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IM WENIGER SPRECHEN ENTSTEHT FÜR MICH OFT EIN GRÖSSERER POETI- SCHER RAUM“ INTERVIEW MIT FRANZ ROGOWSKI ÜBER GROSSE FREIHEIT
INDIEKINO: Weil Hans homosexuell ist, landet er zuerst im Konzentrationslager und nach dem Krieg immer wieder hinter Gittern. Was hat Sie an der Rolle interessiert?
Franz Rogowski: Für mich ist Hans eine geschlossene Figur, die jedoch nicht autark funktioniert, sondern als Teil der Geschichte - einerseits der Geschichte, die wir im Film erzählen, aber auch als Teil der deutschen Geschichte. Meine Entscheidung, die Rolle anzunehmen, basierte deshalb auch eher auf der Tatsache, dass ich mich für dieses Drehbuch interessierte, nicht nur für die Figur allein. Weil es ein Drehbuch war, das in sich so stimmig und geschlossen daherkam, wie man es nur äußerst selten in die Hände bekommt. Und deshalb wollte ich gerne an der Umsetzung beteiligt sein.
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Wie sind Sie auf das Drehbuch gestoßen? Kannten Sie Sebastian Meise bereits?
Es wurde mir ganz klassisch mit der Post zugesandt. Dann habe ich es erst zwei-, drei Mal aufmerksam gelesen, um meine ersten Gefühlsregungen zu überprüfen. Und dann stand für mich fest, wir müssen uns sehen, Sebastian und ich, um zu schauen, ob wir miteinander klarkommen. Daraufhin waren wir uns dann recht schnell einig, dass wir den Film zusammen machen wollten.
Gibt es auch Rollen, die Sie nach einmaligem Lesen des Drehbuchs sofort zugesagt haben?
Nein, das ist bei mir immer ein ziemlich neurotischer Prozess. Das Buch liegt immer erst eine Weile da und ich guck es gar nicht an. Dann halte ich es irgendwann nicht mehr aus, muss es lesen und kriege sofort eine Krise, bis ich es noch einmal lese. Und ich muss es wirklich immer von Anfang bis Ende durchgehen. Ich bin da sehr eigen. Das bekommt alles keiner mit. Aber ich denke, es ist eigentlich die wichtigste Aufgabe für einen Schauspieler, die Stoffe zu erkennen, die zu ihm passen. Mal ganz abgesehen davon, das immer auch jede Menge Glück dazugehört, dass man solche Drehbücher überhaupt zugeschickt bekommt.
Was hält Hans Ihrer Meinung nach in diesen ersten schweren Jahren nach dem Krieg am Leben?
Interview mit Franz Rogowski zu GROSSE FREIHEIT
Franz Rogowski wurde 2013 mit seiner Hauptrolle in LOVE STEAKS bekannt und spielte seitdem in zahlreichen Filmen, darunter Sebastian Schippers VICTORIA, Michael Hanekes HAPPY END, Terence Malicks A HIDDEN LIFE; IN DEN GÄNGEN von Thomas Stuber sowie TRANSIT und UNDINE von Christian Petzold. In Sebastian Meises GROSSE FREIHEIT spielt er den schwulen Hans, der in der Nachkriegszeit vom KZ direkt in den Knast eingeliefert wird und bis zur Abschaffung des Paragrafen 175 immer wieder im Gefängnis sitzt. Pamela Jahn hat mit Franz Rogowski über GROSSE FREIHEIT gesprochen.
der Paragraf 175 überhaupt fällt. Und er hat diesen Paragrafen bereits für sich gefällt. Er lebt sein Leben natürlich nicht so, wie man es heute kennt. Das findet schon in erster Linie im Geheimen statt, aber er nimmt es in Kauf, dafür immer wieder ins Gefängnis zu müssen. Er lernt seine Lektion, in Deutschland kriminell zu sein und die Konsequenzen dafür zu zahlen. Aber er lässt sich seine Liebe nicht nehmen.
Hat er Viktor gegenüber zunächst Respekt oder eher Angst?
Am Anfang kommt Hans aus dem KZ und wird direkt ans Gefängnis übergeben. Dass da jetzt einer homophob ist, das berührt ihn gar nicht mehr wirklich. Er ist einfach nur ziemlich am Ende. Kraft zum Widerstand hat er erst wieder ab den fünfziger Jahren. Aber so richtig entwickelt sich die Beziehung zwischen den beiden ja erst in den Sechzigern. Das heißt, es sind zwanzig Jahre gemeinsame Zeit, in denen zwischen ihnen diese Verbindung entsteht.
Wenn man als Schauspieler eine Figur in einem Film über Jahrzehnte begleitet, verändert sich dann die Herangehensweise, wie man mit der Rolle umgeht? Die Zeitsprünge ergeben tolle Möglichkeiten, die man normalerweise nicht hat. Man kann der Figur ganz neue Eigenschaften geben. Die Figur vom Hans hat durchaus viele kleine Unterschiede, die man vielleicht auf den ersten Blick nicht bemerkt, aber es gibt, wie gesagt, den Hans der Fünfziger, der eher rebellisch ist und an das Utopische glaubt. Einer, der sich nichts sagen lassen möchte, und der anders ist als der Hans der Vierziger, in denen er vom Staat im Prinzip systematisch unterdrückt und fertig gemacht wird. Und dann gibt es schließlich den Hans der sechziger Jahre, der sich mit seiner Stellung in der Gesellschaft abgefunden hat und die Konsequenzen dafür dann auch relativ stoisch trägt. So gesehen hat die Figur tolle Facetten, die man bei einer einfachen Erzählung, die nur im Hier und Jetzt spielt, nicht erforschen kann.
Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?
Für mich ist die Freiheit mit das kostbarste Gut in meinem Leben. Die Meinungsfreiheit, die Freiheit, sich entscheiden und ungehindert entfalten zu dürfen, beides gehört für mich zu den höchsten Gütern in unserer Demokratie.
In dem ich das alles nicht so ernst nehme und ein Leben lebe, das auch ganz unabhängig von Filmpremieren funktioniert. Je mehr Erfolg man hat, um so mehr muss man aufpassen, dass man nicht abhebt oder plötzlich das Gefühl hat, jemand Besonderes zu sein. Aber ich glaube, je mehr von außen an einen herangetragen wird, um so mehr fängt man an, sich zurückzuziehen, wenn man die Möglichkeit hat, um eine gewisse Trennung oder einen Abstand herzustellen zwischen Beruf und Privatleben, der unheimlich wichtig ist. Zumindest geht mir das so.
Können Sie die Aufmerksamkeit, die Ihnen beispielsweise auf dem roten Teppich, oder auch ganz allgemein tagtäglich von den Medien geschenkt wird, trotzdem auch genießen?
Ja, solange ich es wie eine Art Theaterstück empfinde. Das heißt, wir spielen alle ein Spiel, bei dem jeder seine Rolle kennt. Aber der, der ich bin, der wohnt für sich allein in einer ganz anderen Realität.
Sie haben sich in letzten Jahren mit Filmen wie VICTORIA, TRANSIT, IN DEN GÄNGEN, UNDINE und jetzt GROSSE FREIHEIT eine bemerkenswerte Bandbreite an Charakteren erspielt. Was macht eine gute Rolle für Sie aus?
Ich bin gar nicht so sehr auf die Rollen aus. Ich suche eigentlich immer eher nach spannenden Geschichten, bei denen ich das Gefühl habe, da kommt am Ende etwas Gutes heraus. Nur dann kann auch eine Rolle gut sein. Ich habe kein Interesse an einer tollen Figur in einem schlechten Film.
Was war bei dieser Rolle des Hans Hoffmann die größte Herausforderung für Sie?
Für mich war es diese Verbindung von drei Jahrzehnten und der Versuch, der Figur dadurch gewissermaßen auch drei unterschiedliche Temperaturen zu geben. Vor allem die vierziger Jahre vorzubereiten, bedeutete acht Wochen lang eine starke Ernährungsumstellung. Und wenn man in so kurzer Zeit zwölf Kino verliert, verändert einen das auch in dem eigenen Wesen. Ich habe beispielsweise kaum noch Schlaf gebraucht, habe ganz anders gerochen, gehört und gesehen, und ich habe mich auch ganz anders gefühlt. Ich hatte durch dieses Hungern eine sehr intensive Vorbereitungsphase, vor allem, weil mittendrin die Pandemie kam. In der Zeit habe ich alles wieder zugenommen, und als wir endlich weiterdrehen konnten, ging das Hungern wieder von vorne los. Das war neu für mich und hatte auch einen gewissen Reiz, weil ich mich vorher noch nie für eine Rolle so intensiv mit meinem Körper auseinandergesetzt habe.
Haben Sie sich der Figur allein aufgrund der körperlichen Veränderung automatisch näher gefühlt? Und wenn man sich plötzlich in diesem intensiven Fastenmodus befindet, keine Libido mehr hat, merkt, wie die Haut sich verändert, man wirklich sich selbst wahrnimmt wie noch nie zuvor, dann sind diese Gefühle irgendwann ziemlich einfach abrufbar, weil der Körper sie einem zeigt.
Was bedeutet Körperlichkeit im Kino ganz allgemein für Sie?
Für mich persönlich ist eine Entscheidung für das Physische oft auch eine Entscheidung gegen die Unkörperlichkeit der Worte. Ich glaube, dass wir heutzutage allgemein vor einer stolzen Körperlichkeit regelrecht Angst haben. Wir nutzen sie eigentlich gar nicht mehr, außer vielleicht in der Karikatur unserer eigenen Identität. Aber ich denke, dass beispielsweise im weniger Sprechen für mich oft ein größerer poetischer Raum entsteht, und ich immer eine gewisse Frustration empfinde, wenn meine Figur erklärt, wer sie ist, wo sie herkommt, wo sie hingeht … wenn sozusagen der Plot seine Bedürfnisse entlädt. Viel spannender finde ich es, Figuren so zu spielen, dass sie eine Würde behalten. Und für mich hat diese Würde eben konkret damit zu tun, dass ein Körper seine Identität nicht erklären muss, sondern sein Geheimnis für sich wahren kann. Wenn man den Gedanken weitertreibt, dann wünsche ich mir eigentlich fast schon ein Kino, in dem man überhaupt nicht mehr versteht, worum es geht, aber in dem man die Körper dafür um so mehr spüren kann und eine Reibung entsteht, zwischen dem eigenen Körper und den Körpern des Kinos.
Georg Friedrich ist jemand, der gerne für einen bestimmten Typ Mann gecastet wird. Nicht umsonst gilt er als der fiese Ösi vom Dienst, obwohl er durchaus auch andere Rollen spielt. Haben Sie manchmal Bedenken, irgendwann auch in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden?
Nicht wirklich. Ich bin unheimlich dankbar für das, was jetzt gerade um mich herum passiert. Ich gebe mir Mühe, die richtigen Stoffe zu finden, und wenn da irgendwann nichts mehr kommen sollte, dann mache ich etwas anderes. Ich muss nicht bis an mein Lebensende Schauspieler sein.
Was wäre die Alternative?
Ich muss mal schauen. Ich habe gelernt, solche Dinge nicht so sehr in die Öffentlichkeit zu tragen. Das setzt mich dann nur wahnsinnig unter Druck. Ich weiß es selber nicht genau. Und ich will damit auch nur sagen, dass ich keine Angst habe vor Kategorisierungen jeder Art, weil mich das auch gar nicht interessiert. Es geht mir darum, dass ich verstehe, was mir guttut, und dass ich dafür Verantwortung übernehme. Und wenn ich damit einen ehrlichen Umgang finde, bin ich, glaube ich, gar nicht so abhängig davon, was man von außen mit mir machen will. Ich versuche einfach mir selbst treu zu bleiben. Ich denke, darauf kommt es an.
Österreich/Deutschland 2020 D 116 min D R: Sebastian Meise D B: Thomas Reider, Sebastian Meise D K: Crystel Fournier D S: Joana Scrinzi D M: Peter Brötzmann, Nils Pretter Molvaer D D: Franz Rogowski, Georg Friedrich Anton von Lucke, Thomas Prenn, Ulrich Faßnacht D V: Piffl Medien
gROSSE FREIhEIT
Im Gefängnis wegen § 175
Vom KZ direkt in den Knast: Freiheit ist relativ im Leben von Hans Hoffmann (Franz Rogowski). Sie bedeutet für den jungen, ausgezehrten Mann in erster Linie, sich selbst treu zu bleiben und seine Liebe zum gleichen Geschlecht zu leben, egal wo, egal wie, auch wenn er dafür immer wieder hinter Gittern landet. Denn straffrei ist Homosexualität unter Erwachsenen in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg noch lange nicht. Erst 1969 wird der berüchtigte Paragraf 175 reformiert, der bis dahin sexuelle Handlungen unter Männern als Verbrechen ahndet. So lange sind die dreckigen Wände, schmalen Räume und trostlosen Korridore der Haftanstalt die Welt, in der sich Hans ein wahres Leben im Falschen einrichtet.
Und auch Viktor (Georg Friedrich), der wegen Mordes sitzt, hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er ist der Harte, der Hetero, ein Mann fürs Grobe, der das Tätowieren zu seiner Kunst erklärt hat und zunächst nichts mit einem wie Hans zu tun haben will. Aber als sich die Begegnungen häufen, weil Hans aufgrund seiner sexuellen Neigungen im Bau zum Stammgast wird, gewinnen die beiden Männer langsam Vertrauen zueinander. Dass daraus schließlich eine innige Nähe, ja eine tiefe Zuneigung wird, die ganz und gar glaubhaft erscheint, ist dem feinen Zusammenspiel der beiden Ausnahmeschauspieler im Zentrum der Geschichte zu verdanken, die Sebastian Meises präzise beobachtetes und tief bewegendes Drama erst zu dem machen, was es ist: nämlich eine der schönsten Entdeckungen dieses ohnehin aufregenden Kinojahres.
Dabei tappt die Geschichte über lange Strecken im Dunkeln, immer wieder bestimmen schwere Blau-, Grau und Schwarztöne das Geschehen. Und doch gelingt es dem Regisseur und seiner Kamerafrau Crystel Fournier auch, ein Gefühl von Hoffnung und Autonomie in den Bildern zu finden, Kontraste zu schaffen und Akzente zu setzen, wo kaum Schatten zu sehen sind. Als der Paragraf 175 endlich fällt, wird Hans übermütig und Viktor trifft die Verzweiflung. Der eine geht, der andere bleibt. Nur ist die große Freiheit allein nach all den Jahren zu zweit auch längst nicht mehr das, was sie einmal war. D Pamela Jahn
Start am 18.11.2021
From the concentration camp directly to prison: Hans Hoffmann (Franz Rogowski) is gay and that is still considered a crime in post-war FRG. He meets Viktor (Georg Friedrich) there, who is in prison for murder.
SHANGHAI
INTERNATIONAL FILM FESTIVAL 2021
OFFICIAL SELECTION
AB 25. NOVEMBER IM KINO
Deutschland 2020 D 87 min D R: Lena Stahl D B: Lena Stahl D K: Friede Clausz D S: Barbara Gies D D: Jonas Dassler, Anke Engelke, Hannah Herzsprung, Karsten Antonio Mielke, Golo Euler D V: Warner Bros.
After Jason’s skateboard accident, his mother Marlene drives him to a rehabilitation clinic in Switzerland, but before that they visit a friend with a farm in the Czech Republic, where different lifestyles collide.
zuhuRS TÖChTER
In Frieden Frau sein
„Haram, haram!“, hat ein Mann am Bahnhof ihnen hinterhergerufen – Sünde. „Sie wussten, wie frei dieses Land ist, warum sind sie hier hergekommen?“, sagt Samar. Sich unterkriegen zu lassen, ist keine Option: „Ich werde sie alle erziehen“, verkündet Lohan. Samar und Lohan, die mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen sind, haben Einiges gemeinsam: So auch, dass sie beide trans sind und in Syrien als Jungen lebten. Der Dokfilm ZUHURS TÖCHTER zeigt ihr Leben mit Eltern und Geschwistern in einer Gemeinschaftsunterkunft in Stuttgart. Ob beim Schminken, beim Friseur, beim Tanzen im Club oder bei der Kernspintomografie, die Schwestern sind unzertrennlich. Die Kameras begleiten sie ein stückweit während ihrer Transition und beim Erwachsenwerden. „Wir schämen uns natürlich wegen dieser Sache“, sagt Vater Talib in die Kamera. Mutter Zuhur sagt da nichts, aber man sieht ihr den Kummer an. Für die Eltern sind Samar und Lohan „zwei Söhne, die sich in Frauen verwandeln.“ Das klänge fast schon märchenhaft, wenn es nicht so traurig wäre. Diskriminierung erfahren die beiden Mädchen auf der Straße ebenso wie im Deutschkurs, und das oft durch andere (muslimische) Geflüchtete. Dabei wollen sie doch bloß in Frieden leben, als Frauen. Bis dahin ist es ein weiter Weg, den das deutsche Gesundheitssystem zwar ermöglicht, aber (im Rahmen des veralteten „Transsexuellengesetzes“) zugleich auch krass erschwert.Trotz der so unlösbaren innerfamiliären Konflikte sind alle Familienmitglieder erstaunlich offen und erlauben dem Filmteam tiefe Einblicke in ihre Lebens- und Gefühlswelt. Dass da viel Liebe ist, spürt man; dass das nicht immer reicht, auch. ZUHURS TÖCHTER urteilt nicht, stellt sich aber doch klar an die Seite seiner beiden Heldinnen, die sich von all den Widrigkeiten nicht unterkriegen lassen. D Eva Szulkowski
Start am 4.11.2021
MEIN SOhN
Reisegefährten
Jason (Jonas Dassler) trägt nicht umsonst den Namen einer griechischen Heldengestalt. Seine Mutter Marlene (Anke Engelke) betet ihren Sohn an und erfüllt ihm jeden Wunsch. Der 20-Jährige kostet das voll aus und lebt ein Leben auf der Überholspur. Meist tanzt er die Berliner Nächte durch und stellt sich anschließend zugedröhnt auf sein Skateboard – bis er eines Morgens auf der Motorhaube eines Autos landet. Das Bein ist zertrümmert. Jonas entkommt nur knapp dem Tod, würde sich aber am liebsten gleich wieder aufs Board schwingen. Seine Mutter beschließt, ihn mit dem klapprigen Volvo in die sündhaft teure Rehaklinik in der Schweiz zu fahren. Auf der Fahrt lernen sich die beiden unterschiedlichen Menschen besser kennen. Jonas begreift, dass seine Mutter ein Leben vor ihm hatte und dass ihn sein Leichtsinn für immer zeichnen könnte. Die Läuterung ist absehbar und viel passiert eigentlich nicht auf dieser Reise. Die Fahrt ans Ziel führt auch zu einer Freundin auf einen Hof in Tschechien. Hier prallen unterschiedliche Lebenswege aufeinander: Der Freigeist einer Kommune inmitten der Natur und Marlenes karrieregetriebener Lebensstil. Doch bevor es allzu tiefschürfend wird, sind die beiden auch schon wieder unterwegs. Die Themen, die Regisseurin Lena Stahl in ihrem Spielfilmdebüt anschneidet, könnten leicht plakativ und oberflächlich wirken. Doch ihr Drehbuch geht ehrlich damit um, und ihre beiden Hauptdarsteller*innen überzeugen: Jonas Dassler (DER GOLDENE HANDSCHUH) gibt Jason eine jungshafte Körperlichkeit, verkörpert aber auch die Entwicklung seiner Figur glaubhaft. Anke Engelke wiederum darf hier auch mal nicht lustig sein und überzeugt in der Rolle der am Leben zweifelnden Mutter. Am Ende ist wie so oft bei Roadmovies der Weg
das Ziel. D Lars Tunçay Start am 18.11.2021
Samar and Lohan are trans and lived as boys in Syria, but in Germany they finally want to live their lives as women in peace. For their parents they are “two sons who have transformed into women.”
Deutschland 2020 D 105 min D R: Peter Meister D B: Peter Meister D K: Felix Novo de Oliveira D S: Jan Ruschke D M: Andreas Lucas D D: Bernhard Schütz, Jacob Matschenz, Sandra Hüller, Victoria Trauttmansdorff, Pheline Roggan D V: Port-Au-Prince
DaS SChWaRzE QuaDRaT
Skurriler Ensemble-Krimi
Auf Kasimir Malewitschs Gemälde „Das Schwarze Quadrat“ ist genau das zu sehen, was im Titel steht: ein schwarzes Viereck. Die Kunst von Gegenständlichem zu entledigen, war 1915 eine Sensation, wenn nicht Revolution. Wer jetzt aber eine kunstgeschichtliche Doku erwartet, liegt falsch. Regisseur Peter Meister schickt in seinem Langfilmdebüt zwei semi-professionelle Kunsträuber auf Beutezug. In der Komödie stehlen Fälscher Vincent und der etwas naive Nils „Das schwarze Quadrat“ und flüchten auf ein Kreuzfahrtschiff. Doch die beiden sind nicht die einzigen, die sich an Bord für das Kunstwerk interessieren. Bald schon ist das Gemälde weg und auch die Fälschungen, die Vincent anfertigt, gehen von Hand zu Hand. Neben der Kunstagentin Martha, die das Bild für einen reichen Russen will, jagen ein Polizist, ein gieriger Gigolo und schließlich die Bord-Chefin dem Bild hinterher. Das führt zu einigen Verwicklungen, Verwechslungen und zu der ein oder anderen Verführung. Peter Meister verbindet einen Ensemble-Krimi mit der skurrilen Atmosphäre eines Wes Anderson. Der angestaubte Pomp des Schiffs, die Farbstimmung, die Kostüme. Die große Frage der Kunst nach Originalität – Malewitsch selbst fertigte das Bild gleich mehrmals an. Das ist alles gelungen und die stimmige Besetzung mit Sandra Hüller als Martha, Bernhard Schütz als Vincent und Jacob Matschenz als Nils macht Spaß. Wenn aus dem abgebrühten Fälscher der verletzliche Künstler herausbricht, die kultivierte Martha zur eiskalten Profi-Killerin mutiert oder der unsichere Nils sich als Elvis-Imitator selbst findet, sprüht das Spiel vor Komik. Leider verlieren die Figuren im steigenden Aberwitz der Geschichte gegen manche Zote und den rasanten Gag-Beschuss. Ein bisschen weniger hätte gutgetan. Wie Malewitsch ja schon zeigte, muss sich Kunst manchmal auf
das Wesentliche konzentrieren. D Clarissa Lempp Start am 25.11.2021
Forger Vincent and the somewhat naive Nils steal Malewitsch’s “The Black Square” and flee on a cruise ship. A surreal ensemble crime film with a touch of Wes Anderson.
VICKY KRIEPS
TIM ROTH
MIA WASIKOWSKA
ANDERS DANIELSEN LIE
EIN FILM VON MIA HANSEN-LØVE
AB 4. NOVEMBER IM KINO
USA 2021 D 145 min D R: Liesl Tommy D B: Tracey Scott Wilson D K: Kramer Morgenthau D D: Jennifer Hudson, Marlon Wayans, Forest Whitaker, Leroy McClain, Tate Donovan, Mary J. Blige D V: Universal Pictures
KINO FEIERN.
EIN JAHR LANG ZUM FESTTAGSPREIS
VON 72 EURO (6 Euro/Monat)
KINO-PAKET BESTELLEN UNTER WWW.INDIEKINO-SHOP.DE
D aNNETTE Übersprudelnde Einfälle D LIEBER ThOMaS Bekenntnis zum Fragment D DRIVE MY CaR MurakamiVerfilmung D aMMONITE Patriarchale Kiesel D zuhuRS TÖChTER In Frieden Frau sein D IN DEN uFFIzIEN Hinter Museumstüren D BERgMaN ISLaND Gefühlslagen von Paaren D gROSSE FREIhEIT Im Knast durch §175 D MEIN SOhN Unterschiedliche Weggenossen D DaS SChWaRzE QuaDRaT Skurriler Ensemble-Krimi D BENDETTa Mystisch, sexy und pervers D BLOODY NOSE, EMPTY POCKETS Gemeinschaft der Trinkenden D VaTER Zu Fuß nach Belgrad D aDaM Sonnenstrahlen in Ablas Küche
MagazIN FÜR uNaBhäNgIgES BERLINER KINO D 76 D NOVEMBER 2021
indiekinoBERLIN
LIEBER ThOMaS – STaRT aM 11.11.2021
INDIEKINO CLUB
Das online Film-Angebot der Berliner Indiekinos auf www.indiekino-club.de
INDIEKINO MAGAZIN
Zärtliche Texte zu den Neustarts des Monats.
indie kino cLUB
INDIEKINO CLUBCARD
Name: Kim Musterperson
Geburtsdatum: 10.10.1980
Club-Abo: 1.7.2021–30.6.2022
ID: 0001
KINOPASS
Ermäßigter Eintritt in 11 Berliner Indiekinos: b-ware! ladenkino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz-Kino, City Kino Wedding, Filmrauschpalast, fsk-Kino, Hofkino, Il Kino, Klick Kino, Sputnik Kino, Wolf
RESPECT
Mitreißende Performances
Aretha Franklins epochale Version des Otis-Redding-Songs RESPECT liefert den Titel für ein Biopic der Sängerin, das vor allem die feministische Bürgerrechtsikone feiern soll. Aretha Franklin war in einer frühen Phase der Produktion selbst noch am Film beteiligt, und die Besetzung mit Jennifer Hudson in der Hauptrolle hat ihren persönlichen Segen. Jennifer Hudson und auch Skye Dakota Turner als junge Aretha liefern in den Musiknummern starke, überzeugende und mitreißende Performances ab. Die Szenen, in denen Aretha und die Weißen Musiker des Muscle Shoals Studios an ihren Aufnahmen arbeiten, die Songs in musikalische Elemente zerlegen und allmählich den perfekten Sound kreieren, sind ähnlich faszinierend. Über Aretha Franklins wirkliches Leben erzählt der Film dagegen wenig und bleibt seltsam brav. Aretha setzt sich gegen ihren gewalttätigen ersten Ehemann Ted White durch, und der nimmt seinen Hut, wenn er Aretha auf der Bühne „Think“ singen hört, als wäre das Patriachat so einfach zu besiegen. Das Drehbuch verdichtet notwendigerweise, lässt aber Aretha Franklin weniger als lebendige und widersprüchliche Frau auftreten denn als Ikone, etwa wenn ihr berühmter Gospel-Auftritt in der New Temple Missionary Baptist Church, bei dem das Album „Amazing Grace“ entstand, gleich auch als mentaler Sieg über den Alkoholismus gezeigt wird. Das ist alles ein bisschen zu eindimensional. Dabei sind auch die Nebenrollen gut besetzt, mit Forest Whittaker, der Arethas Vater Clarence mit ruhiger Ambivalenz spielt und Marc Maron als Produzent Jerry Wexler, der Franklin erst überzeugen muss, mit Weißen Musikern zusammenzuarbeiten. Die, bekannten Auftritten von Franklin nachempfundenen Musiknummern reißen aber immer noch mit, und der erfahrenen Jennifer Hudson gelingt es, ein Gefühl für Aretha Franklins Büh-
nenpräsenz zu vermitteln. D Tom Dorow Start am 25.11.2021
RESPECT is an enjoyable music biopic, as long as you don’t expect a historically accurate depiction of the life of soul legend, feminist, and civil rights icon Aretha Franklin.
aMMONITE
Patriarchale Kiesel
Im Mittelpunkt von AMMONITE stehen zwei zunächst einmal erfrischend schlecht gelaunte Frauen. Wir schreiben die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Paläontologin Mary Anning (Kate Winslet) – die es übrigens wirklich gab – bringt sich und ihre Mutter durch, indem sie an der Südküste Englands Fossilien sammelt, säubert, kategorisiert und an Touristen verkauft. Es ist eine anstrengende und dreckige Arbeit, deren Ergebnisse wenig einbringen und dann umetikettiert in den Vitrinen männlicher Sammler und Institutionen landen. Kein Wunder also, dass Mary dem jungen Möchtegern-Sammler Roderick Murchinson, der mitsamt seiner männlich-selbstverständlichen Anspruchshaltung bei ihr einschneit und um eine Führung bittet, ruppig begegnet. Wenig mehr Liebe bringt sie seiner kränklichen Frau Charlotte entgegen, mit der sie gegen Bezahlung am Meer spazieren gehen soll, während Murchinson durch Europa tourt. Auch Charlotte (Saoirse Ronan), die lieber den Tag depressiv im Bett verbringen würde, ist von dieser Aussicht nicht begeistert.
Winslet ist wunderbar als spröde Forscherin und ist zudem eine der wenigen Schauspielerinnen, der man körperliche Arbeit tatsächlich abnimmt. Ronan setzt ihr eine junge Frau gegenüber, die einerseits wirklich geschwächt und verletzlich, andererseits aber auch launisch und verwöhnt ist. In beiden Fällen ist das schroffe Äußere nicht nur Ausdruck einer widerständigen Persönlichkeit, sondern auch Ergebnis gesellschaftlicher Erfahrungen. Natürlich nähern sich die beiden Frauen trotz, oder vielleicht auch gerade wegen ihrer „schwierigen“ Art an und lassen sich schließlich auf eine Affäre ein, von der beide wissen, dass sie geheim bleiben und enden muss, sobald Roderick von seinen Reisen zurück ist.
Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick erinnert Francis Lees AMMONITE an Céline Sciammas PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN. Nicht nur die historische Verortung die Geschichte, auch die Konstellation der Figuren und die Interessen der Filmemacherinnen ähneln sich. Beide Filme finden fast ausschließlich in der weiblichen Sphäre statt. Wie Sciamma hat Lee einen Blick nicht nur für Geschlechterverhältnisse, sondern auch für Klassenverhältnisse. Beide Regisseurinnen inszenieren die Welt ihrer Protagonistinnen enorm physisch und machen raue und feine Stoffe, Kälte, Wind, Hunger und Dunkelheit spürbar. Doch während Sciamma von der Unmöglichkeit eines guten weiblichen Lebens im Patriarchat erzählt und auf ein unvermeidlich trauriges Ende hin inszeniert, ist Lee auf der Suche nach Möglichkeiten und Schlupflöchern, nach Spuren einer lesbischen Gegenwelt in der Vergangenheit, oder anders gesagt, nach den Fossilien lesbischen Alltagslebens in einem Haufen patriarchaler Kiesel.
Großbritannien 2020 D 120 min D R: Francis Lee D B: Francis Lee D K: Stéphane Fontaine D S: Chris Wyatt D M: Volker Bertelmann, Dustin O’Halloran D D: Saoirse Ronan, Kate Winslet, Fiona Shaw, Gemma Jones, Clarie Rushbrook D V: Tobis Film
Kate Winslet is paleontologist Mary Anning who collects fossils on the southern coast of England and sells them to tourists. She is tasked with caring for a client’s sickly wife, Charlotte (Saoirse Ronan), who has been prescribed to get some sea air.
Originaltitel: Hap D Norwegen/Schweden 2019 D 126 min D R: Maria Sødahl D B: Maria Sødahl D K: Manuel Alberto Claro D S: Christian Siebenherz D D: Andrea Braein Hovig, Stellan Skarsgård, Eirik Hallert, Hala Dakhil D V: Arsenal Filmverleih
Anja is finally where she wants to be. But on the day before Christmas a shocking diagnosis fractures her life: the old cancer has spread and metastases has formed in her brain. She only has a few months left.
hOPE
Angst vor dem Abschied
Nach vielen entbehrungsreichen Jahren ist Anja (Andrea Bræin Hovig) endlich dort angekommen, wo sie hinwollte. Ihre Tanzinszenierung feiert den Abschluss einer umjubelten Tour, ein Jahr, nachdem der Lungenkrebs drohte, sie aufzufressen. Zuhause ist immer etwas los. Das Jüngste ihrer drei Kinder ist zehn, die drei Kinder ihres Lebensgefährten Tomas (Stellan Skarsgård) haben sie als Stiefmutter akzeptiert, die Partnerschaft mit dem angesehen Regisseur ist geprägt von gegenseitigem Respekt – es herrscht eine scheinbare Harmonie im Haus, am Tag vor Weihnachten. Doch dann bricht eine erschütternde Diagnose in ihr Leben: Der Krebs hat gestreut und Metastasen im Gehirn gebildet. Eine Heilung ist aussichtslos. Ihr bleiben nur noch wenige Monate. Wie soll sie damit umgehen? Es den Kindern sagen, so kurz vor dem Weihnachtsfest, oder lieber schweigen? Soll sie aufgeben und die letzten Tage genießen oder den vielleicht aussichtslosen Kampf aufnehmen? Mit diesen Fragen sah sich auch Maria Sødahl (LIMBO) konfrontiert, die mit dem Regisseur Hans Petter Moland liiert ist. In HOPE erzählt sie ihre Geschichte. Dass sie überlebte, nimmt allerdings weniger das Ende ihres erschütternden Dramas vorweg. Sie schildert in den wenigen Tagen, an denen sich ihre Geschichte abspielt, vielmehr, welchen Preis die Krankheit von ihr und ihrer Familie abverlangte. Unausgesprochene Wahrheiten zwischen Anja und Tomas treten zu Tage. Der Hirntumor hat direkte Auswirkungen auf Anjas Verhalten, die Medikamente tun ihr Übriges, der Schlafentzug droht, sie endgültig zu zermürben. Über allem schwebt die Angst des nahenden Abschieds von denen, die sie liebt. Ein emotionales, essentielles Drama, getragen von den großartigen Leistungen der Norwegerin Andrea Bræin Hovig und des Schweden Stellan Skarsgård. D Lars Tunçay
Start am 25.11.2021 Schweiz/Österreich/Deutschland 2021 D 110 min D R: Stefan Jäger D B: Kornelija Naraks D K: Daniela Knapp D S: Noemi Katharina Preiswerk D M: Volker Bertelmann D D: Maresi Riegner, Hannah Herzsprung, Max Hubacher, Julia Jentsch, Joel Basman, Philipp Hauß D V: DCM Film Distribution
1906: A time of upheaval. The first exiles – young Herman Hesse being one of them – are looking for their paradise and find it in the south of Switzerland, in the commune Monte Verità. Young mother Hanna Leitner is also drawn to the place.
MONTE VERITÀ
Licht und Luft
Stefan Jägers Historienfilm spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während in bürgerlichen Wohnzimmern noch strikte Hierarchien und eine abgezirkelte Etikette herrschen, Kinder ihre Eltern mit „Sie“ anreden und vermögende Frauen von den Zehen bis zum Stehkragen in mehrere Lagen Stoff und Spitze eingewickelt sind, bahnt sich in den Wissenschaften, den Künsten und der Politik eine Befreiungsbewegung an. In frühen Künstler-Kolonien experimentieren Freigeister mit Nackttanz, Naturheilkunde, kommunalen Lebensformen und alternativen Beziehungsmodellen. Die von Ida Hofmann und Henri Oedenkoven gegründete „vegetabile Cooperative Monte Verità“ in Ascona gehört dazu. MONTE VERITÀ inszeniert den Kontrast. Im heimischen Wien droht die junge Mutter Hanna (zeitlos: Maresi Rieger) in den vollgestopften und farbsortierten Räumen der Jahrhundertwende wortwörtlich zu ersticken. Wegen ihrer Luftnot haben die Ärzte ihr verboten den Kindern zu nahe zu kommen (keine Emotionen) oder das Haus zu verlassen. Erst ihr neuer Arzt, der Freud-Schüler Otto Groß (allzu aufgeklärt: Max Hubacher) sieht das anders. Eines Abends packt Hanna eine kleine Tasche und flüchtet zu ihm – in die Kommune Monte Verità. Dort findet sie Licht und Luft und eine Freiheit im Umgang, die sie zunächst verängstigt, aber dann eine Rückkehr in das alte Leben immer unmöglicher macht. Hannas Geschichte funktioniert vor allem auf der Bildebene, die Wiener Innenräume mit dem klaren Licht der Berge kontrastiert und immer wieder in Schwarz-Weiß-Bildern einfriert, die an historische Aufnahmen erinnern. Auf der Textebene gerät die Illusion allerdings ins Stolpern: Die Dialoge wirken doch sehr 21st Century – „Heißt das, dass du mit allen deinen Patientinnen schläfst?“ –, gerade, wenn man die ungeheuer redseligen Manifeste der Reformer*innen
kennt. D Hendrike Bake Start am 16.12.2021
a PuRE PLaCE
Die Geschwister Irina und Paul schlagen sich als Straßenkinder durch, als ihnen eines Tages eine Lichtgestalt erscheint – es ist der dubiose Sektenführer Fust, der sich einem Ideal von totaler Reinheit verschrieben hat. Auf einer griechischen Insel produziert die Sekte Seife und gibt sich skurrilen Idealen hin. Wenn der Sektenführer einen Witz macht, kichert die Gemeinde. Wer sich widersetzt wird verstoßen. Während Irina in der Hierarchie aufsteigt und sich immer mehr blenden lässt, harrt der kleine Paul bei den Niederen, Dreckigen aus. Er beschließt, Irina zu befreien.
Start am 25.11.2021
Deutschland 2021 D 90 min D R: Nikias Chryssos D D: Sam Louwyck, Claude Heinrich, Greta Bohacek, Daniel Sträßer, Daniel Fripan, Lena Lauzemis, Wolfgang Czeczor
VICIOuS FuN
Joels Karriere als Horrorfilmjournalist läuft nur bedingt gut, aber immer noch besser als seine Annäherungsversuche an seine Mitbewohnerin Sarah. In einer Bar quatscht der überzeugte „nice guy“ den schmierigen Bob an, mit dem Sarah gerade ein Date hatte, in der Hoffnung, ihn mit einem versteckten Diktiergerät als Arschloch zu entlarven. Der Plan scheitert, Joel betrinkt sich und wacht nach einem Nickerchen in einer geschlossenen Bar auf, die leer ist, bis auf eine Gruppe Serienkiller, die dort ein Seminar abhalten …
Start am 4.11.2021
USA 2020 D 103 min D R: Cody Calahan D D: Evan Marsh, Bernstein Goldfarb, Ari Millen, Julian Richings, Robert Maillet
Originaltitel: Notre Dame D Frankreich/Belgien 2019 D 89 min D R: Valérie Donzelli D B: Valérie Donzelli, Benjamin Charbit D K: Lazare Pedron D S: Pauline Gaillard D D: Valérie Donzelli, Pierre Deladonchamps, Thomas Scimeca, Bouli Lanners D V: W-Film
NOTRE DaME
„Die Menschen sind nervös“
Die Komödie von und mit Valérie Donzelli ist etwas anders als man das von französischen Komödien gewohnt ist, eigenwilliger, alberner, verträumter, feministischer. Maud Crayon (Donzelli) ist alleinerziehende Architektin in Paris, und das erste, was ins Auge fällt, ist die winzige Wohnung, in der Maud, ihre zwei Kinder und Mauds Ex (Thomas Scimeca), der immer vorbeischaut, wenn es mit der Neuen kriselt, umeinander manövrieren. Die Dusche ist in der Küche, aus dem Radio kommen bizarre apokalyptische Meldungen – „Frankreich geht es schlecht. Die Pariser sind deprimiert“ – und überall liegt Kram. Normal halt in Paris, wenn man nicht so besonders verdient, aber doch selten im Kino zu sehen. Auf Arbeit in einem Souterrain-Büro mit Baustelle vor dem Fenster erwarten Maud ihr narzisstischer Chef Greg (Samir Guesmi), ihr netter Tischnachbar Didier (Bouli Lanners) und ein Team unterbezahlter Kollegen, die alle heimlich in ihrer Arbeitszeit am Wettbewerb zur Modernisierung des Vorplatzes von Notre Dame arbeiten. Durch ein Wunder gewinnt Maud, die gar nicht eingereicht hatte, den Wettbewerb. Ab da potenzieren sich die Turbulenzen, nicht zuletzt, weil Maud unerwartet schwanger ist und sich eine Bürgerbewegung gegen die Planungen bildet. NOTRE DAME begleitet Maud beim Krisen-Multitasking und streut dabei immer wieder Absurditäten ein. So ohrfeigen sich in ganz Paris immer wieder Leute. Ohne jede Erklärung. „Die Menschen sind nervös“, ist alles, was ein Polizist dazu sagt. Es gibt einen romantischen Trennungssong, und die befreundete Frauenärztin führt bei der Ultraschalluntersuchung Selbstgespräche à la „Er hat nur ein Bein, oh nein, doch zwei …“. Das trägt nicht unbedingt über die ganze Laufzeit, ist aber charmant anders und wirklich oft
komisch. Muss man mögen. D Toni Ohms Start am 9.12.2021
A comedy about a Parisian architect, with an idiosyncratic sense of humor.
BERgMaN ISLaND
Mikrostimmungen
In BERGMAN ISLAND schickt Mia Hansen-Løve (ALLES WAS KOMMT, EDEN) ein Filmschaffenden-Paar nach Fårö, Wahlheimat und Sehnsuchtsort des Regisseurs Ingmar Bergman. Sie wollen einen Sommer in einem von Bergmans ehemaligen Wohnhäusern verbringen. Er, Tony (Tim Roth), ein gestandener Regisseur, hat eine Einladung, sein Werk auf der Bergman-Woche zu präsentieren. Sie, Chris (Vicky Krieps) ist deutlich jünger und erst am Beginn ihrer Karriere. Ungeheuer präzise fängt Hansen-Løve die sehr spezielle Atmosphäre dieser Reise ein – das strahlend helle Insellicht, die ernsthaften Intellektuellen, die sich zu Filmsichtungen treffen und auf der „Bergman Safari“ Bergmans Schaffen verfolgen, die zurückhaltenden Inselbewohner und die Mikrostimmungen zwischen Tony und Chris, die beide vorhaben, hier in der Abgeschiedenheit an ihren jeweiligen Drehbüchern zu arbeiten. Während es bei Tony gut zu laufen scheint, kämpft Chris mit Leerstellen, sieht aus dem Fenster, wandert über die Insel.
Schließlich findet sie einen Anfang, und während sie Tony auf einem Spaziergang davon berichtet, wandelt sich BERGMAN
A filmmaking couple spends a summer in Fårö, the chosen home and place of longing of director Ingmar Bergman. Hansen-Løve interlaces the narrative layers with Bergman themes and motifs with uncanny assuredness. Frankreich 2021 D 112 min D R: Mia Hansen-Løve D B: Mia Hansen-Løve D K: Denis Lenoir D S: Marion Monnier D D: Mia Wasikowska, Vicky Krieps, Anders Danielsen Lie, Oscar Reis, Tim Roth D V: Weltkino
ISLAND und beginnt, Chris‘ Drehbuchidee zu erzählen, die Geschichte von Amy (Mia Wasikowska), die zur Hochzeit einer Freundin nach Fårö fährt und dort Joseph (Anders Danielsen Lie) trifft, mit dem sie eine alte, komplizierte Beziehungsgeschichte verbindet. Auch diese Geschichte um Begegnungen und Sehnsüchte ist so atemberaubend genau eingefangen, dass es nur Minuten dauert, bis man von ihr gefangen genommen wird und nun den Gefühlslagen dieses anderen Paares folgt. Mit traumwandlerischer Sicherheit verschränkt Hansen-Løve die Erzählebenen, bis die Charaktere zu verschwimmen beginnen. Wie Amy hat etwa auch Chris eine junge Tochter, und ebenso natürlich Mia Hansen-Løve, die mit ihrem Ehemann Olivier Assayas, einem bekannten Regisseur, Fårö mehrfach besucht hat und großer Ingmar Bergman-Fan ist …
Dabei erforscht BERGMAN ISLAND auf allen Ebenen ein ähnliches Terrain und folgt den Sehnsüchten, den kleinen Ausbruchs- und Abgrenzungsbewegungen, die sich unterhalb der etablierten Paar-Dynamik abspielen. Mit jeder Szene, jeder alltäglichen Begegnung und deren Spiegelungen in den Geschichten, die sich die Charaktere selbst erzählen, lotet Hansen-Løve aus, inwiefern in jeder Beziehung jede Person einzeln und allein ist, und das mit sich und dem Gegenüber verhandelt. Sie tut das spielerisch, ohne die existentielle Verzweiflung, die Ingmar Bergman in seinen Filmen einfing, aber dezidiert auf seinen Spuren. D Hendrike Bake
Dänemark/Deutschland/Niederlande 2021 D 107 min D R: Kaweh Modiri D B: Kaweh Modiri D K: Daan Nieuwenhuijs D S: Carla Luffe Heintzelmann D M: Mohsen Namjoo D D: Mohsen Namjoo, Jasmin Tabatabai, Shabnam Tolouei, Sallie Harmsen, Avin Manshadi, Aram Ghasemy D V: Camino
70 year old exiled Iranian Haleh fled her home many years ago after her daughter Mitra was executed. Now an exile organization has found the woman who betrayed Mitra.
MITRa
Keine Erlösung
Nicht erst seit Quentin Tarantino wissen wir, dass Rache süß ist – zumindest im amerikanischen Kino. Doch wie sieht es in einer Filmwelt aus, die deutlich näher an die Realität anknüpft und von erwachsenen Emotionen erzählen will? Die Geschichte, die Kaweh Modiri in seinem Melodram MITRA erzählt, ist lose autobiografisch und beschreibt Ereignisse, die der Familie des im Iran geborenen, inzwischen in den Niederlanden lebenden Autors und Regisseurs widerfuhren. Sie erzählt von Haleh (Jasmin Tabatabai) einer 70jährigen Exiliranerin, die vor vielen Jahren aus ihrer Heimat flüchtete, nachdem ihre Tochter Mitra wegen ihrer politischen Aktivitäten verhaftet und hingerichtet wurde. Verdrängt hat sie dieses Trauma, aber nicht vergessen, und nun brechen die Wunden auf: Eine Organisation von Exil-Iranern hat eine Frau ausfindig gemacht, die Leyla sein soll, das Mädchen, die Mitra einst verraten hat. So ganz mag Haleh das zwar nicht glauben, doch dann sucht sie doch die Verdächtige auf, die junge Sare (Shnabnam Tolouei). Haleh wird zur Bezugsperson für die jüngere Frau und vor allem deren Tochter Nilu (Avin Manshadi), doch ob Sare wirklich Leyla ist, lässt sich nach all den Jahren kaum beantworten.Während Haleh vom Bedürfnis nach Vergeltung getrieben ist, nimmt ihr Bruder Mohsen (Mohsen Namjoo) eine andere Position ein: Nach Jahren im Gefängnis ist er ein gebrochener Mann, lebt zurückgezogen in Deutschland und weiß, dass Rache nichts wieder gut macht. So bleibt den Figuren nur das Vergeben, das Modiri jedoch nicht als erlösenden Moment zeigt, sondern als bloße Akzeptanz der Realität. Passend zu seinen meist dunklen, verregneten Bildern wird MITRA so zu einem pessimistischen Film, der davon handelt, dass erlittenes Unrecht sich nicht so einfach wegwischen lässt. D Michael Meyns
Start am 18.11.2021 Deutschland 2020 D 96 min D R: Corinna Belz, Enrique Sánchez Lansch D B: Corinna Belz, Enrique Sánchez Lansch D K: Johann Feindt, Thomas Riedelsheimer D S: Anne Fabini D M: Christoph Kaiser, Julian Maas D V: Piffl Medien
In IN DEN UFFIZIEN, directing duo Corinna Belz and Enrique Sánchez Lansch take a filmic look behind the doors of the famous museum that is otherwise closed for visitors.
IN DEN uFFIzIEN
Hinter Museumstüren
Zur gelungenen Italienreise gehört neben Pasta, Vino und Dolce Vita auch ein Besuch in den Uffizien in Florenz, einem der berühmtesten Museen der Welt. In dem einstigen Bürogebäude der Familie Medici stellte die ihre Kunstsammlung erstmals 1581 aus. Das Regieduo Corinna Belz und Enrique Sánchez Lansch wirft einen filmischen Blick hinter Türen, die Besucher*innen sonst verschlossen bleiben, und dokumentiert kleine Geschichten aus dem großen Museum. Da ist etwa das Gemälde „Venus von Urbino“ von Tizian, das vor einer grün gestrichenen Wand perfekt zur Geltung kommen soll. Zwölf Farbschichten haben die Maler bereits aufgetragen, doch noch findet der Museumsdirektor Dr. Eike Schmidt den Farbton nicht optimal. Wie ein kostbarer Samtstoff soll das Grün wirken und nicht an Monet und den Impressionismus erinnern. Der Gegenwartskünstler Antony Gormley zeigt sich unzufrieden mit dem Standort seiner Statue, einem Selbstporträt. Aus dem Fenster soll sie auf die Ponte Vecchio schauen, eine Verbindung zur Außenwelt schaffen. Doch unter dem von Gormley favorisierten Platz befindet sich ein altes Gewölbe – was nun? Wie bringt man Kindern Kunstwerke wie Caravaggios „Medusa“ nahe? Wie motiviert man den Kunstförderverein aus den USA dazu, Geld für den restaurierungsbedürftigen Geografie-Saal zu sammeln? Eike Schmidt, der erste deutsche Direktor der Uffizien, und sein Team finden Lösungen. Die auf den jahrhundertealten Gemälden porträtierten Personen, von der Kamera in Nahaufnahmen eingefangen, scheinen sie mit mildem Spott dabei zu beobachten. IN DEN UFFIZIEN ist ein Film wie ein Gang durchs Museum, kontemplativ und lehrreich, ein Film über Menschen, die sich mit Leidenschaft dafür einsetzen, Kunst für die Zukunft
zu bewahren. D Stefanie Borowsky Start am 25.11.2021