1UP Oktober 2013

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ICF Basel Magazin Issue N°8 — Oktober 2013

Bibelwochen


Editorial Wer will weiterkommen?


Wenn du in zehn Jahren auf dein Leben zurückschaust – willst du dann sagen können: Ich bin wirklich weitergekommen? Willst du feststellen können, dass deine Liebe zu Gott und zu den Menschen in den vergangenen Jahren zugenommen hat, dass du, wie man so schön sagt, »geistlich gewachsen« bist? Ob das in zehn Jahren tatsächlich der Fall ist, ist keine Sache des Zufalls. Niemand wacht eines Morgens auf, schaut in den Spiegel und ist überrascht, wie sehr er über Nacht geistlich gewachsen ist. Nein: Persönliche Veränderung passiert uns nicht einfach so, sie springt uns nicht von der Seite an. Sie ist das Ergebnis eines Lebens, das sich der Gegenwart Gottes bewusst und regelmässig aussetzt. Und dafür kannst du etwas tun. Eine der bekanntesten und grössten Gemeinden in den USA, die »Willow Creek Church« in der Nähe von Chicago, hat vor einigen Jahren eine aufwändige Untersuchung zum geistlichen Wachstum ihrer Besucher gemacht. Über 10'000 Menschen wurden dazu ausführlich befragt. Die Leitung der Kirche hat keine Kosten und Mühen gescheut, um herauszufinden, welche Faktoren am meisten zum geistlichen Wachstum beitragen – sie wollten unbedingt wissen: Wie können wir Menschen noch besser helfen, persönlich weiterzukommen. Die Ergebnisse dieser Studie wurden in zwei Büchern veröffentlicht (auf Deutsch erschienen unter den Titeln: »Prüfen. Aufrüttelnde Erkenntnisse der REVEAL-Studie über Gemeindeleben und geistliches Wachstum«, sowie: »Wachsen. Praktische Folgen der REVEAL-Studie«). Für alle, die keine Zeit haben, diese Bü-

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cher zu lesen, will ich das bahnbrechendste Resultat gratis und franko präsentieren: Greg Hawkins, der Leiter des Projektes, stellt in der Auswertung der Studie unumwunden fest:

»Gleichgültig, wie wir die Daten auch auswerteten, es kam dasselbe Ergebnis heraus: Zeit mit Bibellesen zu verbringen ist die geistliche Übung, die den grössten Einfluss hat. Die Bibel ist der massgeblichste Katalysator für geistliches Wachstum.« [Buch »Wachsen«, Seite 139-140.] Und noch einmal: »’Nachdenken über die Bibel’ hat viel mehr Einfluss auf geistliches Wachstum als jede andere persönlich praktizierte geistliche Übung.« [Buch »Wachsen«, Seite 52.] Was in der Studie unter dem Begriff »Nachdenken über die Bibel« verstanden wird, erklärt Hawkins dann folgendermassen: »Nachdenken über die Bibel impliziert einen kontemplativen Prozess, den der aufmerksamen und sorgfältigen Überlegung. Bei dieser Übung des Nachdenkens über die Bedeutung der Bibel für mein Leben geht es darum, das Wort Gottes als Spiegel zu verwenden, der die Wahrheit der Bibel auf das Handeln, die Entscheidungen und die Ereignisse des eigenen Alltags wirft. Dabei geht es nicht darum, einen


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Bibelabschnitt oder eine Andacht mechanisch zu überfliegen. Es ist vielmehr eine starke Erfahrung persönlicher Meditation, die geistliches Wachstum fördert, und zwar von Beginn des geistlichen Weges an.« [Buch »Wachsen«, Seite 140.] Wer persönlich weiterkommen will, braucht also nicht auf eine glückliche Fügung des Schicksals zu warten. Er kann ein Buch aufschlagen – DAS Buch, in dem Gott sich selbst uns zeigt. Der Umgang mit Gottes Wort scheint uns auf eine geheimnisvolle Weise mit seinem Urheber in Berührung zu bringen, und unser Leben wird nicht dasselbe bleiben… Manche Christen haben sich über die Studie lustig gemacht oder sogar aufgeregt: Warum gibt eine Gemeinde ein Vermögen aus und investiert Tausende von Stunden in eine Umfrage, nur um herauszufinden, was sie auch ohne Umfrage hätte wissen können – nämlich, dass die Bibel eine Schlüsselrolle für geistliches Wachstum spielt? Das hat doch schon Paulus längst und unmissverständlich klargemacht, wenn er Timotheus erklärt: »Die ganze Heilige Schrift ist von Gottes Geist eingegeben. Sie lehrt uns, die Wahrheit zu erkennen, unsere Schuld einzusehen, uns von Grund auf zu ändern und so zu leben, daß wir vor Gott bestehen können. Sein Wort zeigt uns, wie wir als veränderte Menschen fähig werden, in jeder Beziehung Gutes zu tun.« (2. Timotheus 3,16-17) Gottes Wort trägt die Kraft in sich, uns mit Gott in Verbindung zu bringen und unser Leben fundamental zu verändern! Es gibt kein geistliches Wachstum an der Bibel vorbei – darum hält auch Petrus in seinem ersten Brief fest:

»Genauso, wie ein neugeborenes Kind auf Muttermilch begierig ist, sollt ihr auf Gottes Wort begierig sein. Dann werdet ihr im Glauben wachsen und das Ziel erreichen.« (1. Petrus 2,2) Okay, um das zu sehen, war wirklich keine Studie nötig. Das können wir auch ohne Umfrage wissen. Die Frage ist eigentlich nur: Nehmen wir das auch ernst? Suchen und begegnen wir Gott in der Bibel, lassen wir uns von Gottes Wort regelmässig herausfordern, packen, weiterbringen? Geben wir Gott die Gelegenheit, durch die Geschichten der Bibel unser Herz zu erreichen und unser Leben zu verändern? Dieses Heft will dir genau dabei helfen. Die ganze Ausgabe dieses 1Up steht unter der Zielsetzung, dich neu für die Bibel zu begeistern und dir praktisch zu helfen, verschiedene Arten von Texten in der Bibel zu verstehen und in dein Leben hineinzubringen. »Wenn du zu einer Bibel greifst, solltest du dich daran erinnern, dass du nicht nur das berühmteste Buch der Welt in Händen hältst, sondern ein Buch, das die außergewöhnliche Kraft besitzt, das Leben zu verändern, Gemeinschaften zu verändern, die Welt zu verändern. Die Bibel hat das in der Vergangenheit bereits oft getan. Sie kann es wieder tun.« Damit bringt Tom Wright, ein bekannter Bibelforscher, meine Erwartung an unsere Auseinandersetzung mit der Bibel auf den Punkt (Tom Wright, Warum Christ sein Sinn macht, Lahr 2009, Seite 172).

Autor Manuel Schmid Senior Pastor ICF Basel



Einleitung Die wilde Kraft der Bibel


Was halten wir da eigentlich in Händen, wenn wir unsere Bibel aus dem Bücherregal ziehen und zum Lesen aufschlagen? Manche sagen, es handle sich bei der Bibel um Gottes Liebesbrief an uns Menschen. Das ist sicher nicht ganz falsch – aber auch nicht wirklich richtig. Der Vergleich mit einem Liebesbrief weckt die Erwartung, in der Bibel eine grosse Liebesbekundung Gottes zu finden. Und natürlich kann man alle biblischen Texte letztlich auf diesem Hintergrund verstehen – der Gott, von dem die Bibel spricht, ist der Gott, der uns Menschen liebt und sich in Jesus Christus für uns hingibt – aber auf weiten Strecken der Bibel würde niemand von sich aus darauf kommen, das Bild eines Liebesbriefes zu bemühen. Was suchen Opfergesetze, Mordgeschichten, Gerichtstexte und menschliche Klagelieder in einem Liebesbrief? Und wer hat je einen Liebesbrief erhalten, der so umfangreich war, dass man Monate oder Jahre braucht, um ihn sich zu Gemüte zu führen? Dass Gott uns liebt – das kann er doch auch kürzer sagen. Und überhaupt: Warum ist die Bibel nicht direkt an seine Leser aus allen Zeiten und Enden der Welt gerichtet – im Stil von: »Hallo Menschheit, hier spricht der Gott, der euch liebt…«? Andere beschreiben die Bibel als Gottes Gebrauchsanweisung zum Leben. Sie zeigt den Menschen, wie ihr Leben in Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer und im Umgang miteinander gelingen kann. Auch dieses Bild für die Bibel geht nicht völlig daneben – aber treffend ist es genauso wenig. Von einer Bedienungsanleitung erwarte ich, dass sie geordnete, einfach anwendbare Informationen enthält über

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das, was sie erklären will. Die Bibel ist eher das Gegenteil. Sie ist eine verwirrend komplexe Zusammenstellung unterschiedlichster Texte unzähliger Autoren aus verschiedensten Zeiten. Sie gibt uns keine ausdrückliche Anleitung zum Leben, sondern erzählt Geschichten und berichtet von Menschen, die mit Gott unterwegs waren. Stell dir vor, du kaufst einen Toaster, schlägst die Bedienungsanleitung auf und liest dort: »Es war einmal…« Nein, die Bibel ist etwas anderes als eine technische Gebrauchsanweisung mit einigen Prinzipien für ein gelingendes Leben – auch wenn sie unser Leben tatsächlich verändert und »gelingen« lassen kann. Die Bibel ist ein inspirierendes, abenteuerliches Buch, das sich immer neu zu lesen lohnt und das uns durchs Leben begleitet. Von einer Bedienungsanleitung würde das keiner sagen. Hat man sie mal überflogen und das Wesentliche verstanden, legt man sie weg und schaut sie nie mehr an. Und kein normaler Mensch findet eine Gebrauchsanweisung inspirierend oder abenteuerlich (mal abgesehen von einigen unfreiwillig abenteuerlichen Bauanleitungen für IKEA-Möbel…). Ich mache hier mal den Vorschlag, die Bibel als Zeugnis der leidenschaftlichen, dynamischen Geschichte Gottes mit den Menschen zu beschreiben. Die biblischen Texte dokumentieren auf unterschiedlichste Weise das atemberaubende und nervenaufreibende Drama, das sich zwischen Gott und Mensch abspielt – und sie tragen die geheimnisvolle Kraft in sich, auch heutige Leser zu einem Teil dieser Geschichte zu machen. Diese Definition der Bibel erklärt auch die er-


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schlagende Dicke dieses Buches: Sie kommt nicht so daher, als dass Gott sich nicht kurz fassen könnte, sondern sie verdankt sich der wendungsreichen Geschichte Gottes mit Israel und der Gemeinde. Mit anderen Worten: Nicht Gott macht die Bibel so lang, sondern die Eigenwilligkeit und Widerborstigkeit der Menschen, mit denen Gott unterwegs ist und die er über Jahrhunderte hinweg für ein Leben mit ihrem Schöpfer gewinnen will – Umwege, Sackgassen und Extrarunden inklusive. Das Verständnis der Bibel als Zeugnis einer Geschichte lässt auch Raum für verschiedene Textgattungen und weckt nicht die Erwartung eines Monologes von Gott her: Das Drama Gottes mit den Menschen ist dem Wesen nach auf Interaktion angelegt und kann sich in Geschichten, Liedern, Biografien, Gedichten, Briefen usw. ausdrücken. »Wir müssen die Bibel wertschätzen lernen als das wilde, unzensurierte, bewegte Zeugnis von Menschen, die den lebendigen Gott erfahren.« (»We have to embrace the Bible as the wild, uncensored, passionate account it is of people experiencing the living God«, Rob Bell, Velvet Elvis, 63). Ich liebe diese Formulierung:

Die Bibel ist das wilde, unzensierte Zeugnis des Abenteuers, das Gott mit den Menschen schreibt. Keine Bedienungsanleitung für ein funktionierendes Leben, kein Knigge für moralisches Verhalten, auch nicht einfach eine individualis-

tische Liebeserklärung – sondern vielmehr eine bewegte Geschichte zwischen Gott und Mensch, in die wir beim Lesen selbst eintauchen. Und das ist wohl auch die beste Beschreibung der »Autorität« der Bibel. Wieder lohnt es sich, Tom Wright zu Wort kommen zu lassen: »Das ist der Grund, warum die ‚Autorität’ der Bibel ganz anders funktioniert wie z.B. die ‚Autorität’, die den Regeln eines Golfclubs innewohnt. Die Bibel enthält zwar Listen mit Regeln (z.B. die Zehn Gebote in Exodus 20), aber als Gesamtwerk besteht sie nicht aus einer Liste von Dingen, die man tun oder lassen soll. Die Bibel ist eine Story, eine großartige epische Erzählung. Sie beginnt mit dem Garten Eden, in dem sich Adam und Eva um die Tiere kümmern, und endet mit der Stadt, der Braut des Lammes, aus der das Wasser des Lebens strömt, um die Welt zu erfrischen. Bei der Bibel handelt es sich schließlich um eine Liebesgeschichte, wenn auch etwas anderer Art. Die Autorität der Bibel ist die Autorität einer Liebesgeschichte; und wir sind eingeladen, darin eine Rolle zu spielen. In diesem Sinne ähnelt die Autorität eher derjenigen eines Tanzes, zu dem wir aufgefordert werden; oder eines Romans, dessen Rahmen zwar schon gegeben, dessen Plot schon fortgeschritten und dessen Ende geplant und in Sichtweite ist, der aber immer noch ein ganzes Stück vor sich hat – und wir sind eingeladen, lebendige, aktiv teilnehmende, intelligente und entscheidungsbefugte Charaktere in der Story zu werden, die sich auf ihr Ziel zubewegt. Mit der ‚Autorität der Schrift’ zu leben heißt also, in der Welt der Story zu leben, die die Schrift erzählt. Es bedeutet, dass wir in diese Story eintauchen,



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sowohl gemeinschaftlich als auch individuell.« (Tom Wright, Warum Christ sein Sinn macht, Lahr 2009, Seite 185) Die Kraft der Bibel liegt darin, dass sie uns in eine reale Geschichte eintreten lässt – sie nimmt uns mit auf den Weg, den der lebendige Gott über die biblischen Zeiten hinaus bis in unsere Gegenwart hinein mit Menschen geht. Sie malt uns den Gott vor Augen, der sich in Jesus Christus als der Gott für alle Menschen offenbart hat – und der bereit ist, seine Geschichte mit uns fortzusetzen! Mit anderen Worten: Die wilde Kraft der Bibel, die uns aufrütteln, aufregen, herausfordern und unser Leben vom Kopf auf die Füsse stellen kann, liegt in der Kraft einer Person, welche die Bibel nahe bringt. Die lebensverändernde Kraft der Bibel ist nicht einfach die Autorität eines göttlich diktierten Buches, das vom Himmel gefallen ist, sondern es ist die Autorität einer Person, die uns in diesem Buch begegnet. Diese Person hat einen Namen: Jesus Christus. Auf ihn weist das Alte Testament hin und von ihm spricht das Neue Testament. Das wird besonders deutlich an einer eigenartigen und oft missverstandenen Auseinandersetzung von Jesus mit einigen Schriftgelehrten. Jesus beschuldigt diese besonders eifrigen Bibelleser: »Ihr verschließt euch seinem Wort gegenüber; es bleibt nicht in euch. Sonst würdet ihr dem glauben, den er gesandt hat. Ihr studiert die Heilige Schrift, weil ihr meint, dadurch zum ewigen Leben zu gelangen. Und tatsächlich weist sie auf mich hin. Dennoch wollt ihr nicht zu mir kommen, obwohl ihr bei mir das Leben finden würdet.« [Johannes 5,38-40]

Dieser Text wird manchmal gebraucht, um zu erklären, wie fehlgeleitet und daneben doch der Versuch ist, in einem Buch das »ewige Leben« zu finden. (Mit dem »ewigen Leben« ist in der Bibel nicht in erster Linie die zeitlich unendliche Existenz gemeint, sondern vor allem ein neues Leben in der Gemeinschaft mit Gott, also ein transformiertes, erfülltes, geheiltes Leben.) Aber wer genauer hinschaut, merkt schnell: Jesus tadelt die Schriftgelehrten nicht, weil sie in der Heiligen Schrift das Leben suchen, sondern vielmehr, weil sie es nicht finden! Er bestätigt sogar ihre Erwartung, in Gottes Wort das Leben zu finden (»… und tatsächlich weist sie auf mich hin…«): Ihr sucht das ewige Leben in der Heiligen Schrift – und ihr habt Recht damit! Aber Jesus rügt offensichtlich ihre Verschlossenheit Gott gegenüber, ihre Hartherzigkeit, die es ihnen unmöglich macht, das Leben im Wort Gottes zu finden und damit auch ihn, den Sohn Gottes, zu erkennen. Ihre eigene Haltung versperrt ihnen den Zugang zum Leben… Du bekommst auf den folgenden Seiten einige Hilfen, wie du mit verschiedenen Arten von Texten in der Bibel umgehen kannst, wie du sie verstehst und ihre Kraft entdeckst. Aber letztlich kann keine Erklärung unsere Bereitschaft ersetzen, diesem Gott in der Bibel auch wirklich zu begegnen und uns von ihm packen, aufwühlen, verändern zu lassen. Die Geschichte Gottes mit uns ist kein Marionetten-Theater, sondern ein gemeinsamer Weg – wir sind in der Bibel persönlich angesprochen und herausgefordert, Gott zu antworten. In diesem Sinne: Auf ins Abenteuer!


Eckhard Hagedorn Ich war erleichtert, als der schwarze VW Touran endlich um die Ecke bog. In voller Regenschutzmontur hatte ich am Bahnhof auf Eckhard Hagedorn gewartet und war nun froh, aus dem kühlen Nass in die Wärme zu kommen. Ich hatte keine Ahnung, was Eckhard mir zur Bibel erzählen würde. Ich wusste, dass er am theologischen Institut Chrischona unterrichtet und dass unser Pastor Manuel Schmid sein Schüler war, aber das war‘s dann auch schon. Doch Eckhard liess mich nicht lange im Unwissen und nahm mich mit auf eine Reise in seine Gedanken über die Bibel, die ich so bald nicht mehr vergessen werde. In seinem grossen Sessel sitzend, ein Regal voller Bibeln und anderer interessanter Bücher im Rücken, begann er, über die Menschen und ihre Bibeln, oder eben über die Bibeln und ihre Menschen zu erzählen: „Als ich damals von einem Mitarbeiter der Chrischona angefragt wurde, für eine Bibel-Ausstellung ein Buch über Menschen und ihre Bibeln zu schreiben, habe ich gedacht: "Ja gut, ich probier das mal". Als ich damit fertig war, war die Ausstellung längst vorbei. Das Buch „Unter einer Decke - von Bibeln und ihren Menschen“ handelt von Personen, die in ihrem alltäglichen Leben Gott entdecken. Es sind Geschichten, die den Leser anregen können, sich die

Frage zu stellen, wie er mit der Bibel umgehen könnte. Als Neutestamentler am Theologischen Institut frage ich mich immer wieder, wie ich die Studierenden dort abholen kann, wo sie jetzt im Moment mit der Bibel stehen und wie ich deren Kontakt zur Bibel festigen kann. Ich bin ein grosser Fan von Einfachheit. Doch mit Einfachheit meine ich nicht Oberflächlichkeit. Die Bibel hat etwas total Einfaches und ist trotzdem alles andere als oberflächlich. Heutzutage haben wir eine Jesus-Spiritualität, die kaum noch eine Bibel-Spiritualität ist. Die heutigen Christen kommen eigentlich ganz gut ohne Bibel aus. Wir haben heute eine solche Vielfalt an Zugängen zum Christentum, wie wir sie noch nie hatten. Es gibt verschiedene Bibelübersetzungen, Kommentare, Erläuterungen, Predigten, Zeitschriften, christliche Songs und so weiter. Doch hinsichtlich der Bibel werden viele fromme Menschen zu Analphabeten. Viele Christen von heute pflücken sich ihren Glauben aus einer bunten Blumenwiese zusammen, denken: „Ah, da hat es noch ein nettes Blümchen, dort hat es eine schöne Blüte…“. Die Bibel hat Hunderte von Themen, an die ich vorher nie gedacht habe. Sie wirft Fragen auf, die wir uns noch nie gestellt haben. Viele schrecken davor


zurück, die Bibel und vor allem das Alte Testament zu lesen. Doch gerade dieses war für mich auf der Chrischona eine grosse Entdeckung. Mengenmässig stehen die beiden Bücher ja drei zu eins und schon da fängt das Problem an. Wer will schon so viel Stoff durcharbeiten? Diesbezüglich hat mich eine Person aus dem zweiten Jahrhundert inspiriert. Im zweiten Jahrhundert gab es einen Mann, der hiess Marzion. Er war reich und Teil der christlichen Gemeinde. Ab einem gewissen Zeitpunkt vertrat er die Meinung, dass wir uns, wenn wir wirklich Christen sein wollen, vom Alten Testament trennen müssen. Das war eine totale Vereinfachung. So blieb nur noch ein Viertel der Bibel übrig, welche Marzion dann auch noch von alttestamentlichen Verunreinigungen befreite. Also flogen drei von vier Evangelien raus, sodass nur noch ein Teil von Paulus und das Lukasevangelium übrig blieb, welche auch noch auf alttestamentliche Teile geprüft wurden. Dieser Mann ist mein Lieblingsketzer. Im Grunde hat Marzion etwas gemacht, was er gar nicht wollte. Er hat gezeigt, wie sehr das Alte und das Neue Testament miteinander verbunden sind. Sprich: Wenn du das Alte Testament verlierst, verlierst du das Neue Testament auch, und verlierst damit Jesus. Ich würde das Alte Testament nicht problemorientiert angehen, sondern erst mal überlegen, welche festen Punkte es im Alten Testament gibt, bei welchen ich schon eine Sicherheit verspüre, und von welchen aus ich Ausflüge in unbekannte Gegenden machen kann, die mir weiterhelfen. Denn alle Schwierigkeiten, die ich mir beim Lesen des Alten Tes-

taments einhandle, würden für mich nicht so viel wiegen, als dass ich die Finger davon lassen würde. Ich finde, dass man das Neue und das Alte Testament anders lesen sollte. Die Frage ist: Wie nehmen wir die Bibel zur Kenntnis? Es gibt Christen, die einzelne Sprüche lernen. Konfirmationsspruch, Taufspruch, Jahreslosung, Wochenlosung, Tageslosung, Postkarten und so weiter. Die kann man dann auf den Spiegel kleben, in den Terminkalender heften oder in den Handynotizen speichern. Der Nachteil ist, dass man keinen Zusammenhang hat. Andere Christen lesen die Bibel abschnittsweise. Die kennen dann verschiedene Geschichten, aber das Drumherum, welches doch so wichtig ist, geht verloren. Nehmen wir mal an, ein Ureinwohner aus Afrika sieht zum ersten Mal weisse Menschen. Auf den ersten Blick denkt er wohl: die sehen ja alle gleich aus. Dann wird er merken, dass die Weissen unterschiedliche Nasen haben und nach einer gewissen Zeit wird er sehen, dass alle eine eigene Gestalt, eine eigene Stimme, ein eigenes Gesicht haben. Meine Frage ist: könnte man die Bibel nicht auch so angehen, die einzelnen biblischen Bücher wahrnehmen wie Menschen? Was ist die Nase vom zweiten Petrusbrief? Was sind die Ohrläppchen von Thessalonicher? Wenn du an eine dir gut bekannte Person denkst, dann hast du wahrscheinlich ein Bild vor Augen. Auch wenn diese Person morgen ein anderes Shirt trägt als gestern, erkennst du sie. Du nimmst sie sofort als Ganzes wahr. Warum geht uns das nicht so mit dem Römerbrief, mit der Offenbarung und dem Nehemias? Wenn wir das wahrnehmen könnten, würde die


Bibel ganz anders sprechen und leuchten. Dann hätten wir nicht 1300 Seiten, denen wir ausgeliefert sind und nicht wissen, wie wir klarkommen sollen, sondern dann wären da 66 Personen mit einem einzigartigen Charakter und einer besonderen Persönlichkeit. Würde man die Bibel so angehen, würden sich die Einzelheiten, welche man im Gottesdienst mitbekommt, in das Gesamtbild einfügen und bald müsste man feststellen, dass die Bibel gar nicht so schlimm ist, wie wir dachten. Wir sollten mit der Bibel nicht weniger fair umgehen, als wir mit unseren guten Freunden und unseren Partnern umgehen. Wenn ich meine Frau nicht richtig verstehe, versuche ich idealerweise genauer hinzuhören und sage nicht einfach: „Du interessierst mich nicht mehr“. Wir leben davon, dass es Menschen gibt, die uns verstehen. Wenn wir niemanden hätten, der uns versteht, würde es uns mies gehen. Die Bibel ist ein Buch, das uns versteht. Und genau deshalb sollten wir uns auch fragen: „Wie sehr verstehe ich Gott?“ Sonst wird das zur religiösen Selbstbefriedigung. Wenn ich mich nur dafür interessiere was mir gerade passt, komme ich nicht weiter. Gott interessiert sich für Sachen, für die ich mich noch nie interessiert habe. Kann ich mich auf seine Interessen einlassen? Die Bibel zu lesen braucht Mut, den wir normalerweise nicht in ausreichendem Masse mitbringen. Ich finde, dass Leute, die ratlos und verlegen an die Bibel rangehen, manchmal ganz wertvolle Entdeckungen machen. Das sind oft die ganz grossen Lehrmeister. Sie probieren in ihrer Verlegenheit irgendetwas aus und es klappt.

Wer immer auf Händen getragen wird, kriegt Muskelschwund in den Beinen. Wenn mein Glaube lediglich aus ein paar Gottesdienstbesuchen, ein paar christlichen CD‘s und ein paar christlichen Freunden besteht, dann ist die Bibel da ja nur noch in Spurenelementen enthalten. Wenn mein Glaube eine Schwarzwälder Kirschtorte wäre, dann wäre die Bibel wohl nur noch die Kirsche oben drauf. Ich finde es schade, dass ich für die Bibel Werbung machen muss. Aber es geht leider nicht anders. Manchmal muss ich das auch bei Leuten, die schon über einen längeren Zeitraum hinweg Christen sind. Das Leben ist eine Entdeckungsreise mit der Bibel. Wir haben wahrscheinlich alle Angst vor der Bibel, weil sie uns mit Dingen konfrontiert, über die wir eigentlich nicht nachdenken, geschweige denn sprechen wollen. Aber dabei sollten wir es nicht belassen. Oft sind es Erfahrungen, die man am liebsten nicht machen wollte, die einen dann aber weiterbringen.“ Es brauchte eine Weile, bis ich wieder in Eckhards Büro angekommen war. Gott lässt uns nicht im Regen stehen. Und die Bibel auch nicht. Lassen wir uns also von ihrer Vielseitigkeit erfrischen.

Autorin Madeleine Buess

Interviewpartner Eckhard Hagedorn


Erz채hlende Texte Wenn wir alte Geschichten selbst erleben


»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde…« – Wer die Bibel auf der ersten Seite zu lesen beginnt, dem begegnet sie als eine wortgewaltige, faszinierende Erzählung. Das ist nicht verwunderlich, wenn wir die Bibel (wie in der Einleitung vorgeschlagen) wirklich als Zeugnis der leidenschaftlichen, dynamischen Geschichte Gottes mit den Menschen verstehen – eine Geschichte wird nun einmal meistens auch in erzählender Form wiedergegeben… Und tatsächlich ist die Bibel nicht nur insgesamt ein Buch der Geschichte (im Sinne eines historischen Dokuments), sondern auch ein Buch mit Geschichten – eine Sammlung vieler, meist grossartig erzählter Geschichten. Erzählende Texte verfolgen den Weg Gottes mit Israel (Mosebücher, Josua, Richter, Ruth, Samuelbücher, Königebücher, Chronikbücher, Ester, Esra, Nehemia, viele Teile in den Prophetenbüchern…), dokumentieren das Leben von Jesus (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes) und beschreiben die Entstehungszeit der Gemeinde (Apostelgeschichte).

Sowohl im Alten wie im Neuen Testament bilden erzählende Bücher und Passagen damit die umfangreichste Textgattung und decken insgesamt weit über die Hälfte der Bibel ab. Mit anderen Worten:

Wenn wir einen Zugang zu den erzählenden Texten der Bibel finden, dann erschliesst sich uns bereits mehr als die Hälfte der Bibel! Was ist wichtig für unseren Umgang mit erzählenden Texten? Man könnte meinen, dass es dazu nicht viel zu sagen gäbe. Wer braucht schon Hilfe, um eine gute Geschichte zu verstehen? Ich brauche schliesslich auch keine Anleitung, um ein Harry Potter-Buch oder den neusten Kriminalroman von Donna Leon zu lesen… Stimmt. Nur sind Harry Potter und Kommissar Brunetti und überhaupt so ziemlich alle Geschichten, die man in einem unserer Buchläden in die Finger kriegt, im 21. Jahrhundert für westliche Leser geschrieben worden – während die biblischen Erzählungen 2000 oder 3000 Jahre alt und in einem völlig anderen kulturellen Kontext entstanden sind. Natürlich bedeutet das nicht, dass man Theologie studieren muss, um das Gleichnis des verlorenen Sohnes oder die Josefgeschichte zu verstehen. Das ist ja gerade das Kraftvolle, Bewegende an den biblischen Erzählungen: dass sie uns in die Handlung hineinnehmen, dass wir uns plötzlich mitten in einer Geschichte wiederfinden und sie gewissermassen miterleben können! Doch manchmal müssen wir bei biblischen Erzählungen einige zusätzliche Gedanken investieren, um wirklich in die Geschichte eintauchen zu können und die Kraft des Textes mit unserem Leben zu verbinden.

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Das hat vor allem zwei Gründe: Zum einen liegt es an der Tatsache, dass das Literaturformat des Romans zu biblischen Zeiten noch nicht erfunden war – sprich: Die Bibel kennt diese moderne, ausführliche Art des Geschichtenerzählens noch nicht, die uns jedes Detail der Handlung vor Augen führt, die uns Einblick in die Gedanken der einzelnen Figuren gewährt und uns beschreibt, wie der Sommermorgen nach dem grossen Gewitter gerochen hat oder welcher Ausdruck sich auf dem Gesicht der Mutter abzeichnete, als sie ihre Tochter endlich wieder traf… Die Erzählungen der Bibel sind zwar durchaus sorgfältig und meisterhaft gestaltet. Sie sind keine blossen »Ereignisprotokolle« oder zufällige »Schnappschüsse«, sondern bewusste literarische Schöpfungen. Aber sie sind meistens auch sehr kurz und dicht erzählt, beschränken sich auf das Wesentliche und überlassen es der Vorstellungskraft des Lesers oder Hörers, sich die Einzelheiten und Hintergründe der Handlung zu erschliessen. (Darum bringt es auch die Josefgeschichte als die wohl grossartigste und längste zusammenhängende Erzählung der Bibel je nach Übersetzung nur auf gut 13 Seiten Umfang, während die berühmte romanhafte Nacherzählung »Joseph und seine Brüder« von Thomas Mann über 1300 Seiten umfasst…) Es braucht also einige zusätzliche Überlegungen, um in die biblischen Erzählungen einzutauchen, weil sie in ihrer Knappheit und Konzentration unserer Phantasie mehr zumuten als moderne Romane. Male dir darum beim Lesen einer biblischen Erzählung die Handlung ganz bewusst vor Augen. Versuche, dich mit den Figuren der

Geschichte zu identifizieren und frage dich im Blick auf die Gestaltung des Textes: • Was ist der Verlauf der Handlung – welche Personen spielen die Hauptrollen, wie interagieren sie miteinander, wie melden sie sich zu Wort? Und: Auf welchen Höhepunkt (»Klimax«) wird die Erzählung zugespitzt? • Warum wählt der Autor die Fakten der Geschichte genau so aus, wie er es tut? Welche Mittel verwendet er, um meine Aufmerksamkeit auf das Wichtigste zu lenken? (Achte hier vor allem auf Wiederholungen und Schlüsselbegriffe!) • Welche Gedanken und Emotionen sind im Spiel? Was mögen die Figuren in der Erzählung gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen, gespürt haben? (Spiele die Erzählung im Blick auf alle fünf Sinne durch, um sie ganzheitlich mitzuerleben…) Alle diese Fragen zielen letztlich auf deine Identifikation mit der Geschichte – sie kosten dich vielleicht einigen »Hirnschmalz«, helfen dir aber enorm, auch in eine sehr kurze oder nüchterne Erzählung der Bibel persönlich einzutauchen. Rick Warren beschreibt diese Identifikation mit bestimmten Personen der Bibel sehr anschaulich: »Laufen Sie in ihren ‚Sandalen’. Versuchen Sie, sich in sie hineinzuversetzen und die Welt mit ihren Augen zu betrachten: Wie denken sie, was fühlen sie, wie reagieren sie auf ihre Lebensumstände? Hören Sie mit ihren Ohren, mischen Sie sich unter ihre Freunde, setzen Sie sich mit ihren Gegnern auseinander. Werden Sie diese Person, während Sie sich mit ihr beschäftigen.« (Rick Warren, Bibellesen mit



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Vision. 12 praktische Zugänge zum Wort Gottes, Asslar 2006, Seite 107) Ein anderer Grund, warum manchmal ein zusätzlicher Aufwand nötig ist, um sich überhaupt eine Vorstellung von bestimmten Handlungen oder Ereignissen in biblischen Texten zu machen, liegt darin, dass uns ihr kultureller Hintergrund inzwischen fremd geworden ist. Viele biblischen Erzählungen erschliessen sich uns erst in einiger Tiefe, wenn wir bestimmte Vorfragen klären, die zum Verständnis der Geschichte nötig sind. Wer weiss schon aus dem Stehgreif, wie eine jüdische Hochzeit in biblischen Zeiten ablief (was zum Verständnis des ersten Wunders von Jesus an der Hochzeit in Kana hilfreich wäre…), oder welche Erfahrungen Israel schon mit Hungersnöten machen musste (wie sie in der Josefgeschichte und im Gleichnis vom verlorenen Sohn vorkommen…), oder in welchem Verhältnis die Pharisäer zum römischen Kaiser standen (was in viele Begegnungen von Jesus mit den Pharisäern hineinspielt…), oder was für ein Leben ein Aussätziger oder ein Zöllner oder eine Witwe im alten Israel führten… Helge Stadelmann, Autor eines Buches zum Studium der Bibel, hält dazu fest: »Das Wort Gottes handelt also nicht von einem geschichtslosen Raum, sondern wurde in und von einer konkreten geschichtlichen Situation her geschrieben. Deshalb ist es wichtig, dass sich der Bibelausleger zum angemessenen Verständnis der Bibel beispielsweise Kenntnisse über die Welt des Alten Testaments verschafft: über die Geschichte Israels im Kontext des alten Orients sowie das religiöse und kulturelle Leben der damaligen Zeit. Da sich z.B. allein die Entstehung

und das Leben des Volkes Gottes im Kontext unterschiedlichster Weltreiche (Ägypten, Assyrien, Babylonien, Persien, Griechenland und Römisches Reich) ereignete, ist eine Kenntnis der jeweiligen Sitten und Gebräuche unerlässlich. Weiter benötigt der Bibelausleger Kenntnisse der geschichtlichen Hintergründe des Neuen Testaments. Hier geht es um geschichtliche Ereignisse in Palästina in der Zeit zwischen den Testamenten und im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sowie um die geschichtliche Entwicklung des Urchristentums und der religiösen Strömungen zur damaligen Zeit. Von besonderer Bedeutung ist es darüber hinaus, dass sich der Ausleger mit dem Judentum der zwischenund neutestamentlichen Ära vertraut macht. Denn das Frühjudentum bildet den unmittelbaren Hintergrund für die neutestamentliche Geschichte. Da die biblischen Berichte nicht in unserer Zeit verfasst wurden, müssen wir uns gedanklich in die damalige Zeit zurückversetzen und versuchen, diese Zeit kennen und verstehen zu lernen, indem wir uns ihren politischen und militärischen (Herrschaftsformen, Namen, Gegner, Koalitionen, Bedrohungen in der Außen- und Innenpolitik usw.), ihren sozialgeschichtlichen (gesellschaftliche Schichten, soziale Gruppen, Wirtschaft, Handel usw.), rechtlich-ethischen (Gesetzgebung, Gewohnheitsrecht, Moral usw.), kulturgeschichtlichen (Alltag, Sitten und Gebräuche, Nahrung, Wohnung, Beruf usw.) und religiösen (Kulte, Frömmigkeit, synkretistische und säkularisierende Tendenzen usw.) Hintergrund ins Bewusstsein rufen.« (Helge Stadelmann, Thomas Richter: Bibelauslegung praktisch. In zehn Schritten den


Text verstehen, Wuppertal 2006, Seiten 72-73) Uff… Das klingt dann allerdings schon fast wieder nach einschüchternd viel Arbeit. Ich glaube aber, dass das nur in seltenen Fällen nötig ist – meistens hilft schon ein kurzes Nachschlagen in einer guten Studienbibel, um im Verständnis eines Textes tiefer zu graben und weiterzukommen. Du musst also nicht unbedingt ein Vermögen in theologische Fachliteratur investieren und eine halbjährige Auszeit nehmen, um dir die Hintergründe biblischer Erzählungen zu erarbeiten – es gibt inzwischen ebenso hervorragende wie bezahlbare Studienbibeln, die dir schnell mehr Informationen zum Bibeltext liefern und ganz neue Erkenntnisse erschliessen. Drei Tipps dazu (auch wenn es immer noch am besten ist, in einer Buchhandlung verschiedene Studienbibeln in die Hand zu nehmen und zu sehen, in welche man sich verliebt…): • »Elberfelder Bibel mit Erklärungen«: Eine Studienbibel mit hilfreichen Erklärungen zu jedem Textabschnitt (die Erklärungen sind in Kleinschrift in den Textfluss eingefügt), vielen Fotos und Landkarten. Bei Amazon für 30 Euro. • »Genfer Studienbibel«: Eine Studienbibel mit vielen geschichtlichen Kommentaren (jeweils im unteren Seitendrittel) und ausführlichen Einleitungen in die verschiedenen Bücher der Bibel. Bei Amazon für 50 Euro. • »Studienbuch Altes und Neues Testament« (herausgegeben von Bill T. Arnold) – keine Studienbibel, sondern ein tolles, umfassendes Handbuch zur Bibel von 1. Mose bis Offenbarung: Bei Amazon für 50 Euro.

Auch bei diesem Punkt geht es nicht einfach um die Information um der Information willen (nach dem Motto: Schön dass wir das jetzt auch wissen…), sondern um die Schlüsselfrage: Was muss ich zum Hintergrund dieser Erzählung erfahren, um wirklich in die Handlung einzutauchen und mich mit den Figuren zu identifizieren? Okay. Und was passiert jetzt, wenn wir uns die nötigen Informationen beschafft haben, um eine biblische Erzählung besser zu verstehen, und wenn wir die nötige Vorstellungskraft investiert haben, um uns in die Geschichte hineinzudenken – was machen wir dann mit dem Text? Nun, am liebsten würde ich jetzt sagen: Dann lassen wir das Wort Gottes an uns wirken. Denn die Bibel hat die faszinierende Angewohnheit, uns in ihre Geschichten »hineinzuschreiben« und mit dem Gott in Berührung zu bringen, der in diesen Geschichten die Hauptrolle spielt.

Wer sich für diese Begegnung mit Gott bewusst öffnen will, der kann sich auch folgende Frage stellen: Wo offenbart sich Gott in dieser Erzählung? Was für ein Gott zeigt sich hier? Diese Frage hilft uns, von der Konzentration auf uns selbst loszukommen, die uns beim Bibellesen oft gefangen hält. Viele Christen fragen sich nur: Was sagt dieser Text über mich persönlich, wo komme ich in diesem Text vor,

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was kann ich hier für mein Leben und meine Probleme lernen usw. Diese selbstzentrierten Fragen versperren uns oft den Weg zu den besten Entdeckungen im Text – denn die besten Entdeckungen haben nicht zuerst mit uns, sondern mit dem Gott zu tun, der in den biblischen Erzählungen am Wirken ist! (Das ist ein weiterer Grund, warum ich die Rede von der Bibel als einer »Bedienungsanleitung fürs Leben« nicht mag: Der Vergleich festigt unsere Fixierung auf uns selbst, auf das, was die Bibel zu uns und

über uns sagt, anstatt auf das, was sie über den Gott sagt, dem wir in der Bibel begegnen…) – Also: Wenn wir uns die Mühe gemacht haben, uns eine biblische Erzählung vor Augen zu malen, dann suchen wir die Begegnung mit Gott selbst in dieser Geschichte. Untersuche mit diesen kurzen Anregungen einmal eine ebenso faszinierende wie eigenartige Erzählung der Bibel – das berühmte »erste Zeichen« von Jesus im Johannesevangelium – und halte deine Beobachtungen fest…

Übung zu den erzählenden Texten Johannes 2,1-11: Die Hochzeit in Kana 1 Zwei Tage später fand in Kana, einer Ortschaft in Galiläa, eine Hochzeit statt. Die Mutter Jesu nahm daran teil, 2 und Jesus selbst und seine Jünger waren ebenfalls unter den Gästen. 3 Während des Festes ging der Wein aus. Da sagte die Mutter Jesu zu ihrem Sohn: »Sie haben keinen Wein mehr!« 4 Jesus erwiderte: »Ist es deine Sache, liebe Frau, mir zu sagen, was ich zu tun habe? Meine Zeit ist noch nicht gekommen.« 5 Da wandte sich seine Mutter zu den Dienern und sagte: »Tut, was immer er euch befiehlt!« 6 In der Nähe standen sechs steinerne Wasserkrüge, wie sie die Juden für die vorgeschriebenen Waschungen benutzen. Die Krüge fassten jeder zwischen achtzig und hundertzwanzig Liter. 7 Jesus befahl den Dienern: »Füllt die Krüge mit

Wasser!« Sie füllten sie bis zum Rand. 8 Dann sagte er zu ihnen: »Tut etwas davon in ein Gefäß und bringt es dem, der für das Festessen verantwortlich ist.« Sie brachten dem Mann ein wenig von dem Wasser, 9 und er kostete davon; es war zu Wein geworden. Er konnte sich nicht erklären, woher dieser Wein kam; nur die Diener, die das Wasser gebracht hatten, wussten es. Er rief den Bräutigam 10 und sagte zu ihm: »Jeder andere bietet seinen Gästen zuerst den besseren Wein an, und wenn sie dann reichlich getrunken haben, den weniger guten. Du aber hast den besseren Wein bis zum Schluss zurückbehalten!« 11 Durch das, was Jesus in Kana in Galiläa tat, bewies er zum ersten Mal seine Macht. Er offenbarte mit diesem Wunder seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn.


Halte einige Beobachtungen zum Verlauf der Erzählung fest (Rahmenhandlung, Figuren, Gespräche, Details, Höhepunkt – und dann auch: Mögliche Gefühle und Gedanken der Figuren in der Erzählung…):

Welche Informationen zum geschichtlichen oder kulturellen Hintergrund der Erzählung brauchst du noch, um sie dir vor Augen zu malen? Halte einige Informationen fest, die du dir beschaffen konntest…

Was für einen Gott treffen wir in dieser Erzählung? Was sagen uns die Ereignisse dieser Geschichte über den Gott, der uns in Jesus Christus begegnet? – Und dann (und erst dann): Was heisst das für mich persönlich?

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1up N°8 – Bibelwochen Erzählende Texte: Wenn wir alte Geschichten selbst erleben autor: Manuel Schmid


Spaziergang durch die Bibel Die Bibel ist Gottes geschriebenes Wort. Somit sollten wir sie also häufig und aufmerksam lesen. Viele Menschen sehen die Bibel heute als ein altes Buch aus vergangenen Zeiten, das schwer zu lesen und noch schwerer zu verstehen ist. Kein Wunder: schlägt man das Buch der Bücher erst einmal auf, geht beim Anblick der kleinen Schrift, eng beschriebenen Seiten und geschwollenen Sprache die Motivation gleich flöten. Bevor man also die Bibel flüssig lesen kann, sollte man sich erst einmal an die Sprache gewöhnen. Wer darauf gar keinen Bock hat oder sich als völlig untalentiert entpuppt, kann heute auf eine breite Auswahl an modernen Bibeln zurückgreifen. Da gibt es unter anderem die Bibel für Ladies, für Eltern, für Teens und „dummies“. Es existieren unzählige Apps, bei denen man die Übersetzung wählen kann und mittels Leseplänen einen guten Begleiter erhält; inklusive liebevoller Erinnerung daran, das Bibellesen nicht zu vergessen. Doch wenden wir uns einmal der Bibel als Buch an sich zu. Das Wort Bibel kommt vom griechischen „Biblos“ (zu Deutsch: Buch). Manche gebrauchten

das Wort „Bibliotheca“ oder - wie Hieronymus, der grosse Kirchenvater des Abendlandes, der im 4. Jahrhundert nach Christus lebte - „Divina Bibliotheca“, was soviel heisst wie: „göttliche Büchersammlung“. Denn die Bibel ist nichts anderes als eine Bibliothek. Man stelle sich also eine Bibliothek mit insgesamt 66 Büchern vor, die von rund 40 Autoren aus verschiedenen Zeitepochen geschrieben wurden. Manche waren Könige, andere Gelehrte, Ärzte oder Theologen. Aber auch „Normalsterbliche“ wie Landwirte und Fischer oder Musiker findet man unter den Verfassern. Insgesamt brauchte es 1500 Jahre, bis die Sammlung der 66 Bücher komplett war. Die Bibel selbst hat viele Namen: „Die Schrift“ oder „die Schriften“, „Die heilige Schrift“, „Die Bücher“ oder „Das Gesetz und die Propheten“. Unsere heutige Sammlung der Schriften des Alten und Neuen Testamentes nennt man in der Kirchensprache „Kanon“, was nicht etwa ein versetztes Singen bedeuten soll, sondern Regel bzw. Massstab. Der Kanon bezeichnet die Gesamtheit der biblischen Bücher, die sich als die heiligen und göttlich ins-


pirierten Schriften durchsetzten. Das bedeutet, dass irgendwelche ganz gescheiten Leute aus Unmengen von Schriftrollen diejenigen herausgesucht haben, welche wirklich in die Bibel gehören. Sonst könnte ja jeder „hergelaufene Möchtegernprophet“ seinen Blödsinn auf alten Schriftrollen hinterlassen, welche dann Manuel am Sonntag in seinem unverwechselbaren Schaffhauser Dialekt hinausposaunen würde. Man stelle sich das einmal vor… Das Alte Testament wurde in hebräischer Sprache geschrieben, einzelne Teile auf Aramäisch. War doch Hebräisch damals die übliche Sprache, das Aramäische aber ein späterer Dialekt des Volkes. Das neue Testament wurde auf Griechisch, der damaligen Weltsprache geschrieben, durchsetzt von einigen aramäischen und lateinischen Wörtern. Wie weiss man, ob die heutige Bibel dem „Urtext“ entspricht? 1. Früher war die einzige Möglichkeit, einen Text zu vervielfältigen, das Abschreiben. So mussten viele Schreiber den originalen Text ganz oft kopieren. Die genaue Überlieferung hing vom exakten und akribischen Arbeiten des Kopierers ab und war natürlich ungemein wichtig. Das wurde dann immer und immer wieder getan, erst auf gegerbten Häuten und Schriftrollen aus Pergament, später auf Papier und ab Mitte des 15. Jahrhunderts nutzte man – Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg sei Dank – den modernen Buchdruck. Und das alles über Jahrhunderte, ja, Jahrtausende hinweg!

2. Viele der ganz alten Kopien wurden bereits gefunden, so zum Beispiel die Texte von Qumran, welche im Jahr 1947 von einem Beduinenhirten in einer Höhle im Qumran-Tal am Westufer des Toten Meeres entdeckt wurden. Darin befanden sich Schriftrollen aus Pergament, von denen viele in Tonkrügen aufbewahrt wurden. Sie stammen von Mönchen, welche zwischen 66 und 132 nach Christus diese Schriftrollen vor den sie bedrohenden Römern in Sicherheit bringen wollten. Diese Rollen gehören damit zu den ältesten Bibelhandschriften die es gibt, und anhand derer kontrolliert werden konnte, ob der Text unserer heutigen „Bibel“ mit diesen Texten auch nach 2000 Jahren noch identisch ist. Und das ist er tatsächlich. Früh wurde die Bibel auch in die Sprache des Volkes übersetzt. Die älteste gedruckte Bibel in deutscher Sprache stammt von 1466. Somit ist die Bibel das meistgedruckte, am häufigsten übersetzte und meistverbreitete Buch der Welt. Es existieren Gesamtübersetzungen in über 469 Sprachen und Teilübersetzungen in 2527 Sprachen – und jedes Jahr kommen bis zu vierzig neue Übersetzungen hinzu.

Autorin Alejandra Martinez


Poetische Texte Wenn wir die Kraft

der Dichtung entdecken


Wir sind der Bibel bereits als ein erzählendes Buch begegnet – als eine Sammlung faszinierender, eigenartiger, packender Geschichten, die Gott mit den Menschen schreibt. Das ist aber noch nicht alles. Die Bibel ist nicht nur ein erzählendes Buch, sondern auch ein ausgesprochen poetisches Werk. Wir finden in der Bibel mehr poetische Texte als ein durchschnittlicher Bürger des 21. Jahrhunderts im Verlauf seines ganzen Lebens liest. Denn Poesie ist etwas aus der Mode gekommen. (Oder wann hast du beim Besuch deiner Grossmutter zum letzten Mal die »Sammlung der schönsten Deutschen Gedichte« aus dem Regal gezogen…?) Aber was ist überhaupt Poesie? Literaturwissenschaftlich bezeichnet der Begriff »Poesie« eine bestimmte Textgattung, im Deutschen auch »Dichtung« genannt. (Wovon es wiederum verschiedene Unterarten gibt – aber Gummidichtung, Luftabdichtung und Wasserdichtung gehören nicht dazu. »Dichtung« im literarischen Sinne kommt aus dem mittelhochdeutschen »tichten« für »schaffen, erdenken, aussinnen, anordnen«. Auch das griechische Wort, von dem der Begriff »Poesie« abgeleitet ist, bedeutet soviel wie »Erschaffung, Kunstwerk«.) Dichtung oder eben Poesie steht für eine bewusste sprachliche Leistung: Sie meint den kunstvollen, bildhaften und in irgendeiner Form rhythmischen oder in Versen geordneten Einsatz der Sprache. Das klingt noch nicht unbedingt prickelnd, trägt aber in Tat und Wahrheit eine einzigartige Kraft in sich. Gerade wenn es darum geht, von Dingen zu sprechen, die eben nicht nur »Dinge« sind, sondern die uns existenziell in Beschlag nehmen, die uns zutiefst bewegen; wenn es darum geht, etwas auszudrücken, das man eigentlich

gar nicht ausdrücken kann, weil es unsere Sprache an ihre Grenzen bringt – leidenschaftliche Liebe, tiefe Trauer, innere Zerbrochenheit, oder eben auch: Erfahrungen mit Gott selbst – dann greifen Menschen seit jeher zur Poesie.

In poetischen Texten werden nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle und Geheimnisse auf einzigartige Weise eingefangen. Don Miller, ein Buchautor, beschreibt den Moment, an dem er diese Qualität der Bibel entdeckt hat, auf seine unnachahmlich erfrischende Weise. Sie rechtfertigt ein längeres Zitat: »Ich mag die Bibel! Seit ich sie nicht mehr als Selbsthilfebuch betrachte, hat sie für mich deutlich an Wert gewonnen. Man könnte sogar sagen, dass sie eine Seele besitzt. Man muss die Bibel nicht komplett lesen, um zu erkennen, dass die Menschen, die sie verfasst haben, etwas ganz Besonderes waren und grosse Gefühle und Einsichten besassen. Paulus und Johannes sind wie gesagt meine Favoriten, aber gleich danach kommt Mose. Ich habe einmal eine Vorlesung über Mose besucht, die ein Mann namens John Sailhamer gehalten hat. Das war die beste Vorlesung, die ich je gehört habe! Normalerweise besuchte ich keine theologischen Vorlesungen, aber mein Freund John MacMurray hatte mir erzählt, dass John Sailhamer der grösste Mose-Spezialist der Welt sei. Ich hätte dennoch lieber ferngesehen, aber damals lebte ich in John MacMurrays Haus und er drohte, ich müsse ausziehen, wenn ich nicht

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mitkäme. Also raffte ich mich auf und bereits nach fünf Minuten war ich total gefesselt. Falls Sie je die Gelegenheit haben, John Sailhamer sprechen zu hören, nutzen Sie sie! Sein Wissen über das Alte Testament ist einfach erstaunlich. An einem Punkt der Vorlesung waren wir zum Beispiel verwirrt, weil wir nicht sicher waren, aus welcher Bibelübersetzung er lehrte. Wir hakten nach und er sagte, dass er eine althebräische Bibel verwendete und sie einfach so im Kopf übersetzte, während er sprach. Er protzte nicht damit herum, sondern ich hörte ihn nur ein einziges Mal Hebräisch sprechen, als er uns ein Gedicht von Mose vorlas. Es klang so schön, dass alle das Gefühl hatten, etwas Wichtiges gehört zu haben, obwohl wir kein Wort verstanden hatten. Man konnte regelrecht hören, wie viel Mühe Mose hineingesteckt hatte, und man konnte erahnen, wie seine Zeitgenossen es lasen und dann innehielten, um die Komplexität, Tiefgründigkeit und Schönheit des Werkes zu bewundern. John Sailhamer hat mich dazu inspiriert, Mose zu lieben. Vor dieser Vorlesung verschwendete ich kaum einen Gedanken an ihn, doch dann wurde er für mich lebendig. Sailhamer erklärte, dass Mose als einziger von allen biblischen Autoren immer wieder seine Erzählung unterbrach, um Gedichte einzuflechten, die man als Parallelismen bezeichnet, weil sie auf verschiedene Art und Weise immer wieder dasselbe sagen. Er verglich dies mit Musicals, in denen der Fluss der Handlung auch immer wieder von Liedern unterbrochen wird. Laut Sailhamer tat Mose dies, weil es im Leben Gefühle und Situationen und Spannungen gibt, die man empfindet, aber nicht mit blossen Worten erklären kann. Gedichte sind das literarische Mittel, das

die Fähigkeit besitzt, anderen Menschen etwas verständlich zu machen, das man eigentlich nicht in Worte fassen kann. Ich kam gar nicht darüber hinweg, wie schön dieser Gedankengang war. Schon immer hatte ich das Gefühl gehabt, dass Sprache zu begrenzt ist, um die verwobenen Geheimnisse der Wahrheit in ihrer Gänze abzubilden. Man muss schon Lyrik verwenden, um zu beschreiben, wie sich Einsamkeit anfühlt oder wie schön die Geliebte ist oder wie ein sommerlicher Gewitterregen riecht. Diese Dinge sind nicht technisch, sie sind nicht mit einem Wort oder Satz zu erfassen, sondern sie bestehen aus Gefühlen, die man nur durch Umschreiben greifbar machen kann. Und doch existieren sie und wir tauschen uns in einer Art sprachlichem Tanz darüber aus. Das tröstete mich ungemein, denn ich hatte immer erfolglos versucht, meinen Glauben systematisch zu betrachten, und dabei war mir deutlich geworden, dass man die Wahrheit nicht in Diagrammen, Karten oder Formeln ausdrücken kann. Die Wahrheit war etwas Lebendiges, Komplexes, sehr Grosses, Dynamisches und Bewegliches. Einfache Worte konnten sie niemals beschreiben oder die komplizierten Zusammenhänge unserer Realität erklären. Was John Sailhamer da sagte, war für mich so bedeutsam, weil es mir verriet, dass Gott nicht durch tote Formeln mit uns kommuniziert; er will zu unseren Herzen sprechen, wie reale Personen das tun. Die Bibel spricht die geheime Sprache des Herzens ebenso fliessend wie klare Wahrheiten. Gott hat eine Menge Poesie in die Bibel einfliessen lassen. David war ein grosser Lyriker und sein Sohn Salomo hat das Hohelied der Liebe geschrieben, eine Hymne auf Sex und Sinn-



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lichkeit. Paulus kannte die Arbeiten der grossen griechischen Dichter auswendig und zitierte sie gern in seinen Reden. Wenn man heute in einer Predigt Gedichte rezitiert, erscheint das manchen Menschen befremdlich, aber damals hatten die Zuhörer dann das Gefühl, dass man zum Herz einer Sache vordrang – zu der wirklichen, dahinter verborgenen Wahrheit. Nach John Sailhamers Vorlesung begann ich zu erkennen, dass das Evangelium in seiner Gesamtheit das Herz ebenso anspricht wie den Kopf; dass die Methodik ebenso wichtig ist wie die Botschaft selbst, weil man die dahinter stehende Idee gar nicht angemessen vermitteln kann, wenn man versucht, die Wahrheiten ohne die Gefühle zu transportieren, in die sie eingebettet sind. So gesehen ist es nur logisch, dass Gott die vielschichtige Methodik von Wahrheit und Kunst gebrauchte, um mit der Menschheit zu kommunizieren. Niemand kann das Herz eines Menschen nur durch Formeln und Listen gewinnen. Die zwischenmenschliche Interaktion läuft immer auch in der Geheimsprache ab. Vielleicht behindern allzu viele Gesetze und Formeln sogar den Fluss dessen, was Jesus eigentlich sagen wollte. Vielleicht hat unsere Zeit in der Folge von Aufklärung, industrieller Revolution, Darwin und der Anbetung der Wissenschaft ein tieferes Verständnis der Wahrheit verloren, das die alten Hebräer noch besassen und das umfassender war? Stellen Sie sich vor, Sie sind in ein Mädchen verliebt und wollen sich ihr offenbaren. Wenn Sie nun eine Auflistung all ihrer Eigenschaften erstellen – also zum Beispiel ihre Augenfarbe, Haarfarbe, Körpergrösse erwähnen – und ihr diese Liste bei Kerzenschein überreichen… wird sie wohl kaum in Ohnmacht fallen

vor Glück. Doch wenn Sie Ihre Freude über ihre äussere Erscheinung in ein wunderschönes Gedicht verpacken, wird sie viel besser verstehen, wie sehr Sie ihre Schönheit zu schätzen wissen und wie viel sie Ihnen bedeutet. She walks in beauty like the night Of cloudless climes and starry skies And all that’s best of dark and bright Meet in her aspect and her eyes… Dieselben Dinge transportieren eine vollkommen andere Bedeutung, wenn sie lyrisch ausgedrückt werden. Ihre Liste von körperlichen Merkmalen mag beispielsweise sogar korrekter sein, aber sie hätte einfach keinerlei tiefere Bedeutung. Darum frage ich mich, ob nicht etwa Johannes der Evangelist, Paulus oder Mose, wenn sie auf unsere systematischen, theologischen Tabellen, Listen und mathematischen Formeln schauen könnten, ihre Köpfe kratzen und sagen würden: „Nun, das mag vielleicht technisch korrekt sein, aber es hat einfach keine tiefere Bedeutung.“ (Don Miller, Searching for God knows what, Auszüge aus den Seiten 49-60)

Es liegt eine unbändige Kraft in poetischen Texten – und es ist daher kein Wunder, dass wir in der Bibel eine Fülle an poetischen Texten finden. Zu den klassischen poetischen Büchern der Bibel (die überwiegend aus poetischen Texten bestehen) zählen die Psalmen (eine wortgewaltige, teilweise geordnete Sammlung von Gebeten und Liedern), die Sprüche (eine mehr


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schen Texten findest du im nächsten Kapitel). oder weniger lose Sammlung von LebensweisWenn das gelingen soll, müssen wir uns zuheiten), das Buch Prediger (eine zusammenhännächst über einen markanten Unterschied zwigende Sammlung von Weisheitsreden), das Hoschen moderner (deutschsprachiger) Dichtung helied (eine Sammlung von Liebesliedern) und und biblischer Poesie im Klaren sein: Die poeti– zur Überraschung vieler – das Buch Hiob. Die schen Texte der Bibel sind nicht »poetisch«, inmeisten Bibelleser kennen vom Hiobbuch nur dem sie sich reimen. Die Bibel kennt die Kunstdie ersten und letzten beiden Kapitel, die in erform des Reims gar nicht. Gerade diese Form zählender Form die Rahmenhandlung beschreiist aber das, was man im Volksmund unter eiben. Aber der Kern des Buches sind eigentlich nem »Gedicht« versteht: Einen gereimten Text, die Reden von Hiobs Freunden, Hiob und Gott in dem das Ende der einen Zeile dem Ende der selbst – und diese Reden sind durchgängig in nächsten Zeile im Klang ähnelt. (Ich persönlich poetischer Form verfasst. mag sogenannte Schüttelreime besonders gut Darüber hinaus enthalten aber auch praktisch – da reimen sich die Enden der Zeilen nicht nur, alle anderen biblischen Bücher poetische Absie bestehen auch aus denselben Buchstaben, schnitte – sogar in den Paulusbriefen begegnen einfach vertauscht: »Ich will mein Herz an Lotte wir immer wieder sogenannten »Hymnen«: ketten, sie brät die besten Kotteletten.« Oder: poetisch gestaltete Texte, oft wahrscheinlich »Das Weinfass, das Frau Weber leerte, verheersogar Liedverse, die er in seine Schreiben an te ihre Leberwerte.« So. Das wollte ich schon die Gemeinden integriert. In manchen Bibellange mal sagen…) übersetzungen sind diese Abschnitte kursiv geAber eben: Poesie in der Bibel hat nicht damit druckt oder eingerückt dargestellt, um anzuzeizu tun, dass sich die Zeilen eines Textes reimen, gen: Hier handelt es sich um einen poetischen sondern dass sie in paralleler Weise formuliert Text. (Schlage dazu zum Beispiel mal Kolosser sind. Man spricht dann vom Parallelismus (vom 1,15-20 oder Philipper 2,5-11 nach – die zwei Griechischen Wort für »Nebeneinanderstelberühmtesten Christushymnen bei Paulus.) lung«): Die beiden (oder auch mehr als zwei) Besonders grosse poetische Anteile finden wir in Zeilen eines Verses entsprechen sich im Aufden Prophetenbüchern der Bibel – die Propheten bau und Inhalt. Hier ein Beispieltext für die waren interessanterweise zugleich die Poeten einfachste Form des Parallelismus, bei dem die des Volkes Israels: In der Kraft poetischer Worte zweite Zeile die Aussagen der ersten Zeile wierufen sie Israel zum lebendigen Gott zurück! derholt oder verstärkt: Und wie gehen wir jetzt mit poetischen Texten Psalm 12,2-3 konkret um? Auch im Umgang mit poetischen Texten 2 Hilf, HERR! geht es letztlich darum, sich selbst im Text Die Heiligen haben abgenommen, wiederzufinden, sich also gewissermassen die Treuen sind verschwunden unter den Menschenkindern! in den Psalm, in die Lebensweisheit oder 3 Einer redet Lug und Trug mit dem andern, in das prophetische Wort »hineinzubege- mit glatter Lippe, ben« (mehr zum Umgang mit propheti- mit doppeltem Herzen reden sie.


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Der erste Vers wird mit dem Ausruf »Hilf, Herr!« eingeleitet, danach beschreibt der Beter seine Ausgangslage in typisch poetischer Weise: Die übereinander liegenden Glieder der beiden Teilsätze entsprechen sich immer schön. »Die Heiligen« ist parallel zu »die Treuen«, und die Feststellung, dass sie »abgenommen haben«, steht parallel zum Satz »sie sind verschwunden…«. Ähnlich sieht’s im nächsten Vers aus, nur dass hier die Glieder übers Kreuz angeordnet sind – du könntest in deiner Bibel ein »X« an den Rand zeichnen, um diese Überkreuzung anzuzeigen: »Einer redet…« am Anfang des ersten Teilsatzes entspricht »reden sie« am Ende des zweiten Teilsatzes. Und »Lug und Trug…« am Ende des ersten Teilsatzes entspricht wiederum »mit glatter Lippe und doppeltem Herzen« am Anfang des zweiten Teilsatzes. Okay. Das mag einigen jetzt wie eine nutzlose Spielerei für Menschen ohne Hobbies erscheinen – was soll ich beim Studium der Bibel daraus gewinnen? Antwort:

Wenn wir den Parallelismus verstehen, dann haben wir eine zentrale Eigenheit des hebräischen Denkens verstanden, die sich durch die ganze Bibel hindurchzieht. Das hilft uns, die Kraft der poetischen Texte zu entdecken.

Man kann diese Eigenheit so beschreiben: Wir sind uns gewöhnt und haben in der Schule schon gelernt, uns klar und präzise auszudrücken. Der Lehrer ermahnt den ausschweifenden Schüler: »Hansli, bring die Sache auf den Punkt!« Das ist typisch für unser westeuropäisches Denken – wir wollen die Dinge eindeutig kategorisieren, Sachverhalte unmissverständlich definieren. Dieses Bedürfnis ist der Bibel (bzw. dem biblisch-hebräischen Denken) völlig fremd. In der ganzen Bibel finden wir keine Definitionen von Begriffen – nicht einmal absolute Schlüsselbegriffe des Glaubens (wie z.B. der Begriff »Glaube« selbst) werden in der Bibel eindeutig definiert. Das hebräisch geprägte Denken und darum auch die biblische Sprache versucht nicht, einen Sachverhalt auf den Punkt zu bringen, sondern ihn in verschiedenen Wendungen gewissermassen zu »umkreisen« und »einzuholen«. Dinge werden mehrmals mit verschiedenen Worten beschrieben, um immer schärfer zu zeichnen, worum es dem Autor geht. Diese verschiedenen Beschreibungen schliessen sich dann gerade nicht gegenseitig aus, sondern bestätigen, ergänzen, steigern oder präzisieren gemeinsam ihre Aussage. Und diese Eigenschaft der biblischen Sprache verdichtet nirgends deutlicher als in den poetischen Texten – die ganze Kunstform des Parallelismus drückt die hebräische Gewohnheit aus, Sachverhalte (und besonders: Erfahrungen, Gefühle…!) mehrmals mit unterschiedlichen Worten zu sagen. Zurück zu unserem Beispieltext: Das Verständnis des Parallelismus hilft uns zuerst einmal, den ersten Teilsatz »Die Heiligen haben abgenommen…« nicht als Weight-Wat-


chers-Erfolgserlebnis misszuverstehen – denn was mit der Abnahme der Heiligen gemeint ist, wird im parallelen Satzteil noch einmal anders und zugespitzt formuliert: »Die Treuen sind verschwunden…«. Es geht also kaum um die Gewichtsabnahme, sondern um eine existentielle Erfahrung des Beters: Ich fühle mich als frommer Israelit langsam aber sicher alleine hier! Neben diesem zugegebenermassen mässigen Erkenntnisfortschritt öffnet uns die Einsicht in das Wesen des Parallelismus aber eine ganze Reihe wichtiger Fragen, die uns tiefer in den Text hineinführen. Was lernen wir z.B. aus der Parallelisierung der »Heiligen« mit den »Treuen« – inwiefern ist Treue ein Zeichen von Heiligkeit (und umgekehrt)? Was für Menschen hat der Beter vor Augen, wenn er Lügner näher bestimmt als diejenigen, die »mit glatter Lippe und doppeltem Herzen reden«? Die letztgenannte Frage bringt uns zur zweiten Hilfe zum Verständnis poetischer Texte: Wir müssen nicht nur den Parallelismus kennen, sondern uns auch in die kraftvollen Bilder hineindenken, die uns in diesen Parallelismen begegnen. Hier liegt sogar der Schlüssel zur Identifikation mit der biblischen Poesie:

Male dir die Bilder, die der poetische Text gebraucht, so lebhaft wie möglich vor Augen – und frage dich, welche Funktion dieses Bild im entsprechenden Zusammenhang hat!

Die poetischen Bücher überquellen förmlich von ausdrucksstarken, bewegenden Bildworten und symbolischen Ausdrücken – wir sind uns oft einfach nicht gewohnt, diesen Bildern und Symbolen angemessene Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn David im obigen Psalm einen Lügner als Mensch mit glatter Zunge und doppeltem Herzen beschreibt, dann warten einige herausfordernde Entdeckungen auf uns, sobald wir zu diesen Bildern etwas nachdenken… (Z.B.: Inwiefern ist unser Verständnis von Lüge als »Falschaussage« zu eng oder zu oberflächlich? Kann ein Mensch eine »glatte Zunge« oder ein »doppeltes Herz« haben, auch wenn er formal nicht lügt…?) Eine wichtige Frage zu den Bildern in den poetischen Texten ist die Frage nach ihrer Funktion: Bilder wollen nicht im strengen Sinne wörtlich genommen werden, sondern sind funktional gebraucht. Wenn David den Herrn als seinen »Hirten« bezeichnet, dann hält er sich deswegen noch nicht für ein Schaf – sondern er spricht auf die Funktion an, die ein Hirte seiner Herde gegenüber wahrnimmt. Genauso verhält es sich, wenn Psalm 31,4 sagt: »Denn du bist mein Fels und meine Burg…« Hier geht es nicht um die Verehrung von Steinen oder Gebäuden, sondern um die Funktion, die Felsen und Burgen in der Not haben – und die hier auf Gott übertragen wird. Und natürlich gilt: Je mehr du dir über die Funktion eines Bildes im Klaren bist, desto tiefer verstehst du auch, was der Autor damit sagen wollte. Manchmal liegt das mehr oder weniger auf der Hand (auch heute weiss jeder, wozu eine Burg gut war…) – und manchmal empfiehlt sich auch hier der Griff nach einer Studienbibel oder einem Bibellexikon. Was

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ist zum Beispiel gemeint, wenn David im Psalm 139,13 betet: »Denn du hast meine Nieren gebildet; du hast mich gewoben im Schoß meiner Mutter.« Was bitte haben die Nieren in diesem Text zu suchen? Ein Lexikon hilft weiter… Eine letzte Anmerkung noch zu den poetischen Texten, speziell zu den Psalmen: Es gibt einen guten Grund, warum biblische Texte in der jüdischen Kultur nicht einfach wortlos gelesen, sondern mindestens leise vor sich hingesagt werden. Es liegt eine besondere Kraft im hörbaren Aussprechen des Wortes Gottes – und das gilt in besonderer Weise für die Psalmen! Um es provokativ zu formulieren: Die Psalmen sind eigentlich nicht zum stummen Lesen mit

den Augen geschrieben, sondern zum lauten Nachbeten mit dem Mund! Die einzigartige, lebensverändernde Energie gerade der biblischen Gebete wird entfesselt, wenn wir sie laut aussprechen und uns so existenziell in die Psalmen hineinbegeben. Probier das mal aus – und entdecke die Psalmen ganz neu! Als Übung zu den poetischen Texten schlage ich einen ebenso erheiternden wie ernsthaften Text aus dem Buch der Sprüche vor – ein Abschnitt, den man vor manchem Polterabend vorlesen sollte… Beachte dabei, dass nicht jeder Vers nach dem einfachen parallelen Muster funktioniert, das wir angeschaut haben.

Übung zu den poetischen Texten Sprüche 23,29-35 29 Wo ist Weh? Wo ist Leid? Wo ist Zank? Wo ist Klagen? Wo sind Wunden ohne jeden Grund? Wo sind trübe Augen? 30 Wo man lange beim Wein sitzt und kommt, auszusaufen, was eingeschenkt ist. wenn er so rötlich schimmert, 31 Sieh den Wein nicht an, wenn er im Becher funkelt und leicht hinuntergleitet. wie eine Schlange 32 Zuletzt beißt er wie eine Otter. und speit Gift Seltsames sehen, 33 Da werden deine Augen Verkehrtes reden, und dein Herz wird der auf hoher See sich schlafen legt, 34 und du wirst sein wie einer, der oben im Mastkorb liegt. und wie einer, doch es tat mir nicht weh, 35 »Man hat mich geschlagen, aber ich habe nichts gespürt. man hat mich gehauen, Wann wache ich auf? Von neuem will ich zum Wein greifen.«


Gewinne zuerst einen Eindruck von der Struktur des Textes – welche Satzglieder stehen parallel zueinander, wo siehst du die fürs biblische Denken typischen Wiederholungen oder »Umkreisungen« von Aussagen?

Welche Bilder werden in diesem poetischen Text verarbeitet? Wieviele zählst du – und in welcher Funktion bzw. mit welchem Ziel werden die Bilder eingesetzt? Welches Hauptanliegen erkennst du in dem ganzen Abschnitt?

Welche Spannungen und Fragen ergeben sich, wenn du den Text mit Johannes 2 (Hochzeit in Kana) verbindest? – Und natürlich: Was könnte der Text für unsere Zeit und unser Leben bedeuten?

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Alles Bibel oder was!? Ich war mal ein guter Christ. Ich habe täglich in der Bibel gelesen. Manchmal sogar mehrere Kapitel täglich! Ich habe die Bibel einmal ganz durchgelesen. Gute Christen lesen die Bibel. Das ist nun fast 10 Jahre her. In diesen 10 Jahren bin ich ein deutlich schlechterer Christ geworden. Ich habe das Interesse verloren am Bibellesen. Ich habe mich meinem Interesse entsprechend verhalten. Ich habe nicht mehr viel in der Bibel gelesen. Wie kam es dazu? Am Anfang meiner Jesusnachfolge war ich tatsächlich konfrontiert mit solchen Sätzen wie „ein guter Christ liest die Bibel“. Oder auch: „lies die Bibel jeden Tag, weil Gott brave Jünger mag“. Ohne Scheiss. Als 16jähriger kann man sich dem Einfluss dieser Drohgebärden-Dogmatik nur schwer entziehen. Dementsprechend hab ich die Bibel gelesen: jeden Tag. Weil sonst das schlechte Gewissen drohte. Oder... fast jeden Tag. Ich bin kein so gründlicher Typ, deswegen musste ich ab und zu halt mit einem schlechten Gewissen leben. Ich hab wenig kapiert von dem, was ich da gelesen hab. Vieles konnte ich nicht einordnen. Vieles, was zu meiner Erlösung geschrieben war, hat mir das Gefühl gegeben, dass ich nicht genüge. Aber ich habs gelesen. Das Lesen an sich hat mir nicht geschadet. Manchmal hab ich sogar was ka-

piert. Und mit der Zeit bekam ich sogar raus, dass der Jesus, um den es da geht, der gleiche ist wie der, den ich selbst erlebt hatte. Und ich war fasziniert! Der Gott, von dem ich las, der hatte vor allem eins im Sinn: solche Dummbatze wie mich vor den allerschlimmsten Folgen ihres gottfernen Lebens zu retten. Ich verstand: dieser Gott verflucht uns nicht – er segnet. Und ich las die Bibel, weil ich darin Neuigkeiten über meinen Gott fand. Ich hab ein eher gutes Gedächtnis. Neuigkeiten wurden Bekanntes, Bekanntes wurde Gewohnheit. Herausforderungen waren gemeistert, andere ausgeblendet. Ich las die Bibel weniger. Ich war weniger fasziniert. Gott war okay, aber ich kannte ihn ja jetzt. Dann übernahm ich die Leitung einer Jugendgruppe. Frustrierte Teenies, die „abgelöscht“ waren von der Doppelmoral in der Gemeinde ihrer Eltern. In mir erwachte eine Vision, wie diese Kids ihren Gott fanden, obwohl sie der Meinung waren, ihn bereits getroffen zu haben – und er interessierte sie nicht. Ich begann zu predigen. Ich liebte diese Kids. Ich wollte sie mit meinem Gott zusammenbringen. Ich begann, die Bibel zu lesen – ganz anders als vorher. Ich las sie für meine Kids. Ich studierte sie. Ich nahm sie auseinander. Ich ging den Widersprüchen


nach. Ich forschte über die Religiosität, die ihnen die Luft verpestete, und was Gott darüber sagte. Irgendwann merkte ich, dass sich da was wiederholt. Ich predigte, und ich predigte vielseitig, aber es war wurscht, welches Thema ich hatte – es lief jedesmal darauf raus, Gott zu begegnen und ihn kennenzulernen. Neuigkeiten wurden Bekanntes, Bekanntes wurde Gewohnheit. Ich brauchte die Bibel nicht mehr zu lesen, um das zu predigen, was die Kids brauchten. Dachte ich. Ich gab die Leitung der Gruppe ab, um woanders hinzuziehen. Noch mehrfach übernahm ich Verantwortung für Menschen, und noch öfters flammte mein Interesse an der Bibel wieder auf. Und ab und zu schlief es auch wieder ein. Und eingeschlafen, das war es seit einigen Jahren, als ich den Job übernahm, diesen Artikel zu schreiben. Was hab ich zu sagen? Ich bin kein langjährig treuer Bibelleser. Aber ich bin ein lernfähiger Mensch. Also hab ich mir Gedanken gemacht, wie ich wenigstens im Nachhinein zu dem Vorbild werden kann, das ich idealerweise sein sollte, um einen Motivier-michzum-Bibellesen-Artikel zu verfassen. Hier sind meine Ergebnisse: 1. Die Bibel ist schwierig. Sie steckt voller schwer begreifbarer Dinge und Zusammenhänge. Das macht sie mir sympathisch – ich bin auch so. 2. Die Bibel hat mir was zu geben. Sie ist nicht nur wichtig, um was weiterzugeben oder stichhaltig argumentieren zu können, sondern sie besteht aus den Worten unseres Gottes – und die sollen ja immerhin Tote auferwecken

und so. Da ist was drin für mich; das will ich haben! 3. Die Bibel hilft mir, Gott in seiner Ganzheit besser, tiefer und umfassender zu verstehen. Die Bibel zu lesen, um sie gelesen zu haben, ist Blödsinn. Aber wenn ich Gott kennenlernen möchte, bin ich gut beraten, neben persönlicher Kontaktaufnahme auch die Bibel zu bemühen. Sie bietet etliche Perspektiven, aus denen ich Gott sonst nicht sehen könnte und viel Diskussionsgrundlage für lange Abende mit Jesus. 4. Die Bibel fordert mich heraus. Ich habe gemerkt, dass ich mich und andere mit meiner Bibelkenntnis beeindrucken kann – aber wenn ich nur auf das zugreife, was mir mein Gedächtnis anbietet, neige ich dazu, das herauszufiltern, was mir unbequem ist. So kann ich mich sehr engagiert fühlen, ohne mich auf die Herausforderungen einzulassen. Christliche Schminke heisst das dann – und ich gefalle mir ungeschminkt besser. Im ICF Basel sind wir grad in den Bibelwochen. Die Intention dahinter ist, eine Begeisterung für die Bibel zu generieren; eine nachhaltige Liebe zu diesem seltsamen Buch, das unser Schöpfer uns zusammengestellt hat. Ich hab das Gefühl, es könnte sich lohnen, sich drauf einzulassen. Ich freu mich richtig auf meine Bibel!

Autor Axel Brandhorst


Prophetische Texte Wenn Gott mitten in unser Leben spricht


Damit sind wir bei der schillerndsten Textgattung der Bibel angelangt. Ein ganz beachtlicher Teil der Bibel zählt nämlich zur sogenannten »prophetischen Literatur«. Und das Stichwort »Prophetie« weckt dabei die abenteuerlichsten Assoziationen. Manche denken an die geheimnisvollen Prophezeiungen von Nostradamus, andere an Sarumans Kristallkugel aus »Herr der Ringe«, wieder andere an Orakel-Automaten auf Jahrmärkten, die für zwei Franken eine persönliche Zukunftsvorhersage ausspucken – oder an Zeitschriften-Inserate von dubiosen Wahrsagern, deren Prophezeiungen deutlich mehr kosten, aber genauso wenig wert sind. Solche und ähnliche Bilder prägen das heutige Verständnis von »Propheten« und »prophetischen Botschaften«, aber sie verfehlen das Wesen der Prophetie in der Bibel meilenweit. Um zu verstehen, was der lebendige Gott mit der Berufung von Propheten vorhatte und was ihre Botschaften uns heute noch zu sagen haben, müssen wir uns von der Vorstellung exzentrischer Wahrsagerinnen mit langen Fingernägeln und weissbärtiger Zauberer endgültig verabschieden – und uns auf die prophetischen Texte der Bibel einlassen…

Prophetie in der Bibel ist nicht Wahrsagerei. Es geht ihr nicht einmal in erster Linie oder zu grössten Teilen um die Vorhersage zukünftiger Ereignisse,

sondern vielmehr um Gottes konkretes, gegenwärtiges Wort an sein Volk. Wer also von den Propheten hauptsächlich die Klärung zukünftiger Ereignisse erwartet, versperrt sich in den meisten Fällen selbst den Weg zum Verständnis dieser Texte: Er übersieht die eigentliche Aufgabe der Propheten – »nämlich im Auftrag Gottes zu ihren Zeitgenossen zu sprechen« (Gordon D. Fee/Douglas Stuart: Effektives Bibelstudium. Die Bibel verstehen und auslegen, Asslar 2010, Seite 213). So verschieden die Gründe und Anlässe zur Berufung der Propheten waren, so waren sie doch alle in einer Weise von Gott beauftragt, seinem Bund mit dem Volk Israel neu Geltung zu verschaffen: »Sie sind Gottes Mittler oder Sprecher für den Bund« (Fee/Stuart, Effektives Bibelstudium, 215). Jeder, der schon in den prophetischen Büchern der Bibel gelesen hat, der weiss: Die nahmen definitiv kein Blatt vor den Mund. In den Prophetentexten begegnen uns einige der schwerverdaulichsten Aussagen der ganzen Bibel. (Man lese nur einmal Amos 5,21-24. Der Abschnitt beginnt mit der Einleitung: »Der Herr sagt: Ich hasse eure Gottesdienste, geradezu widerwärtig sind sie mir…« Und danach wird’s erst richtig ungemütlich…) Die Propheten knüpften an den Segensverheissungen und an den Fluchworten an, die Gott Moses für das Volk Israel gegeben hat (vgl. 3. Mose 26; 5. Mose 4 und 5. Mose 28-32) – und sie erinnern das Volk eindringlich an die Kon-

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sequenzen ihres Handelns. Wenn aber auch bei den meisten Propheten die Warnungen und Gerichtsankündigungen eindeutig überwiegen, so steht doch immer die Bewahrung oder Erneuerung des Bundes mit Gott im Mittelpunkt: Auch und gerade durch die Gerichtsankündigungen versucht Gott ja, sein Bundesvolk noch einmal zur Umkehr zu bewegen. Die biblische Prophetie kann darum auch nicht als Beleg für einen fahrplanmässigen Ablauf der Heilsgeschichte herhalten – sie ist vielmehr ein lebendiges Zeugnis für die dynamische Interaktion zwischen Gott und Mensch:

Gott schreibt durch das Warnen und Werben der Propheten an seiner einzigartigen Beziehungsgeschichte mit seinem Bundesvolk. Es geht gerade nicht um Zukunftsvoraussagen zum (nachträglichen) Beweis der Allwissenheit Gottes – es geht um das gegenwärtige Bemühen Gottes, sein Volk wieder für sich zu gewinnen! (Eindrücklich belegt wird dieser Grundzug der biblischen Prophetie auch durch jene Fälle, in denen Gott seinen Willen zum Gericht ändert und seine Prophetien unerfüllt lässt, weil das

Volk überraschend zu ihm zurückkehrt – lies dazu unbedingt einmal Jona 3,4-10!) Und wo in der Bibel begegnen uns die Propheten und ihre Botschaften? Zu den prophetischen Büchern der Bibel zählen die vier »grossen« Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel und Daniel sowie die zwölf »kleinen« Propheten Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zephania, Haggai, Sacharia und Maleachi. (Wobei sich »gross« und »klein« nicht auf die Körpergrösse der jeweiligen Propheten, sondern auf den Umfang ihrer überlieferten Schriften bezieht…) Die meisten dieser Bücher überliefern hauptsächlich die Botschaften (Predigten, Visionen, Reden…) der Propheten und nicht deren Lebensgeschichte. (Allerdings weisen sämtliche Prophetenbücher auch erzählende Passagen auf – manchmal nur die kurzgefasste Berufungsgeschichte des Propheten wie in Hosea 1,1; Amos 1,1; Obadja 1,1 u.a., manchmal aber auch ausgedehnte Erzählungen zum Leben und geistlichen Kampf des Propheten wie in Jesaja 36-39; Jeremia 26-29; Hesekiel 1-3; Daniel 1-7. Das Buch Jona ist sogar reine Erzählung.) Die hinter diesen Büchern stehenden Männer (die sogenannten »Schriftpropheten«) haben zwischen ca. 760 und 460 v. Chr. dem Volk als Botschafter des lebendigen Gottes gedient. Im Neuen Testament wird nur die Offenbarung des Johannes (formal eigentlich ein Briefschreiben) zu den prophetischen Büchern gezählt. Wir müssen uns aber in Erinnerung halten, dass die sechzehn Schriftpropheten des Alten Testaments keineswegs die einzigen von Gott berufenen Propheten Israels waren: Unter Hun-


derten von Propheten haben einfach nur sie den Auftrag bekommen, Gottes Reden zu seinem Volk schriftlich festzuhalten und späteren Generationen zu überliefern. Viele andere und auch frühere Propheten wie Samuel, Elia oder Elisa übten aber eine einflussreiche Funktion in Israel und am Königshof aus – wenn uns auch meist mehr über diese Propheten selbst als über ihre Worte bekannt ist. Ihre Geschichten sind v.a. in den Büchern Josua, Richter, Samuel und Könige festgehalten, welche im hebräischen Alten Testament darum zu den »früheren Propheten« gezählt werden. Über diese Zeugnisse von Menschen im klassischen »Prophetendienst« zur Zeit der Richter bis zur Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft hinaus finden wir aber auch in vielen anderen Büchern der Bibel »prophetische« Aussagen und Abschnitte – dies besonders im Sinne der messianischen Prophetie: Durch die ganze Bibel hindurch zieht sich eine Linie von Ermutigungen und Ermahnungen des Volkes Gottes im Blick auf das Kommen des Messias und die Vollendung der Schöpfung im messianischen Friedensreich (vgl. 1. Mose 3,15; 5. Mose 18,15-22; die Psalmen 2, 18, 21, 45, 72 und 110; Matthäus 23-24 u.v.m.). Für das Verständnis prophetischer Texte gilt nun in besonderer Weise, was grundsätzlich von allen biblischen Schriften gesagt werden muss: Wir können sie nicht in ihrer Tiefe erfassen, wenn wir mit den historischen Gegebenheiten, unter denen sie verfasst wurden, nicht vertraut sind. Die Verflochtenheit der Prophetenworte mit der geschichtlichen und geistlichen Situation Israels macht die Kenntnis dieser Situation

unerlässlich. Gerade die prophetischen Bücher »setzen Zeit und Studium voraus. Oft geht man beiläufig an diese Bücher heran, als könne schon ein oberflächliches Durchlesen der Propheten zu einem hohen Mass an Verständnis führen. So kann man schon bei Schulbüchern nicht vorgehen, und es funktioniert auch bei den Propheten nicht – zum Teil, weil so viele dieser Sprüche in lyrischer Form vermittelt werden, aber vor allem, weil sie in historische, kulturelle und politische Bedingungen hineinsprachen, die sich von unseren so stark unterscheiden« (Fee/Stuart, Effektives Bibelstudium, 220). Interessanterweise stammen aber die sechzehn prophetischen Bücher des Alten Testaments aus einem ziemlich kurzen Abschnitt des gesamten israelischen Geschichtspanoramas, nämlich aus den Jahren zwischen 760 und 460 v. Chr. Wer also einige grundsätzliche Kenntnisse dieser Periode der Geschichte Israels gewinnt, hat schon wesentlich bessere Voraussetzungen zum Verständnis der biblischen Prophetien. Fee/Stuart liefern dazu folgende Zusammenfassung: »Diese Jahre waren von drei Entwicklungen gekennzeichnet: (1) beispiellose politische, militärische, ökonomische und soziale Umwälzungen, (2) ein gewaltiges Ausmass an religiöser Untreue sowie die Missachtung des ursprünglichen mosaischen Bundes und (3) Umschichtungen in der Bevölkerung und Verschiebungen der nationalen Grenzen, verbunden mit enormen Machtverschiebungen auf der internationalen Ebene. Unter diesen Umständen wurde Gottes Wort ganz neu gebraucht. Gott liess Propheten aufstehen, um sein Wort der Situation entsprechend zu verkündigen.

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Im Jahre 760 v. Chr. war Israel eine durch fortgesetzte Bürgerkriege dauerhaft zerteilte Nation. Die Nordstämme, ‚Israel’ oder manchmal auch ‚Efraim’ genannt, hatten sich vom südlichen Stamm Juda abgespalten. Das Nordreich, in dem der Ungehorsam gegen den Bund alles im Süden Dagewesene weit übertraf, wurde wegen seiner Sünde von Gott unter Gericht gestellt und war von der Vernichtung bedroht. Amos begann um 760 v. Chr. und Hosea um 755 v. Chr., den drohenden Untergang zu verkündigen. Um 722 v. Chr. wurde der Norden von Assyrien erobert, der damaligen Grossmacht des Nahen Ostens. Danach waren die zunehmende Sündhaftigkeit Judas und der Aufstieg einer anderen Grossmacht, Babylons, das Thema vieler Propheten, zu denen unter anderem Jesaja, Jeremia, Joel, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja und Hesekiel (Kapitel 1-24) gehörten. 587 v. Chr. wurde auch Juda wegen seines Ungehorsams zerstört. Danach verkündeten Hesekiel (Kapitel 33-48), Daniel, Haggai, Sacharja und Maleachi Gottes Willen, sein Volk wiederherzustellen (was 538 v. Chr. mit der Rückkehr Israels aus der Gefangenschaft begann), die Nation wieder aufzubauen und die Rechtgläubigkeit wiederaufzurichten. Die Propheten äusserten sich oft direkt zu diesen Ereignissen. Wenn man diese und andere Ereignisse nicht kennt, wird man die Äusserungen der Propheten wahrscheinlich nicht in angemessener Weise nachvollziehen können. Gott sprach in der Geschichte über die Geschichte. Um sein Wort zu verstehen, müssen wir etwas über diese Geschichte wissen.« (Fee/Stuart, Effektives Bibelstudium, 222-223) Gerade zur Klärung des geschichtlichen Um-

felds der biblischen Propheten sind wir darum auch auf »externe« Hilfsmittel angewiesen. Es empfiehlt sich unbedingt, vor dem Studium eines prophetischen Buches jeweils eine Einleitung dazu in einer Studienbibel oder einem Bibellexikon zu lesen. Nun könnte einer natürlich fragen: Warum soll ich mir die Mühe machen, zu verstehen, was ein Prophet in einer anderen Zeit zu einem anderen Volk in einem anderen Land gesagt hat? Kurz: Was gehen uns denn die Prophetien der Bibel überhaupt an? Gute Frage. Es ist ja tatsächlich so, dass nicht nur die Worte der Propheten in ihre Zeit hineingesprochen waren, sondern dass auch die Erfüllung dieser Worte meistens von den damaligen Empfängern erlebt werden konnte bzw. sie persönlich betraf. (Dem Wesen biblischer Prophetie entsprechend konnten deren Empfänger aber die Erfüllung beschleunigen, herauszögern oder sogar abwenden, je nachdem, wie sie sich zur verkündeten Botschaft verhielten…) Keine der biblischen Prophetien wurde ausschliesslich an zukünftige Adressaten gerichtet, so dass sie für die damaligen Hörer zeitlich ausser Reichweite und völlig unverständlich gewesen wären. Sicher: »Gelegentlich lässt Gott detailliert sagen, was er in kommenden Zeiten tun wird. Aber auch da – man spricht gern von vorausschauender bzw. futuristischer Prophetie – ist das vorausschauende Element meist fest mit der Gegenwart verknüpft. Der Prophet spricht für die Menschen, die ihn hören, sagt, was das für sie bedeutet, spricht ihre Sprache, bedient sich ihrer Vorstellungen. Er lässt sie nicht plötzlich



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hinter sich, so dass er im leeren Raum stünde und irgend etwas über ‚kommende Ereignisse’ reden würde. Vielmehr öffnet er seinen Hörern die Augen für Gottes Heilsabsichten« (W.S. LaSor u.a.: Das Alte Testament. Entstehung - Geschichte – Botschaft, Giessen 1992, Seite 364). Auch und gerade für die prophetischen Texte ist also die erste und grundlegende Frage des Bibellesers: Was wollte der Prophet seinen Hörern mitteilen – und wie haben die damaligen Adressaten seine Botschaft verstanden? Trotzdem müssen aber die prophetischen Worte der Bibel gewissermassen für eine »mehrfache Erfüllung« offengehalten werden: Gottes Worte durch seine Propheten haben oft eine »Tiefendimension«, die zwar nicht an der damaligen Situation vorbei, aber darüber hinaus geht. »In der biblischen Prophetie verbinden sich Gegenwartsbezug und Zukunftsblick« (LaSor, Das Alte Testament, 363).

Gerade in ihrer dichterischen Qualität und Bildhaftigkeit treffen die prophetischen Botschaften des Alten Testaments nicht nur einen bestimmten Punkt in der Vergangenheit Israels, sondern zeigen »Handlungsmuster« der Geschichte Gottes mit den Menschen auf, die immer wieder auftreten.

»Die Prophetie ist wie ein Fenster, das Gott für sein Volk durch seine Knechte, die Propheten, aufgetan hat. Lenkt man den Blick darauf, kann man Gottes Tun und Absicht besser verstehen. Man versteht, was er für, mit und durch sein Volk in der Vergangenheit getan hat und bekommt ein klareres Verständnis seines Willens für die Gegenwart und die Zukunft« (LaSor, Das Alte Testament, 365). In dieser Weise werden auch im Neuen Testament viele alttestamentliche Prophetien auf neutestamentliche Ereignisse bzw. auf den neuen Bund in Jesus Christus bezogen. Diese Bezüge sind kaum als exklusive (ausschliessliche) Erfüllungen der alttestamentlichen Prophetien zu sehen, sondern vielmehr als Bestätigungen dessen, was Gott seinem Volk damals durch den Propheten mitgeteilt hat. Wenigstens ein Beispiel dazu: In Matthäus 2,1415, also noch in der Weihnachtsgeschichte, lesen wir folgendes: »Da zog Joseph noch in der Nacht mit Maria und dem Kind nach Ägypten. Dort blieben sie bis zum Tode von Herodes. So erfüllte sich das Wort des Propheten, durch das Gott gesagt hatte: ‚Ich habe meinen Sohn aus Ägypten gerufen’ (Hosea 11,1).« Matthäus stellt hier einen überraschenden und für unsere Ohren eher befremdlichen Zusammenhang her zwischen der Flucht der Familie von Jesus nach Ägypten und der prophetischen Aussage im Buch Hosea, wo wir wörtlich lesen: »Der Herr sagt: ‚Als Israel jung war, begann ich, es zu lieben. Israel, meinen Sohn, rief ich aus Ägypten.’« Hosea greift in diesem Vers wiederum eine Formulierung aus 2. Mose 4,22 auf, wo Gott Israel als »meinen erstgeborenen Sohn« bezeichnet.


»Bei Hosea ist der Kontext die Befreiung Israels aus Ägypten durch den Exodus. Die Absicht besteht darin zu zeigen, wie Gott Israel von Anfang an als sein eigenes ‚Kind’ liebte. Diesen Sprachgebrauch greift Matthäus auf, als er Hosea 11,1 wiederverwendet, um auf die Flucht des jungen Jesus mit seiner Familie nach Ägypten hinzuweisen. Matthäus sagt damit nicht, Hosea habe ‚prophezeit’, dass der Messias eines Tages ‚aus Ägypten’ kommen würde. Er sieht vielmehr eine analoge ‚Erfüllung’, indem der Messias als Gottes wahrer ‚Sohn’ nun Israels eigene Geschichte als Gottes ‚erstgeborener Sohn’ neu wiederholt« (Fee/Stuart: Effektives Bibelstudium, 238). Mit anderen Worten: Rückblickend auf die Flucht der Familie von Jesus und deren Rückkehr aus Ägypten stellt der Evangelist Matthäus einen Zusammenhang mit der prophetischen Aussage bei Hosea her. Dieser Zusammenhang ist alles andere als zwingend – keiner hätte es von Jesus erwartet, dass er aus Ägypten zurück nach Israel kommt aufgrund von Hosea 11,1. Es ist eher eine spielerische Verbindung, die Matthäus herstellt, weil er überzeugt ist, dass sich prophetische Botschaften in Gottes Geschichte mit den Menschen auf gewisse Weise immer wieder erfüllen – und weil es eine interessante Parallele ist, dass Gott im Alten Testament seinen »Sohn Israel« aus Ägypten zurückruft und jetzt der Sohn Gottes in Person aus Ägypten ins Land Israel zurückkehrt… Schliesslich noch eine sehr grundsätzliche inhaltliche Beobachtung: Wir haben festgestellt, dass die Propheten von Gott beauftragt waren, Israel an seinen Bund mit dem lebendigen Gott zu erin-

nern und es zur Umkehr bzw. zur Erneuerung der Gottesbeziehung zu rufen. In dieser Botschaft ist wesensmässig der Blick auf Jesus Christus immer schon enthalten – denn er ist ja derjenige, der die menschliche Untreue erst überwindet und die Beziehung zu Gott endgültig wiederherstellt. Die ganze prophetische Verkündigung atmet daher etwas vom Geist des Neuen Testaments, etwas von dem ewigen Plan Gottes, den Fluch des Gesetzes in Jesus Christus zu zerbrechen und ein neues Bundesvolk zu segnen. Wenn wir uns also mit prophetischen Botschaften der Bibel beschäftigen und die Situation der damaligen Hörer berücksichtigen, finden wir uns schnell selbst in diesen Texten wieder. Die prophetischen Worte rufen dann auch uns zurück in den Bund mit Gott – und das heisst im Licht des Neuen Testamentes immer: Sie rufen uns zurück in die Gemeinschaft mit Jesus Christus. Damit wird die Kraft der prophetischen Botschaft auch an uns wirksam, und ihre Zusagen erfüllen sich – über Jesus Christus, der uns in den Bund mit Gott einbezogen hat – in unserem eigenen Leben! Das gilt auch für prophetische Botschaften, die vom Gericht am Ende dieser Zeit bzw. von der zukünftigen Vollendung der Schöpfung sprechen: Sie öffnen unseren Horizont für die endgültige Absicht Gottes mit dem Menschen und werfen ein anderes Licht auf unser Leben in dieser gefallenen Welt. Besonders bei der Beschäftigung mit solchen Texten »futuristischer Prophetie« (v.a. im Buch der Offenbarung des Johannes) müssen wir uns über die poetische Form und den symbolischen Charakter biblischer Prophetie im Klaren sein und dürfen nicht

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der Versuchung erliegen, alle Einzelheiten des Textes auszudeuten. Die prophetische Botschaft will nie unsere Neugierde im Blick auf die Zukunft befriedigen oder einen geschichtlichen Fahrplan offenbaren – sie ermutigt und stärkt uns in unserem gegenwärtigen Glauben

und lässt uns das Leben in der richtigen Perspektive sehen! So – und jetzt untersuche doch mit diesen Anstössen einmal einen Text aus dem Königsbuch unter den Propheten: aus Jesaja…

Übung zu den prophetischen Texten Jesaja 25,6-12 6 Hier auf dem Berg Zion wird der Herr, der allmächtige Gott, alle Völker zu einem Festmahl mit köstlichen Speisen und herrlichem Wein einladen, einem Festmahl mit bestem Fleisch und gut gelagertem Wein. 7 Dann zerreißt er den Trauerschleier, der über allen Menschen liegt, und zieht das Leichentuch weg, das alle Völker bedeckt. Hier auf diesem Berg wird es geschehen! 8 Er wird den Tod für immer und ewig vernichten. Der Herr, der allmächtige Gott, wird die Tränen von jedem Gesicht abwischen. Er befreit sein Volk von der Schande, die es auf der ganzen Erde erlitten hat. Das alles trifft ein, denn der Herr hat es vorausgesagt.

9 In jenen Tagen wird man bekennen: "Der Herr allein ist unser Gott! Auf ihn haben wir unsere Hoffnung gesetzt, und er hat uns gerettet. Ja, so ist der Herr! Nun wollen wir Danklieder singen und uns über seine Hilfe freuen!" 10 Der Herr hält seine Hand schützend über Jerusalem. Das Land Moab dagegen wird zertreten wie Stroh in der Jauche. 11 Verzweifelt schlägt Moab um sich wie ein Ertrinkender. Doch alle Schwimmversuche nützen nichts mehr: Der Herr zerbricht seinen Stolz und seinen Hochmut. 12 Alle eure hohen und starken Befestigungen, ihr Moabiter, wird der Herr niederreißen und dem Erdboden gleichmachen!


In welche geschichtliche Situation hinein spricht Jesaja mit diesen prophetischen Worten? Was für ein Szenario malt Jesaja seinen Hörern hier vor Augen – und warum war es den damaligen Hörern wichtig?

Wo siehst du Parallelen in diesem Text zu anderen Texten in der Bibel – und welche Zusammenhänge entdeckst du besonders zum Neuen Testament? Wo steckt gewissermassen Jesus in diesem Text?

Was hat der Text mit der Geschichte in Johannes 2 (Hochzeit in Kana) zu tun – wie erweitert er unser Verständnis dieses ersten Wunders von Jesus? Und was hat die Verheissung von Jesaja uns persönlich zu sagen?

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Biblische Briefe Wenn fremde Post uns persรถnlich angeht


Du sitzt im Tram, da klingelt das Handy deines Sitznachbarn. Der Typ redet so laut, dass du nicht weghören kannst. Unwillkürlich machst du dir Gedanken über den Gesprächsgegenstand… »Hey, Andi! Schön von dir zu hören – was läuft? … Aha. Gar nicht gut. Aber ich hab dir immer gesagt, die spinnt ein bisschen.« Beziehungsprobleme? »Okay. Also wenn gar nichts mehr geht, dann musst du ihr mal in den Hintern treten. Hab ich bei meiner auch immer so gemacht, danach lief’s prächtig.« Äh… Tschuldigung? »Sag ich ja! … Was? Bewegt sich überhaupt nicht? Allright. … Dann lass sie doch mal richtig volllaufen. Vielleicht liegt’s daran.« Muss ich einschreiten? »Ist schon voll? Dann ist die zu nichts zu gebrauchen. Fahr sie nach Frankreich in den Wald und lass sie irgendwo stehen…« Das ist ja unerhört! Ich sollte das der Polizei melden… Du hättest bestimmt wesentlich entspannter zuhören können, wenn du mehr von dem Kollegen mit seiner kaputten Vespa am anderen Ende der Leitung gewusst hättest. Aber ohne diese Kenntnisse ist es nicht immer einfach herauszufinden, worum sich das Gespräch dreht und auf welche Anliegen der eine antwortet. Ganz so schlimm ist die Ausgangslage bei der letzten Textgattung der Bibel, die wir uns genauer anschauen, nicht – aber der Charakter dieser Texte hat trotzdem Ähnlichkeiten mit einer Konversation, von der man nur eine Seite kennt. Ich spreche von den Briefen der Bibel. Sie machen einen erheblichen Teil des Neuen Testaments aus – man könnte auch sagen: Wenn man

vom gesamten Neuen Testament die Evangelien, die Apostelgeschichte und die Offenbarung abzieht, dann bleiben nur noch die Briefe übrig. Insgesamt sind uns 21 biblische Briefe aus der Zeit der ersten Christen überliefert, 13 davon stammen von Paulus, dem fleissigsten Briefeschreiber unter den Aposteln, die anderen 8 Briefe wurden von Johannes, Petrus, Jakobus, Judas und einem unbekannten Schreiber verfasst, welcher uns den Hebräerbrief geschenkt hat (manche würden sagen: aufgebrummt, aber das wäre zu negativ…). Auch wenn sich diese Briefe in ihrer Form und ihrem Stil teilweise stark unterscheiden und auch wenn man sie noch in weitere Untergruppen aufteilen könnte, so haben sie doch mindestens eines gemeinsam:

Alle neutestamentlichen Briefe sind von einem bestimmten Verfasser in einer bestimmten Zeit an eine bestimmte Leserschaft geschrieben worden. »Trotz dieser formellen Vielfalt haben alle Briefe dennoch ein Merkmal gemeinsam, das für das Lesen und die Auslegung ganz entscheidend ist: sie sind alle situativ bedingt (sie wurden durch eine bestimmte Situation veranlasst und beschäftigen sich mit dieser konkreten Situation), und alle stammen aus dem 1. Jahrhundert. Sie wurden zuerst aus dem Kontext des Autors für den Kontext der ursprünglichen Empfänger geschrieben. Gerade diese beiden Aspekte

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– die situative Bedingtheit und die Entstehung im 1. Jahrhundert – sind es, die eine Auslegung hin und wieder so schwierig machen. Vor allem aber muss die Tatsache ernst genommen werden, dass die Briefe aus einem konkreten Anlass geschrieben wurden. Es gab bestimmte Umstände beim Empfänger oder beim Absender, die ihre Abfassung erforderlich machten. Bei fast allen neutestamentlichen Briefen liegt der Anlass auf der Seite der Leser (Ausnahmen sind der Brief an Philemon und vielleicht auch der Jakobus- und der Römerbrief). Der Auslöser war meist ein bestimmtes Verhalten, das eine Korrektur erforderlich machte, ein lehrmässiger Irrtum, der berichtigt werden musste, oder ein Missverständnis, das aufgeklärt werden sollte. Die meisten Probleme, die wir beim Auslegen der Briefe haben, ergeben sich aus ihrem situativen Charakter. Wir kennen die Antworten, wissen aber nicht immer, um welche Fragen oder Probleme es ging.« (Fee/Stuart, Effektives Bibelstudium, Seiten 59-60). Hierin liegen also die Ähnlichkeiten mit einem Telefongespräch, von dem wir nur die eine Seite mitbekommen. Wir können uns darum auch gleich auf eine erste, unverzichtbare Hilfe zum Verständnis biblischer Briefliteratur stürzen:

Uns muss die Situation der damaligen Schreiber und Leser vertraut werden, wenn wir den Schatz der neutestamentlichen Briefe wirklich heben wollen.

Lass uns zunächst mal fragen: In welcher Zeit seines Lebens und in welchen Umständen hat der Verfasser diesen Brief geschrieben? Es ändert viel an unserer Wahrnehmung des Philipperbriefes, wenn wir erkennen, dass Paulus diesen Brief aus dem Gefängnis geschrieben hat. Die Hinweise darauf müssen wir uns allerdings nicht aus Handbüchern und Lexika zusammensuchen, sondern wir können sie aus dem Brief selbst entnehmen. Paulus schreibt ja schon im ersten Kapitel (Phil 1,12-13): »Meine lieben Brüder und Schwestern! Ihr sollt wissen, dass meine Gefangenschaft die Ausbreitung der rettenden Botschaft nicht hinderte. Im Gegenteil! Allen meinen Bewachern hier und auch den übrigen Prozessteilnehmern ist inzwischen klar geworden, dass ich nur deswegen eingesperrt bin, weil ich an Christus glaube…«. Paulus sitzt wegen seinem Glauben im Knast. Und aus dieser zermürbenden, demütigenden und ungerechtfertigten Gefangenschaft heraus verfasst er den Philipperbrief, der als der »Brief der Freude« in die Geschichte eingegangen ist – weil Paulus offenbar von einer übersprudelnden Freude erfüllt ist, die er einfach nicht für sich behalten kann. Durch den ganzen Brief hindurch bricht es immer wieder aus ihm heraus: »Freut ihr euch ebenso, freut euch mit mir!« (Phil 2,18), »Vor allem, liebe Geschwister: Freut euch darüber, dass ihr mit dem Herrn verbunden seid!« (Phil 3,1), »Freut euch, was auch immer geschieht; freut euch darüber, dass ihr mit dem Herrn verbunden seid! Und noch einmal sage ich: Freut euch!« (Phil 4,4) Dass Paulus für die Nachfolger von Jesus so viel Grund zur Freude sieht, ist ohnehin bemerkenswert, aber seine Freudenrufe



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bekommen noch einmal eine ganz andere Kraft und Bedeutung, wenn wir berücksichtigen, dass Paulus den Philipperbrief nicht mit dem Goldfüller am Mahagoni-Pult in seinem klimatisierten Arbeitszimmer geschrieben hat, sondern aus dem Knast. Kurz gesagt: Die Einsicht in die Umstände des Verfassers hilft uns, die Aussagen seines Briefes besser zu verstehen. Dann können wir uns natürlich auch fragen: An welche Leserschaft wurde der Brief denn geschrieben? Manche Briefe im Neuen Testament sind an Einzelpersonen geschrieben worden (der Brief von Paulus an Philemon sowie die sogenannten »Pastoralbriefe«, die Paulus an junge »Pastoren« oder »Hirten« damaliger Gemeinden gerichtet hat – an Titus und Timotheus), die meisten Briefe richten sich aber an eine bestimmte Gemeinde (oder an mehrere Gemeinden in einer bestimmten Region). Aus vielen ausserbiblischen Quellen können wir einiges über die Städte in Erfahrung bringen, an deren christliche Gemeinden bestimmte Briefe ausdrücklich adressiert sind. Handschriften, Ausgrabungen und andere historische Quellen geben uns ein ziemlich scharfes Bild von Rom, Korinth, Ephesus, Philippi, Kolossä und Thessaloniki im ersten Jahrhundert – alles Städte, in denen Christen lebten, die von Paulus angeschrieben wurden. Über ihre wirtschaftlichen, politischen, religiösen Umstände ist uns vieles bekannt, und jede Studienbibel (oder auch ein Handbuch oder Lexikon zur Bibel) gibt uns darüber wertvolle Auskunft. Es spielt zum Beispiel für das Verständnis des Korintherbriefes eine entscheidende Rolle zu wissen, dass Korinth zur Zeit des Paulus eine wohlhabende, kosmopolitische Stadt war, sogar die grösste im da-

maligen Griechenland. Ihre Bewohner waren ausgesprochen religiös (es gab mindestens 26 Tempel und Heiligtümer in der Stadt), liebten aber auch das Entertainment (Theater, Musik, Spiele…) und die Ausschweifung (blühende Prostitution, ausufernde Feste, gemeinsames Rauschtrinken…). Korinth war ein bisschen das Las Vegas der Antike, und der Brief des Paulus an die dortigen Christen kann darum auch nicht wie ein Brief an eine kleine Ortsgemeinde auf dem Land gelesen werden. Viele der Probleme, die Paulus im Korintherbrief anspricht, haben mit dem Leben der Christen in dieser pulsierenden Metropole zu tun. Was uns zur nächsten Frage bringt: Auf welche Anliegen und Probleme reagiert der Verfasser mit diesem Brief? Während uns historisch vieles über die Empfängerstädte der Paulusbriefe bekannt ist, wissen wir aus den ausserbiblischen Quellen wenig bis gar nichts über die Empfängergemeinden selbst. Um mehr über die Christen und das Leben der Gemeinde in Korinth, Ephesus usw. zu erfahren, können wir darum einerseits die Stellen in der Apostelgeschichte nachschlagen, in denen manche dieser Gemeinden erwähnt werden (zum Beispiel wird in Apg 18,1-18 beschrieben, wie Paulus in Korinth von Jesus Christus erzählt und die christliche Gemeinde gründet, der er später die Korintherbriefe schreibt). Danach bleibt uns aber vor allem die Aufgabe, die entsprechenden Briefe selber aufmerksam zu lesen und uns zum Beispiel beim ersten Brief an die Korinther zu fragen: Was erfahren wir durch die Antworten, die Paulus gibt, über die Fragen, welche die Christen in Korinth beschäftigten? Wo können wir von den Anweisungen des Paulus auf die


Probleme dieser Gemeinde zurückschliessen? Welches Verhältnis hatte Paulus zur korinthischen Gemeinde, wenn wir beachten, wie er mit ihnen spricht? Die Antworten auf diese Fragen sind oft nicht schwer zu finden, und wo wir nicht vorankommen, da hilft uns eine Studienbibel weiter. Auf jeden Fall bestimmen diese Einsichten unser Verständnis des Textes unmittelbar: Wenn wir verstehen wollen, warum Paulus auf die Einheit der Gemeinde und auf die tätige Liebe in 1Kor 12 bis 14 solchen Wert legt, dann müssen wir auf dem Weg dorthin registriert haben, dass die ganzen ersten vier Kapitel dieses Briefes das Problem der Spaltung und Streitsucht ansprechen. Und wenn uns klar werden soll, warum Paulus in 1Kor 8 das Essen von Götzenopferfleisch diskutiert oder warum er in 1Kor 11 Regeln für die Abendmahlsfeier aufstellt, dann müssen wir etwas über die damaligen Bräuche erfahren – und wie sie das Gemeindeleben beeinflussten. Nur wenn wir solche Hintergrundinformationen sammeln und beim Lesen im Hinterkopf halten, können wir die neutestamentlichen Briefe angemessen verstehen und vor allem angemessen auf unser Leben beziehen:

Wir müssen wissen, in welche Problematik hinein ein bestimmter Text geschrieben wurde, um zu entscheiden, wie er heute – in einer ganz anderen

Zeit und meist unter völlig anderen Voraussetzungen – zu uns sprechen kann. Das wird natürlich besonders spannend bei brisanten Texten wie zum Beispiel den Ausführungen von Paulus zum Verhalten der Frau in der Gemeinde. In 1Kor 11 weist Paulus die Frauen in Korinth an, im Gottesdienst eine Kopfbedeckung zu tragen, und in 1Kor 14 äussert er den berüchtigten Satz: »Die Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen.« Wir haben keine Chance, diese Anweisung an die korinthische Gemeinde zu verstehen, geschweige denn, sie angemessen auf unsere Gegenwart zu beziehen, wenn wir die Situation der Christen in Korinth nicht vor Augen haben. Wir können diese heiss diskutierte Frage hier nicht näher anpacken, aber es muss klar sein: Ohne mehr über die damalige Bedeutung von Kopfbedeckungen zu wissen und ohne in Erfahrung zu bringen, mit welchen Herausforderungen die korinthische Gemeinde in ihren Gottesdiensten kämpfte, finden wir keinen Zugang zu diesen Texten und können sie eigentlich nur missverstehen. Die gute Nachricht dabei lautet aber wieder: Wir sind in der ausgesprochen komfortablen Lage, dass viele notwendige und hilfreiche Hintergrundinformationen in jeder Studienbibel einfach zugänglich sind – und dass die Briefe selbst meist viele Einsichten zum Verfasser und den Empfängern freigeben, wenn wir sie danach befragen. Eine zweite wichtige Hilfe zum Verständnis der Briefe ist mehr inhaltlicher, theologischer Art.

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Ich kann diesen Punkt so zusammenfassen:

Wir dürfen beim Lesen der Briefe an keiner Stelle vergessen, dass es sich um neutestamentliche Briefe handelt – und das heisst, dass sie das rettende, befreiende, bevollmächtigende Wirken von Jesus Christus voraussetzen. Wenn wir das aus den Augen verlieren, dann wird zum Beispiel die zweite Hälfte der meisten Paulusbriefe für uns zu einem erdrückenden Regelkatalog – und Paulus zu einem Diktator des Glaubens, der seinen Gemeinden für jeden Bereich des Lebens einen strengen Verhaltenskodex aufgibt. Nehmen wir den Epheserbrief: In den Kapiteln 4 bis 6 spricht Paulus vom praktischen Leben als Christ – und macht unmissverständlich klar, dass unser Glaube nicht nur am Sonntag, sondern mitten unter der Woche in den Herausforderungen des Alltags einen Unterschied macht: Wir sollen freundlich und herzlich mit unseren Mitmenschen umgehen und jede Gehässigkeit und Unvergebenheit hinter uns lassen, wir sollen Geldliebe mit Grosszügigkeit überwinden, wir sollen sexuelle Unreinheit in jeder Form meiden und in einer Ehebeziehung kompromisslose Hingabe leben, wir sollen unsere Vorgesetzten bei der Arbeit wertschätzen und

unsere Eltern ehren und unsere Kinder nicht provozieren und und und… Das sind alles wunderbar konkrete Anweisungen zu einem gottgemässen Leben – aber sie haben für manche Bibelleser etwa den Charme des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. Die ganzen Verhaltensregeln in den Briefen wirken ein bisschen wie das Kleingedruckte im Vertrag des neues Lebens mit Gott: Der Einstieg ist gratis, aber danach wird’s anspruchsvoll. Und letztlich muss jeder daran scheitern, denn egal wie sehr man sich anstrengt – die Latte ist einfach zu hoch gesetzt. Genau. Und darum können wir gerade diese praktischen Teile in den Briefen nur verstehen, wenn wir berücksichtigen, was sie voraussetzen – nämlich dass Jesus Christus einen Menschen mit seiner Liebe berührt und erfüllt hat, und dass diese Liebe Gottes nun in seinem alltäglichen Leben immer sichtbarer und greifbarer wird. Ich liebe es, wie Paulus im Epheserbrief unmittelbar vor seiner langen Beschreibung eines christlichen Lebens dieses Prinzip noch einmal fest verankert – er schreibt nämlich: »Seid nun Nachahmer Gottes als seine geliebten Kinder. Und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat…« (Eph 5,1-2) Die Liebe, die sich in unserem alltäglichen Leben mit unseren Mitmenschen, Vorgesetzten, Ehepartnern, Kindern usw. erweisen soll, ist nicht eine Liebe, die wir uns unter dem Druck des Gesetzes aus den Fingern saugen. Nein: Es ist eine Liebe, die uns in Jesus Christus längst begegnet ist, die in unsere Herzen ausgegossen ist (vgl. Römer 5,5) und die uns von innen heraus zu einem neuen Leben transformiert.


Mit anderen Worten: Paulus beschreibt in den praktischen Teilen seiner Briefe nicht die Bedingungen, die erfüllt sein sollen, wenn jemand sich Christ nennen will, sondern er beschreibt die Folgeerscheinungen eines Lebens, das immer mehr von dieser Liebe Gottes geprägt wird. Die Aufforderung »Seid Nachahmer Gottes!« an sich ist eine reine Überforderung. Da können wir gleich einpacken und nach Hause gehen. Aber der Aufruf »Seid Nachahmer Gottes als seine geliebten Kinder« ist eine Erinnerung daran, dass uns die Liebe Gottes in Jesus Christus nicht nur »den Himmel sichert«, sondern zu einem neuen, veränderten Leben befähigt. Genau davon schreibt Paulus ja üblicherweise in den ersten Kapiteln seiner Briefe: Von Gottes Gnade, die uns durch Jesus begegnet, von der Kraft Gottes, die uns erfüllt, von der Hoffnung, die uns im Glauben an Jesus geschenkt ist usw. Der erste Teil in den meisten Paulusbriefen

erklärt uns, wer wir sind und was wir haben durch Jesus Christus – und der zweite Teil erklärt uns, wie sich diese neue Identität in unserem alltäglichen Leben auszuwirken beginnt. Ich hätte darum auch einfach sagen können: Wenn wir den zweiten, lebenspraktischen Teil der Paulusbriefe verstehen wollen, müssen wir sie vom ersten Teil her lesen. Und natürlich gilt das nicht nur für Paulus, und nicht nur für jene neutestamentlichen Briefe, die so sauber in zwei aufeinander aufbauende Teile zerfallen. Auch der Jakobusbrief zum Beispiel, der von Anfang an mitten ins Leben der Leser hineinspricht und wenige Ausführungen zu unserer neuen Identität in Jesus enthält, ist nichtsdestotrotz von daher zu verstehen. So. Ich glaube, dass damit die wesentlichsten Grundlagen gelegt sind, um sich mit einem spannenden Text aus dem Epheserbrief zu beschäftigen…

Übung zu den biblischen Briefen Epheser 5,15-20 15 Gebt also sorgfältig darauf Acht, wie ihr lebt! Verhaltet euch nicht wie unverständige Leute, sondern verhaltet euch klug. 16 Macht den bestmöglichen Gebrauch von eurer Zeit, gerade weil wir in einer schlimmen Zeit leben. 17 Lasst es daher nicht an der nötigen Einsicht fehlen, sondern lernt zu verstehen, was der Herr von euch möchte.

18 Und trinkt euch keinen Rausch an, denn übermäßiger Weingenuss führt zu zügellosem Verhalten. Lasst euch vielmehr vom Geist Gottes erfüllen. 19 Ermutigt einander mit Psalmen, Lobgesängen und von Gottes Geist eingegebenen Liedern; singt und jubelt aus tiefstem Herzen zur Ehre des Herrn 20 und dankt Gott, dem Vater, immer und für alles im Namen von Jesus Christus, unserem Herrn.

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1up N°8 – Bibelwochen Biblische Briefe: Wenn fremde Post uns persönlich angeht autor: Manuel Schmid


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1up N°8 – Bibelwochen Biblische Briefe: Wenn fremde Post uns persönlich angeht autor: Manuel Schmid

Was kannst du zum geschichtlichen Hintergrund dieses Textes in Erfahrung bringen? Was sagt die Studienbibel oder das Bibellexikon zur ersten Gemeinde in Ephesus, und inwiefern ist es für diesen Text von Bedeutung?

Welche Themen spricht dieser Text an, und in welchem Zusammenhang stehen diese Themen zueinander? (Vor allem die Verse 19 und 20: Was haben die mit dem Vorangehenden zu tun?)

Wie spricht dieser Text in mein Leben hinein? (Und, wieder als kleine Herausforderung für Bibelakrobaten: Welche Fragen tun sich auf, wenn wir den Text mit Johannes 2 (Hochzeit in Kana) zusammen lesen?)


Interviews mit spannenden Menschen, welche Einblicke in ihr Leben gewähren, sind wie das Öffnen von Fenstern eines muffigen Raumes: Erfrischend und belebend. Timon Sommerhalder gehört bestimmt in diese Kategorie. Der Jungpastor erklärt uns, was die Bibel taugt, was geistliches Wachsen bedeutet und was wir von den Chinesen lernen können. Timon, gibt es ein Richtig oder Falsch beim Bibellesen? Timon: Ich würde meinen ja. Ich erinnere mich an eine Bibelstelle, in der David so richtig in Rage ist und Gott anfleht, er möge alle seine Feinde töten. Interpretierte ich diese Stelle nun so, als dass die Bibel uns auffordere, unsere Feinde zu eliminieren, dann würde ich dies als grosses Missverstehen empfinden. Ich denke, die besagte Passage möchte uns lehren, wie wir mit Gott in einer Beziehung stehen, nämlich sehr persönlich und direkt, und in der es auch Platz für Ärger, Frust und Wut gibt. Ob Gott nun unseren Wunsch erfüllt, liegt nicht in unserer Macht. Beim Lesen der Bibel - denke ich - ist es erstens sehr wichtig, diese in ihrem gesamten Kontext zu verstehen. Dabei sollten auch einzelne Stellen nicht willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen werden. Ausserdem frage ich mich immer: Was ist der Anspruch dieser Stelle an mich, was will mir der Text sagen? Wenn ich diesen Bogen spannen kann, gibt mir das Weitsicht und ich lerne schrittweise, die

Bibel zu verstehen und zu lieben. So wird sie immer mehr zum lebendigen Wort für mich, das mich prägt, verändert, erfrischt, korrigiert und zu Gott führt. Wichtig zum Thema „Muss man die Bibel wörtlich oder metaphorisch verstehen?“ ist, die Literaturgattung zu berücksichtigen. In der Bibel haben wir es mit einer wunderbaren Vielfalt an Texten zu tun (klare Gesetzestexte, kraftvolle Psalmen und schöne Gedichte, unglaubliche und enorm persönliche Geschichten, herausfordernde Gleichnisse, faszinierende apokalyptische Texte, intensive Briefe, praktische Weisheitssprüche und mehr), die nicht alle gleich gelesen werden wollen. Deshalb: Wahrheit ist zu komplex, um sie oberflächlich oder in diesem Sinne „nur“ wörtlich zu nehmen. Wenn wir beispielsweise einen apokalyptischen Text (siehe Teile aus Daniel und Offenbarung) wörtlich auslegen (wie man zum Beispiel ein Gesetz lesen müsste), verpassen wir damit, was er uns wirklich sagen wollte. Die Frage ist nicht, ob die Bibel Autorität hat (sie hat!), sondern wie sie verstanden werden will.


Du bist Pastor im WildLife und leitest „Youth Challenge“. Was ist das? Die Vision von „Youth Challenge“ würde ich kurz und knackig zusammenfassen als „Rising up a generation to take their place with selfless faith“. Youth Challenge soll Teenager und junge Erwachsene herausfordern, sich ein Herz zu fassen, ein Leben im Glauben zu leben und dabei einen Unterschied zu machen. Es umfasst drei Teilaspekte: Life Challenge richtet sich an alltägliche Herausforderungen wie z.B. meine Identität, meine Gaben, meinen Umgang mit Geld, meinen Partnerschaften, meiner Sexualität. Bible Challenge soll die Diskussion rund um biblische Themen anregen. Wir lesen Bibeltexte und diskutieren über deren Inhalt in einem offenen Rahmen: Was versteht man unter neuer Schöpfung? Was sagt uns dieser Text konkret und in welchem Kontext steht er? Der dritte Part von Youth Challenge ist Leadership Challenge. Hier werden zukünftige Leiter motiviert, in der lokalen Kirche Einfluss zu nehmen und Leitungsfunktionen zu übernehmen. Wir treffen uns an 24 Dienstagabenden pro Jahr, zwei Wochenenden und drei Samstagen, um diese Themen vertieft anzupacken. Da das ganze Projekt sehr viel Pioniercharakter enthält, ist auch Spannung garantiert. Was stärkt deinen Glauben? Fragen, denen ich tiefer auf den Grund gehen kann, fordern mich heraus und bergen das Potential, meinen Glauben zu stärken. Youth Challenge ist ein hervorragender Ort dafür: Ich höre durch den Austausch stets neue Meinungen und Sichtweisen, so erweitert sich

mein Horizont laufend. Das Gespräch mit den anderen Teilnehmern lässt mich klarer differenzieren zwischen biblischem Kern und Streitthemen, welche unterschiedlich verstanden werden können. Meine Meinung ist nicht immer richtig, auch andere Ansichten sind schlüssig. Die Bibel umfasst einen grösseren Horizont als meinen eigenen und deshalb bin ich ein Fan von ergänzendem Bibelstudienmaterial. In christlichen Kreisen hört man häufig den Begriff „geistlich wachsen“. Wie erklärst du mir diesen Begriff? Der Prozess des „geistlichen Wachsens“ beginnt damit, zu Jesus umzukehren und dadurch „neu geboren zu werden“; eine neue Identität als Kind Gottes zu erhalten. Man lebt nicht länger für sich selber, sondern lebt jetzt für Gott und sein durch und durch gutes Königreich. Danach ist das Ziel jedes Christen, Jesus ähnlicher zu werden. Die Bibel selbst schreibt von „Gott nachahmen.“ Wir entscheiden uns, Gott ähnlicher zu werden und Attribute anzunehmen, welche Gott selbst innehat: Leben schützen und erschaffen, Verantwortung übernehmen, um nur einige davon zu nennen. Ich denke, dass wir Menschen durch den Sündenfall mehr und mehr aus Gottes Ebenbildlichkeit „fielen“. Jetzt heisst es, diese wiederzugewinnen, also zurück in die Ebenbildlichkeit Gottes zu kommen und so zu den Menschen zu werden, zu denen wir geschaffen worden sind. Wir haben ein neues Herz, denken neu, handeln neu, wachsen neu; alles, indem wir Gott als Vorbild nehmen. Leiden-


schaftlich und hingebungsvoll. Der Charakter wird geschliffen, das Herz wird weicher und wir beginnen zu lieben. Das heisst geistlich wachsen! Was ist deiner Meinung nach notwendig, um geistlich zu wachsen? An erster Stelle, als Basis, steht für mich die Bibellektüre, dicht gefolgt vom Gebet. Das eine geht nicht ohne das andere. Ebenso die Gemeinschaft, speziell mit anderen Christen - aber sicherlich nicht nur - und anregenden Diskussionen, Worship, sowie inspirierende Predigten. Das alles kann sehr verschieden und auch enorm kreativ gestaltet werden. Korreliert „geistliches Wachstum“ mit dem persönlichen Bestreben des Einzelnen, einen Unterschied zu machen? Ja, davon gehe ich sehr aus. Bonhoeffer ist für mich ein sehr gutes Beispiel dafür, dass beides zusammenhängt. Dass er nach Gottes Herz schlug, wurde schon deutlich, als er sein Volk vor Hitler warnte. Dass er dann aber nicht in der USA blieb und seinem Ruf als Professor nachging, sondern mit seinem Volk die Konsequenzen trug und sich aktiv für Gottes Königreich inmitten dieser irdischen Hölle einsetzte, zeigt schon grosse Identifikation. Genau in solchen Situationen wird klar: Dort, wo Kirche verfolgt wird, ist sie meines Erachtens oft am authentischsten. Aufrichtiger Glaube versteckt sich nicht in einer Institution. Das können wir noch lernen, sowohl von Bonhoeffer als auch - um ein Beispiel zu nennen - von chinesischen Christen, die noch immer wegen ihres Glaubens verfolgt werden.

Letzte Frage: Wie ist dein persönlicher Umgang mit der Bibel? Durch mein Theologiestudium bin ich laufend konfrontiert mit der Bibel und biblischen Themen. Mich fasziniert Daniel, welcher eine sehr hohe und gute Stellung zuerst im Babylonischen und dann im Persischen Weltreich innehatte und sich doch 3x täglich zu Gott auf die Knie zurückzog. Diese Idee finde ich gut. Ich versuche, jeden Morgen eine halbe Stunde in der Bibel zu lesen, mich auf Gott auszurichten, zu beten und so in den Tag zu starten. Nach dem Mittag bete ich meist kurz oder lese einen Psalm, so 10 Minuten, und vor dem zu Bett gehen lese ich einen Abschnitt in der Bibel und gehe teilweise mit Gott durch meinen vergangen Tag, vielleicht bei einem Sommerabend- Spaziergang. Das ganze bleibt hin und wieder bei einem Wunsch ;-) Ich sehe die Beziehung zu Gott in einer Hinsicht ähnlich wie diese zu einem Partner: Nämlich unter dem Aspekt, dass die Beziehung immer auf spannende, neue Weise erfunden und entdeckt werden muss. Danke, Timon!

Autor Pascal Forrer

Interviewpartner Timon Sommerhalder


Nachwort Und Jesus รถffnete die Schriftrolle...


Eines Tages kam Jesus wieder in seine Heimatstadt Nazareth. Am Sabbat ging er wie gewohnt in die Synagoge. Als er aufstand, um aus der Heiligen Schrift vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Jesus öffnete sie, suchte eine bestimmte Stelle und las vor: »Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich berufen hat. Er hat mich gesandt, den Armen die frohe Botschaft zu bringen. Ich rufe Freiheit aus für die Gefangenen, den Blinden sage ich, dass sie sehen werden, und den Unterdrückten, dass sie bald von jeder Gewalt befreit sein sollen. Ich rufe ihnen zu: Jetzt erlässt Gott eure Schuld.« Jesus rollte die Buchrolle zusammen, gab sie dem Synagogendiener zurück und setzte sich. Alle blickten ihn erwartungsvoll an… (Lukas 4,16-20) Jesus nimmt hier – der Text sagt: »wie gewohnt« – an einem Synagogengottesdienst teil. Er weiss, wie es an einem solchen feierlichen Anlass zu und her geht. Er kennt die jüdischen Gebräuche und richtet sich nach ihnen, schliesslich ist er selbst überzeugter Jude… Im Zentrum des Synagogengottesdienstes steht nicht der Synagogenvorsteher und letztlich auch nicht die Gemeinde – im Zentrum steht die Thora, das sind die Schriftrollen mit den eingeschriebenen biblischen Texten. Diese Pergamentrollen werden in einem speziellen Schrein aufbewahrt – ein kunstvoll verzierter Wandschrank, der in der Synagoge an einem erhöhten Platz angebracht wurde: Zum Zeichen, dass Gottes Wort hier über allem anderen steht. Der Vorsteher der Synagoge oder der Rabbiner nimmt am Sabbat die Thorarolle feierlich aus dem Schrein, stellt sie behutsam auf den Lese-

tisch und öffnet sie im Rahmen einer feierlichen Prozession. Der Rabbiner oder ein anderer dazu Bevollmächtigter tritt dann an das Wort Gottes heran und küsst es voller Ehrfurcht. Dann liest er singend daraus vor. Er ist darin perfekt geübt und gestaltet seinen Liedvortrag sprachlich nach allen Regeln der Kunst. Der Tag, an dem ein junger Mann zum ersten Mal aus der Thora vorlesen darf, wird Bar Mitzwa genannt und gilt als der bedeutendste, einschneidendste Tag seines Lebens (einmal abgesehen vom wortwörtlich einschneidenden Ritus der Beschneidung nach der Geburt…): Jahrelang fiebert ein Junge darauf hin, lernt die Texte auswendig, übt die Vorlesung der Texte, bis er endlich im Gottesdienst die Thora vor sich hat. Der Leser hat einen silbernen Lesestift in der Hand, mit dem er dem Text folgt. Mit seinen Fingern berührt er dabei den Text der Thorarolle nie – aus Ehrfurcht, aber auch damit die Thorarolle nicht schmutzig oder fleckig wird. Eine Thora ist der Stolz einer ganzen jüdischen Gemeinde – oft kann sich ein ganzes jüdisches Dorf nur eine einzige Abschrift der Thora leisten. Sie ist unendlich wertvoll und wird oft über 100 oder 150 Jahre lang benutzt. Wenn sie dann doch einmal abgenützt und unleserlich wird, dann entsorgt man sie nicht einfach, sondern beerdigt sie in einer feierlichen Zeremonie im Kreis der ganzen jüdischen Gemeinde. So weit geht die Wertschätzung des Wortes Gottes im Judentum zur Zeit von Jesus. Solche Szenen haben wir uns vor Augen zu malen, wenn wir den Text aus Lukas 4 lesen, in dem Jesus selbst die Schlüsselrolle im Synagogengottesdienst spielt und aus der Jesajarolle vorliest.

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1up N°8 – Bibelwochen Nachwort: Und jesus öffnete die Schriftrolle... autor: Manuel Schmid


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1up N°8 – Bibelwochen Nachwort: Und jesus öffnete die Schriftrolle... autor: Manuel Schmid

Sicher könnte jetzt einer die Gefahr sehen, dass hier die Wertschätzung gegenüber dem Wort Gottes in die Verehrung oder Vergötterung eines Buches umschlägt. Das zu beurteilen ist nicht meine Aufgabe – was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist dass wir als Christen heute von dieser Gefahr weit entfernt sind. Es ist eigentlich verrückt: Wir können heute für 5 Stutz eine günstige Ausgabe der Bibel kaufen – und wenn wir bereit sind, ein paar Franken mehr auszugeben, dann stehen uns buchstäblich Hunderte von verschiedenen Bibelausgaben, Übersetzungen und zusätzlichen Verständnishilfen zur Verfügung. Eine Studienbibel mit ausführlichen Hintergrundinformationen zu allen Büchern der Bibel? Kein Problem – wird von Amazon in 3 Tagen nach Hause geliefert… Bis zur Erfindung des Buchdrucks im 16. Jahrhundert konnten Christen aus eineinhalb Jahrtausenden davon nur träumen. Eine eigene Bibel zu Hause zu haben – für die persönliche Bibellese unter der Woche? Das war pure Science Fiction. Über die längste Zeit der Kirchengeschichte und der jüdischen Geschichte war die Bibel der gemeinsame Schatz jeder Gemeinde. Um von Gottes Wort zu hören, musste man in die Synagoge oder in die Kirche gehen – keiner konnte es sich leisten, einen eigenen ThoraSchrein oder eine eigene Abschrift der ganzen Bibel bei sich in der Stube zu haben. (Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die meisten ohnehin nicht lesen konnten…)

Noch nie in der Geschichte der Menschheit war die Bibel so frei zugänglich

und griffbereit für so viele Menschen. Und doch scheint es mir, dass wir Christen noch nie so wenig mit unserer Bibel vertraut waren und so spärlich über sie Bescheid wussten wie in unserer Zeit. Der biblische Grundwasserspiegel ist vielerorts auf Knöcheltiefe gesunken – mit der Antwort auf die Frage, wer die Arche Noah gebaut hat (kleiner Tipp: der Name beginnt mit N…) kann man bei »Wer wird Millionär« reich werden. Um es positiv zu sagen: Hier ist noch viel Raum nach oben offen – viel Raum zur neuen Entdeckung der Bibel und zu einer wiedergewonnenen Wertschätzung diesem einzigartigen Buch gegenüber. Wir haben noch nie dagewesene Ressourcen zur Verfügung – Studienbibeln und Handbücher, Online-Bibeln und InternetLexika, moderne, zeitgemässe Übersetzungen – alles was das Herz begehrt. Nutzen wir diese Möglichkeiten, um einem Buch näherzukommen, in dem uns derjenige begegnet, der selbst in Lukas 4 die Bibel öffnet und aus ihr vorliest…



Warum Bibellesen zu Unsinn führt Es gibt eine Wissenschaft, die sich mit dem Bibellesen befasst. Sie heisst Exegese, eine Unterdisziplin der Theologie. Eine aktuelle wissenschaftliche Studie aus den USA zeigt: je öfter jemand ganz persönlich in der Bibel liest, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese Person sich Bestimmungen wie etwa dem „Patriot Act“ widersetzt, einem 2001 zur Stärkung der Einheit der USA und gegen den Terrorismus verabschiedeten Gesetz. Führt Bibellesen also zur Gesetzesuntreue? Ein Mann, der sich einen grossen Teil des Tages mit dem Lesen der Bibel beschäftigt, ist Pfarrer Sieghard Wilm aus Hamburg, genauer gesagt aus dem Viertel St. Pauli. Dieser Mann befolgte die Ratschläge der Gastfreundschaft aus der Bibel, indem er seine Tür für achtzig Afrikaner öffnete. Die Afrikaner sind Opfer des Lybienkrieges und heimatlos. In ihrer Heimatlosigkeit sind sie wieder so abhängig, wie sie zum letzten Mal als Kind gewesen sind. Über ihre Köpfe hinweg wird beschlossen, wo sie sich aufhalten dürfen, was es zu essen gibt etc. Die heimatlosen Gäste aus Afrika wohnen nun also in der Kirche des Pfarrers, essen seine Vorräte und verursachen

gar politische Debatten über die derzeitige Gesetzeslage des Kirchenasyls. Zur kurzen Erklärung: Das Wort Asyl, welches von dem griechischen Wort asylon abstammt und Zuflucht bedeutet, hat eine lang bestehende Tradition. Menschen, die Asyl suchten, fanden schon lange vor Christi Geburt Schutz in Heiligtümern und Tempeln. Im Mittelalter durften Klöster Obdach vor weltlichen Verfolgern gewähren. Auch heute beherbergen Kirchengemeinden Menschen in Nöten. Sie schützen vor ungerechtfertigten Abschiebungen, Menschenrechtsverletzungen und Gefahr für Leib und Seele. Trotzdem – nun kommt das Problem – sind auch in Deutschland sakrale Orte keinesfalls rechtsfreie Orte. Bei meiner eigenen Bibelexegese finde ich Geschichten wie die Speisung der 5000. In dieser Geschichte versorgt Jesus – wie Pfarrer Wilm aus Hamburg – fremde Menschen. Der Unterschied: Jesus gibt Essen an 62.5 Mal so viele Menschen aus wie Pfarrer Wilm. Ich will mich als treuer Bibelleser an die Zahl der Bibel halten und lade gedanklich guten Glaubens 5000 Leute zum Essen zu mir nach Hause ein: Bekannte und Unbekannte, Freunde, Nachbarn,


Grafik Roman Albertini

Redaktion / Lektorat Ninette Guida

ICF Basel Frobenstr 18 4053 Basel

Celebrations und alle weiteren Infos unter: www.icf-basel.ch

Kontoverbindung: UBS AG Basel Konto-Nr.: 233-567215.40T Clearing-Nr.: 233 IBAN: CH82 0023 3233 5672 1540T Postüberweisung: Konto-Nr.: 80-2-2 UBS AG Zürich, zu Gunsten von 233-567215.40T ICF Basel Redaktion: Ninette Guida Grafik: Roman Albertini Lektorat: Ninette Guida Fotos und Illustrationen: Roman Albertini Sponsoring: Denova

Autorin Salome Bäumler

Impressum

Obdachlose, Flüchtlinge. Doch vorher möchte ich Berechnungen anstellen: Ich wohne in einer DreieinhalbzimmerWohnung. Das halbe Zimmer ist mein Balkon mit den Massen drei mal vier Meter. Das macht pro Quadratmeter zwei Personen und somit füllen den ganzen Raum 24 Gäste. Wenn diese durchgehend stehen, passen vielleicht sogar drei Anwesende pro Quadratmeter, also 36 Personen auf meinen Balkon. Sie könnten zur Entlastung Rücken an Rücken aneinanderlehnen. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Flur und natürlich Bad dazugerechnet führt zu einer Gesamtkapazität von ca. 216 Stehplätzen. Da der Platz für 5000 Menschen nicht ausreicht, schliesse ich nach meinen Berechnungen, dass Bibellesen in unserer heutigen, europäischen, städtischen Wohnsituation zum Unsinn führt. Die Alternative wäre, dass ich mit einer kleineren Anzahl Gäste anfangen würde – wie Bibelleser Pfarrer Wilm. Übrigens: Im Gegensatz zu der gesetzlich bedenklichen Unterbringung von Flüchtlingen in den keinesfalls rechtsfreien Kirchen, stellt die Beherbergung von Flüchtlingen in einer Privatwohnung kein Problem dar.



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