch Jessais Sohn in der Schlucht erwischt, unter der Weide! „Sieh mal raus, ist der Fluß angestiegen?“ fragte Sanassar. Der Fluß war braun geworden, schoß gurgelnd dahin und schäumte gegen die Ufer. Keine Gans schwamm mehr darauf, die alte Autokarosserie und die Schmierölfässer unter der Brücke waren nicht mehr zu sehen. Der Fluß tobte, es fehlte nicht viel, und er hätte die nebeneinander aufgereihten Holzklosetts des Stationsvorstehers, der Telefonistin, des Milizionärs, des Weichenstellers, der Reinemachefrau, des Schuldirektors und der Lehrer weggeschwemmt. „Ja, der Fluß ist angestiegen, Sanassar, und was weiter?“ Ich plinkerte der Telefonistin zu. „Wodurch ist er angestiegen?“ „Wodurch er angestiegen ist?“ wiederholte ich und plinkerte der Telefonistin noch einmal zu. 267


„Es regnet, durch den Regen ist er angestiegen, kapierst du das?“ „Hier regnet es nicht, Sanassar, aber die Sonne scheint auch nicht, es ist bloß schwül.“ „Aber hier regnet es, sag ich dir. Und in den Bergen hat es sogar gehagelt.“ „Na und?“ Ich plinkerte der Telefonistin zu. „Na, und deshalb plaudere ich mit dem Genossen Karjan.“ „Und warum hast du nach dem Fluß gefragt?“ „Hm“, Sanassar lachte. „Das ist nämlich unser Fluß, Genosse Städter, wenn es hier hagelt, schwillt dort der Fluß an, kapiert?“ Er lachte wieder, und ich freute mich, daß er lachte. „Ach, das liegt also am Regen, und ich hab mir schon überlegt: Warum fragt er nach dem Fluß? Demnach regnet es bei uns, und dadurch ist der Fluß ... Sanassar! Ich bitte dich, ja? Schick doch ein Pferd oder sonstwas“ — ich plinkerte dem Milizionär zu, der dastand und grinste — „den zweiten Tag hock ich schon hier, Sanassar.“ „Nein, ist das wahr? Das kann doch nicht sein! Bist du denn immer noch in Kolageran? Denk an das Wasser! Das gelangt in zwei Stunden bis zu euch, ganz ohne Diplom gelangt es ohne fremde Hilfe nach Kolageran und noch weiter. Und du, ein erwachsener Mann, mit Diplom und gebildet, schaffst es in zwei Tagen nicht, bis nach Zinakut zu gelangen! So was aber auch!“ „Aber Sanassar! Zum Teufel mit dem Diplom, Hauptsache, ich versteh, auf dem Feld zu arbeiten. Ein Pferd, Sanassar!“ „Nein, wieso denn? Ein Diplom ist auch eine nützliche Sache.“ 268


„Aber ein Pferd ist noch nützlicher, Sanassar.“ „Selbstverständlich, auch ein Pferd ist eine nützliche Sache, aber ein Diplom ist noch nützlicher, Ruben zum Beispiel, der hat keins, deshalb wird er als Direktor abgesetzt.“ „Und es ist sehr schlecht, daß man ihn absetzt, wer nimmt sich denn das Recht heraus, sich in die Angelegenheiten deines Dorfes einzumischen?“ „Nein, wieso denn, das kommt sogar sehr gelegen, dann kannst du gleich Direktor werden, wenn du hier eintriffst.“ „Wer würde mich zum Direktor ernennen, Sanassar? Machst du dich über mich lustig?“ „Ich würde ein Wörtchen für dich einlegen.“ „Vielen Dank, Sanassar.“ „Auf Wiedersehn, wir warten.“ „Aber du mußt mir vorher ein Pferd schidken, Sanassar.“ „Du bist schon so gut wie Direktor, dann brauchst du doch kein Pferd mehr!“ „Aber ich hab Gepäck, Sanassar.“ „Macht nichts, das vergißt sich, wenn du Direktor wirst, vergißt du alles, dann vergißt du sogar zu grüßen.“ „Was? Du kennst mich nicht, Sanassar!“ „Das sagen zuerst alle.“ „Kommt drauf an, wer das sagt, Sanassar!“ „Auch das behaupten zuerst alle.“ „Stell mich zuvor auf die Probe, dann kannst du so was äußern.“ „Hahaha, auch das behaupten zuerst alle.“ „Wahrscheinlich haben sie es schwer, deshalb sagen sie das.“ 269


„Und warum hast du’s schwer? Ist vielleicht Krieg oder was?“ „Krieg ist nicht, aber ich hocke schon zwei Tage auf der Bahnstation.“ „Raff dich auf und komm her.“ „Aber ich hab doch schweres Gepäck, Sanassar.“ „Gepäck? Was denn für Gepäck?“ „Zwei Körbe und zwei Koffer.“ „Zwei Körbe und zwei Koffer? Und was ist da drin?“ „Alles mögliche, Sanassar.“ „Aha, also Geheimgepäck.“ „Nichts Geheimes, Sanassar, aber es lohnt nicht zu erzählen, was drin ist.“ „Zwei Körbe und zwei Koffer. Schweres Gepäck, sagst du, aber was drin ist, kannst du nicht verraten.“ „Zucker, Sanassar.“ „Hundert Kilo?“ „Nein, fünf. Und Nudeln.“ „Fünfundneunzig Kilo Nudeln?“ „Nein, zehn.“ „Genau zehn?“ „Nein, acht.“ „Acht und zehn sind nicht dasselbe. Und weiter?“ „Warum interessierst du dich denn für den Kram, Sanassar?“ „Siehst du, du sagst selber, daß es Kram sei, folglich hab ich recht, wenn ich dir kein Pferd schicke.“ „Gebäck für die Kinder.“ „Für die Kinder! Als könnte Jegisch nicht auch davon essen. Und weiter?“ „Was weiter?“ „Zucker, Nudeln. Gebäck - ist das alles?“ „Nein, ich hab noch mehr, Sanassar.“ 270


„Na, dann schieß mal los.“ „Weintrauben. Die ersten Weintrauben.“ „Sieh einer an, was für ein Prachtkerl du bist!“ „Meine Bücher.“ „Ausgezeichnet!“ „Schuhe für die Kinder.“ „Noch ausgezeichneter.“ „Eine Baumwolljacke für Vater.“ „Donnerwetter. Wird Jegisch die auch anziehen?“ „Ich glaube, ja. Einen Schal für Mutter, meine alten Stiefel. Kolleghefte. Jackett, Turnhose, Unterhemd. Unterhosen für Vater. Windeln für das Neugeborene. Kinderseife. Einen warmen Frauenschlüpfer. Messer und Gabel. Eine Torte. Ein Bügeleisen. Ein Thermometer und Jod. Einen Sattel und ein Vorhängeschloß, einen Pflug, Trockenmist, eine Mütze, Pfannen, und das zahle ich dir eines Tages heim, du Hundesohn!“ Als ich den Hörer hinschmiß, umgab mich eine Stille wie in der Narkose. Aus dunklen Fernen kehrte mit schwerem Rauschen das Bewußtsein zurück. „Na und?“ sagte ich zu dem Milizionär und der Telefonistin. Dann riß ich den Hörer noch einmal ans Ohr. „Sadist!“ Aus der Dunkelheit blickten mich die Augen der Telefonistin mitleidig und die des Milizionärs verächtlich, aber auch mitleidig an. Strich um Strich gewannen die Wände ihre Umrisse zurück, das Bild des auf einer Lokomotive sitzenden Ordshonikidse, die Tür, das Fenster, die Chaussee, über die ein Schwein lief. Ich stürzte wieder über das Telefon her. Und dann, dann hielt midi der Milizionär am Arm fest, und ich hörte seinen Atem an meinem Ohr. „Ruhig! Ruhig!“ sagte er. 271


„Wurm! Schuft! Idiot! Biest!“ keuchte ich. Plötzlich fand ich die ganze Welt schön und traurig, ich merkte, daß mein Gehirn immer wärmer, immer heißer wurde und sich zu erweichen begann. Auch die Verbindungen und Bestandteile meines Hirns erweichten sich und lösten sich auf. Ich stellte keinerlei Ansprüche mehr, ich liebte niemanden und haßte niemanden, nur vom Fußboden fühlte ich mich mit unwiderstehlicher Kraft angezogen, ich strebte zu ihm hin, versuchte, mich aus den Armen des Milizionärs zu lösen, aber er umklammerte mich noch fester und gab mich nicht frei. „Bitte, bitte!“ flehte ich. „Loslassen! Bitte, bitte!“ Da ließ er mich los, unter mir stand plötzlich ein Stuhl, ich setzte mich einen Augenblick darauf, doch dann warf ich mich zu Boden, und das war eine Demonstration, eine Schaustellung. Obendrein hätte ich am liebsten laut gejammert, aber das wäre gar zu theatralisch gewesen. So hielt ich den Mund. Doch bis zum heutigen Tag habe ich den Staubgeruch jenes Fußbodens in der Nase. Ich lag in meiner ganzen Länge da und redete mir ein, daß ich mein in den Staub getretenes Recht beweine, daß ich mir aus diesem Grunde die Kleider beschmutzt und mein letztes Geld für Telefongespräche ausgegeben hatte, wobei der Milizionär sich für mich plötzlich in einen gütigen Menschen verwandelte. Auch, daß ich Wershine verloren hatte, hing irgendwie damit zusammen. Und daß ich all diese Schicksalsschläge nicht einmal laut bejammern konnte, auch das hatte etwas Erhabenes. Doch im Grunde überlegte ich, auf welche Weise ich mich vom Fußboden erheben sollte, ich brauchte dazu doch irgendeinen Anlaß. Außerdem sagte ich mir, daß Sanassar nach all dem 272


wohl doch Gewissensbisse bekommen und ein Pferd schicken würde. Aus der tiefen Stille entstand allmählich die Welt mit ihren Lauten und Stimmen. Das Rauschen kam vom Fluß, das gleichmäßige Rädergeratter stammte von einem Zug, der soeben einfuhr und aufkreischend hielt. Er stand eine Weile und fuhr dann ab. Danach kamen von draußen Schritte auf die Tür zu, sie sprang auf, die Schritte wurden lauter und verstummten neben mir. „Oho! Besoffen?“ „Nein, der liegt bloß so da.“ „Was ist denn passiert?“ „Man hat ihn gekränkt.“ „Eijeijei, wer kränkt denn hier das Kind, wie?“ Nähme er mich doch in die Arme, wäre er doch mein Vater. Wäre ich selber noch ein Kind! Dann würde er sich zu mir niederbeugen, mich hochnehmen und trösten. Und ich würde weinen, weil ich mein Taschenmesser verloren hätte. Ich würde weinen und weinen und weinen. Und wenn man mich tröstete, würde ich noch heftiger weinen und mir dabei ausmalen, wie gut sich das Messer zusammenklappen ließ, was für einen langen Griff mit welch schöner Ziselierarbeit es hatte, und während ich weiterheulte, würde Vater mir Zureden, doch endlich aufzuhören, ja, er würde mich sogar ausschelten, und daraufhin würde ich noch lauter heulen, nun deshalb, weil er mich nicht in Ruhe heulen ließ, lange und herzzerbrechend würde ich weinen, dann würde ich auf Vaters Arm einschlafen und erwachen, unschuldig wie Milch und mit strahlendem Lächeln. „Erheb dich, Bursche. Da stehen doch deine Koffer und sagen: Wir haben einen Herrn, und unser Herr ist 18 Matewosjan/Schelra

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kein kleiner Junge mehr, er ist ein erwachsener Mann, der die Universität absolviert hat. Aber der Herr scheint ein Kind zu sein, das sich im Staub wälzt, mit dem eigenen Körper den Fußboden wischt.“ „Das Telefon hat er mir auch kaputtgemacht.“ „Kaputtgemacht? Wieso?“ „Es klingelt zwar, aber ich kann nichts hören.“ „Das ist schon schlimmer.“ Mühsam, widerstrebend erhob sich Hrant Karjan vom Boden, taumelnd, mit roten Augen, fragte er düster: „Und was nun weiter?“ Seine Stimme klang heiser, das gefiel ihm, und er wünschte, daß man ihn noch etwas fragte, damit er antworten und noch einmal seine tiefe Männerstimme vernehmen könne. „Das Telefon ist kaputt, und du hast keine Kopeke in der Tasche, was sollen wir jetzt mit dir machen?“ „Nein, ich hab keine Kopeke mehr. Na, und was macht das?“ „Ich weiß nicht, was das macht.“ „Aber ich weiß es“, antwortete Hrant Karjan. „Was weißt du?“ „Nehmt mich und hängt mich auf.“ „Eijeijei, dieser Zmakuter Dussel! Täte es dir nicht selber leid, wenn ein so junger, schöner Mann mit einem nagelneuen Diplom aufgehängt würde?“ „Nein.“ „Na, wenn nicht, dann verhaftet ihn und führt ihn ab.“ Der Stationsvorsteher und der Milizionär faßten mich unter und führten mich ab. Sie führten mich aus dem Stationsgebäude, führten mich über die Brücke, führten mich ins Haus des Milizionärs. Sie führten mich 274


ab, um mir Bratkartoffeln und Tee vorzusetzen, midi auf ein Lager zu betten und mich die Nacht menschlich durchschlafen zu lassen. Um mich dann am nächsten Morgen zu wecken und mir zu sagen, daß Aldio gekommen sei, mich abzuholen, meine Körbe und Koffer am Sattel festzubinden und mir zu zeigen, wo ich die Gleise am besten überschritte. ,,Araik", fragte ich meinen Bruder, „gibt’s im Dorf kein anderes Pferd? Mußtest du unbedingt mit dieser Schindmähre kommen?“ „Frag mich lieber, wieso Andro mir das Pferd überhaupt gegeben hat“, versetzte er wütend. „Weshalb sollte er’s dir denn nicht geben?“ „Weil es erst vor zwei Stunden aus Kassach zurückgekommen ist.“ „Und wieso hat ег’в dir dann doch gegeben?“ „Vater ist hin zu ihm, dem hat er’s nicht gegeben. Da hat Mama mit Vater geschimpft. Dann ist Mama hin und hat’s angebracht.“ „Mama?“ „Was sollte sie sonst machen?“ „Hast du’s unterwegs sehr angetrieben?“ „Es ist von allein gelaufen, warum sollte ich’s noch obendrein antreiben?“ In der Tiefe schlängelte sich lautlos der Schnellzug Moskau—Jerewan vorbei. Für einen Augenblick kam mir wieder die Erinnerung an den Abteilgeruch, an die Frauenbeine unter dem Tisch und an Hrant Karjan, wie er in lässiger Haltung auf seinem Platz gesessen hatte. „Araik“, sagte ich, „hast du Geld bei dir?“ Er brummte vor sich hin. „Keine, nein?“

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„Woher denn?“ „Hat dir Mama keins gegeben?“ „Als sie ihre Unterstützung kriegte, hat sie mir einen Rubel gegeben. Ich bin losgegangen, um mir einen Füller zu kaufen, aber als ich ankam und den Rubel rausholen wollte, war er weg. Jetzt weiß ich nicht, hab ieh ihn unterwegs verloren oder zu Hause gelassen.“ „Macht nichts, Araik, ich geh dir Geld.“ „Was soll ich damit?“ „Konfekt kaufen.“ Er warf mir einen mörderisch erwachsenen, mörderisch besorgten Blick zu und wandte sich ab. „Wieso, magst du kein Konfekt?“ „Natürlich!“ schrie er auf. „Na und?“ „Zu Hause haben wir kein Stück Zucker, und du redest von Konfekt.“ „Araik, wer war mit dem Pferd in Kassach?“ „Gikor“, erwiderte mein kleiner Bruder beleidigt. „Araik, ich geh dir meinen Füller.“ „Und womit willst du dann schreiben?“ fragte er sachlich. „Mit dem Bleistift?“ „Das wird sich finden, Araik.“ „Wenn du mir deinen Füller gibst, schreibst du dann wirklich mit dem Bleistift?“ „Warum nicht?“ „Prima!“ sagte er. Mit der Linken! Links, links, Prima! Links, links, links! Du hast keine Rechte! Links! Du hast keine Rechte, die hast du im zweiten Weltkrieg verloren, die ist dir von der Straßenbahn abgefahren worden, du bist ohne sie zur Welt gekommen! Links, links, links! Prima! Prima! 276


Nadi mehreren Freundschaftskämpfen hatte er midi „die großartige Linke“ getauft. Und als ich in die Ausscheidungskämpfe gelangte, bildete er sich schon ein, daß ich seine Trainingsmethoden und sein Können mitsamt dem mir verliehenen Spitznamen bis nach Moskau, Berlin, Rom, Melbourne tragen und auf das Siegerpodest stellen würde. Links, links, links! Die Kommission war wohlwollend gestimmt. Ich glaubte ebenfalls, eine großartige Linke zu haben. Aber Karapet Karapetjan schlug midi in der ersten Minute k. o. Macht nichts! sagte ich mir. Die Kommission wartete auf meine überraschende Linke. An die Seile gepreßt, flüsterte der Trainer: „Nimm die Linke! Links, links!“ Ich war mit ihm einer Meinung, ich wußte, daß jetzt, im allernächsten Augenblick, meine Linke überraschend Zuschlägen würde. Etwas später waren wir schon umgekleidet. Die Kommission hatte sich entfernt, Karapet Karapetjan war zum Sieger erklärt worden, mein Trainer hatte vor Wut ausgespuckt und war gegangen, wir standen auf der Straße, es war Frühling, die Dämmerung brach bereits herein, und ich glaubte immer noch, daß im allernächsten Augenblick meine Linke überraschend zuschlagen würde. „Was war das schon für ein Kampf!“ sagte ich zu Karapet Karapetjan. Er zuckte die Schultern. „Du bist um meine Linke fein herumgekommen, Karapet“, sagte ich. Dann bat ich Wershine, ihrem Mann zu bestellen, daß Hrant Boxer sei und eine fürchterliche Linke habe. Ich weiß nicht, ob sie es ihm ausgerichtet hatte, jedenfalls sprang er vom fahrenden Auto, schlug mir zweimal in die Schnauze und sauste dann mit seinem Zement davon. „Ist Sanassar ein guter Mensch, Araik?“ 277


„Ein Mensch wie jeder andere.“ „Hat es im Dorf geregnet?“ „Das hat er dir doch gesagt.“ „Warum wollte Onkel Andro uns das Pferd nicht geben, Araik ?“ „Ich hab dir doch gesagt, daß es kurz vorher aus Kassach zurückgekehrt war.“ „Wieso gibt er Gikor das Pferd für Kassach und sagt, wenn wir es haben wollen, es sei gerade erst aus Kassach zurückgekehrt?“ „Er kann doch nicht sagen, daß es schon lange aus Kassach zurückgekehrt ist, wenn es gerade erst zurückgekehrt ist.“ „Hat er nicht gewußt, daß ich eine Woche hier herumgehockt hab?“ „Er ist mit Vater ziemlich verkracht.“ „Weswegen?“ „Er hat zu Vater gesagt ,Wozu hast du so viele Kinder?“ „Was geht ihn das an?“ „,Wie willst du die vielen Mäuler stopfen? 4 hat er gesagt.“ „Das geht ihn doch wirklich nichts an.“ „Vater hat geantwortet: ,Ich muß sie stopfen, nicht du.4 Und da hat Onkel Andro gesagt: ,Dann geh doch und hol dir woanders ein Pferd, Alcho ist eben erst aus Kassach zurückgekommen.4 44 „Und wie sollen wir uns jetzt verhalten, Araik ?“ „Wie meinst du das?“ „Überhaupt.“ „Ich weiß nicht. Vater hat gesagt, ich soll Onkel Andro kühl grüßen.“ 278


Die orangeroten Pferde 1945 erhielt unser Dorf sieben rassereine Stuten und einen wilden, feurigen Hengst zur Auffüllung unserer während des Krieges stark gelichteten Herde. Ich weiß nicht mehr, wohin die Tiere dann verschwanden, jedenfalls waren nach einem Jahr nur noch eine Stute mit verblüffend orangerotem Fell und ein Hengst gleicher Farbe übrig. Man nahm an, daß der Hengst ein Sohn der Stute sei, was auch durch den Umstand bestätigt wurde, daß die Stute nicht fohlte. 1946 kehrte Mesrop aus der Verbannung zurück. „Was ist Verbannung?“ fragte ich meinen ältesten Onkel. „Das ist, wenn man nicht weg kann.“ „Aus dem Gefängnis?“ „Ja.“ „Und warum wurde er ins Gefängnis gesteckt?“ „Wenn du groß bist, wirst du es erfahren.“ Damals war ich zehn Jahre alt. Jetzt bin ich dreißig. 1919 war Mesrops Vater von mehreren Aserbaidshanern ermordet worden. Zehn Jahre davor hatte Mesrops Vater einen Aserbaidshaner um die Ecke gebracht. Und fünfzehn Jahre danach hatte Mesrop geschossen. Daraufhin hatte Lewon, der Vorsitzende des Dorfsowjets, die Milizionäre zu Mesrop geführt, und Mesrop war verhaftet worden. 1946 kehrte er aus der Verbannung zurück, ging in die Verwaltung und packte Lewon beim Kragen. „Warum hast du die Miliz auf 27 9


einen Unschuldigen gehetzt, he? Mitten in der Nacht seid ihr gekommen, schämst du dich nicht, wie?“ Lewon ließ sich nicht einschüchtern, er packte Mesrop gleichfalls beim Kragen. „Warum hast du zur Sowjetzeit den

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Nationalisten gespielt, he? Warum hast du dich als Held gefühlt, wie?“ Da bekam der Vorsitzende Abgar, ein gutmütiger kränklicher Mann, die Wut. „Schluß mit dem Gezänk!“ fuhr er dazwischen. „Du, Lcwon, übernimmst jetzt die Farm. Und wenn du sie nicht in einen göttlichen Zustand bringst, trittst du mir nicht mehr unter die Augen. Und dich, Mesrop“, fuhr er fort, „haben wir stark vermißt, gut, daß du wieder da bist. Also, im vorigen Jahr hat man uns sieben Stuten geschickt, eine ist noch übrig, geh, Mesrop, und befaß dich mit den Pferden.“ Eine Stunde, nachdem Mesrop Pferdehirt geworden war, ja, genau eine Stunde später, wettete er seinen Kopf, daß der Hengst ein Sohn der Stute sei und daß sie so lange nicht wieder fohlen würde, bis sie zu einem anderen Hengst käme. Das Dorf teilte sich in zwei Gruppen. Die erste schloß sich der Meinung des Pferdehirten an, die zweite war entgegengesetzter Ansicht, und Lcwon, der selbstverständlich zur zweiten Gruppe gehörte, meinte: „Der will bloß den Superschlauen spielen.“ Doch solange der rote Hengst Leittier der Herde war, wagte kein anderer Hengst, sich ihr auch nur zu nähern. Der rote Hengst war recht angriffslustig, und wenn er einen fremden Hengst erspähte, stürmte er, mochte der auch noch so weit entfernt sein, auf ihn los, um ihn zu unterwerfen. Wenn er auf so ein bedauernswertes Lastpferd zuraste, das seine Säcke nur mühsam mit gespreizten Beinen zu schleppen vermochte, sah es aus, als triebe der Wind eine Flamme übers Feld. Sein kupferroter Schweif riß beinahe ab, konnte kaum mit ihm Schritt halten. Über ihm flatterte 280


die feuerrote Mähne, von einem Berg zum anderen hörte man ihn schnauben. Von weitem wirkte sein Lauf atembeklemmend schön. War man jedoch der Herr des anderen Pferdes, hätte man dem Hengst am liebsten eine Bleiladung in die aufgebäumte Brust gejagt, wünschte man sich, daß er mit voller Wucht zu Boden stürzen und sich das Rüdegrat zertrümmern würde. Ein Jahr später sah unsere braune Pferdeherde buntscheckig aus durch die feuerroten Fohlen, die von den Hängen sprangen und sich als orangerote Bällchen über das weite grüne Tal verteilten. Ihre temperamentlosen Mütter wieherten dumpf, riefen sie vom anderen Talende herbei, aber die Tollköpfe, unbändig wie ihr Vater, kümmerten sich nicht um die dringlichen Rufe der Mütter und stoben die Hänge hinan, berauscht vom Wind. Im Frühjahr 1949 erhielt der Kolchos drei Lastwagen und zwei Traktoren. Ein Traktor wurde neben der Dreschmaschine aufgestellt, mit dem zweiten war innerhalb einer Woche das gesamte Herbstpflügen erledigt, und dann holte man Brennholz mit ihm aus dem Wald, um ihn auszunutzen. Die Ochsen und Pferde platzten vor Fett. Zuerst schickte man die Ochsen ins Schlachthaus, dann die alten Stuten, dann die hinkenden, gedrungenen und allzu hochbeinigen, dann die allzu ruhigen und die allzu nervösen. Dennoch blieb eine Riesenherde übrig, die im Winter verdammt reichliche Hafermengen vertilgte. Und als ein Pferd nur noch soviel kostete wie ein Schaf, wurden die Pferde eiligst verkauft. Der Zahntechniker erwarb eine orangerote Stute. Er war in diesem brotarmen Hungerjahr auf den Ausweg 281


verfallen, zu uns in die Berge zu kommen. Hier setzte er den Hirten und Melkerinnen Goldkronen ein, diese verzogen den Mund von nun an nur noch zu einem schiefen, vergoldeten Grinsen, und auf diese Weise verdiente er innerhalb eines Monats einen Haufen Geld. Für die Stute bezahlte er eintausendzweihundert damalige Rubel. „Plus Zusatz“, sagte er zu Mesrop. „Falls du einen schlechten Zahn hast, setz ich dir kostenlos eine Krone ein.“ Mesrop dankte, das sei nicht nötig, und er solle sich keine Umstände machen. Und dann ging er hin und beschimpfte Lewon: „Bist auf Nationalistenjagd gegangen? Hast dich schon als Volkskommissar gesehen, wie?“ Die Stute ließ sich nicht einfangen. Sie hatte den Sattel bereits kenncngelernt und wußte den Wert der Freiheit zu schätzen. Zu zwanzig waren wir hinter ihr her, und sie begriff, daß ihr das galt, daß so viele Leute ihre Zeit nicht für irgendeine Schindmähre vergeuden würden. Daß wir pausenlos versuchten, sie in die Herde hineinzutreiben, kam ihr ebenfalls unheimlich vor. Sie begann zu zittern. Immer wieder brach sie aus, und während wir versuchten, sie gegen die aus breiten Pferdekruppen bestehende Mauer zu drängen, verwandelte sie sich in ein bebendes Nervenbündel. Sie ՛ umkreiste die Herde und überlegte dabei, wen sie niedertrampeln solle, wenn sie die Flucht ergriff. Mit eingekniffenen Flanken und gespannten Hals kreiste sie unter angestrengtem Wiehern so dicht vorbei, daß sie die feste Mauer der Kruppen berührte. Ihr kupferroter Schweif floß hinter ihr her, leicht schlug ihr die Mähne gegen den Hals. Ihre empfindlichen, gespitzten 282


Ohren fingen jede unserer Absichten auf, die Vorderläufe flogen seitwärts, immer nur seitwärts unter ihr weg, und der grüne Teppich der Erde wurde rissig unter ihren Hufen. Sie zog in einiger Entfernung einen Kreis um die Herde, hielt sich auf diesem Kreis, und der Kreis wurde immer dunkler. Das dauerte zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, dann rückten wir näher, und sie wurde stutzig, wir rückten noch näher, sie duckte sich, wurde die verkörperte Spannung und raste davon. Ihre Flucht verstärkte unser Verlangen, sie einzufangen, sie nicht entkommen zu lassen. Und wir hielten uns für berechtigte Fänger und sie für einen treubrüchigen Flüchtling. Die Herde folgte ihr, und einmal wurde sie zwischen den schweren Kruppen eingezwängt. Damit war die Herde ihr Feind, der starre Ring der Kruppen fesselte sie, drohte sie ins Verderben zu stürzen. Sie biß um sich, durchbrach den Ring und stürmte davon. Die Herde strömte hinter ihr her, sie lief vor der Herde davon, ihre Beine schienen sich zu vervielfachen, schienen immer zahlreicher zu werden, bis sie verschwanden und nur noch Bewegung blieb, eine Bewegung, die sich ohne Beine vollzog — über die Erde glitt eine gelbe Flamme. Nur schade, daß sie sich nicht von der Erde löste, sie senkte sich mit den Abhängen, stieg mit den Anhöhen empor, schlängelte sich mit der Straße. Und mit der Straße, die sich in der Ferne verlor, schwand sie uns aus den Augen, unsere orangerote Stute. Mesrop wettete, daß sie sich nicht fangen ließe. „Ich wette meinen Kopf!“ sagte er. „Moment, laß deinen Kopf in Ruhe!“ widersprach der Zahntechniker und zückte die Brieftasche. „Also“ — er 283


zählte mehrere Scheine ab und reichte sie Mesrop „halt mal.“ Er tat, als könnte er die Brieftasche nicht mit einer Hand regieren, als störte ihn dabei das Geld, das er in der anderen hielt. „Halt mal, ich will dir was sagen. Schließen wir einen Vertrag, von Mann zu Mann. Wenn du mir die Stute fängst, gehört das Geld dir.“ „Gut“, antwortete Mesrop. „Aber das Geld ist überflüssig.“ Er zerknitterte die Scheine und gab sie dann geniert und bedauernd zurück. Zwei Tage später mußte ich ins Dorf, weil die Schule wieder anfing. Der Zahntechniker blieb noch, um Außenstände einzukassieren, und fuhr erst Mitte September in die Stadt zurück. Danach kamen auch die übrigen von den Bergen herunter. Nur Mesrop blieb noch zwanzig Tage mit der Herde oben. Wenn die Stute irgendwo in der Nähe auftauchte, klopfte ihm das Herz. Die Berge zeigten unter der kühlen Herbstsonne ihr letztes Grün. Aus keinem Zelt stieg mehr Rauch auf. Die Sonne zog in absoluter Stille über das Himmelsgewölbe, und Mesrop sehnte sich nach den Stimmen des Sommers. „Na, komm schon!“ rief er der in der Ferne stehenden Stute zu. „Hab keine Angst, alle sind weg, nur du und ich sind noch übrig.“ Er wünschte sehr, daß sich der schwarze Punkt in der Ferne in einen Reiter verwandeln und auf ihn zukommen möge. „Du bist ein Reiter“, sagte Mesrop zu dem Punkt. „Ich sehe, daß du die Last auf deinem Pferd zurechtrückst. Soll ich dir helfen?“ Aber die Zeit verging, und der schwarze Punkt näherte sich nicht. Der Abend brach an, Mesrop hockte im Halbdunkel und wiegte sich hin und her. 284


„Du bist bloß ein Stein“, sagte Mesrop zu dem Punkt. „Und wenn ich jetzt ins Dorf hinabsteige, dann bleibst du ganz allein hier, du bedauernswerter Stein.“ „Ich will dir mal was sagen“, erklärte er der Stute, die auf einer Hügelspitze stand, unbeweglich den Kopf gereckt, und in diesem Augenblick der Abbildung in einem Schulbuch glich. „Der Zahntechniker ist abgereist, hörst du? Er ist endgültig weg. Der Sommer ist vorbei“, fuhr er betrübt fort. „Du bist ein Pferd und begreifst das nicht.“ Im ganzen Bergland war er mit den Pferden allein, und er berichtigte sich: „Du begreifst das nicht genau. Ein Pferd begreift zwar mehr als andere Tiere, das ist wahr, aber der Mensch weiß es doch am besten.“ Die Stute blieb bei der Herde, umkreiste sie. Anfang Oktober trottete sie mit ihr ins Dorf hinab und weidete bei ihr, wenn auch in einiger Entfernung. Im Dezember begann es zu schneien. Die Herde wurde in den Stall getrieben, erhielt Heu und Hafer. Die Stute aber umkreiste das Dorf, ließ immer noch niemanden an sich heran und benagte die Sträucher. Am siebzehnten Dezember wurde Lewons Kuh am Fluß von Wölfen zerrissen, in der Nacht zum neunzehnten Dezember brachen die Wölfe in Artjoms Stall ein. Man schoß auf sie, daraufhin wagten sie sich am zwanzigsten nicht ins Dorf. Doch die ganze Nacht über streunten sie in der Nähe umher und heulten ununterbrochen. Um Mitternacht stand Mesrop auf und sah aus dem Fenster. Zitternd preßte sich die Stute an die Stallwand. Aber als er aus dem Haus trat, lief sie weg. Vier Tage später, als Mesrop um ein Uhr nachts aus der Verwaltung kam, tauchte die orangerote Stute für einen Augenblick im Lichtkreis einer elektrischen La285


terne auf. In derselben Nacht verschwand Mesrops Hund. Es polterte, etwas prallte gegen die Tür, und als Mesrop hinausging, waren Wölfe und Hund spurlos verschwunden, aber irgendwo knackten Knochen. In der Nacht zum Neunundzwanzigsten blieb Mesrop im Pferdestall. Plötzlich wieherte es draußen. Er trat hinaus — die Stute! Ohne eine Aufforderung abzuwarten, stieß sie ihn mit der Brust beiseite, trabte, schlank und schön, an ihm vorbei, klapperte mit den Hufen über den Bretterbelag und stellte sich in ihre Box. Der Pferdestall war warm, es gab reichlich Hafer, und vertraut schnaubten die anderen Pferde. Vor fünf Jahren, als ich mit den Kindern eine Zirkusvorstellung besuchte, sah ich unsere orangerote Stute plötzlich wieder. Sie bestritt allein eine ganze Zirkusnummer. Ihre Mähne und ihr Schwanz waren gestutzt, sie sah glatt und wohlgepflegt aus. Allerdings war sie ein bißchen mollig geworden, aber kein Dorfpferd hätte es mit ihrer Grazie aufnehmen können, wahrhaftig nicht! Sie tanzte einen Walzer, und dabei gehorchten ihr sämtliche Teile ihres rundlichen Körpers — Beine. Ohren, Kopf, Maul, Rücken. Während der ganzen Zeit zerbrach ich mir den Kopf, was wohl mit ihr passiert sein mochte, vielleicht litt sie an Geistesverwirrung. Aber nein, sie tanzte Walzer, ihr wurde applaudiert, sie tanzte den Walzer noch einmal, stellte sich dann mitten in der Arena auf und verbeugte sich vor dem Publikum nach allen Seiten. Sie erhielt großen Beifall, aber sie tanzte nicht mehr, hielt die Zuschauer kurz. Ohne ihnen noch einen Blick zu schenken, verbeugte sie sich vor dem Orchester, und das Orchester verbeugte sich vor ihr, der Conferencier gab ihr mit 286


einer Kopfbewegung das Zeichen, die Arena zu verlassen, er sah ihrem Abgang lächelnd zu, er war ebenso geschniegelt und geleckt wie sie, und in mir stieg der Wunsch auf, sie möge ihn doch ein einziges Mal mit dem Huf in die glatte Visage schlagen. „Narindsh, Narindsh!“ rief ich. Das war der Name, den man ihr in unserm Dorf gegeben hatte, er bedeutete „die Orangerote“. Das Publikum erwartete gerade schweigend die nächste Nummer, und in dieses Schweigen brüllte ich hinein: „Narindsh! Narindsh!" Alle hörten midi, drehten sieh nach dem Schreihals um. Ich aber sprang auf und schrie weiter: „Narindsh!“

„Setz dich! Das ist ja peinlich!“ Meine Frau zupfte mich am Jackett. „Schluß!“ schrie ich. „Mir reieht’s!“ Ich zwängte mich durch die Reihen und stürmte aus dem Zuschauerraum. Hinter den Kulissen war ich allein, durch die Vorhänge quollen die Ausdünstungen und das Gelächter der Zuschauer in warmen Wellen, die ebenso schwergewichtig und glitschig waren wie das 287


Nilpferd, das Narindsh abgelöst hatte und nun unbedingt in der Arena bleiben wollte. Die Luft war unangenehm stickig, Masken lagen umher, trübe brannten hundertkerzige Glühbirnen, alles schien in Zerfall begriffen zu sein, zu verwesen. Ich riß eine Tür nach der anderen auf, und plötzlich sah ich sie. „Narindsh? Nein, du bist nicht Narindsh.“ Sie wandte nicht einmal den Kopf. Der Strich auf ihrem Rücken war mit bronzener Farbe nachgezogen, ihre Beine waren weiß gefärbt, die gestutzte Mähne schillerte grünlich. „Bist du nicht Narindsh?“ fragte ich und hielt ihr ein Stück Schokolade vors Maul. Sie nahm die Schokolade nicht, beschnupperte sie nicht einmal. Einen Augenblick glaubte ich, daß sie das Konfekt deshalb ablehnte, weil es nur mit einer dünnen Schokoladenschicht überzogen war, unter der sich eine süßliche, teigförmige Masse befand. Ich zog die Hand zurück und steckte das Konfekt weg, damit sie es nicht mehr vor Augen hatte. Vermutlich hatte mein Vorfahr seinerzeit seinen Fürsten auf freiem Feld in gleicher Weise bewirtet, indem er ihm einen Spas - eine Suppe aus Sauermilch —, eine gebratene Schmerle oder sonst einen Dreck hinstellte. Und da merkte ich, wie midi Abneigung gegen die fette Stute erfaßte, und während ich ihre glatte, täglich gestriegelte Kruppe betrachtete, spürte ich, daß ich sie haßte und sich jenes andere Pferd, das man einen blöden Wallach sdiimpfte, in meinem Herzen eingenistet hatte, jenes Pferd, das die Hummeln stachen, die Kinder prügelten und die Erwachsenen verhöhnten, das der Leithengst verachtete und dem man ein schlechtes Bündel leeres Stroh hinzuwerfen pflegte. 288


„Dreckstüdc!“ Ich gab ihr einen Fußtritt in den dicken, runden Bauch. „Dreckstück! Du hast kein Fohlen zur Welt gebracht, wurdest nie schwer beladen, hast nie unter einer Last gestöhnt. Dreckstiick!“ Das Nilpferd war bereits aus der Arena geführt worden, nun purzelte ein Clown darin herum. Er wollte sich den Hut abnehmen und riß sich statt dessen den Bart ab, er wollte sich den Bart wieder ans Kinn kleben und hielt ihn sich statt dessen ans Hinterteil. „Schluß!“ sagte ich zu meiner Frau, während ich mich auf den Platz neben ihr fallen ließ. „Das ganze Leben ist mir vergällt! Mir reichtV.“

Mein Pferd, du mein Pferd Zu jener Zeit war ich verliebt und glaubte, daß ich der einzige auf der Welt sei, der meinen jüngsten Onkel verstand. Er hatte seine fünf Jahre in Tbilissi abgedient, schlenderte nun schon drei Monate tatenlos im Dorf herum und weigerte sich, eine Sense in die Hand zu nehmen. Er saß auf dem Geländer vor der Verwaltung, Zigarette im Mund, Hände in den Hosentaschen, stand vor seiner Haustür, stieß mit der Stiefelspitze einen vom Baum gefallenen Apfel weg, bückte sich dann und wischte den Stiefel mit einem Grasbüschel ab. Er wechselte die Kragenbinde seiner Uniformjacke alle Augenblicke, schnallte sich das Koppel um und ging durchs Dorf, die Hände in den Taschen. Da der Kolchosvorsitzende Abgar den Eindruck hatte, daß sich mein jüngster Onkel auf seine Schützenmedaille und die sonstigen Auszeichnungen zuviel einbildete, heftete er sich den Rotbannerorden ans Hemd, stolzierte mehr19 Matewosjan/Schelm

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mals vor meinem jüngsten Onkel auf und ab, blieb sodann vor ihm stehen, wölbte die Brust, stellte sich auf die Zehenspitzen, warf den großen Stempel in die Luft und fing ihn wieder auf. Mein jüngster Onkel war sehr viel größer als Abgar, er senkte die etwas geschwollenen Lider und blickte mit seinen bernsteingelben Augen achselzuckend von seiner Höhe auf Abgar hinab. „Ich bin ein Mann mit verkrüppeltem Arm“, sagte Abgar und tippte mit dürren Fingern auf den dürren weißen Arm. „Na und?“ erwiderte mein jüngster Onkel. „Aber wenn’s erforderlich wird“, fuhr Abgar fort und warf einen beifallheischenden Blich über die Schulter, „dann laß ich mir auch den andern Arm verkrüppeln.“ „Meinetwegen!“ gab mein jüngster Onkel ungerührt zurück. „Und das tu ich wirklich!“ kreischte Abgar. „Allen Städtern zum Trotz geh ich hin und laß ihn mir verkrüppeln!“ Dann schnellte er herum. „Du Städter!“ schnauzte er meinen jüngsten Onkel an. Das war den übrigen aus dem Herzen gesprochen. Kein anderer Dorfbewohner trug so blank geputzte Stiefel und einen Anzug aus so festem Uniformtuch. Dagegen hatten alle Rechen, Sensen, Heugabeln über der Schulter, alle warteten auf das Brot, das im Magazin ausgegeben werden sollte. Alle hofften, daß es auch Fleisch, Honig und Butter geben würde, und alle glaubten, daß der Vorsitzende den Tbilissier Waschlappen nun links liegenlassen und ihnen, den Schnittern, alles in Hülle und Fülle zuteilen würde, denn sie waren es doch, die etwas leisteten. Wenn sie auch nur einen Tag nicht mähten, würde die Stadt Hungers sterben, so wichtige, so nützliche Persönlichkeiten waren sie, wäh290


rend der lächerliche Gefreite bloß herumstand und angab, als wäre er mindestens General. „Wir haben den Militärdienst ebenfalls kennengelernt!“ Ahgar grinste von oben herab, griff nach dem in der Verwaltung klingelnden Telefon und prahlte durchs offene Fenster: „Wir haben die russischen Frauen auch in reichlicher Menge zu sehen gekriegt. - Ja? Hallo! — Bildest dir wohl ein, Kolumbus zu sein, der Amerika entdeckt hat, willst Abgar verblüffen! - Ja?“ Alle Männer lachten, denn sie hatten seinerzeit alle in der Armee gedient und hatten sich nach der Rückkehr alle aufgespielt. Ja, bis zum heutigen Tag erinnerten sie sich mit Begeisterung sämtlicher Liebesgeschichten, die sie erlebt hatten oder vom Hörensagen kannten. Und alle Frauen des Dorfes schimpften darüber, aber lachend, denn sie waren überzeugt, daß die Männer während der Militärzeit unbedingt solche verrückten, angenehmen Dinge erleben müßten. Währenddes zündete mein jüngster Onkel sich eine Zigarette an und sagte mit tiefer Stimme: „Geh zum Teufel.“ „Wie? Was?“ „Mach dich nicht so wichtig!“ Zwar war es im Kolchos üblich, den Vorsitzenden anzuschnauzen, aber Ahgar tat, als passierte ihm das zum erstenmal. Er blieb neben dem Telefon stehen und murmelte: „Deine Sache, mach, was du willst.“ Oben auf der Vortreppe stand Lussik, an den Türpfosten gelehnt, und blickte ins Weite. Sie glaubte, daß sie heiraten würden, sie und mein jüngster Onkel, denn er war der einzige junge Mann, der den Militärdienst hinter sich hatte, und sie das einzige heiratsfähige Mädchen, und sie wollte sich unbedingt in meinen jüng291


sten Onkel verlieben, stand doch in allen Büchern geschrieben, daß sich ein junger Mann und ein junges Mädchen vor der Hochzeit ineinander zu verlieben pflegen. Aber es gelang ihr nicht, sich zu verlieben, ihre blauen Augen blieben leer wie Wasser, obgleich sie sich danach sehnte, sie mit Leidenschaft und Tränen zu füllen. Aber kein Gedanke! Lussik war erst spät erwachsen geworden, sie hatte runde Schultern und alles, was dazu gehört, doch in ihrer Dummheit sprang sic zuweilen plötzlich auf einen Esel und brach in albernes Gelächter aus. Bei den Schulveranstaltungen war sie von den Mädchen immer die Beste. Sie schoß auf die Bühne, stellte sich auf und deklamierte: „Maro. Auszug aus einem Gedicht von Owanes Tumanjan.“ Alle klatschten ihr Beifall und sagten einmütig, daß sie ausgezeichnet deklamiere, nirgends steckenbliebe und ein tüchtiges, fleißiges Mädchen sei, aber niemand kam auf den Gedanken, sie zu seiner oder seines Bruders Frau zu machen oder sie als Schwiegertochter ins Haus zu nehmen. Diese Lussik stand jetzt da, den Kopf an den Türpfosten gelehnt, betrachtete meinen jüngsten Onkel, hätte sich um ein Haar in ihn verliebt, doch dann deklamierte sie so plötzlich und so laut, als hätte jemand sie von hinten angestoßen: Hab den Sommer lang gesungen. Stets gesungen? Wie gelungen! Darum komm und tanz mit mir. Die Antwort war ohrenbetäubendes Gelächter. Danach wurde es still. Jeder wartete, was nun geschehen würde. Und als alle verstummt waren, erscholl die tiefe, dröhnende Stimme meines jüngsten Onkels.

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„Dummes Ding“, sagte er und fügte noch einige Worte hinzu, die aber niemand verstand. „Er hat auf deutsch geflucht“, bemerkte Hamo, der Berlin erobert hatte, und bedachte die Umstehenden Itoit erheitertem Blick. Lussik schenkte den deutschen Sprachkenntnissen meines jüngsten Onkels dagegen nicht die geringste Beachtung. Sie streckte den Arm vor und deklamierte: „Nichts Menschliches ist uns fremd.“ Mein jüngster Onkel lief die untere Straße zur Schule hinunter, breitschultrig, die Hände in den Hosentaschen. In der Schule war gerade Geographiestunde. Rimma stand an der Tafe! und war dauernd drauf und dran, aufzugeben und sich wieder auf ihren ■ Platz zu setzen, aber ich sagte ihr jedesmal den nächjsten Satz vor, den sie Grimassen schneidend wiederholte. Der Lehrer, ein junger Mann aus unserer Verwandtschaft, las inzwischen die Zeitung und grinste, aber mit zusammengekniffenem Mund, weil er das 'Lachen unterdrücken mußte, das immer wieder in ihm auf stieg. Man hätte annehmen können, in der Zeitung stände eine mehrspaltige urkomische Geschichte, jldabei war die Lachlust unseres jungen Lehrers darin begründet, daß er vor zwei Tagen zu mir gesagt hatte: „Laß mich deinem Vater sagen, daß er dich verheiraten soll, wer kennt sich in dir aus, vielleicht genierst du dich, selber einen Heiratsantrag zu j machen.“ Alle wollten mir auf irgendeine Weise unter die Nase reiben, daß sie Bescheid wüßten. „Spielt ihr mit Puppen, oder habt ihr was miteinander?“ fragten mich die Jungen im Einberufungsalter. 293


Ich drehte ihnen den Rücken und wollte mich verdrücken, aber sie folgten mir. „Antworte, du Hundesohn, wenn du gefragt wirst.“ Dann ließen sie sich darüber aus, daß im Dorf wohl keine Mädchen mehr übrig wären. Unter ihnen war einer namens Seno, er war Turner und sah wie eine dünne Schlange mit Glotzaugen aus, der griff mir mit seinem Taschentuch an die Nase. Ich hatte seit jeher Angst vor ihm, schlug aber trotzdem zurück. Sie verprügelten mich nicht. Sie schubsten mich hin und her, als spielten sie Ball mit mir. Einer hielt mich an den Armen fest, damit ich nicht hinfiel, aber dann ließ er mich wieder los, die anderen nahmen mir den Gürtel ab, zogen mir die Hosen herunter, spuckten und brachen in schrilles Gelächter aus. Hinterher lag ich auf der Erde und erstickte fast vor Schluchzen, sie aber sagten: „Schäm dich, ein verliebter Mann und weint! Steh auf und zieh dir die Hose an, das ist doch unanständig!“ Ach, der verdammte Kreidegeruch, der Geruch unserer zerfledderten alten Landkarte, das Lächeln, das der Lehrer hinter der Zeitung versteckte, und Rimmas schmollender Mund. Und der kleine Junge auf der Schulbank, der mit geballten Fäusten vorsagte: „Übers Uralgebirge, am Uralfluß entlang, tiefer, übers Kaspische Meer, richtig, richtig, Kum-Manytsch, weiter rechts!“ Mein jüngster Onkel stand vor dem Reck, breitschultrig, die Hände in den Hosentaschen. Rimma stand an der Tafel, antwortete, wollte aufgeben und sich hinsetzen, ich sagte ihr den nächsten Satz vor, und der Lehrer tat, als läse er die Zeitung. Plötzlich sahen wir meinen jüngsten Onkel mit dem

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Kopf nach unten am Reck hängen, dann machte er einen Handstand und verharrte unbeweglich in dieser Stellung. „Aufpassen!“ sagte der Lehrer und klopfte mit dem Zeigestock auf den Tisch. Und plötzlich sahen wir meinen jüngsten Onkel zu Boden springen. Dann griff er wieder nach der Reckstange und schwang sich herum. Geschickt griff er mit den Händen über - loslassen, übergreifen, loslassen, übergreifen. „Aufpassen, wir wollen Rimma doch zuhören.“ Und plötzlich sahen wir Seno auf dem Reck einen Handstand machen — unbeweglich. Dann machte er einen Salto und schwang sich ebenfalls herum, griff mit den Händen ebenso über wie mein jüngster Onkel, machte noch einen Salto und sprang neben meinem jüngsten Onkel zu Boden. Mein jüngster Onkel nahm das Koppel ab und reichte es Seno, hängte sich ans Reck, steif wie ein Stock, blieb einen Augenblick in dieser Stellung, befand sich dann plötzlich ebenso stocksteif in gleicher Höhe mit der Reckstange, machte einen Handstand, ließ mit einer Hand vorsichtig los und hielt sich nur auf der anderen, lange Zeit, so lange, bis zur Pause geklingelt wurde. Seno gab das Koppel einem Schüler zu halten, hängte sich ans Reck und wiederholte die Übung, die mein jüngster Onkel ihm vorgeturnt hatte, wenn auch nicht so sauber. Er machte einen Handstand, löste eine Hand von der Stange, ließ einen Kopfstand folgen und plinkerte obendrein einem Mädchen zu. Rimma. „Nicht so, davon kriegt man Kopfschmerzen“, sagte mein jüngster Onkel. 295


„Und wenn er keinen Kopf hat?“ ließ Schuldirektor Ruben sich vernehmen. Wir Schüler zogen uns vom Rede zurück und beobachteten die weiteren Vorgänge aus sicherer Entfernung. Mein jüngster Onkel zog das Hemd aus, machte zehn Riesenwellen und zog sein Hemd wieder an. Das gleiche, nur mit mehr Schwung, machte Seno. Dabei blähte sich sein Hemd wie ein Ballon, und aus den Taschen verlor er sein Messer, ein Bild der Filmschauspielerin Makarowa, ein Zigarettenetui und einen Tabaksbeutel. Das Bild der Makarowa geriet Schuldirektor Ruhen in die Hände, und wir glaubten, nun würde er, ohne mit der Wimper zu zucken, Seno am Ohr ziehen. Seno war noch gestern sein Schüler gewesen, und außerdem hatte der Direktor nach unserer Auffassung das Recht, alle Dorfbewohner am Ohr zu ziehen. Aber es kam anders, als wir angenommen hatten. „Was habt ihr sonst noch bei den Soldaten gelernt?“ fragte der Direktor meinen jüngsten Onkel. „Wachsamkeit“, antwortete mein jüngster Onkel und schnallte das Koppel um. „Und was noch?“ „Wachsamkeit!“ „Das hast du schon gesagt. Außerdem noch was?“ „Noch was?“ Damals hielten wir das für eine sachliche Unterhaltung, und erst jetzt begreife ich, wie heftig es meinen jüngsten Onkel verlangte, dem Direktor eine runterzuhauen, diesem Gauner, der es fertiggebracht hatte, sich auf dem Lande ein höchst angenehmes Stadtleben einzurichten. Er bezog Gehalt, hatte sich irgendwie 296


eine Rente ergattert, hielt sich als Dorfbewohner eine Kuh und mehrere Schafe und zahlte als Lehrer für all das keine Steuern. Audi seine Frau bezog von der Schule Gehalt, und obendrein wegen ihres angeblich schwachen Herzens eine Rente. Kurzum, der Kerl hatte sich in aller Stille eine sorgenfreie Existenz geschaffen. Gelegentlich fragte er von seinem Balkon herab einen vorübergehenden Bauern: „Wie geht’s, wie steht’s?“ und gab ihm läppische Ratschläge in der Art wie: „Du wärst besser über die Brücke gegangen.“ „Noch was?“ wiederholte mein jüngster Onkel. „Außerdem, falls erforderlich, dem Gegner eine anständige Tracht Prügel zu verabreichen.“ „Sag mal“, erkundigte sich Schuldirektor Ruhen plötzlich, „sieht dein Tbilissier Mädchen der hier ähnlich?“ Er drehte das Bild der Makarowa in den Händen. „Weiter!“ Mein Onkel rückte auf ihn los. „Um das Bild geht es mir gar nicht“, erklärte der Schuldirektor. „Ich wollte nur wissen, ob es dich nicht nach Tbilissi zurückzieht. Hübsche Stadt, nicht wahr? Die Rustawelistraße, das alte Rathaus, die Drahtseilbahn, Speiseeis, der Zoo, Bürgersteige. Ja, und dann die Kura.“ Mein jüngster Onkel sah dem Direktor über die Schulter, betrachtete das Bild der Makarowa und versetzte im gleichen Tonfall: „Haargenau so sieht sie aus, das Foto ist geradezu eine Kopie, bloß die Augen sind etwas kleiner und die Ohren etwas größer, der Mund ist etwas wulstiger, die Nase etwas breiter und platter. Wie eine fette Affendame mit einem Doppelkinn wie ein Schwein. Ein schwaches Herz hat sie, und Rente kriegt sie wohl auch.“ „Das ist fein“, sagte der Direktor, „dann werdet ihr 297


Rente beziehen und in Saus und Braus leben, mit Brot und Tee. Und natürlich auch Weißbrot.“ „Nein, wieso denn?“ widersprach mein Onkel. „Hier ist es besser als in Tbilissi. Wenn man sich das Leben hier richtig einrichtet, muß Tbilissi vor Neid erblassen. Hier kann man alles haben — Haus, Plattenspieler, Eier, Zucker, Schnaps, Schafe, Rente und Gehalt. Sowie Käse, Butter und Kindererziehting.“ „Aber selbstverständlich!“ sagte der Direktor. „Dazu Kohl, Kartoffeln, Bohnen, Milch, Eingesalzcnes, bis man platzt. Zeig mir den, der das nicht haben möchte. Und zwanzig Schafe . ..“ .. und Kindererziehung!“ Mein jüngster Onkel holte plötzlich aus, gab Seno eine Ohrfeige und fauchte den Direktor an: „Deine Erziehung!“ Der blöde Seno hatte bisher dabeigestanden, stolz, claß er die Schule hinter sich hatte, lächelnd neben dem Direktor stehen und offen eine Zigarette rauchen konnte. Und besonders stolz darauf, daß so erwachsene Leute ein ihm gehöriges Foto in der Hand hielten und sich offenkundig darüber unterhielten. Nach der Ohrfeige rannte er ein paar Schritte weg, dann fiel ihm ein, daß er kein kleiner Junge mehr war, und mit dem empörten Ruf: „Wofür!“ machte er kehrt und stellte sich zwischen sie. Mein jüngster Onkel haute ihm noch eine runter, diesmal schon kräftiger, ohne den Direktor aus den Augen zu lassen. „Weshalb schlägst du mich?“ Seno baute sich unmittelbar vor meinem jüngsten Onkel auf. „Eine Kommission ist was Feines“, sagte mein jüngster Onkel währenddes zum Direktor. „Aber man kann unmöglich gleichzeitig Direktor und Kommissionsmit298


glied sein.“ Er legte dem Direktor die Hand auf die Schulter, stieß mit der anderen Seno weg und gab ihm obendrein einen Fußtritt. Offenbar drückte er den Direktor dabei heftig auf die Schulter, denn der verzerrte das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Schluchzend suchte Seno nach einem Stein, um meinen Onkel damit zu treffen, und entfernte sich immer weiter dabei. Schließlich fand er einen passenden und wollte ihn aufheben, bekam ihn aber nicht aus dem Boden. Da setzte er sich neben den Stein und begann zu fluchen. „Laß das Fluchen!“ sagte mein jüngster Onkel, und Seno hielt sofort inne. Das bewies uns, daß mein jüngster Onkel eine schwere Hand hatte. Seno glotzte ihn mit geröteten Augen an und stellte dann eine dermaßen dumme Frage, daß wir alle staunten. „Hab ich nicht mal das Recht zu fluchen, wenn ich verhauen werde?“ „Fluch, soviel du willst, aber paß auf, daß ich dich nicht richtig durchwalke.“ „Dann renn ich eben weg.“ „Das ist eine andere Frage.“ Mein jüngster Onkel lächelte. „Glaubst du, das könnte ich nicht?“ „Doch.“ Mein jüngster Onkel trat von einem Fuß auf den anderen, Seno aber sprang wie von der Tarantel gestochen auf, fluchte und kratzte sich, fluchte wieder und kratzte sich noch einmal und rannte fluchend davon. Dabei blickte er sich ständig um, und alle Schüler lachten hinter ihm her. Auch der Schuldirektor lachte. „He, Junge!“ rief er. „Nimm deine Makarowa mit, hörst du nicht?“ Oben auf dem Hang blieb Seno stehen und fluchte

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aus Leibeskräften auf die Makarowa, die Schule und den Direktor. Er fluchte, der Dummkopf, fluchte nach allen Regeln der Kunst, er hatte wirklich Grund zum Stolz, denn er stand noch mit einem Bein in der Schule, wir waren fast seine Altersgenossen, wußten kaum, wer die Makarowa war, er dagegen fluchte bereits auf sie — darauf konnte er tatsächlich stolz sein. Ich platzte fast vor Neid, doch mein jüngster Onkel, der sich bisher nicht vom Fleck gerührt hatte, rannte plötzlich auf Seno zu. „Ich hab doch nichts getan, ich hab doch nichts getan!“ Seno stand mit geballten Fäusten, geduckt wie ein Hase, aber dann wurde ihm plötzlich klar, nein, so leicht würde er nicht davonkommen, und er setzte sich in Bewegung. „Rafik! Rafik!“ Während mein jüngster Onkel noch durch das Kartoffelfeld rannte, sprang Seno schon im Dorf über einen Flechtzaun. Als mein jüngster Onkel über den Flechtzaun setzte, erklomm Seno bereits die andere Seite der Schlucht. Nach einer ganzen Weile, als mein Onkel die andere Seite der tiefen Schlucht erreicht hatte und Seno oben auf dem Hang stand, brach der Flechtzaun zusammen. „Rafik, mein Ehrenwort, ich rufe gleich in der Kreisstadt an, ich ruf die Miliz! Mein Parteiehrenwort, Rafik!“ brüllte der Direktor. Es klingelte zum Unterricht. Uns fiel es mehr als schwer, die Chemiestunde abzusitzen, und unserer Chemielehrerin fiel es ebenfalls mehr als schwer, weil diese ein weiterer Beweis für das Ausmaß ihrer Unwissenheit und Hilflosigkeit war. Hätte ihr Mann, der 300


Direktor, ihr doch ein Gehalt zuschanzen können, ohne daß sie Unterricht erteilen mußte! Sie haßte uns, und wir haßten sie, denn wir wußten, daß die Unterrichtsstunden bei der Dicken uns wichtige Zukunftsmöglichkeiten verbauten. Nachdem die Stunde zur Hälfte vorbei war, hörten wir, als es in der Klasse zufällig einmal still wurde, draußen aufgeregte Frauenstimmen und Hundegebell. Wir sprangen von den Plätzen, stürmten hinaus, rannten über das Kartoffelfeld, setzten über den umgestürzten Flechtzaun, kletterten in die Schlucht hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauf und erblickten auf dem Nachbarhang die über Seno gebeugten Frauen sowie meinen jüngsten Onkel, der sich langsamen Schrittes in Richtung Wald entfernte. Sein breiter Rüchen, der zwischen Sträuchern und Bäumen auftauchte und wieder verschwand, verriet völlige Teilnahmslosigkeit gegenüber dem Frauengezeter. „Seht euch den Tbilissier an, ist nach Tbilissi gefahren und hat da bloß gelernt, wie man Leute umbringt!“ jammerten die Frauen um die Wette. Und sie hatten recht damit, denn mein jüngster Onkel war nicht gewillt, auch nur eine Frau aus dem Dorf zur Kenntnis zu nehmen, obgleich es sie doch gab. Sie machten Feuer im Herd und löschten es, kneteten Teig, setzten Kinder in die Welt, wuschen und kochten. Tbilissi! Na wennschon. Soll er sich sein Tbilissi einpökeln lassen! In Gedanken verprügelte ich Seno ebenfalls, wurde gleichfalls zu einem hochnäsigen Tbilissier: Rein zufällig kam ich ins Dorf, stand in keiner Beziehung zu meinem unrasierten Vater, meinem groben ältesten Onkel, dem Kolchosvorsitzenden, der sich einbildete, in unserem Kaff das Weltall zu repräsentieren, und 301


dem Schuldirektor, der die Probleme der großen Welt kannte und es deshalb vorzog, zwar in gehöriger Entfernung von ihr zu leben, doch ihre Freuden für sich selber nach Möglichkeit ins Dorf zu holen. Ich hatte in jenen Tagen ein Schauspiel geschrieben, das weit mehr als jede Schützenmedaille und jedes himmelblaue Balkongeländer eine Respektbekundung für die große Welt darstellte. Der Vorsitzende sagte „Theaterstück“, wenn er davon sprach, und der Schuldirektor drückte sich vermutlich ebenso aus. Der Wald, in dem mein jüngster Onkel verschwunden war, war hinter der zweiten Schlucht von Stacheldraht begrenzt. Dort hatte einstmals ein Gouverneur gejagt: Woronzow-Daschkow, Gouverneur des russischen Zaren im Kaukasus, hatte eigens den weiten Weg aus Tbilissi zurückgelegt, um hier auf Jagd zu gehen. So erzählten es sich wenigstens die Leute. Einer hatte die Geschichte aufgebracht, die anderen hatten sie weitererzählt, denn niemand wollte sich doch diese, wenn auch ziemlich lose Verbindung zu klingenden Namen und goldfunkelnden Sälen entgehen lassen. Ja, und eines Tages würde auch ich hier eintreffen, um mich zu erholen und auf die Jagd zu gehen. Und genau wie Woronzow-Daschkow würde ich mich erkundigen, mit ausgesprochener Gleichgültigkeit selbstverständlich, wie es dem Schuldirektor gehe, und gelangweilt würde ich den Vorsitzenden fragen: „Was gibt’s Neues?“ Und dann würde ich meinen städtischen Jagdhund rufen und sagen: „Ruhig, Rex!“ „Raaafik! Raafik!“ Es war ein klarer Septembertag. Ach, wäre ich doch allein! Dann würde ich mich jetzt auf der Erde ausstrecken und unbeweglich liegenbleiben. Hoch über mir 302


würde die Sonne strahlen, und alles darunter würde zutiefst sinnvoll und traurig sein. Wer hat nur den Kampf ums tägliche Brot erfunden? Und weshalb kann ein Mann nicht hingehen und seine Nerven entspannen? Und wie kommt es, daß die Welt, die doch einem schweigenden Wald gleichen müßte, plötzlich zu einem von Gekläff erfüllten Hundezwinger wird? Du willst unbedingt nach Tbilissi? Bitte, dann fahr doch hin. Und wenn dir eine Schauspielerin mißfällt, dann beschimpfe sie, soviel du magst! „Was ist das nur für eine Welt!“ sagte ich zu meinem jüngsten Onkel. „Ist die Schule aus?“ fragte er. Er lag auf der Erde. Die Geräusche des Dorfes drangen nicht bis hierher, und es schien, als lägen wir schon seit undenklichen Zeiten an dieser Stelle. Ich streckte mich neben ihm aus, legte mich genauso hin wie er, und meine Figur glich wohl der seinen, zumal ich bestimmt einen ebenso breiten Rücken hatte wie er. „Die Schule kann mich mal!“ sagte ich mit metallischer Stimme. Unter meiner Nase duftete die Erde, es war still, und in der Stille, vielleicht auch in meinem Gedächtnis, summten die Telegrafenpfähle. Ehrlich gesagt, war die Erde feucht und zu kalt zum Liegen. Am liebsten wäre ich wieder aufgestanden, außerdem wünschte ich mir, daß ich kurz zuvor nicht geflucht hätte, denn nun spürte ich den lastenden Blick meines jüngsten Onkels im Nacken. „Vor kurzem hab ich ein Theaterstück nach Jerewan geschickt, an die Zeitung ,Avantgarde4 “, sagte ich. Mein Nacken fühlte sich leichter, der Blick lastete

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nicht mehr so schwer darauf, und auf der Erde lagen wieder zwei prächtige gleichgroße Männer, breitschultrig und wohlgebaut lagen sie da und atmeten ihren Duft. „Sie haben geantwortet, daß sie es drucken wollen“, sagte ich. „Tatsächlich?“ „Ja, ich glaube, daß sie es auch drucken werden!“ „So?“ „Ja.“ „Bist du jetzt zehn?“ „Nein, vierzehn, ich werde fünfzehn.“ „Geh und lerne deine Lektionen.“ „Die kann ich auch so.“ „Wer hat dir damals die Hose ausgezogen?“ „Dafür hat er heute was abgekriegt.“ „Freut dich das?“ Mein Onkel grinste spöttisch. „Ist Karine schöner oder die Makarowa oder Rimma ?“ „Noch mal schnüffelst du nicht in meinen Taschen rum.“ Mein Onkel preßte das Gesicht an die Erde. „Ich schnüffle überhaupt nicht in fremden Taschen ü

rum. „Und woher kennst du Karine ?“ „Die ist mir vom Himmel gefallen. Ich brauch dir überhaupt nicht zu antworten, wenn ich keine Lust hab.“ „Aber fremde Gespräche zu belauschen, dazu hast du Lust.“ „Ich hab zu überhaupt nichts Lust.“ „Du bist überhaupt ein schwatzhafter Grünschnabel.“ „Ich tu niemandem was Böses.“ „Ein Stück hat er geschrieben. Sie wollen es drucken,

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haben sie geantwortet. Und Geld haben sie auch schon geschickt. Lauf hin und hol es ab. Hunderttausend Rubel. Du Dramatiker! Kannst dir in Kirowakan ein Haus dafür kaufen!“ „Nicht in Kirowakan, sondern in Tbilissi!“ brummte ich vor mich hin und verzog mich. Im selben Augenblick lief es mir kalt über den Rükken, so scharf schrie der Onkel mir nach: „Was? Was hast du gesagt? Wiederhol das!“

„Gar nichts macht er“, sagte ich zu meinem ältesten Onkel. „Er liegt im Wald, und als ich gesagt hab, er soll nach Hause kommen, gab er keine Antwort.“ „Weswegen hat er Seno verprügelt?“ „Seno hat auf die Makarowa geflucht, deswegen.“ „Was für eine Makarowa?“ „Die Schauspielerin.“ „Ist eine Theatertruppe angekommen?“ „Seno hatte ein Foto von der Makarowa bei sich, und als er am Rede eine Welle machte, fiel ihm das Foto aus der Tasche, und der Schuldirektor sagte: ,Komm und nimm deine Makarowa mit!4 Und da sagte Seno________da fluchte er, und deswegen hat Rafik ihn verprügelt.“ „Es ist also keine Theatertruppe hier?“ „Nein.“ „Hat er ihn stark verprügelt?“ „Wir hatten gerade Unterricht.“ „Du hast einen Brief von der Zeitung. Sie loben dich.“ Nein, sie lobten mich nicht. In dem Brief stand

20 Matewosjan/Schelm

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schwarz auf weiß und sonnenklar, daß das dramatische Genre sehr kompliziert sei und ich jetzt erst einmal fleißig lernen müsse. Das war alles. Aber mein Name war mit Schreibmaschine geschrieben, es sah fast wie Zeitungsdruck aus, daneben standen die Worte „dramatisches Genre“, und alles bezog sich auf mich. Das faßte mein ältester Onkel als Lob auf, und ich folgte seinem Beispiel und schwoll vor Stolz. „Laß ihn doch in sein Tbilissi fahren, was hältst du ihn zurück?“ sagte ich zu meinem ältesten Onkel. Er zimmerte gerade das Gestell für einen Kolchoswagen. Ob nun die Axt zu stumpf, das Holz zu hart oder die Arbeitseinheiten zu niedrig waren, weiß ich nicht, jedenfalls arbeitete mein Onkel lustlos. Später beschimpften die Gespannführer ihn dann, und da auch er oft Gespannführer war, beschimpfte er sich ebenfalls und verfluchte seine Schlampigkeit in allen Tonarten. Hatte er jedoch Lust zum Arbeiten, konnte er vorzügliche Wagen bauen, die eine regelrechte Augenweide waren, aber dazu brauchte er auch zehn Tage. „Ein Theaterstück ist ein sehr guter Anfang“, sagte mein ältester Onkel. „Einen Leiterwagen kann jeder zimmern. Mach du nur immer fleißig deine Schularbeiten. Du bist nicht verpflichtet, die Alten zu ernähren. Ich auch nicht. Und dein Vater auch nicht. Sie haben fünf Jahre lang auf Rafik gewartet. Aber ihn zieht es nach Tbilissi.“ Es war schon dunkel. Wir saßen beim Abendessen und unterhielten uns friedlich über die große Welt, über das Wetter, über Gesehenes und Gehörtes, und man konnte einfach nicht glauben, daß der Vorsitzende des Dorfsowjets und der Sekretär der Parteiorganisation gekommen waren, um Rafik zu verhaften. Ihre 306


bäuerliche Kleidung und die Tatsathe, daß sie unter uns lebten, daß sie ebensolche Leute waren wie wir, ließen den Zweck ihres Kommens komisch wirken. Der Vorsitzende des Dorfsowjets hatte sich vor einigen Stunden bei der Heumahd in die Hand geschnitten und sagte, daß die Wunde jucke und er Angst habe, Blutvergiftung zu bekommen, und der Sekretär der Parteiorganisation war todmüde und murmelte im Halbschlaf, daß er am nächsten Tag eine Unzahl von Dingen zu erledigen habe und nicht wisse, wie er das alles schaffen solle. Und mein jüngster Onkel hockte indessen hinter dem Stall. „Was macht er da?“ fragte mein Vater. Meine Mutter war ohnehin schon wütend. „Ach, zum Teufel mit eurer ganzen Sippe! Was der wohl macht!“ keifte sie. „Das mit der Sippe wissen wir, ich habe nur gefragt, was Rafik macht!“ „Nichts mach ich, ga-a-ar nichts!“ äffte Mutter höhnisch meinen jüngsten Onkel nach. „Ich sitze da und weine! Ich lie-ie-iebe und will nach Tbilissi!“ Und dann schrie sie meinen Vater an: „Erblich ist das! Ihr seid alle so! Alle! Wer hält euch denn? Lauft doch weg! Lauft meinetwegen in euer Machatschkala und amüsiert euch da mit der Liebe!“ Liebe gehörte in die Stadt, war etwas Städtisches. Meine Mutter galt fast als Städterin, weil ihr Heimatdorf nahe der Stadt lag, deshalb war sie auch für die Liebe zuständig. Aber diese faulen Esel! Diese drei Brüder! Warum verliebte sich der eine in Tbilissi, der zweite in Polen und der dritte, mein Vater, während des Krieges in Machatschkala? „Dein Bruder ruft dich!“

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Sein gebeugter Rücken dehnte sich in gleichmäßigen Atemzügen, vom Mondlicht übergossen, und sein braunes Gesicht war wie dunkle Bronze. Eine einsame Grille sirrte in ihrer kühlen Ritze das Lied von der erkaltenden Erde. Im Wald sang mit tiefer Stimme ein Verliebter - unser Geographielehrer. Seinen vollen Baß übertönte zuweilen eine kehlige Frauenstimme. Wenn man genau hinhörte, konnte man ihre Schritte auf dem Pfad vernehmen, und wenn man genau hinsah, konnte man zwischen den Bäumen ihre Silhouetten erkennen. „Von Eseln und Lehrern werden keine Steuern erhoben“, sagte ich. Mein jüngster Onkel wandte langsam den Kopf. So war es immer: Ich wollte ihm gefallen, aber stets entfuhr mir irgendeine Dummheit. „Dein Bruder ruft!“ sagte ich hastig. Im Mondlicht tauchte schon die Gestalt seines Bruders — meines Vaters — auf. „Rafik? Rafael! Rafael!“ Der Bruder umarmte den Bruder, und Kopf an Kopf wiegten sie sich langsam hin und her. „Ach, Rafik, Rafael!“ Mein Vater wandte das Gesicht dem Lied zu, das aus dem Wald klang. „Laß dich gleich morgen verheiraten, Junge, dann haben wir unsere Ruhe mit dir.“ „Verheirate lieber deinen Sohn!“ Es wurde still, dann ertönte Frauenlachen aus dem Wald. Mein Vater wollte etwas sagen, unterließ es aber und starrte verstört auf den Wald. Rafik schluchzte laut auf, ich war sogleich übervoll von Liebe und Traurigkeit. Grund genug zum Weinen gab es ja. Innig umarmt blickten die Brüder auf einen Punkt, sie sahen wie ein altes Foto aus. Ich existierte in die308


sem Augenblick nicht für den Vater, war ihm fremd, denn er war in den Schoß seiner alten Familie zurückgekehrt. Nicht mehr vorhanden waren meine Mutter, die Frau meines ältesten Onkels, sämtliche Kinder und Kindeskinder, diese zwanzig oder dreißig unverständlichen, nervösen Geschöpfe, die selbst nicht wußten, was sie wollten. Nichts gab es mehr als jene einträchtige, fest zusammenhaltende Familie — mit ihren Scherzen, ihren Vorlieben, ihren Freundschaftsbanden, mit der Achtung vor den Älteren und der Sorge für die Jüngeren. So war es von Anbeginn gewesen. Dann nahm die Sorge allmählich überhand, und nun gab es außer ihr nichts anderes mehr. „Wie lautete es noch?“ „Schneesturm hat der Sterne Funkeln rings mit Finsternis verhüllt, wimmert wie ein Kind im Dunkeln, heult nun wie ein Tier und brüllt. Mütterchen, komm, laß uns trinken, Tröstung braucht mein junges Herz. In dem Kruge soll versinken all mein Kummer, all mein Schmerz!“* „Was kümmert’s dich, wenn sie Gedichte deklamieren?“ sagte ich zu meiner Mutter. „Das tut ihnen gut. Du kennst bloß keine Gedichte, sonst würdest du auch welche aufsagen.“ „Ich hatte keine Zeit, Gedichte zu lernen, ich mußte dich großziehen.“ „Hättest du nicht tun sollen.“ „Sieh einer an, noch ein Neunmalschlauer!“ * Nachdichtung der Puschkinverse von Martin Remane


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Später saß einer der Brüder hustend auf dem Erdwall, sein Husten klang, als hätte er sich erkältet, und das war für meine Mutter ein ausreichender Vorwand, hinzugehen und sie zu stören. Sie kamen ins Haus. Der jüngste Onkel blieb verschlossen an der Tür stehen. Vater betrachtete beim Schein der Petroleumlampe ein Foto, bis Mutter es ihm aus der Hand riß.

Das auf dem Foto abgebildete Mädchen blickte uns halb gleichgültig, halb aufmerksam an, als wollte es uns gefallen. Seine Augen erfüllten uns mit Liebe für es, obwohl sie selber keinen in dieser elenden Hütte liebten. Als diese Karine sich fotografieren ließ, hatte sie selbstverständlich schon von unseren rauhen Lehmwänden und den Riesenfäusten meines Vaters gehört. Aus weiter Ferne, ohne uns zu sehen, sagte sie zu uns: „Ich bin hübsch, und ihr seid etwas zu häßlich für mich.“ Aber wir waren keineswegs gekränkt, wir waren bereit, um ihretwillen all unsere Kühe und all unsere Teppiche wegzugeben und nichts dafür zu verlangen. Ihr Duft war in der Erinnerung meines Onkels lebendig, ihr Haar kitzelte ihn immer noch am Kinn. „Laßt uns hinfahren, um sie freien und sie herbringen!“ sagte mein Vater, der im rötlichen Licht der Petroleumlampe in unserer Stube stand. 311


„Wollt ihr sie herholen, damit sie hier die Kühe melkt?“ Meine Mutter wandte sich in der Tür um. Nein, was war das doch für eine Welt! Mutter hatte ein für allemal Abschied genommen von ihren Sehnsüchten nach der Stadt, sie bevorzugte ein handfestes Leben, wie eine richtige Bäuerin, da sich nun einmal alles so gefügt hatte. Aber die glücklichen Erinnerungen an die Stadt weckten ihr Mitleid für das Mädchen mit dem aschblonden Haar. Das Mädchen meines jüngsten Onkels verkörperte nun Mutters Mädchentum, Mutter sah, daß es hinters Licht geführt, überredet, in ein weltentlegenes Dorf verschleppt werden sollte, um dort mit einem Haufen von Kindern am Schürzenzipfel herumzulaufen und das geliebte Machatschkala zu vergessen. „Bringt sie her! Laßt sie den Pferdestall ausmisten! Drückt ihr die Forke in die Hand, ladet ihr ein Kind auf den Hals, laßt sie pudschwere Eimer schleppen! Das kennen wir!“ „Du faselst albernes Zeug!“ „Und stopft ihr den Mund, damit sie es nicht faselt! Herbringen wollen sie sie ...“ „Jetzt reicht’s!“ „Nein, hör dir diese Männer an, obwohl ich dir sagen muß, daß du auch aus ihrer Sippe stammst!“ schrie meine Mutter mir zu. „Was sind das bloß für Menschen, so was gibt’s nicht zum zweitenmal, keine Spur von Verstand, und du bist genauso dämlich.“ Sie wandte sich an meinen jüngsten Onkel. „Hör zu! Eines Tages ist deine Uniform verschlissen, was willst du dann anziehen? Alles muß man ihnen erklären, von allein begreifen sie nichts, ihr Kopf funktioniert nicht! Was ich will? Daß du gleich morgen deinen Rucksack packst und nach Tbilissi abhaust! Wenn du nicht gleich morgen

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fährst, kannst du dir Tbilissi und dein Mädchen aus dem Kopf schlagen.“ „Recht hat sie“, bestätigte mein Vater. „Für die Alten werden wir sorgen.“ Meine Mutter war inzwischen ins andere Zimmer gegangen, um den Teekessel zu holen. Erst jetzt wurde ihr klar, daß sie sieh selber eine Last aufgebürdet hatte und ihrem Mann auch — er war sowieso schon ein richtiges Packpferd. Anstatt sich zu wehren, nickte er, stimmte zu, der Dummkopf, nahm das Joch freiwillig auf sich. Sie ließ den Teekessel stehen und stürzte in die Stube zurück und sprudelte hervor: „Was? Für die Alten sorgen ? Mist fahren, große Wasche, dich, die Kinder, die Kuh, die Schweine, dich und nun noch die Alten als Draufgabe? Ja, wo hast du denn dein Gewissen, hast du denn gar kein Erbarmen mit mir?“ Innerhalb einer einzigen Minute wurde sie zu einer alten Frau, Säcke bildeten sich unter ihren Augen. „Schweine und Hühner, Kochen und Waschen, Kolchos und Mistfahren und obendrein die Alten? Holt das Mädchen her! Krepieren sollt ihr alle miteinander!“ In diesem oder im folgenden Herbst, als ich verliebt war und glaubte, ich wäre der einzige Mensch auf der Welt, der meinen jüngsten Onkel verstände, hatte er sein Herz an einen vierjährigen Hengst der Kolchosherde verloren. Das junge Tier lief im Tal umher, genau wie seine dreiundfünfzig vierbeinigen Brüder, trank, graste, scheute, preschte davon, kurz, es tat sich in keiner Form unter den übrigen hervor. Doch als wir ihm nachjagten und besonders als wir es einfingen, merkten wir, daß es wie glühende Kohle war. Wir warfen es zu Boden, hielten es nieder, peitschten ihm den 313


Bauch, bis ihm das Blut aus den Nüstern trat, brachen seinen Willen. Und da verwandelte es sich in erloschene Kohle. Es war so eingeschüehtert, daß mein jüngster Onkel es geradezu anflehte, sich zu erheben, und wir es für unwahrscheinlich hielten, daß es jemals wieder aufstehen würde. Mein jüngster Onkel hockte sich vor das Pferd und küßte es aufs Maul. Aber es blieb liegen und sammelte Kräfte, denn es war nicht gewillt, sich je dem Menschen zu unterwerfen. Danach versuchte mein Onkel, es nach Hause zu führen. Er versprach, ihm ein treuer Bruder zu sein, er gab ihm Zucker, doch das dumme Vieh zerrte meinen jüngsten Onkel zu den Bergen zurück, wobei es sich immer wieder umblickte. Mein jüngster Onkel erzählte ihm, er würde verhindern, daß die Kinder es quälten, er würde es oft zur Schwemme führen und eigenhändig füttern, und wenn es ein Hufeisen verloren hätte, würde er nicht auf ihm ausreiten, bevor es nicht neu beschlagen sei, es würde den allerfeinsten Sattel erhalten, und er würde es niemals ausleihen, so daß es nie wie ein Esel bepackt würde und auch kein Getreide zu schleppen brauchte. Mein Onkel sagte noch mehr zu ihm, doch das dumme Tier ging plötzlich vorn hoch, verharrte einen Augenblick in dieser Stellung und strebte dann zur Herde zurück:. Aber so hätte er es nicht machen dürfen, so nicht! Die Knochen des Tieres waren doch noch jung und weich! Das hätte nicht geschehen dürfen! Der Hengst stürzte zu Boden, und unter der Haut zersplitterte sein Wadenbein. „Du Dummkopf! Du hirnverbrannter Eigensinn!“ Der Hengst wieherte, schrie, hatte sein Feuer noch nicht eingebüßt, hei dem Versuch aufzustehen, knickte ihm das Bein weg, er rutschte aus und klatschte ins

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Gras. Die Herde tummelte sich vor einer fernen Hügelkette und rief ihn, er aber wälzte sich schaumbedeckt qualvoll hin und her. „Du Narr!“ Mein jüngster Onkel ließ sich neben dem Hengst nieder. Als er aber merkte, daß ihm alles vor den Augen verschwamm und die fernen Horizonte, in Dunst gehüllt, aufeinander zuglitten, zündete er sich eine Zigarette an und verließ den Ort. Zwei Tage setzte er immer wieder dazu an, meinem ältesten Onkel etwas zu sagen. Seine Stimme wurde heiser in diesen Tagen. Der älteste Onkel befahl ihm durch Blicke, in seiner Gegenwart nicht zu rauchen, aber der jüngste Onkel vergaß es, er dachte nicht daran, daß er nicht rauchen durfte. Sein Kopf war mit anderen Dingen beschäftigt. „Schweißgebadet war er!“ stammelte er und fegte mit einer Handbewegung den Rauch beiseite. „Sein Körper war schaumbedeckt, blauweiß, nein, dunkel, fast schwarz vor Schweiß!“ Der älteste Onkel zimmerte gerade den Rahmen für einen Leiterwagen. Er legte die Axt hin, stapfte in seinen groben Stiefeln schwerfällig auf ihn zu und nahm ihm die Zigarette weg. „Fünfhundert Rubel hab ich für den Hengst bezahlt“, sagte er und trat den Stummel aus. „Fünfhundert Rubel, was ist das schon? Wenn ich sie fände, würde ich mich nicht mal freuen. Du hast den Hengst geführt, dabei hat er sich das Bein gebrochen. So stell t’s.“ Im selben Augenblick rief der Farmleiter Lewon vom Hang: „Sagt diesem Säugling, daß schon die Wölfe und Krähen kommen. Die würden das Leder verder315


ben. Wenn er krepiert ist, zerfetzen sie ihm das Fell! Habt ihr gehört, was ich sage?“ „Hast du’s gehört?“ sagte mein ältester Onkel zum jüngsten. Und damit wir’s genau verstünden, schrie Lewon noch einmal: „Wenn er krepiert ist, zerfetzen sie ihm das Fell!“ „Was soll ich machen?“ fragte der jüngste Onkel den ältesten. Noch bevor der älteste antworten konnte, ließ Lewon sich wieder vernehmen. Er hatte zwar alles gesagt, was er wollte, hatte sich inzwischen schon abgewandt und mit einem von seinen Leuten gesprochen, aber er fand das Verhalten meines jüngsten Onkels so empörend, daß es ihm nicht aus dem Sinn ging. Und weil er immer laut zu denken pflegte, trug der Wind uns seine Meinung über unsere Familie zu: „Lumpenpack! Hungerleider! Hundesöhne! Hosenmätze! Bettelarme Enkel des Ölkönigs Mantaschew! Dichter! Verrückte! Dummköpfe!“ „Hast du das gehört?“ fragte der älteste den jüngsten Onkel. „Ja. Was soll ich tun?“ „Geh und zieh ihm das Fell ah.“ „Wie?“ fragte der jüngste Onkel fassungslos. „Was heißt wie?“ „Der Hengst ist doch noch nicht krepiert.“ „Ach so.“ Mein ältester Onkel begriff. „Nimm die Axt mit.“ „Wozu?“ „Tsss!“ machte der älteste Onkel verblüfft. Er war ein wortkarger Mann. Vier Jahre hatte er in Gefangenschaft gesessen, anschließend war er in den Altai ver-

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schickt worden und hatte dort noch drei Jahre zugebracht. Über diese sieben Jahre sagte er nichts als: „Die Deutschen sind recht sparsame Leute.“ „Die Axt nehmen und ,tsss‘ machen?“ „Tsss!“ Mein ältester Onkel staunte noch mehr. „Nimm die Axt, sagst du ...“ Da der älteste Onkel keine Antwort gab und den jüngsten nur ansah, fuhr dieser fort: „Zieh ihm das Fell ab, sagst du, ich sag, daß er noch nicht krepiert ist, und du sagst, nimm die Axt.“ Daraufhin hielt mein ältester Onkel eine ausgesprochen lange Rede: „Zwing mich nicht, so viele Worte über unwichtige Dinge zu verlieren.“ „Hör zu, du sagst, ich soll die Axt nehmen. Ich hab sie genommen. Und was mm?“ Mein jüngster Onkel war in den beiden letzten und auch in den vorangegangenen Tagen fast verschmachtet vor Sehnsucht nach einem richtigen Gelächter und fand nun die Umständlichkeit seines ältesten Bruders, seinen wortkargen anund abschwellenden Zorn ausgesprochen komisch. „Ich hab sie genommen, und was nun?“ „Aha!“ Mein ältester Onkel begriff. „Du schlägst ihn mit der Axt tot, ziehst ihm das Fell ab und bringst es her.“ Der jüngste Onkel starrte ihn an, seine wulstigen Lippen öffneten sich, sinnlos fuchtelte er mit den Armen. „Ist das dein Ernst?“ stammelte er. Der älteste zog ihm die Zigarettenschaehtel aus der Tasche, zerdrückte sie zwischen den Händen, nahm ihm die Zündhölzer weg, steckte sie in die eigene Tasche, schob ihm die Axt hinter den Gürtel, obgleich der Gürtel ziemlich stramm saß, und gab ihm einen Stoß. „Geh!“ sagte er.


Der jüngste Onkel stieg den Hang hinauf in die Berge. Taub, ohne das Lied des Windes zu hören, blind, ohne das frische Grün zu sehen, fühllos, ohne die klare Bergluft zu spüren, ging er direkt zu seinem Hengst, hieb ihm die Axt in den Kopf, mit Augen, schwarz vor Erregung, hob, wie im Fieber glühend, eine Grube aus, verscharrte das Pferd und stieg wieder ins Dorf hinab, das breite Kinn vorgeschoben. „Kein Fell, und die Axt ist schartig!“ stellte mein ältester Onkel fest. „Das Fell kannst du lassen, wo es ist, dazu will ich dich nicht zwingen, aber die Axt mußt du zum Schmied bringen.“ „Ich nicht!“ Der jüngste Onkel bückte sich und hob eine zerknickte Zigarette auf. Der älteste ging auf ihn zu, trat noch einmal auf die Zigaretterischachtel, holte fünf Rubel alter Währung aus der Brusttasche, drückte sie ihm in die Hand, preßte ihm die Axt an die Brust und bog ihm den Arm so, daß er die Axt festhalten mußte. „Der Schmied ist zu dieser Zeit daheim, hol ihn ab und geh mit ihm in die Schmiede. Paß auf, daß der Stahl nicht verdorben wird.“ Da ging der jüngste Onkel zum Haus des Schmieds. Vor einem Jahr war er aus der Armee entlassen worden, Als schöner, gutgewachsener Bursche mit schwermütigen Augen kam er zurück, denn in Tbilissi hatte er seine Liebste zurüekgelassen, die ihm nicht aufs Land folgen wollte. „Sie ist nicht fürs Dorf geschaffen“, sagte mein jüngster Onkel. Er beschloß, zu ihr nach Tbilissi zu ziehen, aber da sagte mein ältester Onkel: „Dann nimm auch die Eltern mit.“ Doch die alten Leutchen wollten von Tbilissi nichts hören, und der jüngste Onkel flehte den ältesten an: „Laß sie bei euch wohnen,


das macht euch doch keine Mühe, nicht wahr?“ — „Du bist der Jüngste“, entgegnete der älteste Onkel und hielt nach einer Braut für seinen Bruder Ausschau. Er zählte ihm die Namen der heiratsfähigen Mädchen auf, aber der jüngste Onkel schüttelte nur immer den Kopf. Da flehte der älteste Onkel den jüngsten an, und in diesem Augenblick wirkte er tatsächlich bemitleidenswert. „Ich bitte dich, jede würde dich doch nehmen, jede, die du haben willst, erbarme dich meiner, quäl mich nicht!“ Doch der jüngste Onkel schüttelte den Kopf und stand auf. „Ich zieh weg von hier.“ Da hielt der älteste den abgespreizten kleinen Finger hoch. „Karine!“ sagte er verächtlich. Der jüngste schloß die Augen. „Du Milchbart!“ brüllte der älteste ihn an. Der jüngste blieb mit zugekniffenen Augen stehen und wiegte sich hin und her. Der älteste ging auf ihn zu, um ihn zu schlagen, aber er brachte es nicht fertig, die Hand gegen ihn zu erheben. „Du Milchbart!“ schrie er noch einmal, wartete, bis der Bruder den Sinn des Wortes erfaßt hatte, und fügte dann hinzu: „Du Säugling!“ In Gedanken suchte er nach weiteren passenden Ausdrücken, fand aber keine und sagte nach langer Pause nur noch: „Waschlappen!“ Das wiederholte er so lange, bis sich die wulstigen Lippen meines jüngsten Onkels verzerrten und ihm ein Strom von Schimpfworten entquoll, vermischt mit Tränen. „Pfui! Flennst auch noch!“ Der älteste Onkel ging ins Haus. Dort ertappte er sich, wie er sich mit seiner Frau zankte, obgleich er Zank zwischen Mann und Frau nicht 319


aussteheu konnte. Auf der Flucht vor ihrem schrillen Gekeif und dem heiseren Gebrüll des drei Monate alten Säuglings ging er wieder nach draußen. Dort stieß er auf den Bruder. Und in diesem Augenblick liebte er den jüngsten Onkel sehr, weil der keine Frau war und keine behende Frauenzunge besaß. „Wardans Lussik hat im vergangenen Jahr achthundertdreißig Arbeitseinheiten verdient“, sagte er versöhnlich. „Ich habe nur fünfhundertfünfundsiebzig, obgleich ich ein Mann bin. Außerdem kann sie Gedichte aufsagen, sie liest Owanes Tumanjan und kennt eine ganze Menge: ,Maro‘, ,In einer Winternacht 4...“ Und er zählte an den Fingern auf, welche Gedichte Wardans Tochter Lussik vortragen konnte, und als er zum kleinen Finger kam, lächelte er ironisch: Karine. In meinen Augen war er ein grober, ungehobelter Mann. Häufig überlegte ich, wie er in der Verbannung gewesen sein mochte. Einmal ging er nachts im Schneesturm über freies Feld, ohne Jacke. Mitten in der Einsamkeit stieß er auf einen Schweinestall, verscheuchte die Schweine von ihrem Platz und legte sich auf ihre noch warme Streu. Und alle Läuse, die sich in dem Schweinestall befanden, brachte er mit. Er mußte sie später mit dem Messer abkratzen. Und als er meinem jüngsten Onkel die Zigarette wegnahm, dachte ich, daß der Schweinestall doch der richtige Ort für ihn sei. „Was ist das für eine Welt!“ jammerte ich und puffte meinen jüngsten Onkel gegen die Schulter. An jenem Tag ging mein jüngster Onkel mit dem Schmied zur Schmiede, ließ die Axtklinge schärfen, achtete darauf, daß der Stahl nicht ruiniert wurde, und lief aus der Schmiede direkt in die Berge. Wieder merkte er nichts vom Lied des Windes, vom frischen 320


Grün und der reinen Bergluft. Wie eine hungrige Hyäne scharrte er das Pferd aus. Er zog ihm das Fell ab, rollte es zusammen, klemmte es sich unter den Arm, und während er mit hartem Marschtritt ins Dorf zurückkehrte, sagte er immer wieder den russischen Ausdruck, den er in der Armee gelernt hatte, vor sich hin: „Chwatit? Reicht’s? Chwatit?“, während hinter ihm am Horizont die Pferde wie eine Funkengarbe leuchteten.

Mesrop Der Pferdehirt Mesrop kannte die armenische Geschichte haargenau. Er war der einzige, der sich seines Armeniertums bewußt war. Die anderen wußten nur, daß sie Hirten, Melkerinnen, Kälberzüchterinnen, Schafscherer waren, daß sie bei Anbruch der Kälte von den Bergen in die geschützten Täler hinabstiegen und bei Beginn der Hitze wieder in die Berge hinaufkletterten. Doch dem Pferdehirten genügte das nicht, die Horizonte, die sich von den Berggipfeln eröffneten, waren ihm zu eng, und er erzählte die ihm haargenau bekannte Geschichte Armeniens. Dabei hielt er sich wohl nicht immer ganz an die Wahrheit, denn seine Berichte hörten sich jedesmal anders an, einmal verlagerte er den Beginn der armenischen Geschichte um zehntausend Jahre zurück, ein andermal datierte er ihn auf die jüngste Vergangenheit, die Jahre 1890 oder 1907. „In Troja kämpfte unser Patriarch Sarmahir gegen die Griechen“, sagte er. „Unser Patriarch Sarmahir wurde von Achilles persönlich erschlagen. Siehe ,Ilias1.“ 321


Dann wurde er plötzlich wütend und schrie: „Lüge! Die Armenier wurden von dem Historiker Leo erfunden! Vor Leo gab es überhaupt keine Armenier! ,Hund und Kater‘, verfaßt von Owanes Tumanjan. Der Kater als Kürschner, das ist auch gelogen, der Kater war gar kein Kürschner, der Hund brauchte gar keine Mütze! Owanes Tumanjan hat sich das alles am Schreibtisch ausgedacht, und an einem andern Schreibtisch hat Leo die armenische Geschichte ersonnen. Der Patriarch Sarmahir! Alles Quatsch!“ Seine Dorfgenossen, die Hirten, Schafscherer und Melkerinnen, widersprachen ihm nicht. Ihre Sache war es, Schafe zu scheren und Kühe zu melken, und sie betrachteten den ganzen Kram — Leo, Owanes Tumanjan, Sarmahir, unsere Zeitrechnung, vor unserer Zeitrechnung, im Jahre 1907 — als Mobiliar des Pferdehirten, das er nach Belieben in seinem Haus aufstellte. Er selber wollte damit bekunden, daß es ihm nicht an der J^iege gesungen worden war, Pferdehirt zu werden, sondern etwas anderes. „Der Feldherr Tigran“, verkündete er mit erhobener Hand, „der König der Könige, will sagen, der König über alle Könige, sammelte ein Heer. Er sammelte und sammelte, bis er tausend, bis er hunderttausend Mann gesammelt hatte. Er sammelte eine halbe Million, eine ganze, und dann entließ er die Leute in alle vier Winde. Der Beste der Besten, der König der Könige, ja, ja, so ist das eben. Khan, Radscha, Maharadscha, Schah, Harem, im Harem tausend nackte Weiber und ein einziger uralter, gebrechlicher König, unser Gebieter Tigran. Der König der Könige. Oder nehmen wir den Wolf Wahan. Sie kamen, und er besiegte sie, sie kamen, und er besiegte sie, sie 322


kamen, und er besiegte sie, er besiegte alle. Er siegte, und die andern zählten seine Siege. Sie zählten und zählten, bis sie eine Million znsammenhatten, und das war dann Iran. So sieht das aus! Jetzt gibt es Iran nicht mehr. Unser Wolf Wahan hat es seinerzeit in Staub und Asche gelegt.“ Dann wieder behauptete er plötzlich das Gegenteil; er führte dieselben Fakten an, doch nun hatten sie ein anderes Gesicht. „Sie kamen, und er betrog sie, sie kamen, und er belog sie, sie kamen, und er führte sie hinters Licht, wickelte sie um den Finger. Sie kamen nicht mehr, und da gab es Frieden. Später kamen die Türken. Wie der Tod ließen sie sich auf unserer Brust nieder. Wer das durchstand und am Leben blieb, der kann stolz sein, der hat Grund zum Stolz. Wir sind eine erstaunliche Nation, was? Viertausend, nein, fünftausend, nein, von fünftausend kann keine Rede sein, zehntausend sind es! Zehntausend Jahre leben wir nun schon auf dieser Welt und haben es immer noch nicht über, wie?“ Niemand geriet durch seine Worte in Begeisterung, und niemand widersprach ihm. Die anderen setzten einfach ihre Arbeit fort, melkten die Kühe, schoren die Schafe, gerieten in den Regen, trockneten in der Sonne, sprachen aserbaidshanisch mit ihren aserbaidshanischen Nachbarn, lachten den aus, der die Sprache nur schlecht beherrschte, erhielten Arbeitseinheiten, bekamen Prämien — lebten. All das sah etwa so aus: Berge, Grün, Schafherden, eine Pferdeherde, Wolken und ein fünfundfünfzigjähriger Mann namens Mesrop Kasarjan, der, in Selbstgespräche vertieft, zwischen den Schafen, Pferden und Wolken umherwandelte, hoch oben in den Bergen, von denen aus man nur ein

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kleines Stück der unermeßlich großen Erde, ein kleines Stück von Lori, überblickte. Aserbaidshanisch sprach er nicht. „Ich kann nicht Türkisch.“ Daraufhin sprachen die aserbaidshanischen Hirten mit ihm armenisch. Aber das hatte er nicht bezweckt. Er hatte sie als Türken bezeichnet, um sie zu kränken, aber sie waren nicht gekränkt, denn sie waren keine Türken. Auch Aserbaidshaner waren sie nicht, sie waren ebenso wie die Leute aus unserem Dorf Hirten, Melkerinnen, Schafscherer, sie hüteten die Schafe, scheren sie, wenn die Zeit gekommen war, gerieten in einen Regenguß, trockneten in der Sonne und so weiter. Doch in einer Beziehung errang Mesrop einen gewissen Sieg. Die aserbaidshanischen Hirten kamen aus ihren fernen Tälern in unsere Berge gezogen, und weil unser Dorf ganz in der Nähe der Weideflächen lag, hatten wir das Gefühl, als gehörten die Berge uns. Fast das ganze Jahr über, im Herbst, im Winter und im Frühjahr, waren die Berge so etwas wie unser Privateigentum. Nur im Sommer kamen die Aserbaidshaner mit ihrem Krempel zu uns herauf. Das war, als beträten sie unser Haus, als gehörte unser Haus jetzt ihnen. Und uns kamen Gedanken wie: Die Tränke neben der Quelle hat Artjoms Artin gebaut, doch nun drängt sich dort, in Staubwolken gehüllt, die aserbaidshanische Herde. Und vor hundert Jahren hat Kasars Abet die flachen Steinquader verlegt, von denen die Schafe das Salz lechen, doch nun wimmeln die aserbaidshanischen Schafe um die Steine herum und stoßen unsere weg. In der bewaldeten Schlucht haben unsere Hirten ihren Namen in so manchen Baum geritzt, sogar mit Witterungsangabe: „Geschrieben bei trübem

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Wolfswetter.“ So ein Baum stand und stand, bis eines Tages ein aserbaidshanischer Hirt kam, ihn fällte, an seinen Ochsen band und davonschleifte. „Die Türken sind gekommen“, sagte der Pferdehirt. „Wie aus heiterem Himmel. Und woher sind sie gekommen? Früher waren sie doch nicht hier.“ Er verstummte und fuhr dann bedeutungsvoll fort: „1920 wurden sie neu erschaffen. Von Sergej Miro no witsch Kirow! Kaum zu glauben, aber innerhalb von dreißig Jahren hat er sie zu Menschen gemacht. Das nennt man Sozialismus. Denn früher war von ihnen überhaupt keine Rede. Sie wurden neu erschaffen. Und nach ihrer Erschaffung führte man sie an Artins Quelle und sagte: ,Bedient euch!4 Möge Gott dir im Jenseits ein seliges Leben schenken, Artin, woher bekämen die aserbaidshanischen Schafe Wasser, wenn du nicht gewesen wärst. Ich schlage vor: Schreiben wir eine Beschwerde nach Moskau, daß wir unsere Weiden wiederhaben wollen.“ Manchmal hatten wir mit unseren Nachbarn Streit. Unsere Herde zertrampelte versehentlich ihre Saaten, gelegentlich geriet auch ihre Herde auf unsere Felder, und dann entbrannten große Schlachten. Der eine hatte plötzlich eine Stirnwunde, der andere einen ausgekugelten Arm, mehrere Hemden waren zerfetzt, die Aserbaidshaner beschimpften uns auf armenisch, wir schimpften auf türkisch zurück, die Hunde verbissen sich ineinander, alles ging drunter und drüber. Und dann setzten wir uns gemeinsam an den Mittagstisch. Die Aserbaidshaner holten ihre Flachbrote und die Unsrigen Wein, man prostete sich zu, trank auf gegenseitige Gesundheit, und wenn man vom Essen und Trinken erschöpft war, wunderte man sich, daß der

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Nebenmann einen verbundenen Kopf hatte, einem anderen das Hemd zerrissen war und ein dritter den Arm in der Schlinge trug. Über die Prügelei wurde kein Wort mehr verloren, und es hatte den Anschein, als hätte man sein Lebtag zusammen Mittag gegessen und als wäre das Hemd bei der Mahlzeit in Fetzen gegangen. „Na, habt ihr euer Persisch aufgefrischt?“ verspottete uns der Pferdehirt. „Oder habt ihr euch diesmal in der Hindispraehe verständigt?“ Die Hirten antworteten nicht. „Hört mal her!“ Der Pferdehirt kam in Rage. „Schreiben wir jetzt an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Moskau, Kreml, oder nicht?“ Das machte Eindruck. „An den Vorsitzenden des Präsidiums, Moskau, Kreml, und was weiter?“ fragten die Hirten. „Daß wir beantragen, die Türken von unseren Weiden zu vertreiben.“ Die Hirten schwiegen. „Na, was ist?“ „Das wär doch peinlich“, meinten die Hirten. „Wir haben an einem Tisch mit ihnen gesessen.“ Und dann meinte einer harmlos: „Wir werden auch so weiterleben, Mesrop, warum sollen wir die Leute grundlos kränken, es ist eben wenig Platz da.“ „Armenier!“ brauste Mesrop auf. „Du mußt den entscheidenden Schritt unternehmen, dann wird dein Viehbestand wachsen, deine Herde sich vergrößern, dann wirst du immer mehr Tiere besitzen! Wenig Platz!“ „Richtig! Aber wächst die Herde der Aserbaidshaner nicht auch?“ 326


„Selbstverständlich! Und Geschrei und Gezänk wachsen mit.“ „Halt deine Pferde von ihren Feldern fern, dann wächst das Gezänk nicht.“ „Halt du deine Sthafe fern.“ „Natürlich, tu ich auch.“ Doch das war unmöglich. Die Weiden ließen sich nicht gegeneinander abgrenzen. Es gab nur eine einzige Weidefläche, auf der die Herden verstreut waren, und keine tat der anderen etwas. Einmal entführte ein aserbaidshanischer Hirt allerdings unsere Herde. Er lockte die Schafe mit seinem weißen Taschentuch an, das sie für Salz hielten, und da sie immer auf Salz versessen waren, trotteten sie ihm nach bis zum Stall. Dort trieb er sie in den Pferch, schloß sie ein und schickte dann unseren Hirten ein Telegramm folgenden Inhalts: „Soundso viel Saatfläche wurde vernichtet, dafür müßt ihr Strafe zahlen.“ Ein regelrechtes Protokoll wurde aufgenommen. Und während die Aserbaidshaner noch auf der Zahlung des Strafgelds beharrten, ölte Mesrop in unserem Lager sein Gewehr, drehte es hin und her, kontrollierte den Abzugshahn und brummte vor sich hin: „Bezahlt ihnen nur die Strafe, was denn sonst! Habt ja gelernt, Protokolle zu verfassen, seid doch gebildete Leute. Tschambar!“ rief er und zielte auf seinen in der Nähe liegenden Hund. Der Hund spitzte die Ohren. Mesrop schoß, der Hund raste winselnd davon, beruhigte sich dann, setzte sich und rieb sich mit der Pfote das verwundete Ohr. „So was! Strafgelder wollen die!“ „Na, nun beruhige dich schon, Mesrop.“ „Was heißt hier beruhigen, was heißt hier Mesrop?“ 327


„Aber es geht doch uni die Berge, Mesrop, wir leben in den Bergen, da passiert alles mögliche, einmal müssen wir Strafe bezahlen, dann wieder sie, wir verzanken uns und versöhnen uns. Warum nimmst du dir das alles so zu Herzen, Mesrop? Man kann sich doch nicht über jede Kleinigkeit dermaßen aufregen.“ Alle Versuche, ihn zurückzuhalten, blieben vergebens, er riß sich los und ging davon. „Die bringe ich samt und sonders um, ihr könnt mich nicht halten.“ Er drohte sogar mit der Flinte. Und dann legte er los: „Der Historiker Leo hat die Armenier erst im Jahre sieben oder siebenundzwanzig erfunden! Es gibt überhaupt keine Armenier! Das heißt, es gibt wohl welche, aber sie haben weder Scham noch Gewissen.“ Er hatte recht — es gab überhaupt keine Armenier. Es gab nur Hirten, die ihm hinterherspuckten und sagten, es sei zu wünschen, daß man ihn sich auf der anderen Seite schnappe und ihm anständig das Fell versohle. Mesrop stapfte davon, erklomm den Hang, überquerte den Kamm, kletterte in die Schlucht hinunter und hlieb vor den Zelten der Aserbaidshaner stehen. Es war ein smaragdgrüner Tag. Unten im Tal leuchteten die roten Ziegeldächer der aserbaidshanischen Stallungen, und aus ihren Zelten stieg blauer Rauch. Am Hang schwang ein Schnitter die gebogene Sense, raschelnd sanken die Schwaden um, das hohe Gras verschluckte jeden Laut. Auf dem freien Platz hinter den Stallungen kämpften zwei Stiere miteinander. Ein kleiner, spitzhörniger der örtlichen Rasse trieb den zweiten, ein riesiges Rassetier mit stumpfen Hörnern, in die Enge. Mesrop war ein umsichtiger Mann, er wußte, daß der Rassestier nicht kämpfen durfte (das

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verdarb die Rasse) und daß jemand hingehen und die beiden mit der Forke trennen mußte. Er wunderte sich, daß niemand da war und sich um die Sache kümmerte. Beim Näherkommen sah er dann, daß die Leute mähten, melkten, die Schafe schoren — eben arbeiteten. Nein, Mesrop hatte sich das alles ganz anders vorgestellt. Er hatte mit seinem frisch geölten Gewehr den Hang hinabsteigen wollen, in der Gewißheit, unten von mindestens zwanzig Aserbaidshanern, ebenfalls mit schußbereitem Gewehr, empfangen zu werden. Und er hatte auf sie zugehen wollen, ohne mit der Wimper zu zucken. Er machte kehrt und tauchte zum zweitenmal oben auf dem Hang auf. „Komm her, komm zurück!“ riefen ihm die Unsrigen zu. Aber er ließ sich oben nieder. Und während er dort saß, hörte er seine Landsleute in schallendes Gelächter ausbrechen. In den Bergen ist das leiseste Geräusch eine Werst weit zu hören. Und weil die Bergluft kristallklar ist, sahen die Hirten auch, wie Mesrop seinen Zigarettenstummel wegwarf, ihnen den Rücken kehrte und sich noch einmal auf den Weg zu den Aserbaidshanern machte. Wilde aserbaidshanische Flüche ausstoßend, stieg er wieder in die Schlucht hinab und ging auf die Zelte der Aserbaidshaner zu. Sie ließen ihn herankommen, und als er, noch immer fluchend, stehenblieb, prügelten sie ihn vor ihren Stallungen zusammen. Anschließend kehrten sie zu ihrer Arbeit zurück, zum Melken, Mähen, Schafscheren. Ziemlich lächerlich wirkte der vor der Stalltür liegende hundemagere Tapergreis mit dem un-

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rasierten Gesicht und der Flinte an der Seite. War sie wirklich mit Schrot geladen? Oder nur mit Salz? Nach einer Weile spritzten sie ihm Wasser ins Gesicht, verbanden ihm den Kopf, trugen ihn ins Zelt, ließen ihn eine Weile ruhen und stellten ihn dann auf die Beine, um ihn zu bewirten. Von ihren fernen Melonenfeldern hatte man ihnen Wassermelonen geschickt, davon reichten sie ihm eine. Dann legten sie ihn wieder hin, ließen ihn noch eine Weile ruhen und gaben ihm schließlich zum Abschied ein Stück das Geleit. Verstohlen kletterte er aus der Schlucht herauf, das Gewehr möglichst unauffällig haltend, die Wassermelone unter dem Arm. Später erzählte er überall, er wäre bei den Afghanen zu Gast gewesen. Nette Leute seien die Afghanen, ihr Brot sei gut, und sie hätten ein flinkes Mundwerk. „Dabei sind sie ein uraltes Volk“, sagte er. „Das Land, das wir bewohnen, gehört ihnen. Ich wundere mich nur“, fuhr er fort, „wieso sie uns in ihre Berge lassen. Sie hätten sich doch anständigere Nachbarn suchen können. Wer sind wir denn? Wir dürften diese Berge überhaupt nicht betreten! Ja, ich wundere mich sehr. Wolf Wahan! Sie kamen, und er besiegte sie, sie kamen, und er besiegte sie, sie kamen wieder, und er besiegte sie wieder, jaja! Nasar der Tapfere mähte mit einem einzigen Schwertstreich hundert Feinde nieder!“ Und da berichtigte ihn so ein Rotzbengel von der historischen Fakultät, nämlich ich, mit spöttischer Gelassenheit: „Nasar der Tapfere und Wolf Wahan sind nicht miteinander zu vergleichen. Wolf Wahan ist eine historische und Nasar der Tapfere eine literarische Gestalt.“ 330


„Dein Lehrer muß es ja wissen, wenn er dir das so gesagt hat“, brummte Mesrop und sah den Rotzbengel, nämlich midi, schief an. „Natürlich, der Lehrer ist kein Pferdehirt, der versteht was davon. Was du sagst, ist alles Schwindel. Du glaubst, ihnen was Gutes zu tun, wenn du sie als Afghanen bezeichnest. Trotzdem sind es Aserbaidshaner und keine Afghanen, klar? Und überhaupt, wofür ist das von Bedeutung, ob sie Afghanen, Aserbaidshaner oder Türken sind? Du bringst dich bloß selber in Rage. Solltest lieber auf deine Pferde aufpassen.“ „Ich weiß nicht, was sie sind“, stieß Mesrop hervor, keuchend, mit verkniffenen Augen. „Ich bin ein kleiner Mann, und du solltest anerkennen, daß ich überhaupt so viel weiß, ich hatte meine Pferde zu versorgen und konnte nur nebenbei lesen. Über die anderen will ich nichts sagen, aber du bist ein richtiger Türkenbastard.“ Ich war nicht beleidigt, denn es kränkte mich nicht, ein Türkenbastard zu sein. Ich hatte einen Mann vor mir, der sich für einen Professor hielt, einen Mann, den es kränkte, daß er Pferdehirt war. „Tigran und Artawas waren armenische Könige“, setzte ich ihm auseinander. „Auch Pap, Arschak und Maschtoz waren Armenier, genau wie Wardan, Wassak, David Sassunski und Nasar der Tapfere. Zwischen den ersten Armeniern und Leo liegen fünftausend Jahre. Und wir leben. Wir leben nicht schlecht. Einer hütet Pferde, der zweite hält Vorlesungen, der dritte lernt, um Lehrer oder Pferdehirt zu werden. Jeder kann sich mit dem Beruf des anderen befassen, das ist nichts als Training. Nicht wahr? Wenn du willst, dann schieß ich dreimal, aber erst beim viertenmal durchbohre ich dem

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Hund d as Ohr. So sieht das aus, glaube ich. Und es hat keinen Sinn, darüber zu jammern.“ „Du bist ein tüchtiger Junge, kannst gut reden“, antwortete Mesrop und spuckte aus. „Elf Monate im Jahr spaziert ihr mit geputzten Stiefeln in der Stadt umher, und einen Monat, im August, kommt ihr ins Dorf zu Mesrop und sagt: ,So sieht das aus, ich durchbohr dem Hund das Ohr.‘ Du bist mir einer! Ja, ja, so sieht das aus! Genau so! Jawohl!“ Bei jedem Wort stieß er mit dem Kolben auf den Boden, dann warf er das Gewehr weg. „Willst du nun endlich deiner Arbeit nachgehen oder nicht“, fuhr der Farmleiter zornrot dazwischen. „Die Pferde haben sich Gott weiß wohin verirrt, und du quatschst dich hier aus!“ Er machte eine Bewegung, als wollte er Mesrop zu der Herde hinschubsen, die sich in weiter Ferne verlor. „Lewon!“ sagte Mesrop, und seine Nasenflügel erblaßten. „Treib die Pferde aus dem Kornfeld, daun reden wir weiter.“ „Lewon!“ knurrte Mesrop. „Seht her, Leute, wieder ist der Hundesohn Lewon an allem schuld!“ polterte Lewon. „Sagt der Hundesohn Lewon etwas Beleidigendes, wie? Er bittet dich zu arbeiten - darf er das nicht? Lewon ist natürlich schuld, wenn dir keine Strafe aufgebrummt wird, und er ist zweifellos daran schuld, wenn die Pferde die Kolchosfelder verwüsten, während sich hier die Leute ausquatschen!“ „Lewon!“ Mesrops Lippen züchten. „Was heißt hier Lewon?“ schrie Lewon. „Wenn du die Pferde nicht versorgen willst, dann geh und werd 332


Professor, wer hält dich zurück? Für deine Arbeit werden wir schon ’n andern finden! Mich! Ich werde die Pferde selber pflegen! Was will er bloß von mir, liebe Leute? Ich weiß vor Arbeit sowieso nicht mehr ein noch aus, das werde ich auch noch schaffen!“ Eine Prügelei schien unvermeidlich. Lewon wollte unbedingt, daß die Leute sich von seiner Unschuld überzeugten, bevor Mesrop ihn verdrosch. Der aber starrte Lewon keuchend von der Seite an und brütete Unheil. Ich stand zwischen ihnen, meine Hüften spürten schon die Kraft von Mesrops gekrümmten, knotigen Fingern, und mir brummte bereits der Kopf in Erwartung des Schlags, den seine Pratze mit den abgebrochenen Nägeln mir versetzen würde. Lewon konnte sich nicht mehr stoppen. Er redete, redete unaufhörlich. Daß Mesrop wenig leiste, daß er seine Arbeit vernachlässige und seine Nase in Sachen stecke, die nur einen Professor etwas angingen, daß seine Herde die Felder verwüste, während er bloß immer von „Moskau, Kreml“ quassele. Mesrop bewegte lautlos die Lippen, seine Nasenflügel zuckten wie verrückt. Lewon bekam es mit der Angst, er riß von Zeit zu Zeit die Arme hoch und schien als erster zuschlagen zu wollen, eben weil er Angst hatte. „Schämt euch!“ brüllte ich. „Die Leute lachen ja über euch!“ „Wer lacht hier?“ Lewon war ein Schlauberger, er benutzte die Gelegenheit sofort, um sich von Mesrop abzusetzen. „Wer lacht hier?! Den möcht ich mal sehen!“ Nein, er drückte sich durchaus nicht vor der Auseinandersetzung, sie störten ihn bloß dabei, die verdammten Hundesöhne! Er war ein ausgesprochener 22 Matewosjan/Sdielm

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Fucks; ohne sich noch einmal nach Mesrop umzusehen, ging er ein paar Schritte weg, als hätte er etwas zu tun. Das machte den Eindruck, als hätte gar kein Streit stattgefunden, und wenn, dann ein lächerlich geringer. Und im Weggehen redete er pausenlos weiter: „Die Pferde müssen aus den Saaten getrieben werden, wir sind doch nicht unsere eigenen Feinde, Mesrop, die Saaten gehören doch auch dir und mir, wir beide sind dafür verantwortlich, wer denn sonst! Es ist doch peinlich, wir sind keine kleinen Jungen mehr, wir müssen selber wissen, was wir zu tun haben, und können nicht erst auf Anweisung von oben warten.“ Beim Sprechen entfernte er sich immer mehr, seine Stimme wurde leiser und leiser. Und zwischen seinen Worten war keine einzige Pause. Am Schluß jedoch klang seine Stimme, anstatt gänzlich zu verhallen, plötzlich wieder laut und klar, als stände er in nächster Nähe: „Haikanusch, he, Haikanusch! Schick mir die Schere mit einem der Kinder her!“ Das hatte offenkundig nichts mehr mit Mesrop zu tun. Und das war wieder anders, als Mesrop es sich gewünscht hätte. Der jüngste Königssohn, ging es ihm durch den Sinn, gab seinem Pferd die Sporen und ritt in ein Königreich, wo Bäume, Wasser und Sonne schwarz waren. Demnach befand er sich im Reich der Finsternis, das war klar und eindeutig erkennbar. „Lewon!“ flüsterte Mesrop, ohne seine eigene Stimme zu vernehmen. In diesem Augenblick wurde für ihn etwas anderes klar und eindeutig erkennbar-das ferne Feld und die Herde, die den Feldrain zertrampelte. Das einzig Wirkliche war nur noch die Herde, zu der 334


sich Mesrops erstarrte Gestalt jetzt in Bewegung setzte. Dann war es, als knickte er zusammen — er bückte sich, hob das Gewehr auf, packte den Lauf mit beiden Händen, drehte sich um sich selbst und holte mit aller Kraft aus. Das Gewehr flog zu Boden, er hinterher. Das Gewehr ging los und in Stücke, beide Geräusche verschmolzen zu einem Krachen, im sonnenheißen Pferch reagierte ein Hund mit trägem Gekläff. Er war nur einer von vierzig Hunden, doch Mesrop hatte das Gefühl, als wäre eine Bombe explodiert, als hätte er diese Bombe geworfen, als hätte ihm die ganze Welt dabei zugesehen, als wäre die Welt in fürchterliche Angst versetzt worden, als hätten die Hunde in aller Welt die Explosion vernommen und wären jaulend hochgeschreckt. Er hatte das Gefühl, ein Riese zu sein. Er stürzte zu Boden und blieb ausgestreckt liegen. Hilflos würde er liegenbleiben, und eine Tragödie würde sich abspielen. Er, der verwegene Recke, ritt ein windschnelles Pferd und besaß einen scharfen Säbel, und er kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind. Die Erde vermochte ihn nicht zu tragen, so gewaltig war seine Kraft. Ein Felsen mußte her, um ihn zu verschlingen, zu verbergen und so lange zu bewahren, bis .. . АД was, gib nicht so an! Da lag doch bloß ein Pferdehirt, fünfundfünfzig Jahre alt, einen Meter siebzig groß, mit dürrem, faltigem Hals, eine Ohrenmütze auf dem Kopf. Er hatte das unrasierte, knochige Gesicht ins Gras gebohrt, riß mit den Händen Krautbüschel ab, hämmerte mit den Stiefelspitzen gegen den Boden. Von weitem konnte man ihn für einen schlafenden Hund halten, für ein Schaf oder gar für einen Stein. „Dummer Teufel!“ sagte Lewon verächtlich und mit335


leidig. „Jetzt mußt du dir Geld besorgen, um das Gewehr zu bezahlen, du Narr!“ Abends, als die Schafe im Schafstall, die Kühe im Kuhstall und die Pferde an der Krippe standen, als die müden Leute vor den Zelten saßen, friedlich rauchten und miteinander plauderten, fand Lewon keine Ruhe; er verschränkte die Hände auf dem Rücken, legte sie auf die Knie, sein Kinn zuckte so heftig, als wollte er im nächsten Augenblick losschreien, aber er schrie nicht, obgleich sein Kinn immer stärker zuckte, hin und wieder sah er Mesrop an, blickte aber gleich wieder weg. Dann riß er sich zusammen, und als seine Frau ihn zum Abendessen rief, ging er, ohne ein Wort über das Gewehr zu verlieren. „Es gibt eine dunkle Nacht, leicht möglich, daß wir Besuch kriegen“, sagte er nur. Als die dunkle Nacht angebrochen und die Finsternis undurchdringlich wie Filz geworden war, als die Luft nach kalter Nässe roch und man spürte, wie der Nebel aus der Schlucht stieg und sich in Kleidung und Haar, der Wolle der Schafe und der Zigarette in der Hand fing, da kam aus der bewaldeten Schlucht ein Bär. Lautlos tappte er durch den Nebel, mit grünglimmenden Augen. Den Hunden lief eine Gänsehaut über den Rükken, die Schafe stießen aufgeregt aneinander, als würden sie in einem Sieb geschüttelt, der Hengst legte die Ohren an und redete den Hals, seine Nüstern blähten sich, ja platzten geradezu, er schnaubte so laut, daß die schlafenden Kinder sich enger aneinanderschmiegten. Die Zelte hatten dünne Wände, man konnte alles hören, was draußen geschah. „Ist er weg?“ „Verrecken soll er!“ 336


Mesrop selber fing von dem Gewehr an. „Lewon!“ Er hatte sich lange etwas überlegt und brachte das jetzt überraschend laut und beleidigt hervor. „Lewon, hast du dich ausgesprochen und dich anschließend verdrückt?“ Lewon saß im Zelt beim Essen und nörgelte mit Frau und Enkeln herum, deshalb antwortete er nicht gleich. „Lewon!“ „Nicht mal kochen kannst du, wo hast du bloß deine Gedanken, es kann dir doch nicht viel Mühe machen, ein besseres Essen herzurichten! He, wer ist denn da? Bist du’s, Mesrop?“ „Hast dich ausgesprochen und dann verdrückt, ja, Lewon?“ „Was hätte ich sonst tun sollen? Neben dir sitzen bleiben?“ „Du könntest mir ’n Gewehr geben.“ „Du hast doch eins gehabt, wo ist es?“ Mit dem Löffel vorm Mund wartete Lewon auf Antwort. Draußen blieb es still. In Lewons Gesicht zuckte es. „He!“ rief er erbost. Mesrop konnte sich nicht entschließen, seine Bitte zu wiederholen. Fluchend machte sich Lewon wieder über das Essen her. Draußen konnte man hören, wie er mit dem Aluminiumlöffel auf dem Teller herumschabte und den Teller dann so wegschob, daß er an die anderen stieß. „Hungerleider! Narr!“ In dem schwachen, zaghaft aus den Zeiten sickernden Licht tauchte Mesrop auf und verschwand. Nach einer halben Stunde löste er eich wieder aus der Dunkelheit, das zerbrochene Gewehr in der Hand. Dann 337


saß er noch lange schnaufend da, paßte die Bruchstücke aneinander und umwickelte sie mit dünnem Kupferdraht. Letzten Endes war er ein Mensch mit einem zerstörten Lehen. Im Jahre 1908 fochten der Aserbaidshaner Bairam und der Armenier Awetik einen Zweikampf miteinander aus. Zuerst mit Dolchen. Dann schmissen sie die Dolche weg und nahmen Knüppel. Dann griff Bairam wieder zum Dolch und stürzte sich auf Awetik, daraufhin hob Awetik das Gewehr vom Boden auf und schoß seinem Gegner ein Loch in den Bauch. Die Verwandten des Toten versuchten zweimal, einmal 1919 und einmal 1916, Awetik abzuknallen, aber das Glück blieb ihm treu. Beide — Awetik wie Bairam — ahnten nicht, was aus ihrem Hader entstehen würde, sonst hätten sie bestimmt bedauert, sich entzweit zu haben. Aber um ihre Sache stand es schlecht, denn sie wußten alles voneinander. Im Laufe einer Minute schmetterten sie sich ins Gesicht, daß die Frau des einen mit seinem Knecht schlafe und daß der Vater des anderen acht Frauen aushalte, trotz seiner Hinfälligkeit, aber vermutlich kämen ihm die Nachbarn zu Hilfe. Ja, um die Sache von Awetik und Bairam stand es schlecht, sehr schlecht. Und ausgerechnet in diesem Augenblick waren Knüppel, Dolch und Gewehr zur Hand. Wie konnten sie sich da zurückhalten? Später erkrankte Awetik an Schlaflosigkeit — dicht an seinem Ohr war eine Kugel vorbeigezischt, aber er hatte gar nicht erst den Kopf gewandt, um festzustellen, wer sie abgeschossen hatte. Erst zehn Jahre später, 338


man schrieb schon fast das Jahr 1919, gelang den Schützen ihre Rache. Als Awetik von der Mühle zurückkam, versperrten sie ihm böse lächelnd den Weg. Das beladene Pferd banden sie an einen Strauch, das Kind ֊ Mesrop — und den Vater führten sie auf einem Fußpfad davon. Es war ein warmer, heller Tag. Die Luft duftete nach Honig. Überall summten Bienen, ihr Gesumm schien sich zu verstärken, fast konnte man glauben, eine Imkerei wäre in der Nähe, würde gleich in Sicht kommen, der Hund des Imkers würde anschlagen, und der Imker würde treuherzig fragen: „He, ihr da, wohin führt ihr die Leute?“ Aber das Dorf lag hinter zwei Anhöhen und zwei Schluchten, und in der Nähe war keine Imkerei. Nur Bienen summten überall. Das Pferd wieherte ihnen nach. Der Vater blieb stehen. „Wohin führt ihr uns?“ fragte er auf türkisch. „Du bist doch Awetik?“ Awetik blickte die Männer an. Seine geraden Schultern verloren den Halt, sanken herab. Dadurch wurde der Hals merkwürdig lang. Der eine Mann, der weiche Stiefel und eine runde Pelzmütze mit rotem Deckelkreuz trug, grinste höhnisch. Das Kind starrte ihn wie behext an und fürchtete gleichzeitig, daß er das merken würde. Awetik drehte sich um. „Schade um das Pferd“, murmelte er. In diesem Augenblick bemitleidete er sich selbst. Er fand, daß er ein Mann sei, der immer friedlich und fleißig gearbeitet und nie jemandem etwas getan hatte. Und nun war er Räubern in die Hände gefallen. Sie gingen weiter, immer weiter. Und weil Awetik vor dem 339


Kind nicht als Feigling dastehen wollte, fragte er den mit den Stiefeln auf türkisch: „Du hast dir deine Pelzmütze wohl auf dem Markt in Tbilissi gekauft, was?“ Der Aserbaidshaner zog eine Grimasse und fluchte, und Mesrop sah den Vater dümmlich grinsen. Nach einer Weile sah Mesrop ihn noch einmal dümmlich grinsen und hörte ihn auf türkisch sagen: „Unser Gevatter Arschak hat ebensolche Stiefel wie du.“ Der Aserbaidshaner schob die Flinte auf den Rükken, warf den weiten Ärmel seiner türkischen Jacke zurück, holte, ohne stehenzubleiben, aus und hieb dem Vater mit der Handkante schräg gegen den Hals. Der Vater stolperte, versuchte, sich aufzurichten, stolperte wieder und ging weiter, gekrümmt und vorgebeugt, als hätte er ein Huhn gefangen, lief noch ein paar Schritt, fiel dann auf die Knie, und der Kopf sank ihm auf die Brust. Mesrop begann leise zu weinen, ohne den Anführer, den er für einen Türken hielt, aus den Augen zu lassen. Die Männer standen um den Vater herum, dann half der mit der Pelzmütze ihm hoch, indem er ihm die Stiefelspitze hinhielt. „Steh auf, wir müssen weiter!“ „Mesrop!“ rief der Vater. „Ich kann nichts mehr sehen, Mesrop.“ Der mit der Pelzmütze lächelte, es hatte den Anschein, als hätten sie ihre Sache getan und würden nun fortgehen. Da ließ Mesrop seinen Tränen freien Lauf. „Ihr solltet wenigstens das Kind, wenigstens das Kind ...“ Der Vater sprach durch die Nase, wie im Halbschlaf. „Daß ihr euch nicht schämt!“ Dem Kind würde nichts geschehen, erwiderten sie, persönlich würden sie es ins Dorf zurückbringen. Das machte Awetik völlig wehrlos. Er sprach von nichts an340


deren։ als von dem Kind. Bisher hatte er geglaubt, daß sie das Kind verschleppen -wollten, damit im Dorf nichts bekannt würde, doch jetzt konnte er in dem, was sie taten, nichts Ungebührliches sehen, nichts, was Tadel, Protest, Klagen, Tränen hervorrufen müßte. Aber später begann er dann doch zu schimpfen. Er beschimpfte den, der vor zehn Jahren die Beine von sich gestreckt hatte, er verfluchte ihn als Lebenden und als Toten mitsamt seinem Grab und sagte, er wäre wie ein Blutegel, den man nicht wieder loswürde. „Weshalb klebt er nur an mir fest! Das ganze Leben hat er mir verpfuscht!“ Schließlich zeigte sich am Ende des Pfades eine von Steppengras überwucherte alte Stallruine. Awetik verstummte plötzlich und verlangsamte den Schritt. Sie mußten ihn weiterstoßen. Doch dann beschleunigte er den Schritt, ging so schnell, daß sie kaum mitkamen. Vor dem Stall blieb er stehen und sah keinen an. Sein Hals war nicht mehr so lang und dünn. Er blickte ins Leere. Seine Augen hatten die Farbe verändert, sein Mund war fest zusammengepreßt. Einer der Aserbaidshaner, dem graumelierte Stoppeln am breiten Kinn wuchsen, führte Mesrop beiseite und stellte sich so vor ihn hin, daß er den Vater und die beiden anderen Männer nicht sehen konnte. Er streichelte ihm den Kopf und fragte ihn, wie alt er sei, was er später werden wolle, ob sie daheim auch keine Not litten, und er riet ihm, Ingenieur zu werden. Dem Kind tat die Freundlichkeit des Mannes wohl, es lehnte den Kopf an seine Gürtelschnalle. Der Mann roch nach Milch und Wolle, der Geruch war dem Kind vertraut. Es spürte, daß hinter dem Mann etwas Schlimmes geschah, aber es wagte noch immer nicht, ihn um Hilfe zu 34 1


bitten und zu weinen. Dann hörte es ein Knacken, sah den Schafpelz des Vaters durch die Luft fliegen und den Vater mit einem Satz über die Brennesseln springen. Danach bewegte sich an mehreren Stellen das hohe Steppengras, schwankte hin und her, und zwei Schüsse krachten so rasch hintereinander, als wäre eine Kugel zweimal explodiert. An einer Stelle teilte sich das Gras, schlug wieder zusammen, schwankte noch ein wenig und stand dann still. Der Mann in den weichen Stiefeln zielte umständlich und schoß noch einmal in das Gras.

Danach nahmen sie den Schafpelz des Vaters und gingen den Pfad zurück. Der Schafhirt streichelte dem Jungen den Kopf. Der in den Stiefeln war blasser als zuvor. Er sagte etwas zu dem Hirten, worauf sich dessen Hand schwer auf den Nacken des Kindes legte. „Nein!“ versetzte der Hirt kopfschüttelnd. „Nein, nein, nein.“ Der mit den Stiefeln musterte das Kind. Es spürte den Blick im Nacken, wagte aber nicht aufzublicken und schmiegte sich nur an das Bein des Hirten. Das Pferd wartete, an den Strauch gebunden. Nun verlor das Kind doch die Beherrschung und brach in Tränen aus. „Weine nicht, Kleiner, sonst werde ich böse“, sagte 342


der in den Stiefeln, und dem Kind blieb vor Angst fast das Herz stehen. Der Hirt zog dem Pferd das Zaumzeug zurecht, führte es zur Straße zurück und gab dem Kind einen kleinen Stoß. „Geh! Nein, warte noch.“ Er band die Zügel am Sattel fest, so daß sich das Pferd nicht darin verheddern konnte. „Jetzt geh.“ Das Dorf erfuhr die Nachricht durch das Kind. Gleichzeitig übernahm es auch die Angst, die das Kind ausgestanden, und das Mitleid, das es für den Vater empfunden hatte. Das Kind verlor den Vater an das Dorf, es blieb nur Augenzeuge dessen, was geschehen war. Zuerst wurde es von den Erwachsenen immer wieder veranlaßt, Bericht zu erstatten. Dann, nachdem die Erwachsenen alles wußten, berichtete es seinen Altersgenossen. Und unter diesem unablässigen Berichterstatten wuchs es heran. Die drei Männer hatten etwas sehr Schlimmes getan. Sie hatten ein Kind in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, das nun buchstäblich keine Zeit mehr fand, in sich selber hineinzublikken. Manchmal sah es verschwommen den Vater vor sich, mit hängenden Schultern und langgestrecktem, magerem Hals, aber es empfand kein Mitleid für diese Gestalt. Es berichtete nur unablässig, immer wieder: „Und dann warf er den Schafpelz ab ... schleuderte ihn . . . und dann rannte er . . . und dann . . .“ 1932 war Mesrop dreiundzwanzig. Er galt als aufgeweckter Bursche. Mehrere Jahre zuvor, als die Studenten für die Universität ausgesucht wurden, hatte auch er die Zulassung erhalten. Aber er war unfähig zu studieren, denn pr war unfähig zuzuhören. Er glaubte, vieles selber zu wissen, und war der Meinung, daß er sich 343


in. der armenischen Geschichte ausgezeichnet auskenne: Die Türken waren Banditen, die Armenier fleißige Arbeitsleute. Zu Beginn des zweiten Studienjahres wurde er relegiert, was ihn in seinen eigenen Augen zum Helden machte. Auch fürs Dorf war er gänzlich ungeeignet. Er inszenierte Prügeleien, arbeitete nicht, war ausgesprochen faul. Manchmal griff er zum Buch, aber nur, um hinterher berichten zu können, was er gelesen hatte. 1932, als er dreiundzwanzig war, schloß unser Kolchos einen Vertrag mit den aserbaidshanischen Kolchosen, die im warmen Unterland wohnten, wonach sie unsere hochgelegenen Sommerweiden benutzen und wir unser Vieh während der Wintermonate bei ihnen einstellen durften. Nach Abschluß des Vertrags trieben die Aserbaidshaner nun zum erstenmal ihre Herden auf unsere Sommerweide. Lewon, der zu jener Zeit Vorsitzender des Dorfsowjets war, ließ zu beiden Seiten der Straße Masten aufstellen und rote Transparente daran befestigen, auf denen stand: „Herzlich willkommen, liebe Freunde!“ Neben den Transparenten postierte er die Kinder. Er gab sich die größte Mühe, die Gäste mit Musik zu empfangen. Aus den Nachbardörfern holte er die Schüler, die ein Blasinstrument spielen konnten, und dazu seinen lahmen Schwiegervater, unseren Dorfmusikanten, der dirigieren sollte. Das klappte auch, und somit kriegte er ein anständiges Orchester zusammen. Aber die Schafe machten ihm einen Strich durch die Rechnung, denn sie scheuten. Bei den ersten Trompetentönen drängte sich die Herde zusammen, drehte sich ein paarmal auf der Stelle, und dann ging sie durch. Lewon geriet mitten hinein, natürlich nicht rittlings. 344


sondern in einer weitaus unbequemeren Haltung. Die Schafe zerrten ihn fünfzig Meter weit auf ihren Rücken mit, dann beruhigte sich die verknäulte Herde, und Lewon fiel zu Boden. Er nahm an, daß der Mißton eines Trompeters schuld gewesen sei, da er aber nicht festzustellen vermochte, wer den Mißton geblasen hatte, befahl er dem Sohn eines Nichtsnutzes, mit dem Blasen aufzuhören. Denn er war der Meinung, daß der Sohn eines Nichtsnutzes auch ein nichtsnutziger Trompeter sein müsse. Als das nichts half, brachte er auch die übrigen Trompeter mitsamt dem Dirigenten zum Schweigen. Daraufhin trotteten die Schafe ruhig unter denTransparentenhindureh. Und während sie ohne weitere Zwischenfälle vorbeiströmten, schrie Lewon alle zwei Minuten die Losungen: „Es lebe die armenisch-aserbaidshanische Freundschaft in der ganzen Welt, sie lebe hoch!“ - „Es lebe unsere mächtige Rote Arbeiter-und-Bauern-Armee, sie lebe hoch!“ - „Es lebe Genosse Tuchatscliewski, er lebe hoch!“ „Hoch! Hoch!“ brüllten die Jungen Pioniere aus vollem Halse. Lewon war ein vorzüglicher Organisator, wahrhaftig. Besonders in den ersten Jahren leitete er den Kolchos vorbildlich, obgleich er Mesrops Altersgenosse war. „Mesrop“, sagte Lewon, „schwing dich in den Sattel und geleite unsere teuren Gäste zu den Weiden.“ Mesrop antwortete nicht. „Ich laß dir auch drei Arbeitseinheiten ansehreiben dafür“, erklärte Lewon. Mesrop antwortete wieder nicht. 34 5


„Ich würde ja selber mitreiten, aber ich muß zur Einweihung des Pferdestalls, deshalb sollst du als mein Stellvertreter mit, Mesrop.“ Doch Mesrop stand nicht mehr neben ihm und war auch in der Nähe nicht zu entdecken. In jenen stürmischen und arbeitsreichen Tagen hatte Lewon sich daran gewöhnt, daß jeder, den er brauchte, stets bei der Hand war und daß all seine wichtigen, ja unersetzlichen Anordnungen jederzeit sofort aufgegriffen wurden. „Warum bist du eigentlich so eigensinnig, Mesrop?“ fragte Lewon. „Mesrop!“ rief er ärgerlich. „Der Teufel soll dich holen!“ fluchte er und merkte dabei, daß niemand ihm zuhörte. Er ritt zu Mesrops Haus. „Wo steckt Mesrop?“ „Mesrop ist schon seit dem frühen Morgen unterwegs“, sagte Mesrops Mutter. „Zeig mir mal euer Gewehr.“ Die Mutter ging in die Stube, kam zurück und berichtete, daß das Gewehr nicht am Nagel hinge. „Verdammt!“ Lewon wendete sein Pferd und galoppierte auf dem kürzesten Wege, quer über Felder und Geröll, zum Wald. Fünf Minuten später war er schon am Hang. Das Pferd kletterte zwischen dem Gesträuch den Hang hinauf, aber auf halbem Wege saß Lewon ab, fesselte dem Pferd die Vorderbeine und rannte zu Fuß weiter, an den Boden geduckt. Hinter einem Felsblock saß Mesrop, das Gewehr auf den Knien, und drehte sich eine Zigarette. „Schämst du dich nicht?“ fragte Lewon. „Sitzt da und raucht!“ „Was ist los?“ Mesrop sah Lewon von unten herauf an. Lewon stand vor ihm, die Beine so weit gespreizt, 346


daß seine Reithose zu platzen drohte. Mesrop schoß einen kalten Blick unter den Brauen hervor, seine Augäpfel wirkten richtig blau, und die Finger, mit denen er die Zigarette drehte, waren vollkommen ruhig. „Du bist ja so ernst, Mesrop.“ Lewon lachte unwillkürlich auf. Mesrop fuhr mit der Zunge über das Papier, aber das Papier klebte nicht. „Hau ab, Lewon!“ sagte er. „Und was geschieht, wenn ich nicht abhaue?“ Lewon lächelte und merkte, daß er vor Angst lächelte. Mesrop griff nach dem Gewehr. „Ja hast du denn ganz und gar das Gewissen verloren?“ Lewon sprang zurück. „Brüll mich nicht an, hau ab.“ Lewon war sowieso drauf und dran, Reißaus zu nehmen, aber wer kannte sich in dem Dummkopf aus, vielleicht schoß er einem plötzlich in den Rücken. Übrigens hatte Lewon keinen ernsthaften Grund zur Angst. Er fürchtete sich vor Mesrop nur deshalb, weil der ein Gewehr in der Hand hielt und das Gewehr entsichert war. Vor langer Zeit, damals waren sie sechzehn und siebzehn, noch richtige Grünschnäbel, hatten sie auf der Straße, die in die Berge führte, die Frau des verrotteten Nikal angehalten und ihr vorgeschlagen, sie beide ranzulassen. Die Frau des verrotteten Nikal sah vom einen zum anderen, weiß vor Wut, und setzte ihren Weg fort. Sie aber rannten ihr nach und bettelten weiter, mit gereckten Hälsen, als hätten sie es auf ein paar Kartoffeln oder Äpfel oder ein Stück Brot abgesehen. 34 7


Zu guter Letzt setzte Nikals Frau ihren Sack zu Boden, griff sich Mesrop, haute ihm eine runter und schmiß nach Lewon, der die Flucht ergriffen hatte, einen Stein. Aber auch danach trotteten sie weiter hinter ihr her, flehten sie mit langgereckten Hälsen an, sie doch beide mal ranzulassen, und versprachen, daß sie ihr dafür den Sack nach Hause tragen, das Heu einbringen und den Boreh hüten würden. Lewon versprach sogar, nur gute Zeugnisse heimzubringen, und beteuerte, Nikals Hund sei das beste Tier der Welt. „Und was soll nun werden, Mesrop?“ Lewon wechselte die Haltung, weil ihm die Füße einschliefen. „Sie haben meinen Vater umgebracht, Lewon.“ „Das ist doch schon so lange her. Und jetzt haben wir ein neues Leben.“ „Geh, Lewon.“ Weil Lewon ihn wie seine Hosentasche kannte und auch, weil er doch etwas Eigenes haben wollte, das niemandem bekannt war, sprach Mesrop mit einer anderen Stimme als sonst und ohne zu lächeln. Auch den Rauch blies er anders aus, als es sonst in ihrem Dorf üblich war. Der Moment war gekommen, wo er seine Autorität heben konnte. Bisher hatte jeder Tag seines Lebens nur seinen Ruf als arbeitsscheuer Schwätzer bestätigt, der seine Mutter um Geld für Tabak anbettelte. Bislang hatte er bloß geschwätzt, und jeder erste beste hatte ihm den Mund verbieten können. Er stand auf, hüllte sich in seinen Mantel und füllte das ganze All mit seiner Person. „Hau ab, sonst kannst du was erleben!“ Fluchend stieß er mit dem Gewehrkolben gegen Lewons Knie. „Ich hab schon genug Kontrolleure über mir, da 343


kommst du auch noch daher! Setzt sich aufs hohe Pferd und will kommandieren.“ Und er fluchte noch einmal. Aber Lewon war schon gegangen. Die Flüche kränkten ihn nicht - immerhin hatte der Mann seinen Vater verloren, auch sein Selbstgefühl war durchaus nicht verletzt — Mesrop hatte ein Gewehr und er selber nur eine Peitsche. Trotzdem gab es etwas, das ihm verbot, unverrichteterdinge abzuziehen: Er schämte sich. Er schämte sich dermaßen, daß er sich sogar vor seinem eigenen Pferd zu schämen begann. Und hin und her gerissen zwischen klaren und verschwommenen Überlegungen, die ihm durch den Kopf gingen, blieb er stehen. Dann machte er plötzlich kehrt, lief zurück, lautlos und geschmeidig, und baute sich vor Mesrop auf. Das geschah ganz von selbst. Allerdings betonte Lewon, wenn er später davon erzählte, daß er zuvor einen klaren Entschluß gefaßt hätte und dann erst umgekehrt wäre und sich vor Mesrop aufgebaut hätte. Aber das stimmte nicht. Wie jeder Mensch, lebte auch Lewon in dem Glauben, daß seine Taten die Folge seiner Überlegungen wären. Als Lewon immer noch zu laufen glaubte, stand er schon vor dem Felsblock. Das Weitere entwickelte sich sehr rasch und auch ganz von selber. Nach zwei Minuten waren Mesrops Arme nach hinten gedreht und auf dem Rücken gefesselt, hatte Lewon ein zerrissenes Hemd und eine verletzte Schulter. Doch das alles war so blitzschnell vorüber, daß Lewons Hemd noch nicht einmal blutgetränkt war. Lewons Augenlid schwoll an, färbte sich blau und verengte den Sehschlitz, und sein Knie ließ sich nicht so mühelos biegen wie sonst. Er hielt das Gewehr in der Hand, der Lauf schrammte hin und wieder über Mesrops Rücken, und er hielt beim 23 Matewosjan/Schelm

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Gehen mit der linken Hand seine Hose fest. Er staunte über sich selber, daß es ihm gelungen war, so rasch Mesrop die Arme nach hinten zu drehen, sie mit der einen Hand festzuhalten, sich mit der anderen den Ledergürtel abzuschnallen und Mesrop zu fesseln, außerdem dermaßen gut zu fesseln. Lewon staunte, und sein Erstaunen wuchs und wuchs, und nach einigen Jahren war nur das Erstaunen übriggeblieben, während er den Zwischenfall vergessen hatte. Ja, nach einigen Jahren hielt er seine Tat für außerordentlich wichtig und bedeutsam, sie machte ihn in seinen Augen ebenfalls wichtig und bedeutsam, und rückwirkend bekam er Angst vor sich selber, er rieb sich das Knie und dachte, was für eine Dummheit es doch gewesen war, sein Leben einer derartigen Gefahr auszusetzen. Ich hätte ein paar junge Burschen hinschicken sollen, die hätten ihn festnehmen und verprügeln können. Jetzt, als ihm die Hände gefesselt waren und die rechte Hand wie Feuer brannte und stach, als ihm der Gewehrlauf hin und wieder über den Rücken schrammte, immer über dieselbe Stelle, redete Mesrop sich ein, daß er den Gedanken an Rache schon jahrelang mit sich herumgetragen hätte und daß nun, da die Zeit da war, seine Gefühle auf die niedrigste, undankbarste Art verletzt würden. Er tat sich so leid, daß er zu weinen begann. Die leichte Berührung der Tränen, die ihm über die Wangen liefen, tat ihm wohl, und er weinte weiter. Ein Dummkopf gab einem anderen Dummkopf an irgend etwas die Schuld, der zweite Dummkopf nahm die Schuld mit Freuden auf sich, denn er war bisher ein Nichts gewesen und wollte doch gern etwas sein. Der Zufall hatte zwei nichtige Menschen zusammengeführt, den einen in der Rolle des 350


Verhaftenden und den anderen in der Rolle des Verhafteten, und nun dachten beide: Einer von uns ist der Verhaftende, und der andere ist der Verhaftete. Es war ein angenehmer Gedanke, daß sie noch gestern hinter dem Rock von Nikals Frau hergelaufen und heute schon Ideenträger waren. Die Hand schmerzte, alles Blut schien sich in der unglückseligen Hand sammeln und gleich durch die Haut sprühen zu wollen, die dünn wie Spinnweb geworden war. Mesrop blieb stehen. Lewon stieß ihn mit dem Gewehr, und Mesrop stieß mit dem Rücken das Gewehr zurück, damit der Lauf ihm noch schmerzhafter den Rücken zerschrammte. Den Rücken eines Märtyrers. Er wandte sich nach Lewon um und sagte: „Sie haben meinen Vater umgebracht, Lewon.“ Lewon widerstrebte es, das Problem so einseitig zu sehen, er stieß Mesrop nochmals mit dem Gewehr und antwortete: „Geh, geh, du Hundesohn, du verdammter Nationalist.“ Und Mesrop merkte, daß es ihm ebenfalls widerstrebte, alles auf den Vater zu beschränken. „Sie haben unsere frühere Hauptstadt Ani zerstört“, sagte er. Ringsum ragten die Berge, in der Schlucht weideten die Schafe. Lewon und Mesrop stiegen den Hang hinab, von dort mußten sie zu der Anhöhe, wo Lewon sein Pferd gelassen hatte. Unter ihnen lag das Tal mit seinen Mohnfeldem und über ihnen, in Höhe der Berggipfel, zog ein Habicht seine Kreise. Sie fühlten sich wie neugeboren, ähnlich wie damals, als der erste Traktor ins Dorf gekommen war. „Und ich sage dir, du Nationalist, daß die andern wirklich keine Nationalisten sind! Sie haben weder 351


Hörner nodr Schwanz, sind ebensolche Mensdren wie wir!“ Aus dem Wäldchen tauchten die aserbaidshanischen Hirten mit ihren Schafherden auf. Lewon blieb stehen, und als man sie bemerkte, trat er einen Schritt von dem Gefesselten weg und schrie die Losung: „Es lebe der erwachende Osten in der ganzen Welt!“ Mesrop runzelte die Stirn, schob das Kinn vor und ging seinen Feinden entgegen. Er hatte die Absicht, in stolzer Verachtung an ihnen vorüberzuschreiten, doch daraus wurde nichts. Er und Lewon wurden von den aufgeregt durcheinanderredenden Aserbaidshanern umringt. Sie untersuchten Mesrops Hand, stellten fest, daß sämtliche Fingergelenke ausgekugelt waren, und forderten ihn auf, sich auf den trockenen Boden zu legen. Drei Mann setzten sich rittlings auf ihn, um zu verhindern, daß er sich bewegte und die Sache störte, und eine stämmige alte Frau mit listigen Augen nahm seine Hand in beide Hände. „Äh, das ist ’ne Arbeit für mehr als einen Tag!“ sagte sie und drehte mit aller Kraft an Mesrops Daumen. Sie zog, drehte, zog. Und als sie sah, daß sein Daumen doppelt ausgekugelt war, meinte sie kopfschüttelnd: „Seid ihr denn kleine Jungs? Was habt ihr euch dabei gedacht, he?“ Zu guter Letzt konnte die Alte sich nicht enthalten, nach Männerart auf Lewon zu fluchen. Sie probierte, ob der kleine Finger wieder richtig saß, stand auf und schleuderte Lewon noch einmal ins Gesicht: „Trottel!“ Auf Mesrops Gesicht trockneten die Tränen, und wortlos, mit leerem Kopf, sah er seinen Schmerzen zu. Er empfand keine Abneigung gegen die alte Frau und 352


die Männer, die auf ihm gesessen hatten und nun in einiger Entfernung rauchend zusammenstanden. Wie zwei geschlagene Hunde, zwei besiegte Feldherren verschwanden Mesrop und Lewon im Wald, das Pferd und das Gewehr hinter sich herschleifend. Plaudernd traten sie aus dem Wald und stiegen ins Dorf hinab. Sie plauderten über dies und jenes, über Pferde und Hufeisen, Eggen und Mist, über Simons Esel, der schon seit drei Jahren im Sterben lag und doch nicht starb, arbeitete und doch nicht arbeitete und bloß noch schrie. Den Esel sollte doch .. . Im Jahre 1937 waren sie siebenundzwanzig und achtundzwanzig. In diesem Alter stellt man eigentlich schon etwas vor. Aber Lewon hegte und pflegte immer noch den Gedanken der Völkerfreundschaft, und Mesrop brubbelte weiter: „Die Armenier ... Nairi ... A n i . . .“ Er prägte sich Jahreszahlen und Daten ein, käute sie unablässig wieder und verwandelte sie dadurch in die Geschichte Armeniens. Lewon sah dem mißtrauisch zu und sagte sich, daß er wachsam sein müsse. Er verbarg diese Einstellung auch vor Mesrop nicht und hielt sich im stillen für äußeret scharfsichtig. Er trennte sich nicht von seiner Wachsamkeit, und Mesrop trennte sich nicht von seinem „Leo“. Beide waren restlos miteinander zufrieden, denn jeder rechtfertigte die Existenz des anderen. Dann führte Lewon eines Nachts, damit keine Panik im Dorf entstand, drei Mitarbeiter der Staatssicherheit zu Mesrop. Auf seinen Vorschlag wurde die Sache konspirativ behandelt: Die drei sollten sich hinter der Tür verstecken, während er klopfen wollte. Um Mesrops Hund abzulenken, briet er eigenhändig Filzstücke in öl, und der arme Köter kaute unablässig, ohne mit dem Filz fertig zu werden. Die ganze Nacht

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hindurch und auch am folgenden Tag, als Mesrop schon abgeführt war und er wieder hätte bellen können, kaute der Hund noch an dem ölgetränkten Filz. Kurz, es gelang damals nur, den Hund zu übertölpeln, Mesrop schlief nicht, er hatte auf sie gewartet und dabei in seinem „Leo“ gelesen. „Ich bin’s, Mesrop! Wo hast du das Tragjoch gelassen, ich kann’s nicht finden!“ „Das Joch hab ich um den Hals, Lewon“, antwortete Mesrop mit der dröhnenden Stimme des armenischen Mannes. „Du willst meinen Hals, Lewon, und den hab ich bei mir. Komm herein.“ Er öffnete das Fenster und schob das Gewehr hinaus. „Ist ein Türke unter euch, Jungs?“ Nein, gaben sie Auskunft, unter ihnen seien keine Türken, sie seien alle Armenier. „Na, wenn ihr Armenier seid, dann kommt rein, meine Lieben.“ Mesrop zog das Gewehr zurück. „Wollt ihr Schnaps trinken, Jungs, oder lieber Wein?“ Doch sie suchten etwas anderes, ihnen war nicht nach Schnaps oder Wein zumute. Sie suchten etwas anderes, fanden es aber nicht, denn es war nicht vorhanden. Vorhanden waren nur „Leo“, das Arbeitsbuch und Mesrop, der am Tisch saß und gelassen mit den Augen zwinkerte. „Was sucht ihr, Kinderchen, alles liegt vor eurer Nase, ich hab nichts zu verbergen. Türken gibt’s nicht unter uns, worum geht’s also?“ „Sag mal, wo hast du deinen Säbel versteckt?“ fragte Lewon spöttisch, und da wurden die drei aufmerksam. Denn ein Gewehr war nichts Besonderes, ein Gewehr hatten viele, sie gingen damit auf Hasen- oder Reb354


huhnjagd. Doch ein Säbel war eine ernst zu nehmende Sache, seine bloße Erwähnung rief in allen fünf Männern vage Assoziationen hervor. Mit dem Säbel hatten die Kosaken gegen die Roten gekämpft, mit dem Säbel hatte Tschapajew den Feinden der Revolution Angst und Schrecken eingejagt. Ja, der Säbel war für sie eine ernst zu nehmende Sache, zumal der an der Wand hängende Filzumhang ebenfalls an Tschapajew erinnerte. „Einen Säbel, sagst du? Wo ist er?“ Sie kehrten im ganzen Haus das Unterste zuoberst. Auch Mesrop beteiligte sich an der Suche. Sie klopften die Wände und Balken nach versteckten Waffen ah. Die Balken waren nicht hohl, der Säbel war ums Verrecken nicht zu finden. Der Schweiß floß in Strömen — der Säbel war nicht da. Sie wußten schon nicht mehr, was sie tun sollten, und blieben hilflos mitten in der Stube stehen. Da nahm Lewon Mesrop beiseite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er dachte dabei nicht mehr an Begriffe wie Konspiration, Panik oder Weltrevolution, er war nur noch niedergeschlagen, nur noch ein ganz gewöhnlicher Bauersmann. Er genierte sich, schämte sich wie ein Hausherr, der einen teuren Gast empfängt, aber nichts hat, womit er ihn bewirten könnte. Mesrop hörte zu und sagte immer wieder: „Ja, ja! Gut! Ja, ja, ja. Hm.“ Und die drei hörten zu. Das war die Antwort auf Lewons Worte: „Es ist doch peinlich, die Leute kommen vom Gebiet, wir können sie nicht mit leeren Händen abziehen lassen, das wäre eine Blamage. Sogar ein Leutnant ist dabei, der junge da, das ist ein Leutnant.“ „Ja, ja, ja!“ hatte Mesrop geantwortet. Der Säbel fand sich im Keller, zwischen den Kohl355


köpfen. Unschuldig lag er auf dem Boden, als wäre er überhaupt kein Säbel. Er war schon verrostet. Jemand hatte Kohlköpfe damit geschnitten, ihn nach der Arbeit liegengelassen und vergessen. „Es steht dir überhaupt nicht zu, einen Säbel in die Hand zu nehmen“, schnauzte Mesrop seine Frau an. „Hast du keinen Respekt vor einer Waffe, du dumme Gans?“ Er reinigte und putzte den Säbel, steckte ihn in die Scheide und verwandelte ihn dadurch aus einem verrosteten Kohlschneider in eine richtige Waffe, um wenigstens einen Indizienbeweis für seine Schuld zu schaffen. Damit erreichte er, daß Lewon hinterher noch lange Zeit erzählen konnte: „Im Verlauf meines gesamten bewußten Lebens entwickelte ich große Aktivität. Jawohl. Was hat unsereins nicht alles erlebt — Sabotage, Banditentum und Nationalismus. Ach, Kinderchen, glaubt ihr etwa, dieses Leben ist uns in den Schoß gefallen?“ Es tat wohl, anstelle der gewohnten Alltagswörter wie Harke, Dill, Mahd, Hanf, Trockenmist Ausdrücke wie „Aktivität“, „im Verlauf meines gesamten bewußten Lebens“ und andere nagelneue Wörter zu benutzen, die eben erst entstanden und in Umlauf gekommen waren. Allerdings hätte Lewon sich am liebsten versprochen und statt „Nationalismus“ „Mesropismus“ gesagt. Mesrop war nicht benachteiligt. Nach seiner Rückkehr ins Dorf lief er zwar ein paar Tage schweigsam herum, aber dann legte er los: „Habt ihr schon gehört, Lewon ist entlarvt worden!“ Das sollte heißen: Berija ist entlarvt worden. Oder: „Habt ihr schon gehört, Lewon wurde verhaftet.“ Oder: „Lewon wurde verur356


teilt.“ Und so weiter. Er fiel allen schrecklich auf die Nerven, niemand konnte sich ein Lächeln abringen bei seinen Witzen. Schließlich wurden beide auf die Farm geschickt. „Schluß mit dem dummen Geschwätz, macht euch an die Arbeit“, sagte man ihnen. Von der Arbeit auf der Farm abgesehen, waren beide mit ihrem vergangenen Leben zufrieden. Der eine trug die Tatsache seiner Verhaftung wie einen Orden mit sich herum, der andere hielt sämtliche Errungenschaften des Sozialismus für seine persönliche Leistung. Mesrop war der Meinung, daß seine Wahrheit die Oberhand gewonnen hätte, „Dreck läßt sich nicht mit Schnee zudecken! Schreiben wir nun an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Moskau, Kreml?“ Alle nahmen ihn wichtig, das war des Pudels Kern. Lewon ebenso wie die Organe der Staatssicherheit, die Kommission zur Rehabilitierung unschuldig Verurteilter, der Hirt, der ihm vor der Stallruine den Kopf gestreichelt, und der Schnitter, der ihn versohlt hatte, als er mit dem Gewehr auf die Aserbaidshaner losgegangen war. Eben alle. Man hätte ihn einfach links liegenlassen müssen, aber er wurde entweder ermutigt oder verurteilt. Selbst ein Bär war sich nicht zu schade, eine Art von Kontakt mit Mesrop aufzunehmen. Er vergaß sein Zentnergewicht und bändelte mit dem dürren, klapprigen alten Mann an. Der alte Mann kannte Jerewan, war durch die Straßen gegangen und hatte das Warenhaus besucht, er erinnerte sich an den Titelkopf einer französischen Zeitung, benutzte die Wörter „Atom357


bombe“, „Weltkrieg“, „Afrika“, „Nero“, und der Bär kam ihm wie ein Spielzeug aus seiner Kinderzeit vor. Der Bär war für ihn lächerlich und irreal, ähnlich wie das grüne Ungeheuer aus dem Märchen. Lewon berichtete ihm, daß sich auf den Feldern ein Bär gezeigt habe. „Lad dein Gewehr mit Kugeln“, sagte er, „mit Schrot kannst du nichts gegen ihn ausrichten.“ „Kugeln machen das Fell kaputt“, widersprach Mesrop. „Deine Sache“, sagte Lewon. Der Herbst rückte heran. Durch die Waldfeuchtigkeit war es kühl, und die Sonne wärmte angenehm. Purpurnes Laub sank auf die Erde, und die Quellen verstummten unter der dicken Blätterschicht. Das Wasser sammelte sich auf dem Moos und rann in dicken Tropfen herab. Die bemoosten Felsblöcke sahen so zornig aus wie barbarische Vorfahren. Zwei nebeneinanderstehende Buchen schurrten mit den Zweigen gegeneinander, das machte nervös. Über den Bäumen kreiste ein Kiebitz, flog davon, kam wieder. Siebenmal legte Mesrop auf ihn an, drückte aber nicht ab. Wald bleibt Wald, und auch, wenn du mit Kanonen ballerst, kannst du ihn nicht mit dir ausfüllen. Mesrop saß in einem fremden Haus. Er aß Brombeeren und sagte sich, daß er im Wald sei und Brombeeren esse. Und daß er ruhig sei, ganz ruhig. Ich bin beim Bären zu Besuch und esse Brombeeren! sagte sich sein Bewußtsein, aber etwas flüsterte ihm zu, nein, das sei nicht wahr. Mesrop fiel ein, daß in der Nähe der Baum stehen müßte, in den sie ihre Namen eingeritzt hatten, er, Andro, Gikor und Hamajak. „Schweine gehütet am 25. 5. 22.“ Er wünschte, daß sich das Unterholz mit den Rufen, den 358


Geräuschen jenes Tages füllen würde, mit dem Knistern des Lagerfeuers, ihrem dummen Gelächter und ihren plumpen Witzen. „Ach, schöne Zeiten waren das!“ seufzte Mesrop, aber in Wirklichkeit hatte er nur Sehnsucht nach einer menschlichen Stimme. Sein Riikken erstarrte, das Haar sträubte sich ihm und lüftete die Mütze. „Politökonomie!“ sagte er laut. „Nordpol. Südpol.“ An seinem Ellenbogen fühlte er den harten Gewehrkolben. Er sagte sich, daß er nicht die Spur Angst hätte, und konstatierte lächelnd, daß die Brombeeren gut schmeckten. Der Wald wurde still. Unbeweglich standen die Buchen, der Kiebitz setzte sich auf einen umgestürzten Baum und drehte den Kopf nach allen Seiten. Irgendwer stand mit angehaltenem Atem in der Nähe, aber Mesrop konnte nicht den Entschluß fassen, sich umzublicken und nachzusehen, wer es w a r. . . Das Blut rauschte ihm in den Ohren, ein Schweißtropfen rann ihm über die Schläfe. Der Bär. Er stand neben dem umgestürzten Baum. Mesrop sah ihn, aber er konnte ihn nicht von der Buche unterscheiden. Die ganze Buche war der Bär, der ganze Wald war der Bär. Mesrops Muskeln spannten sich und erschlafften. Der Schweiß trocknete. Für einen Augenblick bildete sich Mesrop ein, sein alter Großvater stände dort neben der Buche, und wenn er ihn höflich um Verzeihung bäte, ginge alles glatt. „Beim heiligen Kreuz, ich lüge nicht!“ erzählte mir Mesrop, im Bett liegend. „Ich erinnere mich, daß ich das Gewehr wegwarf und lachend sagte: ,Es ist mit Schrot geladen, du brauchst keine Angst zu haben! Ich geh gleich, ich hab bloß ein paar kleine Brombeeren 35 9


bei dir gegessen, aber gleich geh ich.‘ Hast du schon mal einen Bären gesehen?“ „Nein.“ „Wie ein Hund sieht er aus, Hrant. Haargenau wie ein Hund. Er riß den Rachen auf, brummte und stapfte auf mich los. Seine Zunge war rot und schmal, eine Hundezunge. Er winselte. Und auf dem Bauch glänzte sein Fell rötlich.“ Da spürte Mesrop, daß er wütend wurde. Und daß er den Bären besiegen mußte und nicht der Bär ihn. „Warum ich wütend wurde? Ja, weil das Vieh auf mich losging, ohne auch nur zu überlegen. Das hat mir noch gefehlt, dachte ich. Ich weiß nicht, wie es kam, jedenfalls hielt ich das Gewehr plötzlich wieder in der Hand, holte aus und haute ihm aus Leibeskräften den Kolben über den Schädel. Das Gewehr ging zu Bruch, der Bär setzte sich auf die Hinterpfoten und jaulte. Ich versuchte, ihm den Lauf in den Rachen zu stoßen, aber er spie ihn aus und ging wieder auf mich los. Ich fühlte, daß er auf mich eindrosch, daß er mich in Fetzen reißen würde. Schmerzen spürte ich nicht, mir wurde nur heiß, ich hörte es knirschen, und irgendwas stank mordsmäßig. Ich erinnere mich noch, daß ich ihm in die Hoden greifen wollte, aber vergebens. Es war meine letzte Hoffnung. Ich tastete ihn ab, aber sie waren einfach nicht vorhanden. Es hat doch schon viele Fälle gegeben, wo Menschen sich auf diese Weise gerettet haben. Man braucht die Dinger nur zu packen und nicht wieder loszulassen, dann verreckt er. Ja. Aber bei meinem Bären waren keine dran. Was sagst du, bin ich nicht ein Pechvogel? Ich hab eben kein Glück, ich krieg es nie zu fassen.“ „Und wie ging es weiter?“ 36 0


„Daran kann ich midi nicht erinnern, Hrant, die Hunde haben mir wohl das Lehen gerettet.“ „Na schön, aber wieso fehlten dem Bären die Dinger, von denen du gesprochen hast?“ „Wahrscheinlich war es ein Weibchen. Siehst du, so geht das zu, die Welt ist voll von Jägern und Bären. Begegnet ein Jäger einem Bären, dann schießt er, und der Bär stürzt zu Boden, oder, wenn er nur verwundet ist, geht er auf den Jäger los. Alle Bären kann man mit dem ersten Schuß töten, mir aber begegnet einer, wenn ich die Flinte nur mit Schrot geladen hab. Und obendrein erweist er sich als Weibchen. Das ganze Leben war es so mit mir.“ Ungefähr seit einem Monat lag Mesrop im Kreiskrankenhaus. Er war schon fast gehfähig. Während der ganzen Zeit hatte er nachgedacht und auch seine Schlußfolgerungen gezogen. Und nun suchte er nach einem Gesprächspartner. Aber die Dorfbewohner lachten nur über seine Jagdabenteuer und winkten ah, wenn er zu philosophieren begann. Er lag da, den Finger auf einer Buchseite, blickte zur Dedke empor und schien dort zu lesen: „Ein halbes Jahrhundert lebe ich nun schon auf der Welt, aber nur hei der Jagd sind mir Erkenntnisse gekommen! Wodurch ist ein Bär stark? Weil er der Wald, weil er ein Teil des Waldes ist. Und weil der Wald ein Teil des Bären ist. Dabei läßt sich nicht ausmachen, wo der Wald aufhört und der Bär anfängt. Ich wollte weglaufen, aber das Gebüsch behinderte mich. Der Kiebitz hat von dem Bären gewußt, eine ganze Stunde lang hat er mir blauen Dunst vorgemacht. Kapierst du?“ „Ja“, sagte ich. „Daraus ergibt sich: Wer stark ist, der ist unser Feind.“ 361


„Du bist im Irrtum.“ Mesrop war befriedigt, daß er jemanden in eine Unterhaltung verwickelt, das heißt, daß er ihn in Gewässer gelockt hatte, in denen er, wie er glaubte, mühelos und meisterhaft herumschwimmen konnte. Kopfschüttelnd, ohne seinen Gesprächspartner oder sonst jemanden wahrzunehmen, verwehrte er mit erhobenem Zeigefinger aller Welt den Eintritt in sein Reich, während er die letzten unbedeutenden, aber unbedingt notwendigen Definitionen vornahm. „Du hast nicht recht, in Wirklichkeit ist es so: Wer ein Bär ist, der ist stark. Das heißt, man muß einen eigenen Wald haben. Lewon beispielsweise, der hat einen Wald, deshalb ist er stark. Und ich hab keinen Wald und hab auch niemals einen gehabt.“ „Paß du auf deine Pferde auf, gib dir Mühe, Verluste zu vermeiden, dann verdienst du anständig, und wir werden sehen, ob du dann überhaupt noch einen Wald brauchst“, sagte ich. „Weißt du, ein Fünfzigjähriger müßte eigentlich weise sein, aber du bist ein Klugschwätzer.“ „Nein!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, wenn du alt bist, wirst du das begreifen. Der Mensch muß von irgendwas leben auf dieser Welt. Brot? Du säst Korn, erntest Korn, na und? Der Bär sammelt Eicheln und frißt sie. Der Hund sucht sich Knochen und nagt sie ab. Und Mesrop bewacht die Pferde. Der Bär braucht Eicheln zum Leben, und Mesrop braucht Korn. Beide müssen satt werden. Na, wie gefällt dir das?“ Er hatte einen Pfad betreten, der niemals enden würde, der ihn zu allen Wundern des Waldes führte, zu Bären und Buchen, zu Habicht und Hirsch, dorthin, wo die Felsblöcke mit Moos bewachsen sind und un362


seren Vorfahren ähneln, wo der Bär auf einem zersplitterten Baumstumpf ein Lied spielt, wo Blitze Brände auslösen und Regengüsse sie löschen. Der Bach verbirgt die Spur des Wolfs, lautlos umschleicht der Wolf den Hirsch, aber ein trockener Birkenzweig sieht denVerrat und bricht, und der Wolf nimmt erschrocken Reißaus. Dichter Schnee senkt sich über den Wald, und im Traum erfindet der Wald das Märchen vom kommenden Jahr, das mit dem ersten Kuckucksruf beginnt und mit dem Brombeeren suchenden Bären und dem unruhigen Wachschlaf des Hasen endet. Für Mesrops letzten Feldzug gegen die Aserbaidshaner gab es keinen besonderen Anlaß. Er nahm die Flinte, reinigte sie, lud sie und brach auf. „Vielleicht muß ich schon heut oder morgen diese Welt verlassen, was sag ich dann Awetik?“ ln der Schlucht half Lewon den Hirten gerade, die Schafe zu baden. Als er von Mesrops Aufbruch erfuhr, ließ er die Hirten im Stich und rannte den Berg hinauf zu den Zelten. „Fesselt den Verrückten! Fesselt den Verrückten!“ schrie er in einem fort. Doch oben auf der Weide waren nur Frauen. Niemand stürzte hinter Mesrop her und fesselte ihn. Er erklomm den Hang und stieg auf der anderen Seite zum Lager der Aserbaidshaner hinunter. Niemand erwartete ihn dort. Das einzig Bemerkenswerte war wieder der Zweikampf zwischen dem Rassestier und dem einheimischen Stier. Aber inzwischen hatten die aserbaidshanischen Hirten dem einheimischen die Hörner gestutzt, so daß er den Rassestier nicht mehr verletzen konnte, und letzterer vermochte trotz seiner überlegenen Statur nichts gegen den einheimischen auszurichten, weil der feurig und draufgängerisch war. Ihre 363


Kräfte standen jetzt eins zu eins, aber Mesrop ging trotzdem hin und trennte sie. Anschließend setzte er sich, rauchte eine Zigarette, dann stand er auf und machte sich auf den Heimweg. Die aserbaidshanischen Hirten lachten hinter ihm her. „Der Pferdehirt wollte wohl wieder mal unsere Melonen kosten.“ Mesrop ist immer noch am Lehen, er macht eine Dummheit nach der anderen, treibt sich monatelang mit der Axt im Wald herum. Er reinigt Quellen, fertigt Becher aus Lindenrinde und läßt sie an den Quellen zurück. Auf den Felsblöcken über den Quellen schneidet er ins Moos: „Mesrop К. XX. Jh.“, was heißt: „Mesrop Kasarjan, zwanzigstes Jahrhundert.“ Wer braucht denn deine Becher aus Lindenrinde, wie viele Tage werden sie sich überhaupt halten? Wie viele Jahre werden deine Moosbotschaften bestehen, und wem sind sie von Nutzen? Kannst du mir das um Gottes willen sagen? Lewon ist auch noch am Leben. Den Zeitungskorrespondenten, die ins Dorf kommen, erzählt er: „In den zwanziger und dreißiger Jahren habe ich eine starke Aktivität entwickelt. Eine sehr starke Aktivität. Wenn ich zurückdenke, muß ich selber staunen, daß ein Mensch so viel leisten kann.“ Und über Mesrop sagt er: „Er ist kein schlechter Mensch, aber er erkennt niemals seinen Vorteil. Der Stier geht mit den Hörnern auf ihn los, das Pferd schlägt nach ihm aus. Der Dummkopf begreift nicht, daß Pferde keine Hörner besitzen und man sich ihnen demnach von vorn nähern muß, der Stier hingegen hinten nicht ausschlagen kann, weshalb man von hinten an ihn herantreten sollte. Das ist ein Gesetz, dem man sich zu fügen hat.“ 36 4


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Hrant Matewosjan

Das Schelmenstiick der Hammeldiebe Verlag Kultur und Fortschritt Berlin 1969


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