D MINARI Zugewandert in Arkansas D BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN Berlinale-Gewinner D NOMADLAND Zwischen Armut und Freiheit D FRÜHLING IN PARIS Gleichklingende Melancholie D NEBENAN Am Tresen mit Daniel Brühl D COURAGE Protest in Belarus D DAS MÄDCHEN UND DIE SPINNE Genauer Rhythmus D ICH BIN DEIN MENSCH Flirt Algorithmus D ORPHEA Mythos revisited D SOMMER 85 Très retro D GLÜCK Großstadtlichterliebe D PERCY Christopher Walken gegen Monsanto D THE GREEN KNIGHT Panorama der Träume D GRENZLAND Verlassen, Kommen, Bleiben D DER RAUSCH Männer-Experiment D THE TROUBLE WITH BEING BORN Ersatz-Persönlichkeiten D LOS REYES Feuchte Nasen
Magazin FÜR unabhängigeS KINO
D 11 D JULI 2021
indiekinoMAG
DER RAUSCH – Start am 22.7.2021
„Ein lebendiges Bild des Lebens im Gazastreifen.“ gefördert vom
Editorial Herzlich willkommen zurück im Kino! Nach sieben Monaten ohne Filmtheater öffnen die Türen und Vorhänge wieder, und die Projektoren laufen wieder an. Einige Kinos und viele Open Air-Bühnen haben – je nach Länderbestimmungen – bereits seit Juni wieder geöffnet, aber bei den allermeisten geht es gemeinsam am 1. Juli los. Nach Monaten auf kleinen Bildschirmen bekommen die Filme endlich wieder Luft zum Atmen, und kein Film nutzt den dunklen Raum besser als IN THE MOOD FOR LOVE von Wong Kar-Wai, der im Juli frisch renoviert ins Kino kommt. Sehnsucht und Begehren, laue Nächte, Zigarettenrauch, der durch das Bild zieht, und der schönste Soundtrack der Welt - schön-sehnsüchtiger kann kein Wiedersehen im Kino sein. Wenn man sich dann die Tränchen aus den Augenwinkeln gewischt und einmal tief durchgeatmet hat, ist es Zeit für den ruppigen Gewinner der diesjährigen Berlinale BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN von Radu Jude, die Weite und Tiefe von Chloé Zhaos NOMADLAND und Thomas Vinterbergs Geschichte von Inspiration und Absturz DER RAUSCH. In Minari verarbeitet Lee Isaac Chung seine Kindheit im ländlichen Arkansas, und in SOMMER 85 erfindet François Ozon nach dem Jugendroman „Tanz auf meinem Grab“ eine leuchtend bunte Liebe in den 1980er Jahren. Beim letzten Mal Nachsehen haben wir 85 Filmstarts für den Juli gezählt. Davon können wir in diesem Heft nur einen Teil berücksichtigen, weitere Besprechungen findet ihr online unter www.indiekino.de – dort sind auch längere Texte zu Filmen, die wir bereits in der letzten Ausgabe ausführlich besprochen haben und deshalb hier nur noch einmal kurz in Erinnerung rufen – ROSAS HOCHZEIT, MATTHIAS & MAXIME oder ZUSTAND UND GELÄNDE. Viel Spaß beim Lesen und viel Spaß im Kino! Eure INDIEKINO Redaktion
SCREENDAILY
GAZA MON AMOUR MANCHMAL SIND DIE EINFACHSTEN GESCHICHTEN DIE SCHÖNSTEN
EIN FILM VON TARZAN & ARAB NASSER www.alamodefilm.de
/ alamode.filme
AB 22.7. IM KINO
INDIEinhalt
06 Magazin
39 Kinderfilme
08 „ICH MUSSTE ERST SELBST VATER WERDEN, UM DIESE GESCHICHTE ERZÄHLEN ZU KÖNNEN“ INTERVIEW MIT LEE ISAAC CHUNG ZU MINARI
40 Kinohighlights
12 BERLINALE GEWINNER BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN
46 Nachbild
24 FLIRT-ALGORITHMUS ICH BIN DEIN MENSCH
42 „DIE SCHÖNHEIT DES LEBENS BESTEHT IN DER FLUCHT“ INTERVIEW MIT FRANÇOIS OZON ZU SOMMER 85
47 Kinoadressen, Impressum, Abo
34 „WAS WÄRE, HÄTTE GOTT DIE WELT OHNE ALKOHOL GESCHAFFEN?“ INTERVIEW MIT THOMAS VINTERBERG ZU DER RAUSCH Neu im JULI 16 28 12 31 22 17 37 16 32
Alles ist eins. Ausser der 0. Der Atem des Meeres Bad Luck Banging or Loony Porn Beyto Censor Courage Die Dohnal Frühling in Paris Gasmann
23 36 33 27 32 29 24 37 40 29 28
Gaza Mon Amour Gefangen im Netz Glück The Green Knight Grenzland Homo communis Ich bin dein Mensch Im Feuer In the Mood for Love Landretter Die letzten Reporter
18 19 39 8 17 14 26 26 31 20
Das Mädchen und die Spinne Matthias & Maxime Mein Freund Poly Minari Nebenan Nomadland Orphea Percy Possessor Proxima
34 38 28 19 36 30 20 21 22 36
Der Rausch Los Reyes Roamers Rosas Hochzeit Ruben Brandt Sommer 85 Tina The Trouble with Being Born Vor mir der Süden Zustand und Gelände
Starts der Woche Juni
1.7.
8.7.
22.7.
20 16 39 36 36 28 20
31 17 24 40 29 14 26 31 19 36 21 22
12 32 29 18 38 30
32 23 33 26 34 28
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Tina Frühling in Paris Mein Freund Poly Zustand und Gelände Gefangen im Netz Die letzten Reporter Proxima
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Beyto Courage Ich bin dein Mensch In the Mood for Love Landretter Nomadland Percy Possessor Rosas Hochzeit Ruben Brandt The Trouble with Being Born Vor mir der Süden
Bad Luck Banging or Loony Porn Grenzland Homo communis Das Mädchen und die Spinne Los Reyes Sommer 85
15.7. 37 Im Feuer 8 Minari 17 Nebenan
Gasmann Gaza Mon Amour Glück Orphea Der Rausch Roamers
29.7. 16 28 22 37 27 19
Alles ist eins. Ausser der 0. Der Atem des Meeres Censor Dohnal, Die The Green Knight Matthias & Maxime
INDIEMagazin
DFF I: KATASTROPHE Ironischerweise musste die Eröffnung der Ausstellung „KATASTROPHE. Was kommt nach dem Ende?“ zum Thema Weltuntergänge im Film wegen der COVID-Pandemie von November 2020 auf den Sommer 2021 verschoben werden. Sie widmet sich der Beziehung zwischen filmischen und realen Katastrophen: Wie stellen und stellten sich Filmschaffende einerseits und Wissenschaftler*innen andererseits in unterschiedlichen Zeiten die ultimative Vernichtung vor? Welche Rettungsmöglichkeiten sehen sie? Wie wahrscheinlich sind die Filmhandlungen? Wie prägen die filmischen Inszenierungen unser aller Vorstellungen von einer Katastrophe? Die Ausstellung wurde vom Deutschen Filmmuseum Frankfurt (Main) in Kooperation mit dem Senckenberg Naturmuseum entwickelt, das auch ein „abwechslungsreiches Begleitprogramm“ beisteuern wird. Ab 14.7. dff.film Überlebende des Untergangs der Titanic blicken auf das sinkende Schiff. Laterna-Magica-Dia „Be British! Titanic“ (DFF)
Laura Poitras. Circles
Die Dokumentarfilmemacherin Laura Poitras ist in Deutschland vor allem durch ihren Film CITIZENFOUR über den Whistleblower und Aktivisten Edward Snowden bekannt. Im Neuen Berliner Kunstverein findet bis zum 8.8. eine Ausstellung von Poitras‘ Videoinstallationen statt. In der Serie ANARCHIST (2016) geht es um Drohnenaufnahmen israelischer bewaffneter Angriffsdrohnen, die vom britischen Geheimdienst abgefangen und wiederum vom der US-Behörde NSA gehackt wurden. TERROR CONTAGION (2021) behandelt die Malware „Pegasus“ des israelischen Cyberwaffenherstellers NSO Group, die zur Verfolgung von Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen eingesetzt wird. In EDGELANDS (2021) untersuchen Poitras und Sean Vegezzi geheim gehaltene Orte der Polizei-, Überwachungs- und Strafvollzugs- Infrastruktur in New York City. nbk.org
DFF II: DAS EXOTISCHE, DAS GEWAGTE. Das Filmmuseum Frankfurt hat auf seiner Webseite in der virtuellen Ausstellung „Das Exotische, das Gewagte.“ Stummfilmposter der 1920er Jahre aus dem Archiv zusammengestellt und mit sehr ausführlichen Audio-Kommentaren versehen, die von der Produktionsgeschichte und Rezension von Poster und Film erzählen und analysieren, wie sich die damaligen Macht- und Geschlechterverhältnisse in die Bild- und Filmästhetik eingeschrieben haben. Das Projekt ist der Auftakt zu weiteren Vorhaben, die das 360°-Team mit Blick auf mehr Diversität im DFF in den kommenden Jahren plant. dff.film
KINOTOUR: DIE LETZTEN REPORTER „Ich habe versucht, freundlich zu den Menschen zu sein.“ So fasst Kolumnist Werner Hülsmann von der Neuen Osnabrücker Zeitung sein Arbeitsethos zusammen. Und so würden das sicher auch seine Kolleg*innen Anna Petersen von der Lüneburger Landeszeitung und Thomas Willmann, Sportreporter bei der Sächsischen Volkszeitung, unterschreiben. Sie alle sind als Lokalreporter unterwegs, immer im Einsatz, dicht an den Menschen der Region, und akut von der Digitalisierung bedroht (Filmbesprechung auf Seite 28). Zum Start besuchen sie und Regisseur Jean Boué auch die Kinos der Region. Tour-Termine unter: die-letzten-reporter.de/kino-tour D6
D JULI 2021
Klipp-Klapp-Box
INDIEmagazin
VERLOSUNG: SANDBURG
SPATZENKINO IM NEST
Normalerweise findet das Spatzenkino in Berlin und im Kino statt, aber im Moment bleibt der Spatz im Nest und kann deshalb von allen Kindern ab vier Jahren online besucht werden. Im Juli und August gibt es im Nest Bastelanleitungen und zwei Kurzfilme für Freundinnen und Freunde: Im Animationsfilm KLIPP-KLAPP-BOX baut der Blumenverkäufer eine solche Kiste für ungewöhnliche Freunde, die nicht ins Haus passen, und im Film ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST hissen Mia und Ingo die Segel für ihr Hochseeschiff auf dem Küchentisch, weil sie gerade nicht ans Meer fahren können. spatzenkino.de
M. Night Shyamalan hat unter dem Titel OLD gerade den Comic „Sandburg“ von Frederik Peeters und Pierre Oscar Lévy verfilmt. Die phantastische Geschichte um Menschen an einem einsamen Strand, die rasend schnell altern, müsste eine perfekte Vorlage für Shyamalans atmosphärisch dichten Stil bilden, aber vor Redaktionsschluss konnten wir den Film, der am 29.7. ins Kino kommen wird, noch nicht sehen. Dafür haben wir den Comic gelesen und sind von der an Buñuels DER WÜRGEENGEL erinnernden Geschichte begeistert. Wir verlosen drei Exemplare. Bei Interesse schreibt uns bis zum 15.7. eine Mail an info@indiekino.de, Stichwort: Sandburg
AB 08. JULI IM KINO
INDIEFEATURE
Regisseur Lee Isaac Chung war kurz davor, seinen Beruf an den Nagel zu hängen, als er in diesem Jahr mit MINARI seinen Durchbruch hatte. Der semi-autobiografische Film über eine koreanische Zuwandererfamilie in den 1980er Jahren in den USA wurde inzwischen mit 107 Filmpreisen ausgezeichnet und war für sechs Oscars nominiert – davon hat er einen gewonnen: Yuh-Jung Youn erhielt den Preis für die beste Nebendarstellerin für ihr Porträt der Großmutter Soon-ja. MINARI ist der erste Film von Chung, der in Deutschland ins Kino kommt (sein Debüt MUNYURANGABO war 2008 auf der Berlinale zu Gast). Patrick Heidmann hat mit Chung über MINARI gesprochen.
„Ich musste erst selbst Vater um diese Geschichte erzählen Interview mit Lee Isaac Chung über MINARI
INDIEKINO: Mr. Chung, Ihr erster Spielfilm MUNYURANGABO vor 14 Jahren spielte in Ruanda, danach drehten Sie einen, der von der Lyrik Gerald Sterns inspiriert war und einen über eine einsame New Yorkerin. Warum verarbeiten Sie erst jetzt mit MINARI auch Elemente Ihrer eigenen Lebensgeschichte?
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Lee Isaac Chung: Zu Beginn meiner Karriere verspürte ich den Drang nicht wirklich, mich meiner Biografie zu widmen. Doch vor MINARI war ich als Filmemacher an einem Punkt angekommen, an dem ich vor dem Ende meines Wegs stand. Ich war nach Korea gezogen und unterrichtete an der Uni. Es fehlte nicht viel und ich wäre festangestellter Professor in Vollzeit geworden. Ich
INDIEFEATURE
so persönlich wie möglich war und mir mehr bedeutete als alle anderen vorher. Warum wollten Sie Professor werden und das Filmemachen aufgeben? Ich kann nicht leugnen, dass das Geld eine Rolle spielte. Man verdient nicht viel mit kleinen Independent-Filmen, und es wird auch immer schwerer, sie überhaupt umzusetzen. Vor allem aber war ich einfach unglaublich unzufrieden mit allem, was ich schrieb. Ich hielt mich für einen miesen Drehbuchautor, der Selbstzweifel und die Frustration wurden immer stärker. Meine Familie spürte das, mein Unglück war nicht zu übersehen. Irgendwann wusste ich, dass es so nicht weitergehen kann und wollte mich darauf konzentrieren, mir selbst und vor allem ihnen ruhige, stabile Lebensumstände zu bieten. Tatsächlich fanden wir genau das dann in Korea, wir lebten uns schnell ein und fanden Freunde. Meine Frau und Tochter waren happy. Aber dieser letzte Versuch, einen Film zu drehen, der mir alles bedeutet, musste es einfach noch sein. Sie erzählen nun also in MINARI – inspiriert von der eigenen Familiengeschichte – von einem aus Korea eingewanderten Ehepaar, das in den frühen achtziger Jahren mit seinen beiden in den USA geborenen Kindern aus Kalifornien ins ländliche Arkansas auf eine kleine Farm zieht ... Dass diese Geschichte erzählenswert ist, wusste ich immer schon. Aber ich glaube, ich musste erst selbst Vater werden, um sie erzählen zu können. Um zu verstehen, wie diese Zeit damals eben nicht nur für mich, sondern auch für meine Eltern wohl war. Als nun meine Tochter in dem Alter war, das ich beim Umzug nach Arkansas hatte, und ich selbst etwa im Alter meines Vaters damals, wusste ich, dass der Zeitpunkt nun der richtige war. War die Gratwanderung zwischen Autobiografie und Fiktion eine schwierige?
werden, zu können“ wusste, dass ich vermutlich nur noch eine einzige Chance haben würde, ein Drehbuch zu schreiben. Und das musste dann einfach eines sein, das sich lohnt. Eines, das ich bereuen würde, nicht ge schrieben zu haben. Ob daraus dann überhaupt ein Film werden würde, stand noch vollkommen in den Sternen. Aber ich merkte, dass die Zeit gekommen war, eine Geschichte zu erzählen, die
Anfangs bereitete es mir etwas Unbehagen, einerseits die Geschichte meiner Eltern zu erzählen, es aber eben andererseits nicht mit ihrer Stimme, sondern aus meiner Perspektive als Sohn zu tun. Doch letztlich beflügelte mich dann der Gedanke an Truffauts SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN IHN. Ich weiß, dass das für ihn eine sehr persönliche Geschichte war, trotzdem denken wir bei dem Film nicht an Truffauts Geschichte, sondern an die von Antoine Doinel. So etwas wollte ich auch erreichen. Entscheidend dafür war natürlich, den Figuren andere Namen zu geben und sie eben nicht mit meiner Familie gleichzusetzen. Meine Erinnerungen sollten den Ausgangspunkt darstellen, aber ich versuchte immer, Raum zu lassen für Fiktion. Und bloße nostalgische Sentimentalität zu vermeiden. Ob mir das in allen Szenen gelungen ist, vermag ich selbst nicht zu sagen. Aber es war mein Anspruch. JULI 2021 D
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INDIEFEATURE
Als kleiner Junge mit koreanischen Wurzeln in der US-Provinz auf dem Land aufzuwachsen – sah das in den achtziger Jahren anders aus als es heute der Fall wäre? Oh, interessante Frage. Was damals sicherlich anders war, war die Tatsache, dass wir keinerlei Vorbilder hatten. In den siebziger Jahren hatten die USA ja gerade erst wieder angefangen, Einwanderer aus asiatischen Staaten ins Land zu lassen. Es gab damals dann eine richtige Welle von Immigranten aus Asien und mein Vater war einer von ihnen. Und wenn Leute wie er dann aus den Städten raus aufs Land zogen, dann gab es da niemanden, der aussah wie sie oder ihre Erfahrungen teilte. Das wäre heute etwas anderes. Mein Neffe ist ungefähr so alt wie ich es damals war und er war ziemlich irritiert, als er MINARI sah. Vieles, was im Film gesagt wird, verstand er nicht, weil er es selbst nicht kennt. Er hat Eltern, die ihm helfen können beim Aufwachsen als asiatischstämmiger Amerikaner, weil sie es selbst bereits erlebt haben. Und er hat andere Kinder mit asiatischen Wurzeln als Freunde. Die Erlebnisse meiner Kindheit waren also schon sehr konkret an jene Zeit gekoppelt. Manche würden Ihren Werdegang vermutlich als Paradebeispiel des amerikanischen Traums bezeichnen, oder? Puh, da bin ich nicht sicher, wie ich das sehe. Dieser Begriff ist erstens recht abgenutzt und verwässert, und zweitens bedeutet er vermutlich für jeden individuell etwas ganz anderes. Was ist der amerikanische Traum? Der von dem Martin Luther King Jr. gesprochen hat? Darauf könnte ich mich einigen. Und der war es wohl auch, der meine Eltern damals in die USA hat kommen lassen: dieser Gedanke, dass es in diesem Land möglich ist, nicht nur etwas aus sich zu machen, sondern man auch auf Gleichheit und Gemeinschaft hoffen kann. Das ist in der Praxis nicht immer gegeben. Aber wenn ich mich in meiner sehr diversen Nachbarschaft in Los Angeles umsehe, wo eine Community aus unterschiedlichsten Familien zusammenlebt, sich gegenseitig unterstützt und für die Demokratie und Gerechtigkeit kämpft – das ist für mich der amerikanische Traum. Meine Geschichte ist auch ein Traum, schließlich habe ich es nun doch geschafft, meiner Familie und mir selbst ein stabiles Leben zu ermöglichen und offenbar trotzdem weiter Filme zu machen. Doch das ist mein ganz eigenes Ding. Es wurde in den USA sehr kontrovers diskutiert, dass MINARI bei Filmpreisen wie dem Golden Globe in die Kategorie „fremdsprachiger Film“ gesteckt wurde und häufig nicht mit anderen US-Produktionen konkurrierte. Hat Sie das befremdet? Für mich war diese Diskussion ein Wechselbad der Gefühle. Aber mir gefiel daran, dass mehr und mehr Menschen über die Regeln diskutiert haben, nach denen wir Filme einordnen und in Schubladen stecken. Und ich hoffe, dass wir auch weiter daran arbeiten werden, unseren Begriff davon zu erweitern, was „amerikanisch“ D 10
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und was „fremd“ heißt. Solange wir darüber sprechen und den Status quo in Frage stellen, ist schon vieles gewonnen. Apropos fremd: Rassismus kommt als Thema im Film nur am Rande vor. Warum? Mir war klar, dass ich das Thema nicht vollkommen außen vor lassen kann, denn das wäre mir als verantwortungslos und unrealistisch vorgeworfen worden. Aber es sollte auf keinen Fall im Vordergrund stehen, denn das tut es für die Familie, um die es hier geht, auch nicht. Natürlich gibt es Situationen, in denen sie Fremdenfeindlichkeit erleben, aber ihr Alltag wird davon nicht dominiert. Unter anderem deswegen war es mir auch wichtig, dass diese Familie nicht ganz frisch in den USA angekommen, sondern bereits seit einigen Jahren im Land ist. Wovon ich erzählen wollte, war weniger ein Ankommen und ein Assimilieren an eine fremde Kultur, als eher ein Art Assimilation innerhalb der Familie. Wie sich das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander verändert und verschiebt, fand ich spannend, nicht einem „weißen Publikum“ zu erklären, wer wir sind und was wir auf unserem Weg durchmachen mussten. Lassen Sie uns noch kurz über Ihre Schauspieler*innen sprechen. Steven Yeun, der den Vater spielt, ist dank THE WALKING DEAD und OKJA sicherlich der bekannteste amerikanisch-koreanische Schauspieler der Welt... Und er ist mit meiner Cousine verheiratet. Deswegen hatte ich ihn anfangs für die Rolle überhaupt nicht auf dem Schirm. Beruf und Familie zu trennen war für mich eigentlich immer das oberste Gebot. Ich hätte Steven nie für die Rolle angefragt, weil ich viel zu viel Angst gehabt hätte, dass er sich verpflichtet fühlt und aus den falschen Gründen zusagt. Eigentlich wollte ich also in Korea nach einem geeigneten Schauspieler suchen. Doch dann bekam Steven das Drehbuch in die Hände und war interessiert, was ich über meinen Agenten erfuhr. Was für ein Glück! Schon allein, weil er das perfekte Bindeglied war zwischen den aus Korea kommenden Schauspieler*innen, einem Hollywood-Veteran wie Will Patton und den beiden wunderbaren koreanisch-amerikanischen Kindern, die noch nie einen Film gedreht hatten. Youn Yuh-jung als die Großmutter besetzen zu können, war sicherlich ebenfalls ein großes Glück, nicht wahr? Ich war sehr nervös, als wir ihr die Rolle angeboten haben. Sie hat den Ruf, sehr ehrlich und meinungsstark zu sein, und ich hatte natürlich Angst, sie könnte das Drehbuch nicht mögen. Dass sie dann zugesagt hat, war eine Riesensache für mich. Denn in Korea ist sie schließlich ein großer Star. Und vor allem ist sie die Lieblingsschauspielerin meiner Eltern. In meiner Jugend war sie omnipräsent, weil sie in allen großen Fernsehserien mitspielte, die wir auch in den USA sehen konnten. D Das Gespräch führte Patrick Heidmann
INDIEFEATURE Originaltitel: Minari D USA 2020 D 115 min D R: Lee Isaac Chung D B: Lee Isaac Chung D K: Lachlan Milne D S: Harry Yoon D M: Emile Mosseri D D: Steven Yeun, Yeri Han, Youn Yuh Jung, Will Patton D V: STUDIOCANAL
Minari
Zugewandert in Arkansas
ein Grundstück gekauft, das er landwirtschaftlich erschließen will. Bis das Feld jedoch Früchte trägt, arbeiten er und seine Frau Monica (Yeri Han) in einer Hühnerfabrik, während die beiden, schon in Amerika geborenen Kinder Anne (Noel Kate Cho) und David (Alan S. Kim) zu Hause bleiben. Bindeglied zwischen den Generationen ist die Großmutter Soon-ja (Yuh-Jung Youn), die aus Korea nachgeholt wird, um die Kinder zu hüten. Doch die eigenwillige Frau bringt auch etwas anderes mit: Die Traditionen der Heimat, die den Eltern verlorenzugehen drohen. Man merkt MINARI an, dass Lee kein ganz junger Regisseur ist, sondern schon über 40, dass er Lebenserfahrung besitzt, die ihm nun ermöglicht, das Verhalten und die Entscheidungen aller Seiten mit großer Authentizität zu zeigen. Mit einer Gleichmut, die oft an das asiatische Kino erinnert, erzählt er von Problemen und Konflikten, die trotz allem nie ein großes Hindernis darstellen. Lee inszeniert mit MINARI kein großes Drama, sondern einen warmherzigen, genau beobachteten Film, der zeigt, wie eine koreanische Familie sich langsam mit der amerikanischen Mentalität arrangiert – und dabei etwas Eigenständiges entsteht. D Michael Meyns ¢ Start am 15.7.2021
Lee Isaac Chung hat bis zu seinem vierten Film gewartet, um Kindheitserlebnisse filmisch zu verarbeiten. Sein viel gelobtes und ausgezeichnetes Familiendrama MINARI erzählt von der koreanisch-amerikanischen Familie Yi, die auf der Suche nach dem amerikanischen Traum nicht nach Westen zieht, sondern von Kalifornien nach Arkansas. Dort hat Vater Jacob (Steven Yeun)
In his semi-autobiographical film, Lee Isaac Chung depicts Korean-American family Yi, who don‘t move out west in search of the American Dream, but rather from California to rural Arkansas.
Von der Regisseurin von VOR DER MORGENRÖTE und UNORTHODOX MAREN EGGERT DAN STEVENS SANDRA HÜLLER „Ein raffiniertes Gedankenspiel mit Witz und Charme.“ heute journal
Ich bin dein Mensch ein Film von MARIA SCHRADER
„Der lustigste deutsche Film seit TONI ERDMANN!“ Brigitte
JETZT IM KINO
www.ichbindeinmensch.de
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INDIEFEATURE
Bad Luck Banging or Loony Porn Berlinale-Gewinner
Realismus, Wahnsinn und eine unbändige Wut auf geschichtsvergessene, rechtsradikale, sich selbst für die anständige Mitte haltende Dummbürger und -bürgerinnen geben sich in Radu Judes Berlinale-Gewinner die Hand. Es gibt drei Teile, die von fröhlichen pinkfarbenen Zwischentafeln und Kirmesmusik ebenso beschwingt wie schäbig eingeleitet werden. Der erste begleitet die Lehrerin Emi durch Bukarest, Emi ist gestresst. Ein privat gedrehtes Sexvideo von ihr ist im
Realism, madness, and an unbridled anger towards those who ignore history, right-wing radicals, and stupid citizens who regard themselves as decent converge in Radu Jude’s three-part farce.
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Internet aufgetaucht und hat einen Shitstorm ausgelöst. Eltern und Schulleitung haben sie vorgeladen. Ebenso gestresst wie Emi ist auch die ganze Stadt, ständig bricht Streit aus und fette SUVs parken bräsig die Fußgängerüberwege zu. Eine beobachtende Kamera folgt Emi auf Distanz und schaut sich dabei in den Straßen um: Menschen mit Masken, kaputte Fassaden, billige Werbung. Pandemie-Alltag im Spielfilm, unglaublich erleichternd zu sehen nach den Monaten, in denen Kino sich nur noch in fantastischen Parallelwelten zu bewegen schien, völlig abgekoppelt von dem, was eigentlich gerade in der Welt passiert. Bei Jude ist die Pandemie nicht groß Thema, aber sie ist da – in den Masken am Arm, im Abstand zwischen den Menschen oder in der Szene, in der die kleine alte Dame zum Gespräch in der Apotheke die Maske runterzieht und daraus, natürlich, wieder ein Streit entsteht. Rumänien/Luxemburg/Kroatien/Tschechische Republik 2021 D 106 min D R: Radu Jude D B: Radu Jude D K: Marius Panduru D S: Cătălin Cristuțiu D M: Jura Ferina, Pavao Miholjevi D D: Katia Pascariu, Claudia Ieremia, Olimpia Mălai, Nicodim Ungureanu, Alexandru Potocean, Andi Vasluianu D V: Neue Visionen Filmverleih
INDIEFEATURE
Der zweite Teil ist eine Sammlung von kurzen und kürzesten Anekdoten, die Radu Jude seinem Publikum offenbar einfach mal um die Ohren knallen wollte. Es gibt jeweils einen Titel, zum Beispiel „Bücherregal“, ein Bild oder einen kleinen Film, in diesem Fall das Foto eines Bücherregals, und einen kleinen erläuternden Text, hier ist das die schöne Sentenz „Aus den Bibliotheken gehen die Schlachter hervor“. Zu „Vergewaltigung“ erfährt man, dass 55% der Rumän*innen diese unter Umständen für nachvollziehbar halten, etwa wenn Drogen im Spiel sind, sie mit nach Hause gegangen ist oder sich provokant angezogen hat. Etwa zwei Dutzend dieser Kurzschnipsel bilden eine wütende Tirade, deren Zusammenfassung sich vielleicht in jenem Abschnitt findet, der „Politik“ heißt und mit dem Satz beginnt „Politische Indifferenz kommt moralischer Fäulnis nahe.“
Farce ist, legt nochmal an Fahrt zu und steigert sich immer weiter ins Absurde. „Kein Film erzählt per se die Wahrheit. Man muss die Filme mit der Realität vergleichen.“, singt der Abspann. D Hendrike Bake ¢ Start am 8.7.2021
Im dritten und letzten Teil verhandeln Eltern und Schulleitung dann – mit Abstand und Masken im Schulhof – über Emis Zukunft. Zunächst wird nochmal das Sex-Tape gezeigt, während Emi daneben sitzt, dann wird ein Tribunal gehalten, in dem vom Blowjob über Bill Gates bis hin zum Holocaust alles, was an Ressentiments in vernebelten Hirnen gerade so in Umlauf ist, zur Sprache kommt. Es gibt zotige Zwischenrufe, persönliche Angriffe, ausführliche, vom Handy verlesene wissenschaftliche Texte zum Thema Kindererziehung, und Emi zitiert zu ihrer Verteidigung obszöne Gedichte des Nationaldichters Eminescu. Dieser Teil, der zugleich Kammerspiel und eine wilde, dicht inszenierte
»Mein Herz klopft vor Freude, vor Ungeduld, vor Erregung. Ganz allein, ich und mein Fiat Millecento, und der ganze Süden vor mir. Das Abenteuer beginnt.« Pier Paolo Pasolini
Durch Italien auf den Spuren von Pier Paolo Pasolini
Ein Dokumentarfilm von
Pepe Danquart
ab 01. juli im kino
INDIEFEATURE
Cloe Zhaos NOMADLAND hat 2020 nahezu alle wichtigen Oscars gewonnen: für den Besten Film, die Beste Regie und Beste Hauptdarstellerin (Frances McDormand). Nach der emotionalen Wucht ihres herausragenden Films THE RIDER (2017) war es eigentlich nur eine Frage der Zeit und der Anwesenheit mindestens eines Stars in einem Film von Zhao, wann es die ersten Oscars regnen würde. Die Oscars für NOMADLAND sind gerechtfertigt, der Film ist großartig. Wie bereits in SONGS MY BROTHERS TAUGHT ME und THE RIDER, die in der Pine Ridge Reservation in South Dakota gedreht wurden, erzählt Zhao eine psychologische Geschichte vor einem dokumentarischen Hintergrund, und die Landschaftsaufnahmen von ihrem regelmäßigen Mitarbeiter und Kameramann Joshua James Richards sind ähnlich überwältigend. Hier aber werden die Hauptrollen von professionellen Schauspieler*innen gespielt, die Nebenfiguren dagegen spielen sich selbst. NOMADLAND erzählt von Fern (McDormand), die ihren Ehemann in der ehemaligen Bergbau- und heutigen Geisterstadt „Empire“ bis zu seinem Tod gepflegt hat. Nach der Schließung einer Gipsund Bauteilefabrik ist die Stadt zusammengebrochen. Fern lebt seitdem in einem zum Wohnwagen ausgebauten Kleinbus als Nomadin. Der Film beginnt kurz vor Weihnachten, als Fern auf das Gelände einer riesigen Amazon-Lagerhalle fährt, um dort als Zeitarbeiterin zu jobben. Offenbar hat Amazon einen eigenen Campingplatz für nomadisch lebende Arbeiter*innen: Die Finanzkrise von 2007/2008 war für viele US-Amerikaner*innen vor allem eine Immobilienkrise, denn sie verloren mit ihren Hypotheken und ihren Umschuldungsmodellen oft auch ihre Häuser und Wohnungen. Entlang der Landstraßen entstanden große „RV-Parks“ (R=Recreational Vehicle=Wohnmobil), die die Trailer-Parks mit den vergleichsweise komfortablen Großwohnwagen der 70er-90er Jahre ergänzten. Sie sind eine amerikanische Version der deutschen Dauercampingplätze und Laubenkolonien, in denen ja auch in Deutschland oft Menschen dauerhaft – und hierzulande oft am Rande der Legalität – leben. Fern hat gelernt, mit sehr wenig zu leben, und sie ist darauf bedacht, Begegnungen freundlich, aber nicht allzu herzlich und intim werden zu lassen. Erst als es ihr nicht gelingt, einen Job zu finden, folgt sie der Einladung einer ebenfalls nomadisch lebenden Kollegin bei Amazon, zu einem Treffen von Nomad*innen mit Bob Wells zu fahren. Bob Wells ist ein echter Nomade, wie die meisten Personen, denen Fern auf ihrer Reise begegnet. Wells ist Autor eines Buches über das Leben in Wohnwagen und Vans, betreibt eine Website und bietet kostenlose Youtube-Lektionen über den Lebensstil an. Das „Rubber Tramp Rendezvous“ ist der Höhepunkt des Jahres für seine Organisation „Home on Wheels Alliance“.
D 14
D JULI 2021
NOMADLAND ist zugleich ein Porträt dieses nomadischen Lebensstils am armen Rand der US-amerikanischen Gesellschaft und die Erzählung des Heilungs- und Trauerprozesses, den Fern durchlebt. Der fiktionale Erzählstrang und das dokumentarische Interesse am Nomaden-Lebensstil gehen hier nicht ganz so nahtlos zusammen wie in THE RIDER. Dort erzählte Zhao die reale, gefunden Geschichte eines Cowboys, der nicht mehr reiten durfte und porträtierte seine Lebenswelt. Hier sind die Gespräche, die Frances McDormand mit echten Nomad*innen führt, episodisch in die Handlung eingefügt, aber nur lose mit ihr verbunden. Das hat immer noch eine große emotionale (und politische) Wucht, auch weil Frances McDormand nicht nur die Herzen im Kino zufliegen, sondern sie auch einen Draht zu den Laiendarsteller*innen entwickelt und echtes Interesse an deren Leben zu haben scheint. Aber Zhaos Methode der Immersion in minoritäre Kulturen und der Kombination von dokumentarischen Elementen mit einer gradlinigen Dramaturgie der fiktionalen Erzählung lässt sich nicht endlos fortführen. Sie droht zu einer Masche zu werden, die Außenseiter und Minoritäten zum Authentizität vorgaukelnden Dekor werden lässt. Man wird das in den nächsten Jahren bei Epigonen von Zhaos Stil sehen. NOMADLAND ist vorerst der filmische Höhepunkt eines Stils, der das postdramatische Theater seit einigen Jahren dominiert. D Tom Dorow ¢ Start am 1.7.2021
INDIEFEATURE
Nomadland
Zwischen Armut und Freiheit
NOMADLAND centers on Fern (Frances McDormand), a silent, restless woman who becomes one of the “nomads“ after the death of her husband. The community lives in trailers at the margins of society leading a life that‘s somewhere between poverty and freedom.
USA 2020 D 108 min D R: Chloé Zhao D B: Chloé Zhao D K: Joshua James Richards D S: Chloé Zhao D M: Ludovico Einaudi D D: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, Charlene Swankie D V: Walt Disney Company
JULI 2021 D
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INDIEKRITIKEN Deutschland 2020 D 90 min D R: Klaus Maeck, Tanja Schwerdorf D K: Hervé Dieu D S: Andreas Grützner D M: Alexander Hacke D V: Neue Visionen
Alles ist eins. Ausser der 0.
Originaltitel: 16 printemps D Frankreich 2020 D 73 min D R: Suzanne Lindon D B: Suzanne Lindon D K: Jérémie Attard D S: Pascale Chavance D M: Vincent Delerm D D: Suzanne Lindon, Arnaud Valois, Frédéric Pierrot, Dominique Besnehard D V: MFA
Frühling in Paris Gleichklingende Melancholie
Informationsfreiheit und Datenschutz Wer einen Krieg vorbereitet, wird versuchen, die Kommunikation zu unterbinden. Menschen, die miteinander reden, gehen nicht aufeinander los. Diese pazifistische Einsicht ist eine der Prämissen, unter denen der Chaos Computer Club, kurz CCC, in Deutschland für ein Menschenrecht auf ungehinderte Kommunikation und für öffentliche Informationsfreiheit bei gleichzeitigem Schutz der privaten Daten kämpft. Während der Coronakrise nicht zuletzt mit umfassender Kritik an der Luca-App hervorgetreten, hat die Hackervereinigung auch schon mal ein unabhängiges Medienzentrum beim G20 eingerichtet. „Dr. Waus Chaos Computer Club Film”, wie die Titelergänzung zu ALLES IST EINS. AUSSER DER 0 lautet, schildert die Historie des CCC in einer flott geschnittenen Mischung aus privatem und TV-Archivmaterial, Animationen, found footage aus zeitgenössischen Nachrichten wie auch Werbung, von Punkkonzerten und aus dem Film 23. Der wilde Video- und Bilderreigen wird sanft strukturiert von Erzähler Peter Glaser, dem ehemaligen Chefredakteur der CCC-Zeitschrift „Datenschleuder“, und dicht zusammengezurrt von einem Soundtrack Alexander Hackes. So ergibt sich ein Überblick über die verschiedenen markanten Stationen von der Gründung des CCC 1981 über den medienwirksamen BTX- hin zum beängstigenderen NASA- und KGB-Hack sowie die connections zu Snowden und Wikileaks, es entsteht aber auch ein liebevolles Porträt des verstorbenen zentralen Gründungsmitglieds und CCC-Philosophen Dr. Wau. Eine seiner messages ist aktueller denn je: Es geht nichts über unmittelbare Erfahrung und direkten zwischenmenschlichen Austausch ohne mediale Vermittlung. D Anna Stemmler ¢ Start am 29.7.2021
The Chaos Computer Club (CCC) was founded in 1981 in the editorial offices of taz and has been fighting for open communication, freedom of information, and the protection of personal data ever since.
D 16
D JULI 2021
Suzanne Lindon, die Tochter des französischen Superstar-Schauspielerpaars Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon, war gerade mal 15 Jahre alt, als sie das Drehbuch zu FRÜHLING IN PARIS geschrieben hat, und auch in der Verfilmung des Stoffes, die sie nun im Alter von 21 Jahren realisiert hat, steckt noch viel Teenager. Zum Beispiel ist da diese Kombination aus extremer Schüchternheit gepaart mit einem ausgeprägten Überlegenheitsgefühl. Lindon spielt sich selbst, bzw. eine 16-Jährige mit dem Namen Suzanne, die mit ihren Mitschüler*innen wenig anfangen kann. Inmitten von Freundinnen wirkt sie verloren, hört kaum, was diese sagen. Als ein Mädchen sie auf dem Weg zu einer Party fragt, wie sie die Jungs in der Klasse auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten würde, sagt sie erst, dass sie das prinzipiell blöd findet, um dann anzufügen „Wenn ich unbedingt müsste – alle eine fünf.“ Interessanter findet Suzanne einen melancholischen Theaterschauspieler Mitte Dreißig, der in einem kleinen Boulevardtheater spielt, an dem sie täglich auf dem Schulweg vorbeikommt. Sie lungert dort herum und lernt ihn kennen. Sie trinken eine Limonade zusammen. Wo nun im klassischen französischen Autorenkino rehäugige Erotik an der Grenze zur Legalität folgen würde, bleibt es in FRÜHLING IN PARIS fast kindlich versponnen. Momente der Nähe ersetzt Lindon mit Tanzeinlagen, die eher von gleichklingender Melancholie als von Körperlichkeit erzählen. Sie illustrieren weniger die Beziehung der beiden, als das Bild von Liebe und Erwachsensein, das Suzanne mit sich herumträgt. FRÜHLING IN PARIS ist sehr eigen, schwer zu fassen und vielleicht, wie die Suzanne im Film, noch zu sehr im eigenen Kopf verfangen, um wirklich Kontakt mit dem Publikum aufzunehmen, macht aber sehr neugierig auf den weiteren Weg der Regisseurin. D Hendrike Bake ¢ Start am 17.6.2021 16 year old Suzanne doesn’t get on with her peers. The melancholy actor in his thirties working in a small boulevard theater that she passes by on her way to school every day is far more interesting.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN Deutschland 2021 D 92 min D R: Daniel Brühl D B: Daniel Kehlmann D D: Daniel Brühl, Peter Kurth, Rike Eckermann, Aenne Schwarz, Gode Benedix D V: Warner Bros.
Nebenan
Am Tresen mit Daniel Brühl
Deutschland/Weißrussland 2021 D 90 min D R: Aliaksei Paluyan D K: Tanya Haurylchyk, Jesse Mazuch D S: Behrooz Karamizade D V: Rise and Shine Cinema
Courage Protest in Belarus
Wer kennt schon seine Nachbarn – also so wirklich? Mal begegnet man sich flüchtig im Hausflur, holt ein Paket ab, führt ein bisschen Smalltalk über den Balkon hinweg. Oder man trifft sie in der Kneipe um die Ecke, so wie Daniel, der dort eines Morgens einkehrt, weil seine Agentur das Taxi zum Flughafen viel zu früh bestellt hat. Der Schauspieler, gespielt von Daniel Brühl als Überhöhung seiner selbst, ist auf dem Weg zum Casting nach London, wo eine Rolle als Superheld auf ihn wartet. Doch die Begegnung mit Bruno (Peter Kurth in formidabler Form), der nicht nur mit dem Werk des eitlen Stars bestens vertraut ist, neben dem er seit Jahren wohnt, ruiniert ihm binnen kürzester Zeit nicht nur den Tag, sondern gleich sein ganzes schön geordnetes Leben. Denn Bruno, so viel steht fest, ist extrem sauer. Auf Daniel. Auf die Wendegewinnler. Ach was, auf die ganze gottverdammte Welt. Und so sitzt er da am Tresen, schlürft gemächlich sein Bier und lässt eine unschöne Wahrheit über Daniels Privatsphäre nach der anderen vom Stapel, genüsslich und behutsam, so dass die Wirkung ihr Ausmaß mit aller Kraft entfalten kann. Für Kurth, der definitiv die besten Sätze und Pointen aus Daniel Kehlmanns Drehbuch abgegriffen hat, ist NEBENAN ein Hauptgewinn. Die Rolle des vernichtenden Ossi-Rächers steht ihm so gut, dass man manchmal vergessen könnte, dass dies eigentlich Brühls Film ist oder zumindest sein soll, der hier erstmals auch selbst Regie geführt hat. Und schlecht macht auch er seine Sache nicht – weder vor noch hinter der Kamera. Nur will sich zwischen diesen beiden Top-Schauspielern trotz der bisweilen schmissigen Dialoge kein rechter Rhythmus einstellen. Immer wieder stockt die Dynamik, kippt das Gleichgewicht zugunsten des teuflischen Nachbarn. D Pamela Jahn ¢ Start am 15.7.2021
Erst im Mai zwangen die belarussischen Behörden ein Flugzeug zur Landung, um einen Regimekritiker zu verhaften, und forderten der EU eine Reaktion ab, deren Folgen kaum absehbar erscheinen. Zumindest für den Moment war Belarus damit im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit – wie der Alltag im zwischen Polen und Russland liegenden Pufferstaat abläuft, davon wird im Westen dagegen wenig bekannt. Auch davon berichtet Aliaksei Paluyan in seinem Dokumentarfilm COURAGE. Der Film über den Widerstand in Belarus wurde im Sommer 2020 gedreht, rund um die Präsidentschaftswahl vom 9. August, nach deren fragwürdigem Ergebnis zehntausende Bewohner*innen der Hauptstadt Minsk auf die Straßen gingen, oft gekleidet in weiß-roter Kleidung oder weiß-rote Fahnen schwenkend, in Anlehnung an die Fahne, die in der damaligen Weißrussischen Volksrepublik zwischen 1917 und 1919 wehte. Damals war das Land kurze Zeit demokratisch, inzwischen gilt es als brutalste Diktatur Europas, die der Herrscher Alexander Lukashenko mit eiserner Hand führt. Immer wieder brandet Protest auf, regelmäßig erheben sich die Menschen, meist die jüngeren, gehen auf die Straße und werden verhaftet. Doch letzten Sommer geschah Außerordentliches: Die ältere Generation, die Eltern, die noch im Kommunismus aufgewachsen waren, schlossen sich dem Protest an, zogen vor das berüchtigte Foltergefängnis, in dem ihre Kinder und Enkel inhaftiert waren und erzwangen deren Freilassung. Paluyan hatte schon vorher angefangen zu drehen, doch das Spektakuläre seines Films sind die Bilder des Protestes. Gerade das Wissen, dass den Demonstrierenden bei einer Verhaftung Folter drohen kann, macht ihren Mut so eindrucksvoll. Und COURAGE zu einem so wichtigen Dokument. D Michael Meyns ¢ Start am 1.7.2021
Vain actor Daniel Brühl (playing himself) is at a corner bar when he encounters bitter neighbor Bruno (Peter Kurth) who takes the opportunity to settle the score with him.
Aliaksei Paluyan’s documentary COURAGE about the resistance movement in Belarus was filmed in the summer of 2020 during the presidential election on August 9th. After the dubious election results ltens of thousands of citizens took to the streets in Minsk, the capital.
Termine unter www.indiekino.de
JULI 2021 D
17 D
INDIEKRITIKEN
Das Mädchen und die Spinne Genauer Rhythmus
Ständig, wirklich ständig läuft irgendjemand ins Bild, die Nachbarin, die nur mal gucken wollte, wer denn da jetzt einzieht, ein fremdes Kind, das sich aus dem Treppenhaus verirrt hat, und sei es nur eine Spinne, die sich ohne eigenes Zutun in der Wohnung wiedergefunden hat. In Das Mädchen und die Spinne lösen Mara (Henriette Confurius) und Lisa (Liliane Amuat) ihre WG auf, in der sie mit einem Mitbewohner (Ivan Georgiev) leben. Lisa ist in eine neue, eigene Wohnung gezogen und die Kamera von Alex Haßkerl ist mit eingezogen. Zwischen Kisten, Türen und Fenstern begrüßen Mara und Lisa Freundinnen, Handwerker, die Mutter, die Nachbarin, stehen in Türrahmen und in der Küche, betrachten die Waschmaschine und den Esstisch, verhandeln Lebensabschnitte, Erotik und Vergangenes in wenigen Sätzen und anhand ihrer Gegenüber. Die Bilder sind statisch. Die Figuren und Verhältnisse sind es nicht: Lisas Mutter (Ursina Lardi) wird von ihrer Tochter zusammengestaucht und lässt sich auf einen Flirt in der Wohnung ein, Maras Verhalten wirkt gegenüber allen verletzend, im Haus treffen außerdem fremde Katzen auf alte Frauen und in der Wohnung darunter ein schüchterner Mann auf eine moderne Vampirin. Wie D 18
D JULI 2021
Schweiz 2021 D 98 min D R: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher D B: Ramon Zürcher, Silvan Zürcher D K: Alexander Hasskerl D S: Ramon Zürcher, Katharina Bhend D M: Philipp Moll D D: Henriette Confurius, Esmée Liliane Amuat, Ursina Lardi, Flurin Giger, André M. Hennicke D V: Edition Salzgeber
es sich miteinander lebt, in Räumen und in Beziehungen, das verhandeln Ramon und Silvan Zürcher in präzisesten Bildern und genau komponiertem Rhythmus. Mit DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN feierten die Brüder Zürcher einen Festivalerfolg. Der Film über eine erweiterte Familienkonstellation, die sich in einer Wohnung aufhält und sich ähnlich von Raum zu Raum und Gespräch zu Gespräch bewegt, lief 2013 im Forum der Berlinale. Acht Jahre später wirkt ihr neuer Film, als hätten sie ihr eigenes Werkzeug nochmal geschärft. Die Dialoge sind zugespitzter, die Blicke noch aufgeladener, zwischen dem ganz Alltäglichen und scheinbar Nebensächlichen hängt immer auch eine Spur Bedrohung oder sexuelle Anziehung in der Luft. Noch gibt es aus den Wohnungen kein Entkommen: Ihr nächster Film soll der letzte Teil der Trilogie werden. D Lili Hering ¢ Start am 8.7.2021
Mara and Lisa are giving up their flatshare which they share with one other roommate. Ramon and Silvan Zürcher depict what it‘s like for them to live together, in rooms and in relationships, with exacting images and a precisely composed rhythm.
INDIEKRITIKEN
Rosas Hochzeit
Matthias & Maxime
Rosa ist Mitte 40 und hetzt durch ihr Leben. Von ihrer Chefin wird die Kostümbildnerin zu jeder Tages- und Nachtzeit ans Set gerufen. Wenn sie nicht arbeitet, muss sie sich um ihren Vater kümmern. Ihre Geschwister und ihre Tochter sind ihr dabei keine Hilfe, sondern halsen ihr nur zusätzliche Aufgaben auf. Kurzentschlossen verlässt Rosa eines Tages Sevilla, um die ehemalige Dorfschneiderei ihrer Mutter wiederzubeleben. Um den Beginn vom Rest ihres neuen Lebens zu feiern, organisiert sie eine Hochzeit: Sie möchte endlich „Ja“ zu Rosa sagen.
Maxime will für zwei Jahre nach Australien auswandern, um Abstand von seiner alkoholkranken Mutter zu gewinnen. Doch die Veränderung, die seine Entscheidung nicht nur für ihn, sondern auch für seinen engen Freundeskreis mit sich bringt, ist größer als erwartet. Vor allem Matthias, der mit Job und Freundin bereits mitten im Leben steht, hat mit dem Abschied zu kämpfen, erst recht, nachdem er und Max nach einer verlorenen Wette knutschen müssen… Der neue Dolan: schnelle Dialoge, ausgelassene Partystimmung, toller Soundtrack.
¢ Start am 1.7.2021
¢ Start am 29.7.2021
Originaltitel: La Boda de Rosa D Spanien 202 D 97 min D R: Iciar Bollain D D: Candela Pena, Sergi Lopez, Nathalie Poza, Ramón Barea
Kanada 2019 D 119 min D R: Xavier Dolan D D: Xavier Dolan, Harris Dickinson, Anne Dorval, Catherine Brunet, Adib Alkhalidey, Pier-Luc Funk
INDIEKRITIKEN Originaltitel: Proxima D Frankreich 2019 D 107 min D R: Alice Winocour D B: Alice Winocour D K: Georges Lechaptois D S: Julien Lacheray D D: Eva Green, Matt Dillon, Lars Eidinger, Zélie Boulant D V: Koch Films
Proxima Der Druck wächst
Sarah Loreau (Eva Green) ist zerrissen. Ihre Sehnsucht nach den Sternen hat sie dahin gebracht, wo sie heute ist: Als Teil einer internationalen Crew wird sie die Landung der ersten Menschen auf dem Mars vorbereiten. Für ein Jahr wird sie gemeinsam mit dem Russen Anton Ocheivsky (Aleksey Fateev) und dem Amerikaner Mike Shannon (Matt Dillon) auf einer Raumstation im Orbit kreisen. Das heißt auch, dass sie ihre Tochter Stella (Zélie Boulant) zurücklassen muss. Der Abschied fällt schwer. Das zerrüttete Verhältnis zu Stellas Vater Thomas (Lars Eidinger) macht es nicht einfacher. Der Umzug nach Darmstadt, das neue Umfeld, die neue Schule und dazu die Trennung von der Mutter setzen der Achtjährigen zu. All das muss Sarah hilflos mit anhören, ist sie doch tausende Kilometer weit entfernt in Baikonur, um sich auf ihre Mission vorzubereiten. Das Training ist erbarmungslos. Als einzige Frau im Team muss sie sich zusätzlich beweisen. Der Druck wächst, je näher der Countdown rückt. In intimen Einstellungen zeigt PROXIMA die enorme Entbehrung für Frauen in der Raumfahrt. In den Momenten mit ihrer Tochter wird spürbar, welche Qualen Sarah durchlebt, während sie nach außen hin stark wirken muss. Hinzu kommt der Chauvinismus in einer Männerdomäne, der hier vor allem durch Matt Dillons Charakter verkörpert wird. Das starke Sounddesign legt Telefonate mit Stella und Sarahs Tagebucheinträge, unterlegt mit Ryuichi Sakamotos elektronischem Score, über Montagen der Ausbildung. Die Etappen des Trainings wurden zum Teil im European Astronaut Centre der ESA bei Köln gedreht. Der naturalistische Ansatz und die starke Leistung von Hauptdarstellerin Eva Green verleihen PROXIMA eine Faszination und Dringlichkeit, die nach dem Abspann, der die Leistungen der Pionierinnen der Raumfahrt würdigt, weiterwirkt. D Lars Tunçay ¢ Start am 24.6.2021 Sara is part of an international crew that is preparing a mission to Mars. Saying goodbye to her daughter is difficult and the pressure in the male team mounts the closer they get to the countdown.
D 20
D JULI 2021
USA 2021 D 118 min D R: Daniel Lindsay, T.J. Martin D B: T.J. Martin, Daniel Lindsay D K: Dimitri Karakatsanis, Megan Stacey D S: Taryn Gould, Carter Gunn, T.J. Martin D M: Danny Bensi, Saunder Jurriaans D V: Piece of Magic
Tina
Zurückhaltendes Porträt Zu Beginn des Films über ihre Karriere sitzt Tina Turner im schwarzen Tuxedo in einem Sessel und sagt: „Ich rede nicht gern über mein Leben, weil es kein schönes Leben war. Es gab gute Momente, aber sie wiegen die schlechten nicht auf.“ Dann erzählt sie doch noch einmal die Geschichte, die sie eigentlich nie wieder erzählen wollte: von der Gewalt durch Ike Turner, den Bandleader, Gitarristen und Produzenten, der aus der 17-jährigen Anna Mae Bullock den Star Tina Turner machte. Seit ihrem ersten Hit „A Fool in Love“ (1960) bildeten Ike und Tina Turner für die Öffentlichkeit eines der dynamischsten PopPaare. Aber hinter den Kulissen war Ike ein brutaler Schläger, der Tina psychisch und körperlich misshandelte. Tina verließ Ike 1976. Bei der Scheidung behielt Ike sämtliche Songrechte und das gesamte Vermögen. Tina ließ sich gerichtlich bestätigen, dass sie den Namen Tina Turner weiter benutzen durfte. Sie wollte die erste schwarze Stadionrocksängerin werden und schaffte das schließlich in den 1980er Jahren mit Hilfe von europäischen Produzenten, die das Potential in ihr erkannten, und sie zunächst den Eurotrash-Song „What’s Love Got to Do with It?“ von Bucks Fizz covern ließen. Tina Turner machte daraus einen feministischen Torch-Song und begann eine zweite Karriere als Rocksängerin, die gekrönt war von Auftritten vor 180.000 Fans in Rio und einer Rolle als Kampfgöttin in MAD MAX: BEYOND THE THUNDERDOME. Der Dokumentarfilm TINA erzählt zurückhaltend und liebevoll über Tina Turner. Aber hinter dem Missbrauch durch Ike verschwindet auch das Hauptwerk von Tina Turner mit Ike, von den frühen Soulstompern der sechziger bis zu den Rock-Coverversionen der frühen siebziger Jahre. Die Frage drängt sich auf, was in einer weniger brutalen, patriarchalen und rassistischen Welt aus ihrer Musik hätte werden können. D Tom Dorow ¢ Start am 13.6.2021 The restrained, affectionate documentary TINA tells the story of Tina Turner from her early success, to the abuse she suffered at the hands of Ike Turner, up until her comeback.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN
The Trouble With Being Born Ersatz-Persönlichkeiten
In Sandra Wollners erstem Spielfilm THE TROUBLE WITH BEING BORN gibt es eine Androidin, aber es geht nur am Rande um künstliche Intelligenz. Es gibt auch einen pädophilen Androidenbesitzer, aber der Missbrauch ist eher ein Beispiel für Gewaltund Besitzverhältnisse. Die Androidin „Elli“ lebt mit ihrem „Papa“, einem gutsituierten Ingenieur mittleren Alters zusammen und sieht aus wie ein zehnjähriges Mädchen. Im Laufe des Films wird klar, dass die aktuelle künstliche Elli ein Ersatz für eine frühere Elli ist. „Papas“ Begehren ist pervers, aber in postfreudianischen österreichischen Filmen ist ja immer alles Begehren pervers. Tun wir so, als sei es normal, wenn „Papa“ morgens Ellis Zunge und Geschlechtsteile herausnimmt und sie in der Spüle reinigt.
Sandra Wollner‘s debut about ten year old android “Elli“ who lives together with her “dad,“ a well-off middle-aged engineer, is a very uncomfortable film that stays with you.
Deutschland/Österreich 2020 D 94 min D R: Sandra Wollner D B: Sandra Wollner, Roderick Warich D K: Timm Kröger D S: Hannes Bruun D M: David Schweighart D D: Lena Watson, Ingrid Burkhard, Dominik Warta, Jana McKinnon D V: eksystent distribution
Wollners Film fragt vor allem nach den Bedingungen des Geborenwerdens eines Ichs. Was bei Elli den Anschein des Bewusstseins hat, sind die Sprachreste des väterlichen Begehrens, die ihr einprogrammiert sind. Sie wiederholt immer wieder die gleichen Phrasen: „Wir waren die ganze Nacht munter“, „Du hast nach Sonnenöl und Zigaretten gerochen“ usw. Gebrochene Wortfetzen seiner Erinnerung, die zu einer Art Ich-Simulation werden sollen. Aber mit den Erinnerungsresten scheinen auch deren unbewusste psychische Folgen programmiert worden zu sein. Elli ist weggelaufen, und auch die neue, nicht fertig geborene ErsatzElli verschwindet und muss in einer neuen Situation eine neue Ersatz-Persona annehmen, was noch schlechter gelingt, weil sich die alten Programme immer wieder Bahn brechen, und die neuen andere Traumata mitbringen. Die Frage, die Sandra Wollners Film vor allen anderen stellt – neben der nach den Beschädigungen durch Missbrauch und durch die Angst, Trauer und Neurosen der Älteren – ist, wie überhaupt jemand (oder etwas) sich aus der Begegnung mit anderen, aus diesem Begehrensgeflecht, eine Art Identität konstruieren soll. Ein sehr ungemütlicher Film, der sich ins Hirn schleicht. D Tom Dorow ¢ Start am 1.7.2021 JULI 2021 D
21 D
INDIEKRITIKEN Italien/Deutschland 2020 D 117 min D R: Pepe Danquart D K: Thomas Eirich-Schneider D S: Andrew Bird D M: Amiina D D: Ulrich Tukur D V: Neue Visionen
Vor mir der Süden Auf den Spuren Pasolinis
Großbritannien 2021 D 84 min D R: Prano Bailey-Bond D B: Prano Bailey-Bond, Anthony Fletcher D K: Annika Summerson D S: Mark Towns D M: Emilie Levienaise-Farrouch D D: Niamh Algar, Michael Smiley, Nicholas Burns, Vincent Franklin D V: Kinostar
Censor Video-Horror
Im Sommer 1959 bricht Pier Paolo Pasolini auf eine erste Rundreise durch Italien auf, um die Veränderungen des Landes durch die Industrialisierung und die Migration von Süd- nach Norditalien zu dokumentieren, befragt die Bewohner*innen aber auch zu ihren Wünschen, Überzeugungen und sexuellen Vorlieben. 2019 mietet sich der Regisseur Pepe Danquart das mittlerweile zum Oldtimer gewordenen Automodell Pasolinis und fährt dieselbe Route ab – einmal um die gesamte Küstenlinie des Stiefels. Seine Filmaufnahmen werden übereinandergelegt mit Auszügen aus Pasolinis Texten, woraus ein bisweilen interessanter Verfremdungseffekt entsteht. Auch setzt Danquart verschiedene Filmebenen und Filter ein, um die Identifikation mit Pasolini und die Differenz zu seinen Erfahrungen zu veranschaulichen. Danquart selbst bleibt jedoch unsichtbar, er offenbart nichts über seine Motivation zu dieser Reise, sein Interesse an Pasolini oder die Rolle der Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden, die seinem Film eingeschrieben ist. Danquart porträtiert ein Land, das von zwei Bewegungen geformt wird: den Tourist*innen aus dem Norden und den Migrant*innen aus dem Süden. Parzellierte Strände wechseln sich ab mit den Zeltstädten prekarisierter Zugewanderter. Auch die Rezeption und Aktualität von Pasolini spielt immer wieder eine Rolle, da Danquart überall glühende Verehrer des Regisseurs zu entdecken scheint. Nicht alle dieser Beiträge und Interviews sind interessant, aber immer wieder entfaltet sich ein feiner Witz, der den Film mehr trägt als sein politischer Anspruch. Für diesen Anspruch steht VOR MIR DER SÜDEN zu unentschieden zwischen Roadmovie, Biografie und Sozialporträt und kann mit dem Engagement seines Vorbilds nicht mithalten. D Yorick Berta
Als „Video Nasties“ bezeichnete eine konservative Medienkampagne Filme, die laut der britischen Staatsanwaltschaft „obszön“ seien und zu Verrohung und Sittenverfall führten. Auf der Liste fanden sich, neben heute als Klassikern angesehenen Filmen wie THE EVIL DEAD vor allem billige europäische Horrorfilme, aber auch Zulawskis POSSESSION. Enid (Niamh Algar), die jeden Tag entscheidet, was filmisch gesellschaftsverträglich ist, ist als Zensorin beim „British Board of Film Censors“ (BBFC), der britischen Version der „Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft“ (FSK) nicht nur dem eigenen Anspruch verpflichtet, sondern sieht ihre Entscheidungen auch ständig hinterfragt. Enid ist zudem durch das mysteriöse Verschwinden ihrer jüngeren Schwester traumatisiert und hofft immer noch, sie wiederzusehen. Als sie wegen einer Freigabe öffentlich angegangen wird, glaubt sie – vielleicht wegen des massiven Drucks – Nina in dem neuen Slasher-Film „Don’t go in the Church“ zu entdecken. Je mehr sie über den Film und seinen Regisseur herausfindet, desto mehr zeigen sich Parallelen zwischen Ninas Verschwinden und dem Horrorfilm und desto mehr taucht Enid in die Welt der Videos ein. Bei aller offensichtlichen Liebe der Regisseurin Prano Bailey Bond für die vermeintlichen Schmuddelfilme, die aus den Gängen der BBFC in rotes Licht getauchte brutalistische Alpträume macht, ist CENSOR keine ironische Nostalgietour, sondern befragt die These, dass Menschen, die viele Horrorfilme schauen, diese irgendwann nicht mehr von der Realität trennen können. Gleichzeitig bedient der Film aber auch alle Ansprüche des Genres, und die Mitarbeit von Dan Martin (u.A. POSSESSOR) garantiert bizarre Spezialeffekte, wegen denen früher empörte Briefe an MPs geschrieben wurden.
¢ Start am 1.7.2021
D Christian Klose ¢ Start am 29.7.2021
Pepe Danquart follows the traces of Pier Paolo Pasolini all across Italy with a Fiat Millecentro.
D 22
D JULI 2021
England, at the height of the “video nasty” era in the mid 80s. Enid works at the censorship board and evaluates horror films, but ends up going deeper and deeper into her own nighmare.
Termine unter www.indiekino.de
Palästina/Frankreich/Deutschland/Posrtugal 2020 D 87 min D R: Tarzan Nasser, Arab Nasser D B: Tarzan Nasser, Arab Nasser D K: Christophe Graillot D S: Véronique Lange D M: Andre Matthias D D: Salim Daw, Hiam Abbass, Maisa Abd Elhadi, George Iskandar D V: Alamode Film
Gaza Mon Amour Modernes Märchen
In Gaza lebt der schüchterne 60-jährige Fischer Issa (Salim Dau) allein, seit er als junger Mann vergeblich versuchte, ein Mädchen zu heiraten, das schöner war als der Mond. Als er eines Tages seiner resoluten Schwester anvertraut, er wolle heiraten, beginnt die, eine passende Frau für ihren Bruder zu suchen. Insgeheim hat sich Issa allerdings längst entschieden: Sein Herz gehört der verwitweten Schneiderin Siham (Hiam Abbass), die ihre Waren wie Issa auf dem Markt anbietet. Eines Nachts geht Issa ein Fang ins Fischernetz, der das Leben des bedächtigen Junggesellen auf den Kopf stellt: eine bronzene Statue des griechischen Gottes Apollo – mit erigiertem Penis. Im Schutz der Dunkelheit gelingt es Issa, seinen pikanten Fund auf seinem Lastendreirad nach Hause zu schaffen und dort zu verstecken. Der Fang der Statue gibt Issa neuen Mut: Er versucht alles, um endlich der abweisenden Siham näherzukommen, die ihrerseits von ihrer geschiedenen Tochter Leila (Maisa Abd Elhadi) zum Heiraten ermutigt wird. Mit ihrem tragikomischen, durch den Fund einer antiken Apollo-Statue im Jahr 2013 im Meer vor Gaza inspirierten zweiten Spielfilm GAZA MON AMOUR wurden die Regisseure und Zwillingsbrüder Tarzan und Arab Nasser 2020 auf die Filmfestivals in Toronto und Venedig eingeladen. Das Drehbuch zu der von zarter Wehmut durchzogenen Geschichte einer späten Liebe verfassten die 1988 in Gaza geborenen Brüder gemeinsam – und setzen nicht nur ihrem Vater, dem sie den Film widmen, sondern auch ihrer Heimatstadt und deren Bewohner*innen ein filmisches Denkmal. Dabei bildet die angespannte politische Lage im Gazastreifen den Hintergrund für ihren anrührenden, mit leisem Humor und ausgezeichneten Darsteller*innen inszenierten Film. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 22.7.2021
Gazan Arab Nasser and Tarzan Nasser depict a fairy-tale romance between shy fisherman Issa and widowed seamstress Siham.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEFEATURE
Ich bin dein Mensch Flirt-Algorithmus
Deutschland 2021 D 105 min D R: Maria Schrader D B: Jan Schomburg, Maria Schrader D K: Benedict Neuenfels D S: Hansjörg Weißbrich D M: Tobias Wagner D D: Maren Eggert, Dan Stevens, Sandra Hüller, Hans Löw, Wolfgang Hübsch, Annika Meier, Falilou Seck, Jürgen Tarrach, Henriette Richter-Röhl, Monika Oschek D V: Majestic Filmverleih D 24
D JULI 2021
INDIEFEATURE
Spätestens seit Fritz Langs METROPOLIS gehören humanoide Roboter zum filmischen Kanon. Während sie lange vor allem als Bedrohung vorkamen, immer auf dem Sprung, die Menschheit zu unterwandern und die Weltherrschaft zu übernehmen, gibt es in jüngster Zeit immer mehr Filme, die das Thema softer, alltäglicher angehen. Das war zum Beispiel in Spike Jonzes zartrosa Elegie HER der Fall, in dem sich Joaquin Phoenix in die Stimme von Scarlett Johansson verliebt, die ihm als virtuelle Assistentin seines Computer-Betriebssystems zur Seit steht. In der schwedischen Serie „Real Humans“ sind Androiden unterschiedlicher Komplexität längst als Haushaltshilfen und Geliebte im Alltag Realität. Während die Menschen sich immer mehr auf sie verlassen, beginnen einzelne der „Hubots“, sich von ihren Erfinder*innen abzunabeln und auf eigenen Füßen zu stehen. Auch Maria Schrader interessieren vor allem die subtilen Veränderungen des Alltags, die die immer weitergehende Präsenz von KI (Künstlicher Intelligenz) verursacht. In einer Zukunft, die exakt wie ein Beziehungsdrama-Film der Gegenwart aussieht, soll die Historikerin Alma (Maren Eggert) testweise drei Wochen mit dem Roboter Tom (fantastisch humanoid: Dan Stevens) verbringen, der mithilfe statistischer Daten von Millionen Frauen und Almas persönlichen „Mindfiles“ als ihr idealer Partner programmiert wurde. Ihr Bericht wird der Ethik-Kommission bei der Entscheidung helfen, ob Partnerschaften von Menschen und Roboter*innen in Zukunft zugelassen werden sollen.
lassen, bestimmte Redewendungen wie „Alles klärchen“ zu vermeiden, auch mal Kontra zu geben oder unerreichbar zu sein. Sogar eine Humorebene entwickelt sich zwischen den beiden. Umso mehr Tom lernt, umso schwieriger ist es für Alma, die Distanz zu wahren und den gutaussehenden Mann nicht als Gegenüber sondern als Maschine zu verstehen. Ruhig und lakonisch inszeniert Maria Schrader Almas Unbehagen, das vor allem aus dem Umstand rührt, dass Tom so verdammt wie ein Mensch aussieht und zusehends wie ein Individuum reagiert, aber keines ist. „Wenn ich mit dir rede, spreche ich eigentlich mit mir selbst“ sagt Alma einmal. Paradoxerweise sagt sie es zu ihm. Alma diagnostiziert, dass es Menschen zunehmend schwerer fallen wird, mit anderen Menschen umzugehen, wenn sie sich erstmal an die exakt auf sie zugeschnittenen Algorithmen gewöhnt haben, und kann selbst kaum loslassen. Damit formuliert Schrader ein Unbehagen, das sich weniger auf eine fantastische Zukunft zu beziehen scheint als auf eine Gegenwart, in der Kommunikation bereits fortlaufend und größtenteils unbemerkt von KI „optimiert“ wird. Was „echt“ und was ein Algorithmus ist, wird immer undurchschaubarer. Ein bisschen landet sie dabei auch wieder bei der alten binären Erzählung, die eindeutige Gegensätze formuliert – Seele vs. Nicht-Seele – und eine Entscheidung zwischen Mensch und Maschine fordert. D Hendrike Bake ¢ Start am 1.7.2021
Die erste Begegnung zwischen Alma und Tom in einer Bar verläuft uneben. Alma ist eine eher kühle, sehr kluge, hauptsächlich berufstätige Frau und Toms Flirt-Algorithmen „Deine Augen sind wie zwei Bergseen“ prallen an ihr ab. Aber Tom lernt schnell. Er lernt, dass es besser ist, Almas Unordnung unangetastet zu
In a future that looks exactly like a contemporary relationship drama, historian Alma is meant to spend three weeks with Tom the robot who has been programmed to be her ideal partner with the help of statistical data from millions of women and Alma‘s personal “mindfiles.“ JULI 2021 D
25 D
INDIEKRITIKEN Deutschland 2020 D 99 min D R: Alexander Kluge, Khavn D B: Alexander Kluge, Douglas Candano, Khavn D K: Thomas Wilke, Albert Banzon, Gym Lumbera D M: Sir Henry, Khavn, Tilman Wollf, Diego Mapa D D: Lilith Stangenberg, John Lloyd Cruz, Ian Madrigal D V: rapid eye movies
Orphea Mythos revisited
Aus Orpheus wird ORPHEA: Mit ihrem neuen Film wagen der renommierte deutsche Experimentalfilmer Alexander Kluge und sein philippinischer Kollege Khavn De La Cruz einen Gendertausch der antiken griechischen Sage. Statt einer konventionellen Nacherzählung bieten sie visuelle und musikalische Meditationen, die sich motivisch am Stoff orientieren, aber ganz eigene Wege gehen. Die Musikerin Orphea (Lillith Stangenberg) kann sehr schön singen – aber auch brüllen und Zähne fletschen. Anders als bei Orpheus, der mit seinen Klängen alle Götter betört, ist ihre Musik nicht da, um zu gefallen. An der Seite der Bühne steht ihr Partner Euridiko und ist immer für sie da – bis er eben nicht mehr da ist. Wie in der Sage zieht die Hauptfigur in die Unterwelt, um die geliebte Person zu retten. Doch das reicht ihr nicht: Am liebsten würde sie alle Toten zurückholen. Diese Geschichte erzählt ORPHEA so stark fragmentiert, dass man oft nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Jede Minute fordert die Zuschauer*innen heraus. Die spröden Vignetten Kluges sind schwerer zu verdauen als Khavns betörend-mysteriöse Bilder, doch es gibt sie nur gemeinsam: Khavn zeigt den „Auftritt“, die Reise in den Hades, Kluge dagegen die „Proben“, die Vorbereitung der Heldin. Stangenberg liest und übt, grübelt und kämpft. Wir sehen sie auch als Schauspielerin, die sich mit einer Welt auseinandersetzt, die Frauen* meist nicht als Handelnde, sondern als Objekte der Sehnsucht begreift. Mit zum Teil drastischen Bildern zieht Kluge auch Verbindungen zu Themen wie Krieg und Flucht. ORPHEA ist ein atemloser Ritt durch Songs, Kunstwerke und Assoziationen; ein Film, der oft abstößt und stört und doch in seinen Bann zieht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 22.7.2021
Orpheus becomes ORPHEA: renowned German experimental filmmaker Alexander Kluge and his Filipino colleague Khavn De La Cruz do a gender swap of the ancient Greek saga in their fragmentary essay film.
D 26
D JULI 2021
Kanada 2020 D 120 min D R: Clark Johnson D B: Garfield Lindsay Miller, Hilary Pryor D K: Luc Montpellier D S: Geoff Ashenhurst, Maureen Grant, Susan Maggi D D: Christopher Walken, Zach Braff, Christina Ricci, Martin Donovan, Adam Beach, Roberta Maxwell D V: MFA+
Percy
Christopher Walken gegen Monsanto Filme sind of dann am effektivsten, wenn sie dahin gehen, wo es ungemütlich wird und die Menschen sensibler machen für die Ungerechtigkeiten der Welt, in der wir leben. Clark Johnsons PERCY über den kanadischen Farmer Percy Schmeiser (Christopher Walken) ist so ein Film, ein investigativ engagiertes Drama im besten Sinne des Wortes, das einen klüger und kritischer macht und nachhaltig wütend. Wobei sich der Groll in dieser klassischen und wahren David-und-Goliath-Geschichte nicht allein gegen eine andere Person richtet, sondern gleich gegen eine ganze Firma: Den amerikanischen Konzern Monsanto, der heute zur deutschen Bayer AG gehört. Dieser beschuldigt Schmeiser eines Tages, auf seinen Feldern ohne Lizenz das gentechnisch veränderte Saatgut des Unternehmens verwendet zu haben, was der vehement abstreitet, zumal er, wie er immer wieder inständig betont, traditionsbewusst nur Samen von eigenen Pflanzen anbaue. Gegen den Rat seines Anwalts (Zach Braff) entschließt sich der sture, einsilbige Bauer schließlich zu einem Prozess, der mehrere Jahre dauern und ihn einige Kraft kosten soll. Aber Schmeiser ist nicht allein, zumindest nicht am Anfang. Zunächst steht ihm neben seiner Frau Louise (Roberta Maxwell) noch die hartnäckige Aktivistin Rebecca (Christina Ricci) zur Seite und auch die Öffentlichkeit ist ihm zugetan. Doch je haariger sein Kampf für die Gerechtigkeit wird, um so einsamer wird er. Kein Problem für Walken, der diesen Film ebenso souverän im Griff hat, wie der Mann, den er spielt, seinen Acker. Und auch wenn PERCY in seiner Intensität und Dringlichkeit zum Beispiel hinter Todd Haynes’ DARK WATERS zurückbleibt, in dem Mark Ruffalo unlängst gegen den Chemiekonzern DuPont ins Gefecht zog, ist er trotzdem sehenswert und aufklärend zugleich, und schafft damit auch schon eine ganze Menge. D Pamela Jahn ¢ Start am 1.7.2021 Christopher Walken plays a small farmer, Percy Schmeiser, who goes up against large corporation Monsanto.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN
The Green Knight Panorama der Träume
Seit 40 Jahren und John Boormans EXCALIBUR (1981) gab es keinen ernstzunehmenden Film aus dem Kosmos der Artus-Sagen mehr, lediglich ein paar Krawallfilme wie KING ARTHUR: LEGEND OF THE SWORD von Guy Ritchie. David Lowery, der mit A GHOST STORY einen der faszinierendsten Filme der letzten Jahre gedreht hat, hat nun das Versepos „Sir Gawain and the Green Knight“ aus dem 14. Jahrhundert adaptiert. Wer allerdings ein pralles, heroisches Fantasy-Abenteuer erwartet, wird von THE GREEN KNIGHT eher enttäuscht sein. Dazu ist THE GREEN KNIGHT zu schräg und zu morbide. Die Legende vom Grünen Ritter ist eine Initiationsgeschichte und ursprünglich relativ schlicht: Der junge Gawain hat noch keine Abenteuer erlebt. Als Initiation in das Rittertum muss er sich der Herausforderung eines riesigen grünen Ritters stellen, der plötzlich in der Tafelrunde erscheint. Gawain hat einen Schlag mit Arthurs Schwert Excalibur frei, aber ein Jahr später muss Gawain sich dem Ritter erneut in der „Grünen Kapelle“ stellen, wo dieser den gleichen Schlag gegen ihn führen wird. Gawain schlägt dem Ritter den Kopf ab. Der grüne Ritter setzt den Kopf wieder auf, David Lowery (GHOST STORY) has taken on the strange epic “Sir Gawain and the Green Knight” and has turned it into an even stranger, hypnotic film that is visually reminiscent of German expressionism and the films of Carl Theodor Dreyer.
USA/Irland 2020 D 125 min D R: David Lowery D B: David Lowery D K: Andrew Droz Palermo D M: Daniel Hart D D: Dev Patel, Alicia Vikander, Joel Edgerton, Sean Harris, Sarita Choudhury D V: Telepool
erinnert an die Bedingung und zieht sich zurück. Ein Jahr später bricht Gawain auf, um die Grüne Kapelle zu finden, und erlebt unterwegs zahlreiche Abenteuer. In Lowerys Adaption wird aus der Aventiure eine Seelenreise, die nur im Untergang enden kann, und das gleich mehrmals tut. Gawain (Dev Patel) fällt unter die Räuber (oder sind das bösartige übernatürliche Wesen?) und stirbt gefesselt im Wald. Die Kamera schwenkt im Kreis, wobei immer mehr Grün ins Bild kommt, und der eben noch verweste Gawain ist wieder lebendig und weiß sich zu befreien. Eben noch waren seine Waffen, ein Schwert und eine Axt, verschwunden, dann sind sie auf magische Weise wieder da. Vielleicht ist das ganze Abenteuer nur eine Illusion, von Gawains Mutter, die hier an die Figur Morgana le Fey angelehnt ist – die allerdings auch noch in einer anderen Figur auftaucht, herbeigezaubert. An irgendeine Form der „Ritterlichkeit“ scheint Lowery jedenfalls nicht zu glauben. Zahlreiche magische und christliche Symbole tauchen auf, aber für Gawain, der in einigen Versionen der Artuslegende der Erbe des Königs wird, der das Land wieder an die Sachsen verliert, sind alle Ausgänge dieses Abenteuers eine Katastrophe. In wuchtigen Bildern, die unter anderem an deutschen Expressionismus und die Malerei der Präraffaeliten erinnern, hat Lowery ein Panorama der Träume des 14. Jahrhunderts gedreht. D Tom Dorow ¢ Start am 29.7.2021 JULI 2021 D
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INDIEKRITIKEN Deutschland 2020 D 96 min D R: Jean Boué D K: Anne Misselwitz D S: Thomas Wellmann D M: Kinbom / Brandenburg D V: imFilm
Der Atem des Meeres
Die letzten Reporter Bodenpersonal im Print-Business
Jean Boués Dokumentarfilm erzählt liebevoll vom Bodenpersonal im Print-Business. Die drei Protagonist*innen sind gut ausgewählt. Thomas Willmann, Sportreporter bei der Sächsischen Volkszeitung, verbringt seine Wochenenden auf Amateur-Tournieren, interviewt die zehnjährigen Radpolo-Gewinner ebenso wie den stolzen Großvater, der keinen Wettkampf verpasst, und kritzelt dabei akribisch Zitate und Spiel-Ergebnisse in seinen winzigen Notizblock. Dann schnell ein Foto und ab in die Redaktion, in der er den Bericht mit zwei Fingern in die Tasten haut. Werner Hülsmann schreibt seit 30 Jahren die Society-Kolumne „Werners Cocktailbar“ für die Neue Osnabrücker Zeitung. Mit den Stars der Region ist er auf du und du, und auch seine Texte pflegen einen lässigen Sound zwischen Boulevard und Poesie. „Ich habe versucht, freundlich zu den Menschen zu sein“, fasst er sein Arbeitsleben zusammen. Berufsanfängerin Anna Petersen hat mal ein Praktikum in der SZ gemacht, aber im Münchener Glasturm fühlte sie sich zu weit weg von den Leuten. Lieber sitzt sie im Büro der Landeszeitung Lüneburg, feilt an Reportagen über die Menschen der Region und verspricht Bürger*innen am Telefon, mal nachzuhaken, was denn mit der Weihnachtsbeleuchtung los ist. Jean Boué zeigt die drei bei der täglichen Recherche, aber auch Ausschnitte aus den fertigen Artikeln sind zu hören, so dass man mitbekommt, wie das Handwerk funktioniert, wie der Plausch zur Kolumne wird, das Interview zur Sozialreportage und der Tag in der Turnhalle zur Sportberichterstattung. Durch alle drei Porträts zieht sich der Umbruch im Printbusiness. Auf einmal sind gedruckte Nachrichten alt, bevor sie erscheinen, die nächste Generation liest kein bedrucktes Papier mehr. Möglicherweise sind die drei die letzten ihrer Art. Ebenso sind sie: unverzichtbar. D Hendrike Bake ¢ Start am 24.6.2021
Jean Boué’s documentary is a loving portrait of three staff members working in the dying print industry business.
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Schnee weht über das Watt. Eisschollen türmen sich auf. Eine Lore rumpelt einen einsamen Schienenstrang am Wasser entlang. Vögel ziehen durchs Bild. DER ATEM DES MEERES ist eine Bild-und-Ton-Collage zum Wattenmeer, die auf Erklärungen verzichtet und deren großer Erzählbogen sich vage am Verlauf eines Jahres orientiert, während der Film im Kleinen dem Auf und Ab der Gezeiten folgt. Besonders viel Spaß macht die Tonebene: Das Wasser rauscht. Der Wind pfeift. Die Orgel raunt. Unterwasserwesen machen seltsame Unterwassergeräusche. ¢ Start am 29.7.2021 Originaltitel: Silence of the Tides D Deutschland/Niederlande 2020 D 105 min D R: Pieter-Rim de Kroon
Roamers Der ruhelose NAS hat sich mit dem Plan, 1000 Tage lang täglich ein Video zu produzieren, eine Fangemeinde aufgebaut, die in die Millionen geht. Immobilienmakler Matt hält es nie länger als zwei Monate an einem Ort aus, Jonna umsegelt die Welt und das argentinische Paar Kim und Paolo vermarktet mit ihren individualisierten Pornos auch das private Glück. Der Film kombiniert das Material der Vlogger mit eigenen Aufnahmen, die auch klar machen, dass das selbstgewählte Leben der Protagonist*innen auch neue Abhängigkeiten mit sich bringt. ¢ Start am 22.7.2021 Deutschland 2021 D 97 min D R: Lena Leonhardt
Termine unter www.indiekino.de
Félix Lefebvre
Benjamin Voisin
EIN FILM VON
François Ozon
Homo Communis Der Dokumentarfilm porträtiert Gruppen und Initiativen, hauptsächlich aus Deutschland, die versuchen, eine Gegenbewegung zu schaffen zu einer Welt, die sich trotz aller Vernetztheit individuell isolierend anfühlt. Darunter sind die Klimaaktivist*innen von „Ende Gelände“ im Hambacher Forst, „Soziale Landwirtschaften“, bei denen Kund*innen persönlich bei der Ernte helfen, und kooperative Werkstätten, aber auch die Megakooperative „Cecosesola“, die in Venezuela die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung übernimmt. ¢ Start am 8.7.2021 Deutschland 2020 D 100 min D R: Carmen Eckhardt
Landretter LANDRETTER erzählt vom leidenschaftlichen Engagement von Menschen, die sich für das Landleben einsetzen: Karin Berndt, Bürgermeisterin im sächsischen Seifhennersdorf, protestierte jahrelang gegen die Schließung der Schule im Ort. Biobäuerin Maria Heubuch aus Leutkirch im Allgäu setzte sich als Mitglied des Europäischen Parlaments vehement gegen die Landkonzentration in Europa ein, und Hobby-Astronom Günther Wuchterl aus Großmugl in Niederösterreich möchte den Sternenhimmel über dem Ort zum Unesco-Weltkulturerbe zu erklären. ¢ Start am 1.7.2021 Deutschland/Österreich 2019 D 83 min D R: Gesa Hollerbach
Termine unter www.indiekino.de
Ab 8. Juli Im Kino
INDIEKRITIKEN
Sommer 85 Très retro
Originaltitel: Été 85 D Frankreich 2020 D 100 min D R: Francois Ozon D B: Francois Ozon D K: Hichame Alaouié D S: Laure Gardette D M: Jean-Benoît Dunckel D D: Valeria Bruni Tedeschi, Melvil Poupaud, Benjamin Voisin, Philippine Velge D V: Wild Bunch
SOMMER 85 ist nach Aidan Chambers Roman Dance on My Grave (Tanz auf meinem Grab: ein Leben in vier Teilen) von 1982 entstanden. François Ozon hat die Handlung aus dem englischen Southend-on-Sea ins französische Le Tréport verlegt, einen eher proletarischen Bade- und Fischerort in der Normandie. In traumhaftem Retro-16-mm entwirft Ozon eine postkartenschöne Sommer-Sonne-80er-Jahre-Idylle mit existentiellen Untertönen. Der 16-jährige Alexis, später Alex ist mit seinen Eltern erst kürzlich hergezogen. Die Sommerferien verbummelt er am Kieselstrand. Im Hintergrund dräuen Zukunftsentscheidungen. Abitur oder Beruf? Der Vater drängt, er soll eine Ausbildung machen, die Mutter sagt, er soll seinem Herzen folgen, guckt aber auch sehr unglücklich, wenn von Literaturwissenschaft die Rede ist. Im Moment aber ist der Sommer wichtiger. Am Meer lernt Alexis David kennen: abgebrochene Schule, aufgerollte T-Shirts, rote Suzuki, zwei Jahre älter und selbstbewusster. Von David geht eine eigentümliche Anziehungskraft aus, eine Verwegenheit und Todesverachtung, die Alexis, und nicht nur ihn, verzaubert. Ohne Zögern und Umstände lässt er sich verführen, verbringt ab sofort seine ganze Freizeit mit David und beginnt, im maritimen Bedarfsladen, den David seit dem Tod seines Vaters zusammen mit der Mutter betreibt, zu jobben. Jede Minute möchte er mit ihm verbringen. Im Off erzählt er „Ich war so verliebt, dass ich immer mit ihm zusammen sein wollte. Aber auch wenn ich mit ihm zusammen war, war es nicht genug.“ David jedoch bleibt ungreifbar, entzieht sich, folgt eigenen Obsessionen. Über das Motorradfahren sagt er: „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich schnell fahre. Ich sehe die Geschwindigkeit vor mir, aber ich erreiche sie nie.“ Wie immer ist Ozons Inszenierung – über die Farben, das Licht oder die Liebe zum Detail in der Ausstattung – sehr sinnlich und zugleich in der Konstruktion kühl-analytisch. Die Geschichte einer ersten Liebe ist in eine Thriller-Rahmenhandlung und dann D 30
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zusätzlich noch die Ich-Erzählung eines werdenden Autors eingebettet. Der Film beginnt mit Alex, der von einem Polizisten abgeführt wird, in die Kamera schaut und sagt: „Wenn ihr kein Interesse am Tod habt, dann ist diese Geschichte nichts für euch.“ Die angekündigte Katastrophe und die verschachtelte zeitliche Konstruktion beschweren und zerstückeln das pastellbunte Teenagerdrama im Kern des Films. Ob diese Techniken der Distanzierung gelungen sind, ist die Frage. Es wäre vielleicht nicht nötig, die Morbidität und Transgressivität, die in diesem (jedem?) Sommer der Liebe auch präsent sind, derart auszubuchstabieren. Wer nach dem elaborierten Spannungsaufbau der Rahmenerzählung eine große Thrillerenthüllung erwartet, wird enttäuscht werden. Gewollt sind sie jedoch auf jeden Fall, denn Ozon war noch nie daran interessiert, einfach nur eine Geschichte zu erzählen, die so passiert sein könnte, oder eine universelle Erfahrung zu formulieren. Sein Thema, sei es in ANGEL oder UNE NOUVELLE AMIE, ist die Gegenwart des Imaginären: Teil der Wirklichkeit ist immer auch das Bild, das wir uns von ihr machen. Eine Vorstellung kann so sehr im Raum stehen wie ein Schrank, und die erste Liebe, von der SOMMER 85 erzählt, ist mindestens ebenso eine Kopf-Konstruktion, wie die Erzählstruktur von Ozons Film. Die Aufgabe besteht darin, den Schrank zu verrücken. „Die einzige Sache, die zählt, ist seiner Geschichte zu entkommen.“, sagt Alex. D Hendrike Bake ¢ Start am 8.7.2021
Summer of 1985: 16 year old Alexis meets David by the seaside. David is a high school dropout with rolled up t-shirts and a red Suzuki who is two years older and more confident. David has a strange appeal, a defiance, and isn‘t afraid of anything, which charms Alexis, and not just him.
INDIEKRITIKEN Schweiz 2020 D 98 min D R: Gitta Gsell D B: Gitta Gsell, Yusuf Yesilöz D K: Peter Guyer D S: Bernhard Lehner D M: Benedikt Jeger D D: Burak Ates, Dimitri Stapfer, Beren Tuna, Serkan Tastemur, Zeki Bulgurcu D V: Edition Salzgeber
Beyto
… und Mike und Seher Beyto ist ein Goldjunge. Einziges Kind türkischer Eltern, hat sich der junge Mann bestens in seinem Lebensort Schweiz eingefunden. Er ist Überflieger in der IT-Ausbildung, angehender Schwimmstar, beliebter Kumpel und ein zugewandter Sohn, der im elterlichen Betrieb mithilft. Doch mit Schwimmtrainer Mike verbindet Beyto mehr als die Liebe zum Sport und sein ComingOut schüttelt die Verhältnisse durcheinander. Die Eltern schleppen ihn unter einem Vorwand in ihr Dorf in der Türkei, wo er sich vom sozialen Druck und den Tränen seiner Mutter genötigt sieht, Cousine Seher zu heiraten. Zurück in der Schweiz ist Mike verletzt und Beyto ist zerrissen zwischen der Verantwortung gegenüber seiner Familie und der Liebe zu Mike. Seher, Freundin und Vertraute Beytos seit Kindertagen, wird schließlich zur progressivsten Figur, in dem sie eine Lösung bietet, die nicht einfach eine Flucht oder einen Bruch mit dem „alten Leben“ beinhaltet, sondern einen Weg einschlägt, der für alle Freiheit verspricht, ohne mit ihrer Herkunftsfamilie zu brechen. Dabei kann auch Mike, der von Beyto ein radikales Bekenntnis zu seiner Sexualität fordert, Fingerspitzengefühl für die Komplexität von Identitätsprozessen lernen. Regisseurin Gitta Gsell nahm den Roman „Hochzeitsflug“ ihres Freundes Yusuf Yesiloz zur Grundlage und arbeitete mit Burak Ates als Beyto und Ecem Aydin als Seher mit zwei bis dahin unbekannten Gesichtern. BEYTO ist eine spannende und wichtige Perspektive auf das Thema, die sich der einfachen Behauptung intoleranter Milieus verwehrt und auch die komplexen Anrufungen Beytos betont. Vieles fliegt aber im Tempo des Films vorbei, Gsell lässt wenig Raum, die Veränderungen der Figuren nachzuvollziehen und streift dadurch, aber auch gestalterisch, immer wieder die Gefilde des TV-Melodrams. D Clarissa Lempp ¢ Start am 1.7.2021 Beyto is a high achiever at his IT apprenticeship, a budding swimming star, a good friend, and a caring son. He‘s also romantically involved with swim coach Mike. When his parents pressure him to marry his cousin Seher, Seher, Beyto, and Mike are forced to find a solution to the dilemma.
Termine unter www.indiekino.de
Kanada/Grossbritannien 2020 D 104 min D R: Brandon Cronenberg D B: Brandon Cronenberg D K: Karim Hussain D M: Jim Williams D D: Andrea Riseborough, Christopher Abbott, Rossif Sutherland, Tuppence Middleton, Sean Bean,Jennifer Jason Leigh D V: Kinostar
Possessor Psycho-Körperhorror
Dass Brandon Cronenberg die Gene seines Vaters in sich trägt, wird gleich in der ersten Einstellung offensichtlich. In der steckt sich die junge Holly (Gabrielle Graham) einen Metallstab in den Kopf. Mit einem kleinen Gerät regelt sie ihre Emotionen, lacht oder weint in den Spiegel, bevor sie den Toilettenraum verlässt und in den Ballsaal tritt, wo sie einem feisten Partygast ein Messer in die Kehle rammt, eine mitgeführte Waffe auf sich selbst richtet und die Worte „holt mich raus“ spricht. Abdrücken wird sie nicht, das erledigen die Polizisten. Doch als die Frau im Kugelhagel stirbt, erwacht andernorts eine andere. Tasya Vos (Andrea Riseborough) betritt den Körper ausgewählter Wirte. Die Wahl trifft eine mysteriöse Organisation, zu der ihre Ausbilderin Girder (Jennifer Jason Leigh) gehört. Die Interessen sind machtgetrieben und monetär. Doch der Wechsel der Identitäten hinterlässt tiefe Spuren bei Tasya und sie wird zunehmend unberechenbarer. Die Vorliebe für Körperhorror teilt Brandon Cronenberg eindeutig mit seinem Vater David. Doch anders als beispielsweise in EXISTENZ ist der virtuelle Wechsel der Identitäten deutlich ausgeklügelter. Auch POSSESSOR ist stellenweise blutig, und Cronenberg treibt seinen Plot gnadenlos voran. Aber der Sohn hat seine Vorbilder eindeutig auch im psychischen Horror britischer Prägung. Das konstante Unbehagen wird durch die experimentelle Bildsprache gefördert. Die Protagonistin sehnt sich nach einem normalen Leben mit ihrem Sohn. Andererseits will sie beweisen, dass sie ihrem Job gewachsen ist und verliert zunehmen die Kontrolle über ihren Wirt. Für den Betrachter bleibt ein Gefühl des Grauens zurück – und die Gewissheit einen der außergewöhnlichsten Genrebeiträge der letzten Jahre gesehen zu haben. D Lars Tunçay ¢ Start am 1.7.2021
An innovative body horror film directed by Cronenberg’s son Brandon Cronenberg. Agent Tasya Vos assassinates people while inhabiting the bodies of selected hosts. Her employer is a mysterious organisation whose interests are motivated by power and money. The job is wearing her down.
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INDIEKRITIKEN Deutschland 2019 D 87 min D R: Arne Körner D B: Arne Körner, Akin Sipal D K: Martin Prinoth, Max Sänger D S: Arne Körner D M: Sebastian Gille, Passierzettel D V: missingFILMs
Gasmann Bernd hasst alles
Bernds Leben hat vier Teile: Familie, Freunde, Liebe und Beruf. Was so anständig und zufrieden klingt, ist jedoch eine ziemliche Ödnis. Die Zeit mit seinem Sohn, die von den Begegnungen mit der aggressiven Exfrau gerahmt wird, ist ermüdend. Seine Karriere als Theaterschauspieler läuft schleppend. Wenigstens die nächtlichen Autofahrten mit seiner Freundin sind ein wenig befreiend. Und der Stammtisch mit seinen Freunden. Es sind die beruflichen Zweifel und seine zweifelhaften Freunde, denen dieser Film gehört. Am St. Pauli Theater in Hamburg hat Bernd eine neue Rolle, er soll einen „Gasmann“ spielen, einen SS-Offizier. Bernd hasst das Stück, er hasst den eitlen Regisseur, seinen strebsamen Kollegen und sowieso alles. Die Proben für den Gasmann zeigen Bernd, dass er auf der Bühne ebenso wenig begeisterungsfähig – und begeisternd – ist wie im Leben. Außerdem scheint sich eine leise Annäherung des Schauspielers Bernd an seine Nazirolle zu vollziehen. Die Proben sind eine großartige Parodie des Theaters („Alle Texte raus! Wir machen jetzt nur noch Körper, nur noch Raum!“) und auch die Kippenpausen zwischendurch ergeben witzige, präzise Szenen. Rauchen tun in diesem Film sowieso alle, überall und jederzeit. Das unterstützt nicht nur die betont abgehalfterte Retroästhetik, sondern ist auch eine dankbare Beschäftigung für einen Protagonisten, der weder viel tut, noch sagt, noch denkt. Nur in seiner literarischen Stammtischrunde blüht Bernd ein wenig auf, wenn sie alle um den Tisch sitzen, ihre Texte vorlesen und sich gegenseitig pseudointellektuelle Worthülsen zuschnipsen. Bei einem Ausflug in ein Landhaus entwickelt sich eine Dynamik, die an Marco Ferreris DAS GROSSE FRESSEN erinnert. Ausgearbeitet wird diese Entwicklung nicht – GASMANN geht da lieber nochmal schweigend eine rauchen. D Yorick Berta ¢ Start am 22.7.2021 Bernd has a new role at the St. Pauli Theater in Hamburg. He is going to play a “gas man”, an SS officer. Bernd hates the play, he hates his vain director, his ambitious colleagues, and everything else.
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Polen/Deutschland 2020 D 100 min D R: Andreas Voigt D B: Andreas Voigt D K: Marcus Lenz Maurice Wilkerling, Sebastian Richter, Andreas Voigt, Wojciech Ostrowski D S: Ina Tangermann D V: barnsteiner Film
Grenzland
Verlassen, Kommen, Bleiben Nach GRENZLAND – EINE REISE von 1992, kurz nach dem Fall der Mauer gedreht, ist dies der zweite Film von Andreas Voigt über die Region zwischen Deutschland und Polen, über eine Landschaft, und über Begegnungen mit Menschen beidseitig der Oder und Neisse. Viele von ihnen haben eine Migrationsgeschichte, andere sind Richtung Westen gezogen, einige sind geblieben. Immer geht es um das Verlassen, das Kommen, das Bleiben und die Suche nach den Wurzeln. Was zutage tritt, sind in der Regel die biografischen Brüche mit ihren zum Teil einschneidenden Konsequenzen. Das Porträt der Grenzregion ist manchmal bizarr, häufig aber bewegend, weil die Menschen wie die Landschaft eine große Melancholie in sich tragen. Die Palette der Emotionen reicht von einem pragmatischen, fatalistischen oder depressiven, bis hin zu einem leicht zwanghaft optimistischen Lebensgefühl. Da ist Carla, die in den Westen musste, um arbeiten zu können, aber sich scheinbar mit allem arrangieren kann, solange sie materiell abgesichert ist, oder ein älterer Werkzeugmacher, dem fehlt, dass er sich auf etwas freuen kann, er dümple nur so vor sich hin, sagt er, und da ist Sallman, der aus Syrien stammt, seine neue Arbeit und alles prima findet, bis seine Zuversicht erste Risse bekommt. Stärker als in den Filmen von Volker Koepp bevorzugt Andreas Voigt einen psychosozialen Blickwinkel. Dabei kommen auch diejenigen vor, die einen eher schlichten Begriff von „Heimat“ haben, der entweder seltsam oder national und gefährlich ist. Deutlich wird aber auch, dass die identitätspolitischen Aspekte nicht ohne den Verweis auf die gesellschaftlichen, also kapitalistischen Verwerfungen zu haben sind. GRENZLAND ist ein reichhaltiger und komplexer Film, der, ohne zu zerfasern, nach jeder neuen Begegnung unterschiedliche Diskurse ermöglicht. D Michael Schmitz ¢ Start am 8.7.2021
After filming GRENZLAND – EINE REISE 1992 shortly after the wall came down, Andreas Voigt’s second film revisits the region between Germany and Poland.
Termine unter www.indiekino.de
INDIEKRITIKEN
Glück
Großstadtlichterliebe
Deutschland 2021 D 90 min D R: Henrika Kull D B: Henrika Kull D K: Carolina Steinbrecher D S: Henrika Kull, Anna-Lena Engelhardt, Hannah Schwegel D M: Dascha Dauenhauer D D: Katharina Behrens, Adam Hoya, Nele Kayenberg, Jean-Luc Bubert, Petra Kauner D V: Edition Salzgeber
Sascha ist Sexarbeiterin. Sie ist Anfang 40 und seit Jahren im Berliner Bordell „Queens“ tätig. Mit einem ewigen Lächeln bewegt sie sich souverän durch ihre Welt. Warten im Pausenraum, aufreihen vor den potentiellen Freiern, Sex, Wäsche waschen, dazwischen rauchen, schwatzen, mit den Kolleginnen flachsen und wieder warten. Als die neue Kollegin Maria erscheint, fühlt sich Sascha sofort angezogen von ihr. Die Mittzwanzigerin ist cool, tätowiert, trägt lange Vintage-Mäntel und einen angesagten Vokuhila-Look. Sie schreibt feministische Gedichte und ist queer. Auch Maria ist von der beliebten und lockeren Sascha angetan, und es entspinnt sich ein Flirt über Blicke und Kurznachrichten, ein Date im Imbiss und eine erste gemeinsame Nacht im „Park Inn Hotel“, weit oben über den Großstadtlichtern Berlins. Sascha und Maria sind kurz glücklich miteinander.
Regisseurin und Autorin Henrika Kull konzentriert sich auf ihre beiden Protagonist*innen. Die Kamera von Carolina Steinbrecher kommt ihnen nahe, so nah, dass oft die Hintergründe verschwimmen, vorbeiziehen wie die Brandenburger Landschaft am Zugfenster, sich Bilder auflösen in flackernden Lichtern oder einem Gesicht. Kull recherchierte über Jahre in verschiedenen Bordellen und arbeitete in einigen selbst hinter der Bar oder als Assistenz der Hausdame. Für den Dreh kehrte sie mit den Darsteller*innen an einen dieser Orte zurück. Die Warteräume, die Kolleginnen, die Hausdame sind „echt“. Maria-Darsteller*in Adam Hoya ist selbst Sexarbeiter*in, Dichter*in, Model, Schauspieler*in und Instagram-Performer*in und war unter ihrem alten Namen Eva Collé im Doku-Kunstwerk SEARCHING EVA zu sehen.
Maria, die aus Italien stammt, schickt ihrem Vater täglich Nachrichten. Das Geld fließe und sie plane, ganz Berlin zu kaufen. Auch in Saschas Leben gibt es eine Familie. Ihr 11-jähriger Sohn Max lebt mit dem Vater in Brandenburg, zwischen Windrädern und Patchwork-Idylle. Die Zugfahrten aufs Land bringen Sascha auch in eine Vergangenheit zurück, in der sie ihre Rolle nicht gefunden hat. Als Sascha Maria auf ein Dorffest einlädt, um ihr Max vorzustellen, gerät sie in die Mühlen dieses abgelegten Lebens. Den Anmachen der Männer tritt sie widerspenstig gegenüber, während Maria spielerisch damit umgeht und von Saschas aggressivem Gegenhalten eher abgestoßen wird. Die Souveränität Saschas wackelt mit der geballten Demonstration von Männlichkeit und Heterosexualität, und auch ihre Beziehung zu Maria gerät ins Schwanken.
Die Verdichtung von Realität und Spielfilm ist in GLÜCK kein prätentiöser Kunstgriff. Das semi-dokumentarische bzw. semi-fiktionale Konzept, das auch bei NOMADLAND, dem Oscar-Gewinner 2021, angewendet wurde, erhebt die Erzählung aus einer klischierten Fiktion in eine selbstbewusste Darstellung eines Milieus. Die Falle der Viktimisierung oder Romantisierung von Sexarbeit schnappt nicht zu. Katharina Behrens, als Sascha in ihrer ersten Kino-Hauptrolle, und Adam Hoya spielen die feinen Nuancen zwischen Zuwendung, Widerstand, Verletzlichkeit und Leichtigkeit, die die Figuren so charismatisch machen. Sie eignen sich ihre Körper an. Bestimmen über ihre Sexualität, in einem Job, der oft als das Ende jeder Selbstbestimmung gesehen wird. Henrika Kull wollte die subversive Kraft von selbstbestimmten Sexarbeiter*innen hervorheben. Frauen aus dem Trotz geboren, heißt es in Marias Gedicht, das im Film zitiert wird. Ein Trotz, der aus ihrer Rolle als „Ware Frau“ Kapital schlägt und die Frauen nicht zu Machtlosen macht, sondern zueinander führt, wachsen lässt und eben auch Momente des Glücks ermöglicht.
Sascha and Maria meet each other while working in a Berlin brothel and fall in love. Director Henrika Kull films in a semi-documentary form which incorporates real locations and actual sex workers.
D Clarissa Lempp ¢ Start am 22.7.2021 JULI 2021 D
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INDIEFEATURE
INDIEKINO: Herr Vinterberg, als Sie auf der Berlinale DER RAUSCH ankündigten, prophezeiten Sie einen Shit-Strom wegen des Feierns von Alkohol. Nun bekommen Sie auf Festivals beste Kritiken dafür ... Thomas Vinterberg: Das Projekt hat sich verändern. Zu Beginn war die Idee, etwas Sensationelles, leicht Provokatives über Alkohol zu erzählen. Churchill zum Beispiel schickte 200.000 Zivilisten in den Krieg. Bei dieser Entscheidung war er nicht betrunken, aber vermutlich eben auch nicht nüchtern. Aber dann erkannte ich, viel faszinierender ist das Thema, wie diese akzeptierte Droge die Menschen beflügeln und gleichzeitig tödlich sein kann. Stimmt diese Story mit Churchill oder ist das eine Legende? Wir wissen nicht, ob diese Geschichte stimmt. Aber viele Zeitzeugen erzählen von seiner Vorliebe von Champagner zum Frühstück. Für mich klingt sein Vorhaben auch nicht nach einer Idee im Suff. Vielmehr ist es ein sehr mutiger und überzeugend irrationaler Plan - genau solche Ideen bekommt man im Stadium zwischen nüchtern und betrunken. Vielleicht ist die Sache mit Churchill auch nur ein Mythos - aber machte das etwas aus? Ihre Film-Trinker berufen sich auf den norwegischen Psychiater Finn Skårderud, wonach dauerhafter Alkohol-Genuss die D 34
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Leistung steigere. Gibt es diesen Trinker-Denker oder haben Sie ihn erfunden? Finn Skårderud existiert, seine Theorie existiert seit 20 Jahren und er steht bis heute dazu. Er sagt, durch Alkohol wird man mutiger und kreativer, doch das meint er polemisch. Ich habe ihn getroffen und er war begeistert, dass wir seine Theorie im Film aufgreifen. Vor allem mochte er, dass wir dieses Thema nicht mit einer moralischen Botschaft versehen. Schauspieler, die Betrunkene spielen, wirken selten glaubhaft. Wie haben Sie das Problem gelöst, mit echtem Alkohol für die Akteure? Die Schauspieler haben beim Dreh keinen Alkohol getrunken - was sie in den Pausen im Wohnwagen gemacht haben, weiß ich allerdings nicht (lacht). Einen zwölfstündigen Drehtag würde man betrunken nicht durchstehen. Einen Besoffenen zu spielen, bedeutet harte Arbeit, zudem viel Recherche: Wir haben reichlich russische Videos auf YouTube angeschaut! Vom besoffenen Russen lernen, heißt siegen lernen. Was war die Lektion der Wodka-Videos? Wenn man in sehr betrunkenem Zustand stürzt, dann schützt man sich nicht mehr. Man fällt einfach auf das Gesicht, ohne die
INDIEFEATURE
Gemeinsam mit seinem dänischen Landsmann Lars von Trier gehört Thomas Vinterberg zu den Verfasser*innen des „Dogma 95“-Manifestes, das eine puritanische Haltung beim Einsatz von Technik forderte, und zu den weltweit bekanntesten dänischen Regisseur*innen. Von Vinterberg stammen unter anderem das Familiendrama DAS FEST (1998), das in Cannes den Jurypreis bekam, DIE JAGD (2012) und DIE KOMMUNE (2016). Thomas Vinterbergs jüngster Film DER RAUSCH wurde im Frühjahr mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet und gewann den europäischen Filmpreis. Ausgangspunkt des Films ist eine Männerfreundschaft und eine fixe Idee: Martin (Mads Mikkelsen) und seine Freunde sind angeödet von ihrem Leben und dem Job als Lehrer. Um ihr Potential auszureizen, testen sie eine Theorie des norwegischen Philosophen Finn Skårderud. Demnach soll ein Mensch mit einer halben Promille
Alkohol im Blut zu geistigen Höchstleistungen im Stande sein. Das Resultat ist verblüffend, doch dann eskaliert das Experiment. ¢ Start am 22.7.2021
Dieter Oßwald hat sich mit Thomas Vinterberg über seinen Film unterhalten.
Originaltitel: Druk D Dänemark 2020 D 110 min D R: Thomas Vinterberg D B: Tobias Lindholm, Thomas Vinterberg D K: Sturla Brandth Grøvlen D S: Janus Billeskov Jansen D D: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe, Magnus Millang, Maria Bonnevie D V: Weltkino
Male friendship and an obsession: Martin and his friends test the Norwegian philosopher Finn Skårderud‘s theory. According to him, people with half a mil of alcohol in their blood are able to perform at the peak of their mental ability.
„Was wäre, hätte Gott die Welt ohne Alkohol geschaffen?“ Interview mit Thomas Vinterberg zu DER RAUSCH
Hände noch davor zu halten. Diesen Ablauf haben wir für den Film übernommen, natürlich mit den notwendigen Sicherheitsmaßnamen für die Schauspieler.
Was wäre passiert, hätten sich Ihre Lehrer an die 0,5 PromilleGrenze gehalten. Mit diesem Level ging es ihnen doch tatsächlich sehr viel besser?
Neben dem Fallen geht es auch ums Tanzen. Zum Happy End darf Mads Mikkelsen zeigen, was er einst auf der Tanzschule gelernt hat. Wie kam es zu diesem fröhlichen Schluss à la Fred Astaire?
Ich habe gelernt, dass Alkohol in Phasen kommt. In Stufe 1 wird die Person eine außergewöhnlich beflügelte Version ihrer selbst. In Stufe 2 muss man trinken, um wieder man selbst zu sein. Denn jetzt ist man ein miese Version seiner selbst und braucht Alkohol, um in den ursprünglichen Zustand zu kommen. Der Übergang von Phase 1 zu 2 geschieht unmerklich. In Stufe 3 schließlich kommt es zu körperlichen Problemen, wenn man nicht trinkt. Deswegen empfehle ich, in Stufe 1 zu bleiben. Wer ehrlich zu sich ist, wird erkennen, wie knapp man vor Stufe 2 steht: Du brauchst deinen Wein zum Essen, um weniger missgelaunt zu sein. Oder du trinkst jeden Abend deine Flasche Roten. An dieser Stelle sollte man aufhören, und zwar für eine längere Zeit. Nur so kommt man zurück in Stufe 1.
Fred Astaire oder besser: Alexis Sorbas! Solche Dinge bekommt man als Bonus, wenn man Rollen schreibt für Leute, die man gut kennt. Aus diesem Grund schreibe ich meine Figuren fast immer mit vertrauten Schauspielern im Hintergrund. Bei Mads wusste ich von seiner Tänzer-Vergangenheit und ich wollte zeigen, wie sich seine Figur sich mit diesem Tanz regelrecht befreit. Es bedurfte allerdings einiger Überredung, bis Mads dazu bereit war. Beim Tanzen gibt man schließlich sehr viel von sich preis. Nicht nur Ihren Filmhelden gelingt dieses Wagnis vor allem mit Alkohol ... Stimmt, dieses Phänomen wollte ich im Film erforschen. Machen wir ein Gedankenexperiment: Was wäre, hätte Gott die Welt ohne Alkohol geschaffen? Ich bin sicher, wir hätten dann eben einen anderen Weg zum Unkontrollierbaren gefunden.
Wie lange haben Sie sich in Stufe 1 aufgehalten? Mein Leben ist das ganze Gegenteil von Stufe 1, es wird bestimmt durch Kinder, Karriere, Kontrolle und Planung. Oft denke ich: Die Zeit vergeht und ich trinke nicht genug. Aktuell stimmt das nicht ganz, weil ich mit dem Film auf Festivals unterwegs bin, da schleicht sich Alkohol ständig überall ein. D Das Gespräch führte Dieter Oßwald
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INDIEKRITIKEN Originaltitel: V Siti D Tschechische Republik/Slowakei 2020 D 100 min D R: Barbora Chalupová, Vít Klusák D B: Barbora Chalupová, Vít Klusák D K: Adam Krulis D V: Filmwelt
Zustand und Gelände
Gefangen im Netz Erschütterndes Filmexperiment
Das Experiment, das Barbora Chalupová und Vít Klusák mit ihrem Dokumentarfilm GEFANGEN IM NETZ wagen, bringt die Abgründe des Cybergroomings ans Licht. Der Film beginnt mit dem aufrüttelnden Casting volljähriger, aber sehr jung aussehender Schauspielerinnen. 19 der 23 jungen Frauen haben Cybergrooming – die Kontaktaufnahme mit Minderjährigen im Internet, um sexualisierte Gewalt anzubahnen – als Teenagerinnen selbst erlebt. Für die drei ausgewählten Schauspielerinnen baut das Filmteam in einem Studio drei Kinderzimmer nach und dekoriert sie mit deren Kinderfotos. Als die auf diversen Onlineplattformen erstellten Fake-Profile der angeblich 12-jährigen Mädchen online gehen, kommen sofort Kontaktanfragen. Die darauffolgenden Gespräche und Chats mit den im Film unkenntlich gemachten Männern filmt das Team mit und gibt den Darstellerinnen Anweisungen. Dabei ähnelt sich das Verhalten der zahlreichen Täter: Sie schicken Dickpics und Links zu Pornos, onanieren live vor der Webcam, betteln um Treffen – und fordern immer wieder Nacktfotos. Als eine der jungen Frauen eine Nacktfotomontage verschickt, ihre Brüste aber nicht vor der Kamera zeigen will, erpresst der Täter sie und stellt „ihr“ Nacktbild ins Netz. Einige Male gerät das Team, das juristisch und psychologisch begleitet wird, an Grenzen: etwa, als die Maskenbildnerin einen der Täter erkennt – er betreut Ferienfreizeiten für Kinder und Jugendliche. 2458 Männer melden sich während der zehn Drehtage bei den drei Frauen. Etwa 50 Strafverfahren zog Tschechiens meistgesehener Dokumentarfilm 2021 nach sich. Eine gekürzte Schulversion des Films soll Schüler*innen über das Thema aufklären. GEFANGEN IM NETZ erschüttert und verdeutlicht, welche Gefahr für Kinder und Jugendliche im Internet lauert. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 24.6.2021
A disturbing documentary experiment about “cybergrooming”. Three very young looking actresses go online with fake profiles and pretend to be minors. During the ten day shoot, 2,458 men contact them.
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Unmittelbar nach der Reichstagswahl am 5. März 1933 begannen die Nazis mit Verhaftungen politischer Gegner. Es entstanden „wilde“ Konzentrationslager, in denen sogenannte „Schutzhäftlinge“ gefangen gehalten und drangsaliert wurden. In Sachsen, wo die organisierte Arbeiterbewegung besonders stark war, gab es besonders viele dieser frühen Lager. ZUSTAND UND GELÄNDE besteht fast ausschließlich aus Original-Dokumenten und Berichten über die Lager und die Geschichte des Umgangs mit diesem Erbe in der DDR und nach 1990. Goldene Taube DOK Leipzig. ¢ Start am 17.6.2021 Deutschland 2019 D 119 min D R: Ute Adamczewski
Ruben Brandt Ein Zug rast durch die Nacht. Auf den Gleisen voraus gleitet eine Schnecke. Gerade noch schafft sie es runter vom Eisen, bevor die Räder des Zugs donnernd über sie hinwegrauschen. Von alledem bemerkt Ruben nichts. An Bord hat er mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Die Mädchenfigur aus einem Gemälde von Diego Velázquez ist ihm auf den Fersen. Traum, Wirklichkeit und Kunst vermischen sich auf kongeniale Weise in Milorad Krstics Trickfilm um einen Psychologen, der in seinen Träumen von den Figuren berühmter Kunstwerke verfolgt wird. ¢ Start am 1.7.2021 Originaltitel: Ruben Brandt, a gyujto D Ungarn 2018 D 96 min D R: Milorad Krstic D D: Gabriella Hámori, Ivan Kamarás, Zalán Makranczi
Termine unter www.indiekino.de
Neu im Juli
Die Dohnal Sabine Derflinger hat einer Ikone der Frauenbewegung, der Politikerin und Vorkämpferin für Frauenrechte Johanna Dohnal ein filmisches Denkmal gesetzt. Derflinger stellt dabei Tagebuchaufzeichnungen von Johanna Dohnal, Archivaufnahmen aus den 70-iger bis 90-iger Jahren und Interviews mit Zeitzeug*innen Gesprächen mit der jüngsten Generation von österreichischen Frauenrechtler*innen entgegen und zeigt damit, wie dick die Bretter sind, die in Sachen Lohngleichheit, unbezahlte Arbeit und Rollenmuster bis heute zu bohren sind. ¢ Start am 29.7.2021 Österreich 2019 D 105 min D R: Sabine Derflinger
STILL THE WATER Japan 2014, R: Naomi Kawase Ein Junge aus der Stadt, ein Mädchen von der Insel und die wilde See.
Im Feuer – Zwei Schwestern Als junges Mädchen kam Rojda aus dem Irak und blieb, als der Rest ihrer Familie irgendwann dorthin zurückging, in Deutschland, passte sich an, und ging zur Bundeswehr. Erst, als sie ihre Mutter aus einem griechischen Flüchtlingsheim zu sich holt, wird ihr vor Augen geführt, dass sie eine ganze Welt und eine Art zu leben, und auch ihre Schwester Dilan, zurückgelassen hat. Rojda lässt sich als Dolmetscherin in eine Gebirgsjägereinheit versetzen, die in der Grenzregion kurdische Partisaninnen ausbildet, in der Hoffnung, dort Kontakt mit Dilan aufzunehmen.
AuSSerdem: ALICE UND DAS MEER WATERPROOF BELLE E PERDUTA THE PURPLE SEA und andere
in die kino cLUB
Indiekino ClubCard Name: Kim
Musterperson
Geburtsdatum: 10.10.1980
Der Indiekino Club bringt Streaming und Kino zusammen. Clubmitglieder können
Club-Abo: 1.7.2021–30
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ID: 0001
Deutschland/Griechenland 2020 D 93 min D R: Daphne Charizani D D: Almila Bagriacik, Zübeyde Bulut, Maryam Boubani, Christoph Letkowski
nline ausgewählte Arthouse- und Indie-Filme nach Belieben o streamen, und sie erhalten mit ihrer ClubCard ermäßigten Eintritt in allen teilnehmenden Berliner Kinos: b-ware!ladenkino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz-Kino, City Kino Wedding, Filmrauschpalast, fsk-Kino, Il Kino, Klick Kino, Sputnik Kino, Wolf
Termine unter www.indiekino.de
www.indiekino-club.de
¢ Start am 15.7.2021
INDIEKRITIKEN
Los Reyes
Originaltitel: Los Reyes D Chile/Deutschland 2018 D 77 min D R: Bettina Perut, Ivan Osnovikoff D V: UCM.One
Feuchte Nasen und raue Pfoten Santiago, Chile: Am traditionsreichen Skatepark Los Reyes (dt. „Die Könige“) ist kaum was los, denn es ist verdammt heiß und es gibt kaum Schatten. „Wer soll auch kommen bei der Scheißhitze außer uns“, klagen diejenigen, die trotzdem immer da sind. Der Park ist ihr Zuhause, und doch haben sie es nur geborgt: von Futbol und Chola, zwei großen braunen Hunden, die hier die wahren Herrscher sind. Ähnlich wie schon Ceyda Toruns KEDI (Türkei 2017), in dem Katzen und Menschen aus den Straßen Istanbuls porträtiert werden, erzählt auch LOS REYES von der Koexistenz von Mensch und Tier im Lebensraum Stadt, richtet seinen Fokus aber noch stärker auf das tägliche Leben der vierbeinigen Protagonisten. Ruhig und aufmerksam beobachtet die Kamera die beiden Rüden in ihrem Revier, beim Hecheln und beim Schattensuchen, beim Spielen und beim Schlafen, studiert in Detailaufnahmen die feuchten Nasen und rauen Pfoten. Der temperamentvolle Chola bellt gerne und jagt passierende Motorräder; Futbol ist gelassener und schon zufrieden, wenn er eine Plastikflasche gefunden hat, die er im D 38
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Mund halten kann. Trotz der so unterschiedlichen Gemüter sind sie unzertrennlich, und ihre Freundschaft geht richtig ans Herz. „Niemand soll mir sagen, was ich zu tun habe“ – was sich die Kids im Skatepark wünschen, ist für die Straßenhunde Alltag. Dass diese Streunerromantik einige Haken hat, sparen die Regisseur*innen Bettina Perut und Ivan Osnovikoff nicht aus. Wenn ein Leinenhund daheim im Trockenen liegt, trotzen Futbol und Chola draußen den Sturmfluten, die die eben noch staubtrockene Stadtlandschaft vollkommen verändern. Und so gibt es schöne Tage und traurige, Tragik und Glück – Hundeleben halt. D Eva Szulkowski ¢ Start am 8.7.2021
LOS REYES depicts the co-existence between humans and animals in the city environment with the help of street dogs Futbol and Chola, who live in a skate park in Santiago, Chile.
INDIEKInder Originaltitel: Poly D Frankreich/Belgien 2020 D 102 min D R: Nicolas Vanier D B: Cécile Aubry, Maxime Giffard, Jérôme Tonnerre, Nicolas Vanier D K: Christophe Graillot D S: Raphaele Urtin D M: Éric Neveux D D: François Cluzet, Julie Gayet, Patrick Timsit, Elisa de Lambert D V: Capelight Pictures D FSK: 0
Berlin: Sommer Kino Ferien Im Juli und August zeigen 18 Berliner Kinos ein Sommerferien-Programm für Kinokinder von sechs bis 14 Jahren. Der Eintritt für alle: 4 Euro.
FERIEN AUF SALTKROKAN
Mein Freund Poly Sommer mit Pony
Frankreich in den 1960ern. Der Himmel leuchtet strahlend blau und die Sonne scheint. Ein himmelblaues Cabriolet flitzt durch eine sommerliche Hügellandschaft in Südfrankreich. Urlaub liegt in der Luft, aber der zehnjährigen Cécile ist gar nicht nach Ferien zumute. Sie hat keine Lust, mit ihrer Mutter Louise aus Paris in ein kleines Städtchen auf dem Land zu ziehen, wo sie niemanden kennt, noch dazu zu Beginn der großen Ferien. Außerdem vermisst sie ihren Vater, der in Italien ist und vielleicht nicht zurückkommt, denn die Eltern haben sich getrennt. In der Kleinstadt ist es dann zunächst genauso wie befürchtet: Das neue Haus ist muffig und alt, die Kinder lassen Cécile nicht mitspielen, und die Erwachsenen beäugen Céciles Mutter misstrauisch, denn Frauen, die sich scheiden lassen, Auto fahren und einen Beruf haben – Céciles Mutter ist Ärztin – waren damals auf dem Land noch ungewöhnlich. Davon lässt sich Louise aber nicht beeindrucken. Mit Cécile und ihrer Mutter kommen auch modernere Zeiten ins Dorf. Ebenfalls in die Stadt kommt ein Zirkus. Star der Show ist das kluge Pony Poly, das auf einem Balken balancieren kann und in einer Clownsnummer mitmacht. Als Cécile sieht, dass der Zirkusdirektor das Pony schlägt und hört, dass er es zum Schlachter geben will, steht Céciles Entschluss fest – sie wird Poly entführen und retten. MEIN FREUND POLY erzählt nach dem in Frankreich sehr bekannten Kinderbuch von Cécile Aubry von den Abenteuern, die Cécile und Poly auf der aufregenden Flucht miteinander überstehen. Sie müssen den Zirkusleuten entkommen, aber sie lernen dabei auch neue Freunde kennen, die ihnen helfen. Auch die Dorfkinder machen mit – als sie von Céciles Plan erfahren, vergessen sie schnell, dass Cécile eigentlich „die Neue“ ist und sind mit Feuer und Flamme dabei. D Toni Ohms ¢ Start am 17.6.2021
Familie Melcherson kann es kaum erwarten, bis der kleine Dampfer auf Saltkrokan anlegt und sie ihr Häuschen direkt am Meer beziehen können. Es werden tolle Sommerferien für Jan, Niklas und Pelle, Hund Bootsmann und den Nachbarjungen Torven. Ab 6 Jahren.
SHAUN DAS SCHAF – UFO ALARM Ein UFO ist im kleinen Ort Mossingham in der Nähe von Shauns Farm gelandet und ein Alien hat sich auf die Erde verirrt. Es ist schillernd bunt, kann Stimmen nachmachen und möchte gerne wieder nach Hause. Da müssen Shaun und seine Freunde helfen. Ab 7 Jahren.
MAX UND DIE WILDE SIEBEN Eine echte Ritterburg als neues Zuhause – kann man sich etwas Cooleres vorstellen? Ja, kann man, findet der neunjährige Max. Denn Burg Geroldseck ist ein Seniorenheim und Max dort das einzige Kind. Doch als ein Einbrecher auftaucht, ist Meisterdetektiv Max begeistert und nimmt die Ermittlungen auf. Ab 8 Jahren.
MATTI UND SAMI UND DIE DREI GRÖSSTEN FEHLER DES UNIVERSUMS Das Universum muss jede Menge Fehler haben, findet der zehnjährige Matti. Sonst wären seine Eltern glücklicher und die Familie hätte genügend Geld, um in den Urlaub zu fahren. Matti beschließt, dem Glück nachzuhelfen und erfindet einen Hauptgewinn in einer Lotterie: Ein Traumhaus mit Seegrundstück in Finnland. Ab 9 Jahren.
MEINE WUNDERBAR SELTSAME WOCHE MIT TESS Direkt am ersten Ferientag bricht sich Sams älterer Bruder das Bein. Doof für ihn, aber gut für Sam. Warum? Weil es dazu führt, dass der Zehnjährige der eigensinnigen Tess begegnet, die gerade einen wilden Plan schmiedet, um ihren Vater kennenzulernen. Ab 10 Jahren.
When her parents get divorced, 10-year-old Cécile has to move into the countryside with her mum. She hates it there until she meets the circus pony Poly and decides to rescue him. ¢ Termine: www.kinderkinobuero.de/sommerkinoferien Termine unter www.indiekino.de
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Originaltitel: Fa yeung nin wah D Hong Kong 2000 D 98 min D R: Wong Kar-Wai D B: Wong Kar Wai D K: Christopher Doyle, Kwan Pun-Leung, Ping Bin Lee D S: William Chang D M: Michael Galasso, Shigeru Umebayashi D D: Maggie Cheung, Tony Leung Chiu Wai, Rebecca Pan, Lai Chen, Siu Ping-Iam D V: Koch Films
In the Mood for Love Schwebezustand
werden, zu können“
Als im November 2000, dem Jahr, in dem alle irgendetwas Grandioses (oder Katastrophales) erwartet hatten, Wong Kar-Wais Film IN THE MOOD FOR LOVE in die Kinos kam, war der Film mehr als eine Sensation. In wochenlang ausverkauften Kinos sahen wir einen Film wie ein Wunder, der die Welt und ihre Wahrnehmung zu verändern schien. IN THE MOOD FOR LOVE spielt im Hongkong der frühen sechziger Jahre. Die Wohnverhältnisse sind beengt. Die Nachbarn Frau Chan (Maggie Cheung) und Herr Chow (Tony Leung) finden heraus, dass ihre Ehepartner eine Affäre haben. Während sie versuchen, deren Affäre zu rekonstruieren, kommen sie sich gegenseitig näher, aber die Beziehung bleibt in einem Schwebezustand zwischen Sehnsucht und Melancholie. Die fließenden, traumhaft schönen Bilder von Kameramann Chris Doyle, der Soundtrack von Shigeru Umebayashi, die samtigen spanischsprachigen Songs von Nat King Cole, die alten chinesischen Schlager von Rebecca Pam und Zhou Xuan, die hinreißenden QiPao-Kleider die Maggie Cheung mit der größtmöglichen Eleganz trägt, schafften eine Stimmung, in der wir selbst uns verliebten, nicht nur in Maggie Cheung und Tony Leung, sondern in den Moment und in einander. Bei einer Umfrage des BBC haben 117 Filmkritiker*innen aus der ganzen Welt IN THE MOOD FOR LOVE auf den zweiten Platz einer Liste der 100 besten Filme des 21. Jahrhunderts gewählt, nach MULLHOLLAND DRIVE. Wir sehen das anders. Im Juli kommt der Film in einer restaurierten Fassung wieder ins Kino, und wer ihn noch nicht gesehen hat, tut jetzt bitte das Richtige. D Tom Dorow ¢ Start am 1.7.2021
Set in Hong Kong in 1962 in a claustrophobic apartment building and portrays the yearning between an editor and a secretary.
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INDIEFEATURE
Félix Lefebre (Alex), François Ozon und Benjamin Voisin (David) am Set von SOMMER 85
Dieter Oßwald: Monsieur Ozon, Sie wollten den Roman „Tanz auf meinem Grab“ seit 35 Jahren verfilmen. Weshalb hat es derart lange gedauert? François Ozon: Dinge passieren, wenn sie passieren sollen. Es ist bisweilen ganz gut, eine gewisse Reife und Distanz zu haben. Den Roman las ich 1985 mit 17 Jahren, damals träumte ich davon, Regisseur zu werden. Und dieses Buch hätte der Stoff für meinen ersten Film werden sollen. Vor allem die Position des Beobachters hatte mich dabei interessiert. Als alter Mann kann ich nun zu diesem Punkt meiner Jugend zurückkehren und mich meiner melancholischen Nostalgie hingeben (lacht). Wäre der Film von einem jungen Wilden anders ausgefallen? Hätte ich den Film früher gemacht, wäre er vollkommen anders ausgefallen. Es hätte vermutlich mehr Gewalt gegeben, alles wäre weniger charmant und sexy ausgefallen. Jetzt porträtiere ich die Teenager ja mit einer großen Zärtlichkeit. Die Soundtrack reicht von Bananrama über The Cure bis zu Rod Stewarts „I am Sailing” – da lässt es sich leicht nostalgisch werden. Waren die 80er Jahre für Sie die gute alten Zeit? Es war ein besonderes Vergnügen für mich, filmisch in diese Zeit zurückzukehren: Von der Mode über die Ausstattung bis zur Musik. Für die Zuschauer stellen sich schnell nostalgische Gefühle ein, zumal unsere aktuelle Zeit nicht unbedingt einfach ist. Allerdings sollte man das nicht zu verklärt sehen: Ganz so happy waren die 80er Jahre nicht, auch damals gab es große Probleme wie Aids oder die Arbeitslosigkeit. Die Szene in der Disco mit dem Walkman erinnert stark an den D 42
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französischen Teenie-Film-Klassiker schlechthin. Was halten Sie vom Prädikat: LA BOUM meets CALL ME BY YOUR NAME? LA BOUM war ein enormer Erfolg und für mich als Teenager damals ein ganz wichtiger Film. CALL ME BY YOUR NAME gefällt mir gut, wobei ich das Buch nicht gelesen habe. Es gibt durchaus Parallelen zwischen den beiden Filmen, letztlich jedoch sind sie doch ganz unterschiedlich. Sie erzählen eine Lovestory und einen Krimi. Die sexuelle Orientierung spielt überhaupt gar keine Rolle mehr. Genau dieser Umstand hat mir sehr gefallen, als ich den Roman 1985 las. Diese große Selbstverständlichkeit im Umgang von Schwulsein war damals alles andere als üblich. Hier gibt es nicht die üblichen Selbstzweifel, keine Probleme mit Coming-Out oder Homophobie. Und auch Aids spielte zu dieser Zeit noch keine Rolle. Es war einfach eine ganz universelle Liebesgeschichte, die mich schwer beeindruckte. Wer Ihre Filme kennt, dürfte in SOMMER 85 einige déjà-vu-Erlebnisse haben. Cross-Dressing kennt man aus EIN SOMMERKLEID oder EINE NEUE FREUNDIN, die Szene in der Leichenhalle aus UNTER DEM SAND, eine Beziehung zu einem Professor aus IN IHREM HAUS, dazu der Friedhof in FRANTZ - das kann kaum Zufall sein? Diese Szenen finden sich alle im Roman, davon ist nichts von mir erfunden. Als ich vor zwei Jahren „Tanz auf meinem Grab“ nochmals las, war ich tatsächlich schockiert. Offensichtlich war dieser Roman unbewusst derart wichtig für mich, dass mich Elemente daraus viel später für Szenen in ganz unterschiedlichen Filmen inspirierten. Ich wurde vom Autor Aidan Chambers bei meinen Filmen beeinflusst, ohne es überhaupt zu merken.
INDIEFEATURE
Seit seinem Kinodebüt SITCOM (1998) dreht François Ozon nahezu jährlich einen Film, manchmal mehrere. Dabei sind so unterschiedliche Arbeiten enstanden, wie die Adaption des Fassbinder-Stücks TROPFEN AUF HEISSE STEINE (2000) und die Boulevard-Komödie 8 FRAUEN (2002), die beide auf der Berlinale zu Gast waren, der Psycho-Thriller SWIMMING POOL (2005), das Beziehungs-Puzzle 5x2 (2004), das Historiendrama FRANTZ (2016) und der dokumentarisch anmutende GELOBT SEI GOTT (2018) über Missbrauch in der katholischen Kirche. Mit SOMMER 85 hat Ozon ein langjähriges Lieblingsbuch verfilmt: Den Teenager-Roman „Tanz auf meinem Grab“ von Aidan Chambers. Dieter Oßwald hat sich mit François Ozon über SOMMER 85 unterhalten.
„Die Schönheit des Lebens besteht in der Flucht“ Interview mit François Ozon zu SOMMER 85
Welche Szenen aus dem Roman finden sich in Ihrem neuen Film PETER VON KANT, der Adaption von Fassbinders DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT? Vielleicht gibt es Parallelen, wenn es um das Prinzip der Liebe geht. So unterschiedlich ein Paar sein mag, ist es in der Liebe doch vereint. Da treffen sich die Werke von Aidan Chambers und Rainer Werner Fassbinder. Sie sind Fan von Fassbinder, haben sein Bühnenstück „Tropfen auf heiße Steine“ verfilmt und auf der Berlinale präsentiert. Was macht die Faszination aus? „Tropfen auf heiße Steine“ ist zwanzig Jahre her, damals hatte ich den Eindruck, die Deutschen mögen Fassbinder nicht besonders. Mittlerweile hat sich das wohl geändert, man erkennt auch in Deutschland die Fähigkeiten und das Genie von Fassbinder. Entsprechend neugierig bin ich auf die Reaktionen, die es auf PETER VON KANT geben werden. Sie haben SOMMER 85 auf klassischem Super 16 gedreht statt digital, was gab dafür den Ausschlag? Auf Super 16 habe ich meine ersten Kurzfilme gedreht - damals war das Material übrigens weitaus günstiger als heute! Ich mag diese grobe Körnigkeit, die so spezifisch für diese Art von Filmmaterial ist. Die Farben wirken einfach viel schöner. Es gibt eine gewisse Unschärfe, die gerade bei Großaufnahmen der Haut sehr sinnliche Ergebnisse erzeugt, wie man es digital nie erreichen kann. Nach fast zwei Dutzend Filmen, ist der Job auf dem Regiestuhl für Sie einfacher geworden oder schwieriger, weil Sie Ihre Unschuld verloren haben?
Die Unschuld hatte ich nie, das ist mein Problem. Wenngleich ich vielleicht unschuldig ausgesehen habe (lacht). Die Ideen sind mir nie ausgegangen. Es ist wird jedoch immer schwieriger, eine Finanzierung zu finden und seine Freiheit zu behalten. Zum Glück bin ich in Frankreich erfolgreich genug, um einen schwierigen Film wie GELOBT SEI GOTT drehen zu können. Auch SOMMER 85 konnte ich ohne Vorgaben einer Star-Besetzung realisieren. Mein Vorteil ist, dass ich genau weiß, wie viel ein Film kosten darf. Das lernt man, wenn man viele Kurzfilme dreht. Bieten Streaming-Anbieter wie Netflix und Co. kein finanzielles Paradies für kreative Köpfe? Für mich ist es politisch wichtig, die Kinos und die große Leinwand zu verteidigen. Aber vielleicht ändere ich meine Meinung, wenn ich ein Projekt finde, dass sich perfekt für Netflix und Co. eignet. Am Ende des Films sagt Alexis: „Das einzig Wichtige ist, dass wir alle irgendwie unserer Geschichte entkommen!“ - was hat es damit auf sich? Das ist die letzte Zeile im Roman. Es klingt sehr geheimnisvoll und ist offen für Interpretationen. Für mich steht der Satz dafür, dass wir durch Eltern und Gesellschaft geprägt werden, etwas Bestimmtes darzustellen. Aber die Schönheit des Lebens besteht in der Flucht. Niemand soll sich vorschreiben lassen, wie er zu sein hat. Für mich ist das ein persönliches Motto. Meine Eltern hatten mit Kino überhaupt nichts am Hut, für sie war es ein Schock, als ich meinen Berufswunsch äußerte. Aber ich bin meiner Fremdbestimmung erfolgreich entkommen! D Das Gespräch führte Dieter Oßwald Filmbesprechung auf Seite 30. JULI 2021 D
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INDIESERVICE
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Bildnachweis: Filmbilder/Plakatmotive: Filmverleiher/Filmfestivals Verlosung: Sandburg (S. 5): REPROPUKT Laura Poitras. Circles (S. 4): n.b.k. DFF I: KATASTROPHE (S. 4): DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main DFF II: Das Exotische. Das Gewagte. (S. 4): DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, Frankfurt am Main/Plakatarchiv
Filmtexte: Hendrike Bake, Yorick Berta, Stefanie Borowsky, Tom Dorow, Lili Hering, Susanne Kim, Christian Klose, Clarissa Lempp, Elinor Lewy, Michael Meyns, Harald Mühlbeyer, Pamela Jahn, Toni Ohms, Michael Schmitz, Anna Stemmler, Eva Szulkowski, Lars Tunçay Texte Kinohighlights: INDIEKINO MAGAZIN und Kinos Grafik: Michael Zettler, Nora Wiesner (Zett Media) Akquise/Marketing: Hendrike Bake, info@indiekino.de Druck: Bonifatius Druck, Paderborn Auflage: 25.000
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Nachbild Ex Machina Ich bin dein Mensch
Die Entwicklung von Android*innen hat seit Fritz Langs METROPOLIS entscheidende Fortschritte gemacht. Im Alltag sind sie kaum noch zu erkennen. Schon lange sind Schrauben und Kabel unter täuschend echter, wenn auch manchmal etwas zu glatter oder gummiartiger Haut verschwunden. Was die Android*innen bei genauem Hinsehen aber immer noch verrät, sind ihre Augen. Nicht nur blinzeln sie seltener, sie bekommen auch manchmal diesen entrückten Geradeausblick – der vielleicht nach innen in
The Trouble with Being Born Blade Runner
die endlosen binären Reihen geht, die durch ihre Köpfe rattern, vielleicht aber auch über Bildschirm oder Leinwand hinaus direkt ins Herz der Zuschauer*innen. Während das menschliche Personal in den eigenen Erzählungen festhängt, und wir ihm dabei zusehen, sieht die KI uns an.
D COUP Rocker gegen Bank D Fabian oder Der Gang vor die Hunde Graf dreht Kästner D BE NATURAL Filmpionierin D König der Raben Illegal in Deutschland D DIE UNBEUGSAMEN Frauen im Parlament D Doch das Böse gibt es nicht Berlinale- Gewinner D JAZZ AN EINEM SOMMERABEND Newport 1958 D QUO VADIS, AIDA? Srebrenica D DREAM HORSE Kleingartenrennpferd D NEW ORDER Angst vor der Revolution D Martin Eden Nach Jack London D GUNDA Tierperspektive D DER MASSEUR Mann mit Fähigkeiten D PROMISING YOUNG WOMAN Rächerin D SHANE McGowan lebt D THE FATHER Anthony Hopkins vergisst D A SYMPHONY OF NOISE Matthew Herbert D DIE AUSSERGEWÖHNLICHE REISE DER CELESTE GARCIA Aliens in Kuba
vorschau INDIEKINO im AUGUST
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