Werner Berg Chronologie eines Künstlers

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WERNER BERG

CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

DER BRIEFWECHSEL MIT

HEINRICH UND MARTHA BECKER

WERNER BERG – CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

DER BRIEFWECHSEL MIT HEINRICH UND MARTHA BECKER

WERNER BERG

CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

DER BRIEFWECHSEL MIT HEINRICH UND MARTHA BECKER

HERAUSGEGEBEN

VON HARALD SCHEICHER

Für Werner Berg

Immer, wenn ich mein Leben überblicke und kurze Bilanz ziehe, was es wert war, gehören Sie und Ihre Kunst zum Besten und Erfreuendsten, das es mir geschenkt hat. Das macht mich immer dankbar der großen Fügung, aber auch Ihnen persönlich gegenüber.

Heinrich Becker, 11. 4. 1955

Für Heinrich Becker

Gut 30 Jahre ist es her, dass Emil Nolde von Ihnen, dem Freund der Kunst und der Künstler, zu mir sprach, mit einer Wärme, die man nur sehr wenigen Menschen gegenüber bei ihm wahrnahm. Bald darauf wurde ich durch seine Initiative, in welchem Zusammenhang ich auch Werner Scholz nicht vergessen will, zur Teilnahme an einer Ausstellung im Städtischen Kunsthaus Bielefeld eingeladen, die Sie, Dr. Becker, als eine Art Heerschau der Jüngeren geplant hatten, und die 29 Maler vereinte. Neben manchen Zeichen erster starker Zustimmung trug mir diese Ausstellung Ihren begeisterten Zuruf ein. Vor mir liegen Ihre ersten Zeilen vom September 1932, und eben daher datiert eine Freundschaft, die ihresgleichen sucht an Bewährung. Es wäre mir völlig unmöglich aufzuzählen, was alles und wofür alles ich Ihnen zu danken habe. Immer in den oft so bösen Wechselfällen des Lebens standen Sie dem jüngeren Künstler zur Seite, nie verzagend, nie sich versagend. In Rat und Tat waren Sie die Treue selbst, damals beim notwendigen Bruch mit dem verehrten Meister, beim Tod des Freundes, beim Zerbrechen sämtlicher Bindungen von alther und in der Nacht der Verzweiflung – bei dem furchtbaren, teuflischen Umbruch der Zeiten, wie beim ersten Wiederaufrichten. ... Sie beide, Dr. Heinrich Becker und Frau Martha Becker, fügen dem geschändeten deutschen Gesicht jenen Zug bei, um dessentwillen die Engel der Vernichtung es dereinst verschonen mögen ... Die Marees‘sche Wappenparole lautete Ex fide vivo. Zuletzt krönt Sie und Ihr Wirken das Paulus Wort: „Und hättet der Liebe nicht--“.

Werner Berg, 1961

4 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Länger schon bestand die Intention, die Entwicklung Werner Bergs alle Werkphasen gleichwertig berücksichtigend aufzuzeigen. Konsequent wird hier deshalb jedem der über 50 Schaffensjahre ein Ölbild und eine kurze biographische Schilderung zugeordnet. Daran jeweils anschließend bietet die Wiedergabe des Briefwechsels Werner Bergs mit Dr. Heinrich Becker (1881-1972) und dessen Frau Martha (1889-1969) authentischer als es jeder retrospektiven Schilderung möglich wäre, Gelegenheit, den Künstler in seinem Denken, seiner Entwicklung und seinen Unternehmungen unmittelbar zu begleiten.

1932 kam es zum ersten Kontakt, als Heinrich Becker, Leiter der Kunsthalle Bielefeld, Werner Berg zu einer Ausstellung junger deutscher Maler einlud. Durch viele Jahre blieb die daraus entstehende, nie abreißende freundschaftliche Verbindung der wesentliche Kontakt zu Werner Bergs ehemaliger Heimat. In den Jahren der ersten Ausstellungstätigkeit Werner Bergs und der unmittelbar darauffolgenden zunehmenden Restriktionen vieler Bereiche des Kulturlebens in der NS-Zeit, war die Verbindung zu Heinrich Becker und dessen Frau Martha die wesentliche Stütze für den mit seiner jungen Familie in der Einsamkeit seines Bergbauernhofes schaffenden Künstler. Während der Diffamierung als „entarteter Künstler“ erleichterte die Vermittlung von Bildankäufen durch Heinrich Becker auch Werner Bergs wirtschaftlich prekäre Existenz. Die Besuche Bergs in Bielefeld gaben zusätzlich die Möglichkeit, vieles, was in Briefen zu schreiben zu gefährlich gewesen wäre, in persönlicher Aussprache zu klären.

Auf seinem Hof fernab vom offiziellen Kunstbetrieb fand Werner Berg in den letzten Vorkriegsjahren zu einer naturnäheren, sachlicheren Darstellung von Menschen und Landschaft seiner unmittelbaren Umgebung, was dazu führte, dass er als Kriegsmaler zur Schilderung der Landschaft nach Skandinavien beordert wurde – auch in diesen Jahren vermochten die mit Beckers gewechselten Briefe ihm Halt und Zuversicht zu geben.

Die freundschaftliche Verbindung blieb nach dem Krieg ungemindert aufrecht, als in der Malerei vielerorts lediglich die Abstraktion geschätzt wurde und Werner Bergs konsequentes Festhalten an einer gegenständlichen Kunst den Maler neuerlich vom Mainstream des Kunstbetriebes isolierte.

5 VORWORT
6 WERNER BERG, CA. 1914

1904 Werner Berg wird am 11.April in Elberfeld, dem heutigen Wuppertal, als jüngstes von vier Kindern geboren. Der Vater, Joseph Berg, geboren am 14.12.1858, führt, obwohl eine humanistische Ausbildung anstrebend, gezwungenermaßen nach dem Freitod seines Bruders, den Betrieb des Großvaters, Theodor Berg, Kaufmann und Klempnermeister, weiter. Die Mutter, Mathilde Klara Berg, geborene an der Heiden, kam am 20.5.1870 als Tochter des Gerbereibesitzers Moritz an der Heiden zur Welt. Der Urgroßvater mütterlicherseits, Moritz a la Bruyere, genannt an der Heide, war als Findelkind 1808 in Meurs (Mörs) aufgefunden worden. „Bürgersohn aus dem dichtverbauten Zentrum einer der gewerbeemsigsten Städte des deutschen Westens“, charakterisiert Werner Berg seine Herkunft. „Die Vorfahren des Vaters kamen aus dem Stockwestfälischen, der Großvater betrieb mit vielen Gesellen die Herstellung von Lampen, Geräten und Installationen und verpasste aus zäher Beharrung und frommer Rechtschaffenheit den Anschluss an die Industrialisierung. In der mütterlichen rheinischen Familie floss französisches Blut aus der Welle der zweiten Immigration, der Revolution. Die tätige, rüstige, allzeit ungebrochene Kraft des elterlichen Hauses und Geschäftes war die Mutter. Der Vater, ein vielseitig und inständig interessierter Humanist, konnte trotz mancher Ehrenämter und Liebhabereien eigentlich recht nie in der Mitte seiner selbst leben. Sein Bruder, dessen Bildnis stets legendär erschien, wollte Maler werden und zerbrach am Bürgersinn, dieser Integration von Gottesfurcht und Selbstgerechtigkeit.“

1914 Werner Berg besucht das Realgymnasium in Elberfeld. Neben der Schule entstehen erste Zeichnungen und Aquarelle.

1917 Der Bruder Alfred fällt im Krieg, kurz darauf stirbt auch niedergeschlagen durch den schweren Verlust der Vater.

1922 „Nach dem Besuch der Schule war meinem steten Wunsch Maler zu werden jeder Weg versperrt. Ich selbst glaubte in mir versagen zu müssen unter dem schweren Druck der Zeit nach dem Kriege. So ging ich nach der Matura, der niedergebeugten Mutter zur Freude und Erleichterung, in die Industrie arbeiten. Ich arbeitete in einer Fabrik in Sonnborn.“

1923 Werner Berg beginnt ein Studium der Handels- und Staatswissenschaften in Köln.

1924 Die wirtschaftliche Lage der Familie Berg bessert sich mit dem Erfolg des Spielwarengeschäftes, das Bergs Mutter betreibt. Werner Berg geht zur Fortsetzung seines Studiums nach Wien zu Othmar Spann. Im Dezember lernt er Amalie Kuster, „Mauki“, seine spätere Frau kennen. Die Kusters betreiben eine sogenannte „Milchmeierei“ in Hütteldorf, einem westlichen Vorort Wiens. Werner Berg ist von der bäuerlichen Vorstadt-Atmosphäre sehr eingenommen und hilft gerne in der Landwirtschaft aus. Lange Reisen führen ihn weit durch die Türkei.

7 1904 - 1924

1927 Werner Berg promoviert mit seiner Dissertation: „Das kinetische Problem in Gesellschaft, Staat und Wirtschaft“ zum Doktor rerum politicum. Auch seine Weggefährtin und spätere Frau Mauki beendet ihr Studium erfolgreich. Er beginnt, anstatt die sich bietende Universitätslaufbahn einzuschlagen, das Studium der Malerei an der Wiener Akademie bei Prof. Karl Sterrer. Der strenge, sture Akademiebetrieb enttäuscht ihn sehr. Er findet jedoch Kontakt zu Ferdinand Andri und wird von diesem freundschaftlich gefördert.

„Nach sieben weiteren Semestern, die ich ununterbrochen an der Wiener Universität blieb, promovierte ich 1927 mit Auszeichnung (gleichzeitig mit meiner Frau), nachdem ich in den letzten Semestern an der Wiener Universität als Bibliothekar und Assistent angestellt und für die Dozentenlaufbahn ausersehen war. Vor den Prüfungen aber brachen alle alten Wünsche, die der Kunst galten und mir selbst längst abgetan schienen, hervor und ließen mich nun doch den Weg zur Malerei suchen. Im Herbst des gleichen Jahres nahm mich die Wiener Akademie der bildenden Künste auf, wo ich zunächst alle vorgeschriebenen Prüfungen absolvierte. Zugleich stand in mir und meiner Frau der Plan fest, in einem bäuerlichen Lebenskreis eine ursprüngliche, unkonventionelle Daseinsform zu suchen und darin die Grundlage künstlerischer Produktion zu finden.“

8 SELBST, 1927

1928 Werner Berg verläßt die Wiener Akademie. „Das ich nicht das mindeste mit Sterrer zu tun habe, ist wahrer als die Tatsache, daß ich zwei Jahre lang sein Schüler war, obschon diese Zeit, besonders die letzte, oft für mich qualvoll und demütigend war“, schreibt Werner Berg später.

An der Münchner Akademie wird er Komponierschüler von Prof. Karl Caspar und erhält ein Meisteratelier. „Um meine Malausbildung zu erweitern, schien es mir geraten, zuvor noch an die Münchener Akademie zu gehen ... An die Akademien denke ich nicht gern zurück, wohl aber an meinen Münchner Lehrer Karl Caspar .... In Wien habe ich zeichnen gelernt, sturr und streng, in München wurde ‚gesäbelt‘, ‚gemoln’.“

Wanderungen, die „Walz“ führen Berg, zusammen mit Rudolf Szyskowitz, durch die Alpentäler und Berge Salzburgs. Er überlegt sich im Lungau anzusiedeln. In Salzburg wird Tochter Ursula geboren.

9
MAUKI / OSTSEE, 1928

1929 Werner Berg besucht seinen Jugendfreund Kurt Sachsse in Kärnten, der ein landwirtschaftliches Praktikum absolviert. Berg ist von Kärnten, vor allem der Gegend um den Klopeinersee, wo er in den Ferien arbeitet, begeistert. Mit Kurt Sachsse wird der Plan gefasst, sich gemeinsam in Kärnten anzusiedeln und einen Bauernhof zu bewirtschaften.

„Inzwischen hatte ich auch meinen Jugendfreund Kurt Sachsse wiedergetroffen, der sich damals, Dichter von Berufung, geistig überreif und gefährdet, zu Ausgleich und Befestigung auf die Landwirtschaft verlegt hatte. Bald beschlossen wir, da wir das für unsere Zeit Fragwürdige puren Berufskünstlertums erkannten, uns auf dem Lande einzurichten. … Ich musste erkennen, dass nicht die Leere des Schulbetriebs, sondern nur ein starkes und gesundes Leben den Künstler bilden.

Kein Verstand hätte mich so gut beraten können, wie ein Instinkt mich einst leitete und hierherführte. Der sagte mir schon in frühesten Jahren, als ich zur Kunst strebte, dass es darauf ankomme, die Kunst wieder an das Leben zu binden, eine Lebensform zu gründen, die in sich Sinn habe und mit Anschauung gesättigt sei.“

10 BILDNIS I., 1929

1930 Werner Berg heiratet seine Lebensgefährtin Dr. Amalie „Mauki“ Kuster. Sie wohnen in München, verbringen jedoch mehrere Monate in Kärnten, um eine geeignete Landwirtschaft ausfindig zu machen. Am 6. Oktober 1930 kommt es zum Ankauf des Rutarhofes, einer entlegenen Bergwirtschaft im Grenzgebiet Südkärntens. Der Besitz ist 22,6 Hektar groß.

„Im April 1930 konnten wir daran denken, unsere Verbindung rechtlich und kirchlich zu bekräftigen. Später wohnten wir kurze Zeit gemeinsam in München und waren innerhalb dieses dreiviertel Jahres vier Monate in Kärnten. In diese Zeit fällt die Entscheidung über unsere und unserer Kinder Zukunft mit dem Ankauf der Rutarhube in Unterkärnten. Diese schwierige Bergwirtschaft war keineswegs dazu geartet, wirtschaftlichen Vorteil zu verheißen, aber Landschaft und Einsamkeit, die mir als Voraussetzung zum Schaffen galten, hatten es uns von vornherein angetan ...

Der Rutarhof, wie sich unsere Hube etwas großspurig nennt, liegt auf der Südwestecke des dem Hochobir vorgelagerten Bergriegels, unter dem die Vellach in die Drau einmündet. Wer einmal dort war und Augen hatte, empfand noch stets die Besonderheit der Situation: Jenseits der Drau, die vor der Annabrücke einen Knick beschreibt, steht über Waldstürzen die Felsstirne des Skarbin. Südwestlich geht die Sicht weit ins Rosental. Gegen Sonnenaufgang spricht in den Waldbreiten der Dobrova und in den Ausläufern des Gebirges der Osten vernehmlich und anders. Über allem ragt südlich der Obir, dessen Silhouette sich hier wahrhaft klassisch-edel in den Himmel schwingt und der für alles, was sich unter ihm ereignet, so etwas wie ein Signum und ein Zeuge ist.“

11 OMA, MAUKI UND URSI, 1930

1931 Am 15. März zieht Werner Berg mit Frau und Tochter endgültig auf den Rutarhof. Gemeinsam mit Kurt Sachsse bewirtschaften sie von nun an unter einfachsten, harten Bedingungen den Bauernhof. Es gibt kein Fließwasser im Haus, keinen elektrischen Strom. Über einem alten Schafstall baut sich der Künstler sogleich ein Atelier: „1931 begannen wir auf dem Rutarhof zu wirtschaften, hart, ernst und voll jugendlicher Unbedingtheit, jedoch ohne alle pseudoromantischen Illusionen. Glaubten wir damals, wir wären nach drei Jahren spätestens über dem Berg, so war das dennoch eine Illusion. Anfangs haben wir den heimischen Bauern, die außerordentlich fleißig und genügsam sind und eine keineswegs simple Wirtschaftsweise haben, genau auf die Finger gesehen, später konnten wir dann viele Verbesserungen durchführen und die Erträge steigern, was wiederum nicht selten auf die Bauern unserer Umgebung zurückwirkte. Dennoch: das Bäuerliche und gar das Bergbäuerliche unserer Lage ist nun einmal nicht mehr in wirtschaftlich rentable Relation zu bringen zur kommerzialisierten, industrialisierten und vor allem bürokratisierten Sozietät. Bei äußerster Anstrengung, Verzichtbereitschaft und mit der Hilfe unserer so fleißigen wie selbstlosen Kinder konnten wir jedoch etliche Not- und Krisenjahre überstehen. Auch lernt man es bald und gründlich, die anonyme Diktatur des Geldes nicht mehr als oberste Instanz anzuerkennen.“ Im November wird Klara, die zweite Tochter geboren. Erste Ausstellungen zeigen Werner Bergs Bilder im Städtischen Museum in Elberfeld und im Essener Folkwang Museum.

12 DER RUTARHOF, 1931
13 MAUKI UND KLÄRCHEN, 1931

1932 Werner Berg besucht im Jänner Emil Nolde in Berlin. Nolde und dessen Frau Ada fördern den jungen Künstler freundschaftlich. Zurückgekehrt auf den Rutarhof, bricht Werner Berg nun radikal mit der Münchener Malweise. „In diesem Jahr habe ich mich mit aller Kraft an das Malen gehalten. Familie, Landwirtschaft und darin Maler sein, ganz von innen Maler, das ist nicht immer einfach. Wie komisch würde es Ihnen vorkommen, wenn ich Ihnen von so manchen Sorgen des Bauern erzählen würde, und doch gehört oft das Äußerste dazu, sich nicht von ihnen zerfressen zu lassen.

Das Schöne nur ist: die Kraft unserer Einsamkeit und die Herrlichkeit des Landes bringen uns immer wieder darüber hinweg.“

Auf Empfehlung Emil Noldes wird er von Dr. Heinrich Becker, dem Leiter der Kunsthalle Bielefeld, zu einer Ausstellung junger deutscher Maler im Kunsthaus Bielefeld eingeladen.

14 SLOWENISCHER BAUER, 1932
Rutarhof, den 29. IX. 32

Sehr verehrter Herr Doktor!

Für die mir zugegangene Einladung zu der von Ihnen geplanten Ausstellung junger lebendiger Kunst danke ich Ihnen und bin gern bereit Ihnen einige Blätter zu senden. Alles andere, Liste der Arbeiten, die gewünschten Angaben usw. werde ich dann gleichzeitig schicken und hoffe, dass die Sendung – ich wohne der Post und allem Verkehr sehr entlegen – rechtzeitig eintrifft.

Mit vorzüglicher Hochachtung Werner Berg

Rutarhof, den 7. Okt. 32

Sehr geehrter Herr Doktor!

Vorgestern schickte ich ein Paket mit zwölf aquarellierten Rohrfederzeichnungen an Sie ab, eine Liste füge ich diesem Briefe bei. Den Wert der Arbeiten, die an sich, wie auch als Ausstellungsgut, zollfrei sind, gab ich auf der Zollerklärung lediglich mit dem Materialwert an. Die Kartons sind auf Ihr Normalmaß 65 x 84 cm geschnitten. Falls die Blätter geschlossen gehängt werden, wäre mir – wegen des Wechsels der Farbklänge – lieb, wenn es in der angeführten Folge geschähe.

Zu Ihrer persönlichen Orientierung teile ich Ihnen mit, dass ich 1904 in Elberfeld geboren wurde. Unter dem Druck der Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse kein Denken an Malerwerden. Zunächst praktisches Arbeiten, dann Studium, 1927 Doktorat mit einer soziologischen Arbeit. Nun erst Möglichkeit der Ausbildung zum Maler, Akademien Wien und München (Meisterschule Caspar). Studium und Akademien sehr unwesentlich. 1930 Ansiedlung im südlichen, windischen Unterkärnten auf einem alten, entlegenen Bergbauernhofe, den ich mit Frau und Freund zusammen bewirtschafte. Arbeit und eindringliches Malen. Ich fühle mich zuinnerst verbunden mit der neuen Kunst des deutschen Nordens.

Freuen würde ich mich, gelegentlich etwas von Ihrer Ausstellung zu erfahren und bin mit vorzüglicher Hochachtung Ihr Werner Berg

Heinrich Becker, Städtisches Kunsthaus Bielefeld

Sehr geehrter Herr Berg, Sonntag, den 27. November soll unsere Aquarell-Ausstellung geschlossen werden. Ihre Arbeiten werden Ihnen, soweit nicht verkauft, in den ersten Tagen des Dezember wieder zugehen, oder bestimmen Sie anders? Für Ihr

15 1932

Blatt „Mutter und Kind“ haben wir einen ernsthaften Liebhaber, bei dem es in allerbesten Händen wäre. Er zögert noch wegen des Preises, wenn Sie ihm ein wenig entgegenkommen, so bin ich überzeugt, dass er das Blatt erwirbt. Geben Sie mir daher umgehend Nachricht, zu welchem äußersten Nettopreis wir das Blatt haben können.

Ich benutze die Gelegenheit, um Ihnen zu sagen, dass Ihre Arbeiten sehr starken Eindruck gemacht haben, ganz besonders bei unseren ernsthaften Kunstfreunden. Wir selbst hätten gern Ihre Blätter behalten, aber unsere Ankaufsmittel sind uns leider gänzlich gestrichen. Haben Sie Neigung, so stellen wir bei späterer Gelegenheit vielleicht einmal eine geschlossene Reihe Ihrer Arbeiten aus.

Herr Kohnen in Elberfeld hat auf seinen Wunsch die Zeitungsbesprechungen erhalten, die ich auch für Sie heute mitschicke.

Empfangen Sie den Ausdruck meiner besonderen Wertschätzung.

Ich grüße ergebenst Ihr Becker

Rutarhof, den 27. Nov. 32

Sehr verehrter Herr Doktor Becker!

Herzlich danke ich Ihnen für Ihren Brief und die Zeitungsausschnitte, ganz besonders aber für die seltene und spürbar innere Anteilnahme, die Sie meinen Arbeiten entgegengebracht haben. Bei einem Verkauf bitte ich Sie hinsichtlich der Preisfestsetzung ganz nach Ihrem eigenen Ermessen zu verfahren. Es ist mir unendlich viel lieber eine Arbeit in den Händen eines Menschen zu wissen, dessen Herz voller ist als seine Börse, denn umgekehrt. Die Anschrift des Käufers würde ich gern wissen.

Sehr habe ich bedauert, Ihre Ausstellung, die wohl das Ergebnis großer Mühe und schönen persönlichen Freimuts war, nicht sehen zu können. Gern schicke ich Ihnen später einmal eine Reihe von Bildern, vielleicht lässt es sich mit einem anderen Anlass Bilder nach Deutschland zu schicken vereinen.

Die Arbeiten bitte ich Sie an meine Anschrift zurückzuschicken, und zwar mit dem Vermerk: Rücksendung. Eine etwaige Überweisung geschieht am besten durch Postanweisung, die Post rechnet in Schillinge um ...

Die Blätter kommen wohlbehalten zurück, und da das eine, „Mutter mit Kind“, fehlt, nehme ich an, dass es einen neuen Besitzer hat, dem es, hoffe ich, etwas Klang und Freude bereitet ...

16 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1933 Werner Berg reist erneut nach Berlin zu Emil Nolde und besucht Heinrich Becker in Bielefeld. Nolde ist darauf bedacht, den jungen Maler nicht direkt zu beeinflussen. Werner Scholz besucht Berg auf dem Rutarhof und drängt Berg in Berlin auszustellen und vermittelt den Kontakt zur Galerie von der Heyde am Schöneberger Ufer. Werner Berg nimmt an der Ausschreibung für eine große Ausstellung religiöser Gegenwartskunst anlässlich des Katholikentages in Wien mit seinem fünfteiligen Altarbild teil. Das Bild wird von der Jury zurückgewiesen.

17 MANN MIT PFERD UND SCHLITTEN, 1933

Rutarhof, den 24. Feb. 33

Sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Nun bin ich schon wieder einige Zeit auf unserem Hof zwischen den reinen weißen Bergen – wir sind bis über die Nasenspitzen eingeschneit – und wollte Ihnen längst schreiben. Aber bei meiner Rückkehr war in unserer kleinen Familie leider mancherlei Krankheit, und da blieb wenig Zeit zum Briefschreiben.

Vollgepfropft mit Eindrücken kam ich heim, immer und immer wieder musste ich erzählen, besonders auch von Ihnen und Ihrem schönen Wirken. Nehmen Sie und Ihre Frau Gemahlin den beiliegenden Holzschnitt des Rutarhofes bitte als kleines Zeichen meines Dankes für Ihre liebe, schöne Gastlichkeit und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem Werner Berg

Lieber Herr Berg,

Dr. Heinrich Becker, Bielefeld, den 15. April 1933

Ihr Brief vom 24. Februar hat lange Wochen neben mir auf dem Schreibtisch gelegen und sollte längst beantwortet sein. Ich habe immer gezögert, weil ich Ihnen zugleich Nachricht über das Schicksal unseres Kunsthauses geben wollte, dessen Dasein wie so viel anderes bedroht ist. Aber noch immer ist die Entscheidung nicht gefallen. Länger warten aber sollen Sie nicht, nachdem Sie so freundlich meiner gedacht haben. Und damit Sie etwas fühlbarer an unsere Existenz erinnert werden, hat Ihnen meine Frau ein kleines Päckchen zurecht gemacht, das eigentlich Ostern bei Ihnen sein sollte, aber erst heute auf die Post gegeben ist. Es wird also erst in einigen Tagen bei Ihnen sein und möchte Ihren Kinderchen eine Freude machen, auch wenn Ostern vorbei ist.

Der Tag, den Sie mit uns zusammen verbracht haben, steht in schönster Erinnerung bei uns und hat uns entschädigt für viele andere, die weniger schön waren. Was uns nachher über den Alltag hinausgehoben hat, ist eine schöne Lehmbruck-Ausstellung, die letzte, die ich im Kunsthaus gemacht habe, und die intensivste Arbeit an der H-moll-Messe Bachs, dem Unerhörtesten, das es in der deutschen Musik gibt. Gestern ist das Werk aufgeführt, der Tag bleibt uns allen, die wir dabei waren, unvergessen. Bewunderung und Verehrung für Kaminski unverändert. Eigentlich sollten wir jetzt Nolde haben, aber wegen der neuen Verhältnisse hat er abgesagt. Wer weiß, wann wir ihn noch einmal in Bielefeld haben werden. Ob Sie nun Gelegenheit haben, hier auszustellen, ist sehr ungewiss geworden. Ich selbst und meine Freunde indessen

18 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

würden sich freuen, auch weiterhin Ihrem Schaffen folgen zu können. Das wird schwer sein. Immerhin schreiben Sie wenigstens von Zeit zu Zeit von Ihrer Arbeit und zeigen uns, wenn möglich Fotografien. Für den Holzschnitt, den Sie uns so freundlich zugeeignet haben, danken wir Ihnen herzlich. Er ist uns Vergegenwärtigung Ihres Lebens und zugleich Sinnbild Ihres künstlerischen Wollens, das uns ganz überzeugt.

Meine Frau und ich, wir wünschen Ihnen und den Menschen, die mit Ihnen verbunden leben, alles Gute, Freude an Frau, Freunden und Kindern, und genießen Sie recht den kommenden Frühling.

Wir denken immer mit aufrichtiger Freude an Sie Ihr Heinrich Becker

Rutarhof, den 22. April 33

Lieber verehrter Herr Doktor Becker!

Dem Osterhasen glaube ich gern, dass ihm der weite, steile Weg zu uns herauf sauer geworden ist, Sie haben ihn schwer beladen. Dienstagabend schon erhielten wir Ihren Brief und Ihr Päckchen. Ihrer Frau Gemahlin sagen Sie bitte unser aller und der Kinder ganz besonderen Dank für das feine, feine Päckchen, Ihr Brief aber machte mich voll selten warmer, tiefer Freude.

Für uns hier ist es nicht leicht zu ermessen, was alles jetzt in Deutschland geschieht. Dass ein gutes Wollen in allem walte, wünschen wir so sehr. Wer aber sagt es den Verantwortlichen, dass kein Wollen und kein Denken, das gute und das schlechte nicht, Kunst schaffen, dass Hingabe nur und Versenkung zu ihr führen.

Hoffentlich geschieht kein Unheil und hoffentlich, das wünsche ich so sehr, kommt über Sie, verehrter Herr Doktor, keine Bitterkeit.

Im Atelier ist viel Neues wieder entstanden, ich kann und muss ja nur fortarbeiten, denn ich habe einen weiten Weg noch vor mir. Alle die Bilder, die ich in den Jahren hier oben auf dem einsamen Berge gemalt habe, sah kein Mensch noch außer uns dreien. Wenig verbindet mich nur mit der Welt und sehr viel Absichten habe ich nicht, es sei denn einmal etwas Ahnung von der Tiefe dieses Lebens zu erwecken, an dem die Überdeutlichen vorbeireden. Unser Leben voll Arbeit und Sorge zwar, scheint mir mit jedem neuen Tage weit und reich, unser Land ist voll ungeheurer Kraft. Der hohe Baum bewegt leise seine Äste vor dem Abendhimmel, das erfüllt mich mit Klang und Vertrauen.

Die Freude zum Malen könnte mir nur mit dem Leben genommen werden, aber zu wissen, dass meiner Arbeit wo einige Freunde leben, stärkt mich nicht wenig. Die Stütze der äußeren Mächte will ich nicht ...

19 1933

1934

Werner Berg reist zu seiner Ausstellung in der Galerie von der Heyde nach Berlin. Die Ausstellung findet große Beachtung und ausgezeichnete Besprechungen löst aber auch Befremden und Empörung aus. Werner Berg ist in einem Zustand äußerster Nervenanspannung. Es kommt zum Bruch mit Emil Nolde, der ihm zusammen mit seiner Gattin Ada bis dahin väterlich-freundschaftlicher Förderer war.

Auf dem Rutarhof wird Sohn Veit geboren.In Deutschland kommt es zu ersten einzelnen Bildankäufen privater Sammler. Dennoch bleibt die erhoffte Entlastung durch Bildankäufe aus und die wirtschaftliche Lage der größer werdenden Familie wird auch aufgrund der schlechten Absatzverhältnisse für landwirtschaftliche Produkte immer schwieriger. Seitens der deutschen Behörden werden Berg alle Überweisungen aus seinem Sparguthaben in Elberfeld, ebenso wie die Überweisung monatlicher Unterstützungen durch seine Mutter, gesperrt.

Rutarhof, den 2. Januar 1934

Sehr geehrter Herr Doktor Becker!

Wie oft haben wir nicht in all den Monaten an Sie gedacht, und wie es Ihnen wohl ergangen sein mag. Blieb Ihnen Ihr Wirkungskreis im Kunsthaus, den Sie auf so schöne und persönliche Weise ausfüllten? Wir hoffen es sehr, und vor allem, dass Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin Gesundheit und Freude an Leben und Schaffen blieb.

Der Rutarhof liegt immer noch so still beiseite und auf der Höhe wie früher. Es war wieder ein Jahr voll harter wirtschaftlicher und häuslicher Arbeit und Sorgen, aber auch voll schöner Arbeit, und ich glaube, der Maler ist keinen krummen Weg gegangen. Im Sommer hatten wir Scholz und seine Frau – trotz der Grenzsperre – zu Besuch auf dem Hof, das gab schöne seltene Freude. Inzwischen hatte Scholz auch wieder eine Ausstellung in Berlin und, wie ich hörte, trotz aller Zeitwandlungen starken Erfolg. Auf dem Gebiete der bildenden Kunst, denke ich, hat der Klärungsprozess noch kaum begonnen und am Ende wird es doch anders ausschauen, als so mancher Augenblicks-Nutznießer gern möchte. Oder aber darf der Ehrliche nicht mehr gerade wollen, und muss sich der Starke vom Schwächling begraben lassen? Ich glaube es nicht und habe Zuversicht.

Die Galerie von der Heyde in Berlin (ehemals Hartberg) eröffnet am 14. Januar eine Ausstellung meiner Arbeiten, die nun zum ersten Mal die Fahrt in die Welt machen. Für mich ein merkwürdiges Gefühl, und ich wäre froh, wenn ein wenig Wärme den Bildern entgegenschlüge. Sollte der Zufall es fügen, dass Sie, Herr Doktor Becker, Ende Januar – Anfang Februar nach Berlin

20 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

kämen? Wohl kaum. Und die Bilder nach Bielefeld ins Kunsthaus zu bringen, daran ist jetzt wohl nicht zu denken.

Freude würde es mir große machen, wieder einmal von Ihnen zu hören, aber verstehen würde ich auch, wenn Ihnen der Sinn nicht zum Schreiben steht. Nehmen Sie und Ihre Frau Gemahlin alle guten Wünsche und Grüße Ihres ergebenen Werner Berg

21 SOMMER, 1934

Dr. Heinrich Becker, Bielefeld, den 17 Januar 1934

Lieber Herr Berg, hundertmal habe ich, seit wir uns in Bielefeld fanden, an Sie gedacht und oft mit Freunden von Ihnen gesprochen. Das Schreiben unterblieb, da allzu Erfreuliches aus dem Leben mit der Kunst nicht zu berichten war. Unsere Nolde-Ausstellung, die ich für März/April 33 vorbereitet hatte, kam nicht zustande, da Nolde selbst im letzten Augenblick zurückschreckte. In den ersten Sommermonaten habe ich die letzten Kunsthaus-Geschäfte abgewickelt und bin am 1. Juli aus der Leitung geschieden. Eine Weiterarbeit wäre für mich möglich gewesen, wenn ich den Verzicht auf eine Reihe von Künstlerpersönlichkeiten, zu denen auch Sie gehörten, für die Zukunft in Aussicht gestellt hätte. Ich habe einem solchen Ansinnen gegenüber keinen Augenblick geschwankt und mich zurückgezogen. Seit dem Herbst 33 hat das Kunsthaus unter Leitung von Prof. Rickert, Lehrer der Bildhauerklasse an der hiesigen Kunstgewerbeschule, wieder begonnen, Ausstellungen zu machen. Wenn Sie den Plan einer Ausstellung in Bielefeld verfolgen, würde ich raten, sich an meinen Nachfolger direkt zu wenden. Sie werden sicher sein, dass ich und manche meiner Freunde Ihre Kollektion, die eben in Berlin gezeigt wird, mit lebhaftestem Anteil und großer Freude hier sehen würden. Herr Delius, der Ihr Aquarell Mutter mit Kind aus unserer Ausstellung erworben hat, wird sich Ihre Ausstellung in Berlin ansehen und mir davon erzählen. Ich freue mich schon, davon zu hören. Denn ich kann selbst in dieser Zeit nicht nach Berlin fahren und bedaure sehr, nicht mit eigenen Augen Ihr neues Schaffen verfolgen zu können. Haben Sie außer dem schönen Holzschnitt, den Sie mir vor einem Jahr verehrten, noch mehr gedruckte Graphik gemacht? Wenn eine Ausstellung hier nicht gelingt, könnten Sie davon vielleicht einiges herschicken, möglicherweise mit ein paar Aquarellen, die sich ohne Passepartout leicht beifügen ließen. Und wäre es nur, um das Interesse an Ihrer Arbeit im kleinen Kreis noch zu halten. Unkosten, wenn Sie auf Versicherung verzichten können, würden gering sein und gern von mir übernommen. Aber vielleicht gelingt es, Ihre Bilder in Bielefeld selbst zu sehen, wenn das Kunsthaus sich Ihnen öffnet. Lassen Sie mich wissen, ob Sie den Versuch machen wollen und ob Sie dabei Erfolg haben. Ich selbst denke noch an die erste Stunde zurück, in der ich mit Ihren eben eingetroffenen großen Aquarellen umging und mich mit Ihnen freute, wie ich es wenige Monate später mit Ihrer Person tat. Für alles habe ich bis heute ein starkes Gefühl der Dankbarkeit. Ihr Brief vom 2. Januar, der eintraf, als ich mit meinen Oberprimanern für zwei Wochen

22 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

im Harz war, hat mir große Freude gemacht. Den guten, starken Werner Berg habe ich ganz darin wiedergefunden. Ihn grüße ich, wie auch meine Frau es tut, mit unveränderter Herzlichkeit und aufrichtiger Verehrung.

Mit allen guten Wünschen für Sie, Ihre Frau, Ihre Kinder, Ihren Freund

Ihr Heinrich Becker

Rutarhof, den 1. März 34

Sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Schreiben wollte ich Ihnen erst, bis ich Ihnen Endgültiges wegen der Ausstellung mitteilen konnte. Aber Ihnen antworten, wie ich möchte und müsste, kann ich auch heute nicht. Mir wollen die Worte nicht kommen, Ihnen für den schönen, schönen Brief zu danken, noch nie ist ein solches Zeichen von Menschen zu uns gekommen.

Die Bilder sind von Berlin nach Elberfeld gegangen und auch von hier aus habe ich noch einige hingeschickt. Heute oder Sonntag wird die Ausstellung in Elberfeld eröffnet, und wenn sie halbwegs gut gehängt ist, gibt Sie, glaube ich, ein volleres Bild meiner Arbeit als die Berliner. Nun ist noch Zeit zu überlegen, ob die Bilder in Bielefeld gezeigt werden sollen. Von der Heyde schrieb mir, dass Herr Direktor Delius aus Bielefeld sich die Ausstellung angeschaut hat und auch davon sprach. In Bielefeld auszustellen ist mir ein besonders lieber Gedanke. Aber – ich bringe es nicht über mich, Ihrem „Nachfolger“ zu schreiben. Das ist mir, als sollte ich in ein leeres Haus treten, statt den verehrten, lieben Freund darin zu finden. Kommt vielleicht einer der Herren vom Bielefelder Kunstverein im März ins Rheinland, der die Ausstellung in Elberfeld anschauen und wegen einer Weiterleitung nach Bielefeld etwas unternehmen könnte? Auch wäre es mir sehr lieb, wenn Sie, Herr Dr. Becker, die Ausstellung, wenn es dazu kommt, hängen oder zumindest mithängen könnten. Anderes möchte ich Ihnen schreiben und mehr als diese Ausstellung-Pimpeleien. Sehr bald will ich das tun. Heute nur nehmen Sie, verehrtester Herr Dr. Becker, Ihre Frau und Ihre strammen Kinder meine besten Wünsche. In herzlicher Ergebenheit grüßt Sie immer, - und nicht nur, wenn es zum kargen Briefschreiben kommt,

Ihr Werner Berg

samt Frau, Freund, Kindern und Hof.

23 1934

Poststempel 10. 3. 1934

Sehr verehrter Herr Doktor!

Eben erfahre ich, dass die Elberfelder Ausstellung vom 11—16. März “auf Befehl der Regierung“ unterbrochen werden und einer durchreisenden „Ostausstellung“ Platz machen muss. Dafür wird dann die Geschichte noch eine Woche im April dauern, das wollte ich Ihnen nur kurz mitteilen.

Ihr herzlich ergebener Werner Berg

Brief Walter Delius Bielefeld, den 19. März 1934

Herrn Professor Arnold Rickert, Kunstgewerbeschule, Bielefeld

Sehr geehrter Herr Rickert!

Sie werden sich unseres Gesprächs erinnern, in dem ich Sie bat, sich die Ausstellung von Werner Berg in Elberfeld anzusehen, um sich ein Urteil darüber bilden zu können, ob Sie als Kustos des Kunsthauses Ihre Zustimmung zu einer Ausstellung von Berg, die der Bielefelder Kunstverein veranstalten würde, geben können.

Soviel ich aus einer Unterhaltung mit unserem Vorsitzenden Herrn Dr. Buddeberg, entnommen habe, ist Ihnen der Gedanke an eine solche Ausstellung wenig sympathisch.

Ich erhalte nun heute zwei Kritiken über die Bergschen Ausstellungen (aus dem Völkischen Beobachter und einer rheinischen Zeitung, Verlag Dr. Reismann-Grone), die ich Ihnen gern zugänglich machen möchte, damit Sie sehen, wie maßgebende nationalsozialistische Blätter von Berlin und dem Rheinland urteilen.

Vielleicht könnten Sie sich doch entschließen, sich die Ausstellung in Elberfeld, die meines Wissens noch bis 7. 4. offen ist, anzusehen. Anschließend an die Elberfelder Ausstellung würden wir hier in Bielefeld die Bergschen Bilder zeigen können.

Welchen Eindruck die Berliner Ausstellung auf mich gemacht hat, habe ich Ihnen ja schon erzählt. Ich würde – in der Befürchtung, zu subjektiv zu urteilen – nicht auf meinen Vorschlag zurückgekommen sein, wenn ich nicht manche meiner Gedanken in den beiliegenden Kritiken bestätigt gefunden hätte

Mit freundlichem Gruß Ihr Delius

24 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Bielefeld, den 6. April. 1934

Freundeskreis des Bielefelder Kunsthauses, Städt. Kunsthaus

Sehr geehrter Herr Delius

Ich komme leider erst heute dazu, auf ihren Brief betr. die Ausstellung Werner Berg zu antworten.

In den nächsten Monaten werden die Räume des Kunsthauses für die Luftschutzausstellung benötigt. Es können daher keine Sonderausstellungen stattfinden. Außerdem halte ich es gerade hier noch verfrüht, solche problematischen Dinge zu zeigen. Bei der an sich schwierigen Lage des Kunsthauses und der allgemeinen Interesselosigkeit halte ich es für nötig, in der Auswahl der Ausstellungen größte Vorsicht walten zu lassen, um den geringen Boden, der vielleicht bis jetzt wiedergewonnen wurde, nicht zu verlieren. Sie wissen ja selbst, dass innerhalb der nationalsozialistischen Partei der Streit um diese Frage noch keineswegs zu Ende gekommen ist. Wenn ich auch persönlich solchen Künstlern wie Berg nicht die Bedeutung zumesse, wie Sie, so liegt mir fern, sie etwa aburteilen zu wollen. Sie können aber nicht von mir erwarten, dass ich mich bei der geschilderten Lage und meiner eigenen Einstellung für sie einsetze. … Die übersandten Kritiken gebe ich Ihnen in der Anlage mit bestem Dank zurück.

Mit freundlichen Grüßen (Rickert)

Rutarhof, den 21.Dez. 1934

Lieber, verehrter Herr Dr. Becker!

Wie oft nicht hätte ich Ihnen im Jahr schreiben wollen, und ich schrieb doch nicht. Die Schwingung von unserer einen Begegnung ist mir geblieben und wird mir immer bleiben, sie tönt oft in mir auf fein und klar. Sie sind mir lieber naher Freund, sollten wir auch nie mehr uns sehen oder voneinander hören. Schön, dass solches zwischen Menschen möglich ist, unter die sonst oft so viel Bitteres und Böses kommt.

Dieses Jahr war schwer, wie ein Wunder ist mir, dass ich dem Druck nicht erlag. Das Leben blieb mir, und ich arbeite und ging, hoffe ich, aufrecht. Den Segen dazu kann ich nicht zwingen.

Zu Nolde führt kein Weg mehr für mich. Oft suchen ihn meine Gedanken und mein zur Qual verwundetes Fühlen, jede Nacht. Begreifen kann ich nicht, warum das sein musste. Dürfte ich es nicht sagen? Ich weiß danach mein Leben mir eigen und auch, ja, meine Arbeit.

25 1934

Es ist mir wohl nicht gegeben, mein Verhalten zu Menschen gut einzurichten, schon gar nicht zweckmäßig. Halbmenschlich, diplomatisch sein mag ich nicht, es gelänge mir auch gar nicht. Unser Leben auf dem Berg ist einsam gegründet, ich will es erfüllen. Wenn mir die Kraft bleibt.

So gern würde ich Ihnen von meiner Arbeit etwas senden, als Zeichen. Aber Sie fühlen sich verpflichtet und darum muss ich es bleiben lassen. Und täte es doch so gern. Noch einmal danke ich Ihnen für Ihre Wege und Mühen im Frühjahr, auch Herrn Direktor Delius. Ich hab ihm so ungeschickt geschrieben, mir blieb ein ungutes Gefühl davon. Bitte grüßen Sie ihn von mir, auch Herrn Buddeberg, an den ich mich ganz frisch erinnere. Ja, es war schön in Bielefeld, ich habe das nicht erlebt, früher nicht und später nicht wieder.

Grüßen Sie bitte auch ganz besonders Ihre verehrte Frau und Ihre Kinder. Wir sind jetzt auch um einen mehr, in seinem Körbchen liegt, bald ein halbes Jahr alt, der kleine Veit, den wir sehr gern haben. Leicht lebt‘s sich ja nicht mit Kindern, Wirtschaft, Pinseln, aber für mich gehört alles innig zusammen. Müsste ich eines missen, dann wär ich leblos arm. Wir alle grüßen Sie alle und wünschen Ihnen ein schönes reiches Weihnachtsfest.

Ihr treuergebener Werner Berg

1935 Werner Berg erhält den Preis der deutschen Albrecht Dürer Stiftung in Nürnberg. Seine Einzelausstellung wird auch im Städtischen Museum in Bochum und im Kunstverein Kölln gezeigt, auf dieser letzten Station jedoch polizeilich gesperrt. Die Bochumer Kritik hatte noch geschrieben: „Werner Berg ist eine der stärksten Persönlichkeiten, die wir in der Gemäldegalerie überhaupt kennenlernten.“

Der Leiter der Landesstelle der Reichskammer der bildenden Künste jedoch schreibt an den Kölner Kunstverein betreffend der Ausstellung Werner Berg: „Auf verschiedene Einsprüche hin habe ich mir die Ausstellung angesehen und mich davon überzeugt, dass die ausgestellten Bilder zum größten Teile im Sinne des §2 der Anordnung des Herrn Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, betreffend die Veranstaltung von Kunstausstellungen und Kunstmessen vom 10. April 35, der Verantwortung für das Volk, insbesondere für das hiesige Gebiet ermangeln. Da außerdem für die Ausstellung die Genehmigung des Herrn Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste fehlt, muss ich Ihnen dringend nahelegen, diese Ausstellung sofort zu schließen. Als Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste, haben sie ganz besonders die Aufgabe und Verantwortung, nur solche Bilder auszustellen, die dem gesunden Empfinden unserer heutigen Zeit entsprechen.“ Die Nationalsozialisten beginnen zunehmend mit der Verfolgung und Ausgrenzung der als „entartet“ angeprangerten Künstler. Auf dem Rutarhof wird Tochter Hildegard geboren.

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Dr. Heinrich Becker, Bielefeld, den 1. Februar 1935

Lieber Herr Werner Berg,

Ihr Brief, den Sie mir zu Weihnachten schrieben, hat mich tief gefreut. Haben Sie herzlichen Dank für Ihr freundschaftliches Gedenken und den kleinen hübschen Bauernkalender. Dass ich Ihnen nicht früher geantwortet habe, tut mir sehr leid, und ich fange an, mich meines Versäumnisses richtig zu schämen. Aber ich weiß in Ihnen so viel Güte, dass Sie mir es nicht nachtragen. Wären Sie nicht so fern, könnte ich hoffen, Sie bald einmal wiederzusehen. Lassen Sie uns aber wenigstens in Gedanken und Gedenken beieinanderbleiben. Die Begegnung mit Ihrer Kunst und bald darauf mit Ihnen persönlich gehört zu den schönsten Erinnerungen aus der letzten Zeit meiner Arbeit im Bielefelder Kunsthaus. Ich brauche Ihnen deshalb nicht besonders zu versichern, wie sehr ich mich freuen würde, von Ihren neuen Arbeiten etwas zu sehen. Da Ihr Brief mir solche Möglichkeit eröffnet, so bitte ich Sie

27 FIRMWAGGERL, 1935

freundlichst, zu überlegen, wie das möglich ist, ohne Ihnen besondere Kosten zu verursachen. Vielleicht ist es möglich, einige ungerahmte Aquarelle, Zeichnungen oder Holzschnitte in einem Paket an mich zu schicken. Ich würde alles selbst mit größtem Anteil betrachten und meine Freunde daran teilnehmen lassen. Auf diese Weise würde wenigstens in dem kleinen Kreise derer, die sich vor der Jahren an Ihren Aquarellen erfreuten, das Interesse an Ihrer Kunst wachgehalten. Wenn Sie diesen meinen Vorschlag gutheißen, beachten Sie bei der Absendung meine neue Adresse. Seit dem 1. Oktober 34 wohne ich nicht mehr in der Wohnung, wo Sie mich besucht haben. Abgesehen davon aber hat sich in uns und um uns nichts Wesentliches geändert. Was Sie mir von Ihrem Verhältnis zu Nolde schreiben, beunruhigt mich sehr, umso mehr als ich den Grund Ihrer Trennung nicht kenne. Die wenigen Worte Ihres Briefes zeigen mir, wie schwer es Ihnen sein muss, damit fertig zu werden. Wir Menschen sind alle Mischungen von Gutem und Bösen, von Starkem und Schwachen. Was das Zusammenleben erst ermöglicht, ist nur Liebe und Geduld. An Liebe und an Liebesbedürftigkeit hat es keinem Künstler, wie ich ihn verstehe, gefehlt. Geduld und Duldsamkeit, ach wer die den Menschen schenken könnte! Sie in Ihrer Einsamkeit auf dem Rutarhof, halten Sie sich an die nächsten Menschen, die in natürlicher Liebe mit Ihnen verbunden sind, behalten Sie Vertrauen zu Ihrer Kraft, bauen Sie weiter an Ihrem inneren Leben und warten Sie geduldig ab, was aus Ihrem Tun und Sein erwächst, ganz gläubig und ganz gehorsam einer Führung, die über uns ist. Hoffentlich ist Ihre wirtschaftliche Lage so, dass Sie vor der größten Sorge um Frau und Kinder bewahrt bleiben. Meine Frau und ich, wir sprechen manchmal von Ihnen, und wenn still gehegte Wünsche, wenn Fürbitte wirksam werden können, dann sind wir um Ihretwillen nicht unbeteiligt. Wenn Sie mögen, schreiben Sie uns, was Sie bewegt, und lassen Sie uns, soweit es möglich ist, an Ihrem Schaffen teilhaben.

Empfangen Sie, Ihre Frau und Ihre Kinder unsere herzlichsten Grüße. In stets unveränderter Gesinnung

Ihr Heinrich Becker

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Poststempel 27. 10. 1935

Verehrte Dr. Beckers!

Beim Krämer entdecke ich diese Karte mit etwas Rutarhof-Geographie. Zwischen den zwei Kreuzerln sehen Sie die Rutarhof-Felder schimmern. Beim letzten auf der Bergkette stehen, Haus, Scheune und Atelier. Nur die hohen schönen Berge sind nicht zu sehen, die wollen sich selbst Ihnen einmal vorstellen. Ihnen allen möchte ich für die überguten Briefe danken, ja könnt‘ ich es nur! Gottlob geht es auch mit dem Malen weiter, sonst hätten sie (Sie) mich schier erdrückt. Heute bringe ich Großmutter u. Ursi auf die Bahn.

Herzlichst immer Ihr getreuer W. B.

Rutarhof, den 29. Dez. 35

Liebe verehrte Dr. Becker-Familie!

Tief haben Sie uns gerührt, bewegten, vollen Herzens danken wir Ihnen lieben Menschen.

In diesen Tagen hatte ich den Wunsch Ihnen zu schreiben geradezu verdrängt. Ich wollte erst das Leben und die Gestalt gewinnen. Zudem musste ich mich vor 14 Tagen an der linken Hand operieren lassen wegen Phlegmone und Blutvergiftung, doch geht das langsam besser. Dieses Jahr war schwer für uns und voller Schläge, drückend für den Maler, grausam für meine geliebte Frau, die mit unseren vier kleinen, lieben Kindern ein hartes Leben zu behaupten hat. Wunder und Gnade, dass wir noch nicht ausgelöscht sind. Wir sind sogar voll Hoffnung und ungebrochen, wir wollen das neue Jahr nützen, und ich will meine Arbeit weiterführen.

Nun will ich doch bald Ihnen schreiben und nicht gar sentimental. Aber was bleibt den Menschen, wenn er sein Herz verriegelt. Die Gefühle werfen uns in den Kot und heben uns zu den Sternen. Und aus den Sternen grüßen Sie beide und die Ihren jetzt und wünschen Ihnen ein gutes, reiches neues Jahr.

Ihre herzlich ergebenen Werner und Mauki Berg

29 1935

1936 Werner Berg beschäftigt sich intensiv mit maltechnischen Problemen und reist im März nach Berlin zu Prof. Wehlte, einem der führenden Experten auf diesem Gebiet. Er beteiligt sich an dem letzten Hervortreten moderner deutscher Kunst in Hamburg. Die Ausstellung wird jedoch gleich nach Eröffnung geschlossen und sein dahin entsandtes Bild „Magd und Jäger“ bekommt er nicht mehr zurück.

Die Münchner Pinakothek erhält eine Auswahl von Bildern, um daraus anzukaufen. Der über-wiegende Teil des bereits beschlossenen Ankaufs wird nach heftigem Auftreten des Leiters der Abteilung Bildende Kunst des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, Franz Hofmann, wieder rückgängig gemacht – lediglich das Ölbild „Apfelblütenzweig“ verbleibt in den Münchner Kunstsammlungen. Die wirtschaftliche Lage auf dem Rutarhof wird immer schwieriger. Die erhoffte Entlastung durch Bildverkäufe nach Deutschland wird gänzlich zunichte und Geldüberweisungen aus Elberfeld werden durch schikanöse Devisenbeschränkungen unterbunden. Werner Berg wird aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen. In dieser Ausweglosigkeit sieht er sich nach wiederholtem Anraten genötigt, der Auslandsorganisation der NSDAP beizutreten, um so einerseits weitere dringend notwendige Devisenzuweisungen aus Elberfeld zu ermöglichen und andererseits durch Wiederaufnahme in die Reichskammer der bildenden Künste, die Möglichkeit in Deutschland mit Bildern aufzutreten nicht völlig zu verlieren – nur Mitglieder konnten im Deutschen Reich ausstellen und Kunst als Beruf ausüben. Das bestehende Dreiecksverhältnis zwischen Werner Berg, dessen Frau Mauki und dem Dichter Kurt Sachsse, der als Landwirt und Verwalter viele Aufgaben am Rutarhof wahrzunehmen hatte und den Maler dadurch auch entlastet hatte, war untragbar geworden. Kurt Sachsse verlässt Anfang des Jahres den Rutarhof und erschießt sich nach Monaten unsteten Umherirrens am Todestag Heinrich von Kleists in Freiburg im Breisgau.

Martha Becker, Bielefeld, den 20. März 36

Lieber Herr Werner Berg, heute Abend bekam ich von meinem Mann die Nachricht, dass er Sonnabend wieder bei uns sein werde. Das möchte ich Ihnen gleich mitteilen, damit Sie den Samstag benützen, falls es Ihnen möglich ist, um noch einmal zu uns zu kommen. Ihr unerwarteter Besuch war wirklich für uns sehr schön und mein Mann würde es gerade so empfinden, wenn er Sie sehen könnte. Ich hoffe, Sie sind gut zum Zug gekommen. Unsere Freunde in Barmen habe ich auf Ihren Besuch vorbereitet.

Gestern Abend hatten wir einen herrlichen musikalischen Abend und hörten mehrere Werke von Kaminski. Ich traf dort Herrn Delius, der mir sagte, dass er Ihnen seinen alten Brief nachgeschickt habe. Ich wünsche recht!, dass er die Wirkung des Gesprächs mit Delius verstärken möge und Ihnen wieder Vertrauen schenkt. Meine Tochter und ich, wir grüßen Sie herzlich und sagen auf Wiedersehen. M. Becker

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31 SELBST VOR ORANGE, 1936

Walther Delius, Bielefeld, 19. 3. 36

Ich sprach Ihnen gestern Abend über einen unvollendeten Briefentwurf, den ich immer noch bei mir liegen habe. Dieser Brief ist damals vor zwei Jahren geschrieben, unmittelbar nach dem Zusammentreffen mit Frau Nolde. Er gibt deshalb vielleicht noch unmittelbarer den Eindruck wieder, den wir damals über das Gespräch über Sie, Ihre Arbeit und Ihr Streben mit Frau Nolde hatten. Ich schicke Ihnen diesen Briefentwurf und bitte den Inhalt so aufzufassen, wie er gemeint war. Jetzt, nachdem wir gestern Abend so eingehend über dieses Thema gesprochen haben, kann ich den Brief eher schicken als damals:

Sehr geehrter Herr Berg.

Ihr Brief war mir eine große Freude. Und auch wiederum hat er mich traurig gemacht. Ich meine das Schwere und Entscheidende, was Sie in Berlin erlebt haben.

Es ist im Leben wohl manchmal ein größerer Zusammenhang in dem, was gemeinhin Zufall genannt wird, als einem selbst zunächst bewusst wird.

Als vergangenen Sonntag Frau Nolde, die wir bisher nur ganz flüchtig kennen gelernt hatten, zur Missa Solemnis heruntergekommen war und die Kaminski bei uns einquartiert hatte, ins Zimmer trat, ging sie sofort auf das Bild über unserem Flügel zu und sagte sofort: Ist das nicht von Werner Berg? Und ehe sie von etwas anderem sprach, machte sie in ehrlichem Schmerz – wir, meine Frau und ich, sind überzeugt davon, konventionellen Schein und ehrliches Empfinden klar unterscheiden zu können – ihrem bedrängten Herzen Luft. Sie sprach von dem letzten Abend mit Ihnen, wie sie den kranken, müden Nolde ins Bett genötigt habe, wie Sie es abgelehnt hätten über Ihre Bilder zu sprechen und wie sonst alles gewesen sei und dass es sie und ihren Mann erschüttert habe und noch immer schwer belaste, dass Sie am nächsten Tage ihr mitgeteilt hätten, alle Bande zwischen ihnen seien zerschnitten. Ihr sei dies alles wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen, besonders da ihr Mann und sie sich Ihnen so nahe gefühlt hätten und auch noch fühlten und gar nicht glauben konnten, dass nun dieser Bruch entstehen könne. Wodurch sie Sie verletzt und weshalb sie das verdient hätten, das sei ihnen bis heute ein Rätsel.

Nun weiß ich nicht, ob ich das Recht habe, Ihnen das alles zu schreiben. Mir kamen aber einige Worte ins Gedächtnis, die ich vor einigen Tagen in Wicherts „Kleiner Passion“ las. Dort steht: „Die Menschen wissen sicher von der Notwendigkeit, dem Gott aller Götter. Du musst wissen, dass jeder Mensch an unserem Schicksal webt, jedes Wort, ja jede Pflanze, die du siehst. Es ist noch

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niemand aus seinem Schicksal herausgefallen.“ Und so kam mir der Gedanke: auch dieses musste so sein. Und so schien es mir zunächst vermessen, wenn ich mich in eine Notwendigkeit einmische. Beim weiteren Grübeln darüber aber glaubte ich zu sehen, dass wenn diese Notwendigkeit der Trennung vorlag – ich glaube bestimmt, dass sie vielleicht für Sie nötig war – sie doch nicht unter solchen Missverständnissen hätte zu erfolgen brauchen. …

Rutarhof, den 2. April 36 Liebe, verehrte Dr. Beckers!

Seit einigen Tagen bin ich nun wieder auf unserem Hof, bei meiner Frau, unseren Kindern und Viechern und kann nicht genug erzählen von meiner Reise. Wärmend wie die liebe Frühlingssonne ist die Erinnerung an Sie, an die schönen guten Stunden bei und mit Ihnen in Bielefeld. Wie bin ich froh, Sie einmal wiedergesehen und -gesprochen zu haben, und könnte es nicht so selten nur sein, ich dürfte so viel Menschengüte gar nicht entgegennehmen. In wenigen Tagen wird nun die Bildersendung, wie wir es besprochen, aus München an Sie abgehen. In meiner Abwesenheit hat sich in München, außer dem Staatsankauf, noch einiges für mich recht Günstiges ereignet. Hanfstängl aus Berlin war da und hat sich meine Arbeiten angesehen, die es ihm, wie mir Generaldirektor Buchner versicherte, recht angetan haben sollen. Er ließ sich gleich von den großen Aquarellen vier schicken, von denen er für das Kronprinzenpalais etwas erwerben will, und denkt für später auch an einen Bilderankauf. Wenn es mir nun leidtut, dass gerade diese Aquarelle nicht mit nach Bielefeld gehen können, so ist es doch weniger schlimm, zumal ich früher schon Aquarelle dort hatte. Auch das bayrische Kultusministerium hat etwas erworben und soll mir – sehr zu meiner Verwunderung – sehr gewogen sein. Dann war der Direktor des Bruckmann-Verlages in der Pinakothek, der derzeit gerade eine Anzahl meiner Arbeiten in seiner Anstalt für Reproduktionen fotografieren lässt (und dadurch entstand die Verzögerung) die er in der Kunst, bzw. „Kunst für alle“ in einem der nächsten Hefte bringen will. Er beauftragte Dr. Rüdiger vom Völkischen Beobachter (ein Pinderschüler) den Aufsatz hierzu zu schreiben. Der wird das freilich mit viel Vorsicht und Wenn und Aber machen, doch ist der nicht der Übelste und mir, glaube ich, gut gesonnen. In der ärgsten Bilderstürmerzeit hat er zwar manches Ungute angerichtet, aber er ist noch jung und nicht vergreist und gestand mir selbst einmal, dass er sich zwangsläufig in entgegengesetzter als der offiziellen Richtung entwickle.

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Das alles schreibe ich nicht aus Großrederei, sondern weil ich weiß, dass es Sie interessiert. Ich fühle mich selbst nicht ganz geheuer dabei, denn ich weiß, wie weit abseits vom wahren Leben der Kunst all das geschieht. Aber zum Wachsen tut es jeder Pflanze gut, zuweilen begossen zu werden und ich hoffe, es ist noch nicht zu spät dazu.

Etwas noch zur Auswahl der Bilder: ich entschloss mich – wenn auch nicht leicht – dazu, bei Ihrer Sendung diesmal die großformatigen Arbeiten wegen der zu hohen Transportkosten wegzulassen, die Auswahl wurde dennoch, hoffe ich, nicht zu karg. Die Bilder entstanden alle in den letzten 2 – 2 ½ Jahren und wurden nirgends ausgestellt. Dass ich so bald nicht mehr ausstellen möchte, sagte ich Ihnen. Es wird nur gut sein. Ferner wird eine kleine Kiste mit Graphiken mitgehen – mit ein paar kleineren Aquarellen, ganz wenig großen Aquarellen, Zeichnungen und Holzschnitten. Hoffentlich haben Sie mit der Sendung nicht zu viel Mühe und ein wenig Freude. Lieb ist mir der Gedanke, dass die Bilder, bevor sie endgültig an mich zurückgehen, auch von Ihnen und Ihren Freunden angeschaut werden. Herrn Delius schreibe ich auch heute, bei Gelegenheit empfehlen Sie mich bitte Herrn und Frau Buddeberg. Nehmen Sie beide recht herzliche Grüße von meiner Frau und Ihrem getreuen Werner Berg

Viele Grüße bitte auch an Ihr Fräulein Tochter und Herrn Arnold!

Zu der Bildersendung:

Die Transportkosten möchte ich später mit Ihnen verrechnen. Ich weiß die Höhe nicht, ich wünsche sie wären erträglich.

Die Auswahl war nicht leicht. Die größeren Arbeiten ließ ich der Fracht wegen weg. Aber es sind auch so manche der mir liebsten Arbeiten dabei. Ungerahmte Bilder hätten nicht mitgeschickt werden sollen, vielleicht haben Sie bei Gelegenheit die Güte, die Rahmen auszuwechseln. Es passen andere auf die Bildgröße 75 x 95.

Die Preise setzte ich etwa an: bei den Ölbildern von M 300 – 800. Die kleineren Formate gegen die untere Grenze, „Theresa“ und „Mutter mit Säugling eingeschlafen“ an der oberen. Holzschnitte M 20 – 30, Zeichnungen M 70, kleine Aquarelle M 50, große Aquarelle M 80. Die einzige Arbeit, über die ich nicht verfügen kann (falls sie dabei ist), ist die Zeichnung des Bauers, der unter dem Hut hervorschaut.

Einzig mit den großen Aquarellen ist es ein Malheur. Das schönste Blatt, das ich gern in Bielefeld gewusst hätte, blieb beim bayrischen Kultusminis-

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terium. Andere ließ sich von München Hanfstängl kommen! Mit welchem Ergebnis weiß ich nicht.

Die kleinen Aquarelle sind Ihnen vielleicht etwas zu anspruchslos. Sie entstanden im Winter, als ich den operierten Arm in der Binde trug. Ich möchte mich zuweilen in der kleineren Form versuchen. Ich aquarelliere nicht viel.

Die Holzschnitte waren mir immer besonders nah. Es bestehen nur selten über drei Abzüge, doch kann ich, falls notwendig, nachdrucken.

Bei den Zeichnungen dürfte das Blatt, das ich meinte, doch schon weggenommen sein. Beim Zeichnen mit der klaren Linie suche ich anderes als beim Malen mit der Farbe. Ist wohl selbstverständlich. Akademismen sind es nicht.

Rücksendung bitte später an Spedition Gebrüder Watsch, München für „Alte Pinakothek“.

Die Rücksendung ist an kein Datum gebunden. Wie lang dachten Sie die Bilder dort zu halten? Einen Monat? Im Sommer nur hätte ich gern die Bilder wieder hier. Wären die Menschen nicht in Allem und von je eine so schlampige und schwer bewegliche Gesellschaft, dann müsste die Sendung schon zwei Monate früher bei Ihnen gewesen sein.

Verkäufe: Sollten Ihre Bielefelder Kunstfreunde etwas halten wollen, so ist mir das lieb. Ich brauch es wohl nicht sagen: das Bildergeschäft ist mir ein Gräuel. Wie aber könnte es nur anders sein, dass ich auf eine tragbare Grundfläche käme. Etwaige Überweisungen bitte an die Adresse meiner Mutter:

Clara Berg, Wuppertal-Elberfeld, Schwanenstr. 52.

Sollte sich aber eine Möglichkeit ergeben (bei etwaigem Verkauf), dass etwas nach hier überwiesen werden könnte, so wäre mir das sehr recht.

Schön wäre, wenn der so wohltuend unverbogene Dir. Nölle aus Wilten die Bilder sich anschauen könnte. Ich lasse ihn herzlich grüßen. Ob ein Dr. Fischereder aus Hannover kommt, weiß ich noch nicht. Falls ja, dann gewähren Sie ihm bitte freie Berg-Sicht. Ein etwas sonderbarer Onkel. Scheinbar hatte er keine schlechte Meinung von meinem Gepinsel. Auf eine Sendung aber, die er sich für sein Holzschnittbuch erbat und ich ihm schickte, antwortete er mit keinem Wort. Vielleicht ist das hannöversch.

Nicht zu vergessen: meine schönsten Grüße und Empfehlungen für Herrn und Frau Delius. Ich freue mich herzlich, dass die beiden meine Bilder besuchen werden. Von allen war übrigens noch keines ausgestellt oder weggeschickt.

Ich wollte, der ganze äußere, mir zu äußerliche Kram um die Kunst existierte nie. Doch darf ich bei Ihnen und Ihren Freunden vor Missverständnissen sicher sein.

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ÖLBILDERLISTE BIELEFELD: AQUARELLE BIELEFELD:

Theresa Kathi

Mutter mit Säugling eingeschlafen Tauwetter (Schneeschmelze)

Tigerlilie

Früher Schnee

März

Winternacht

Frischer Schnee

Schlafender Landstreicher

Holzfuhre

Betender Bauer

Der weiße Hahn

Bettlerkinder

Der Firmling

Frauenbildnis

Jg. Mutter m. Kind

Winterlandschaft (mit Hügel)

Stift Eberndorf

Winterlandschaft (mit Misthaufen)

Geschwister

Rotbärtiger

Kopf gegen Licht

Kinder im Schnee

Winterabend (Göpel)

Winterabend Vellach

Katharina

Herbstabend

36 SCHLAFENDER LANDSTREICHER, 1934
37 MUTTER STILLEND EINGESCHLAFEN, 1934 WINTERMONDNACHT, 1935

Die Passepartouts sind, hoffe ich, noch halbwegs in der Reihe. Kleben Sie bitte, falls notwendig, das eine oder andere Blatt nach.

Ob der bewusste Bruckmann-Aufsatz im Juni oder erst im Juli erscheint, weiß ich nicht. Wie ich hörte, wird das Bild „Winternacht“ farbig reproduziert. Hoffentlich wird die ganze Angelegenheit nicht zu ominös. Ich habe gelinde Befürchtungen.

Nun aber Schluss. Sollte ich etwas vergessen haben, so lässt sich das noch immer klären.

Herzlichst Ihr W. B.

Den schönen Mai-Monat habe ich – oh Schande – ganz in Holz verschnitten. Ich sende Ihnen eine Probe. Fürs Malen spüre ich starke Möglichkeiten, aber ich stecke in einer schweren Zeit jetzt und brauche noch Jahre. Es könnte werden!

Martha Becker, Bielefeld, 11. 5. 36

Lieber Herr und Frau Werner Berg

Seit Ihren Zeilen, die uns zur Geduld ermahnten, sind wieder fast vier Wochen vergangen. Es ist noch nichts hier. Wo bleiben die Bilder??? Wir warten alle so sehr darauf. Ich traf Frau Delius, die gleich danach fragte. Können Sie nicht in München erinnern, dass sie nach hier sollen?? Die Zeit vergeht und wir behalten durch die Unruhe des Alltags, trotz großer und kleiner Sorgen um das, was aus uns Menschen wird, die schöne Erinnerung an Sie, lieber Herr Werner Berg, an die Stunden, wo Sie so klar über sich und Ihre Welt sprachen. Bewahren Sie sich den Hof und die Kunst, das sind zwei feste Burgen, wo Sie alle zusammen wohl geborgen sind. Oft kommen unsere Gedanken zu Ihnen, wenn wir in den Garten schauen und da – im Kleinen – die Dahlien stündlich belauschen und bewundern. Diese Zeilen heute nur, weil es nicht zum Brief langt mit der knappen Zeit. Herzlichst Ihnen allen H. u. M. Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 28. 5. 36

Lieber Herr Werner Berg, die drei Bilderkisten, nach denen wir lange ausgeschaut haben, sind heute angekommen und sofort ausgepackt. Einige hängen schon an den Wänden, die Ihnen zum Glück vertraut sind, so dass Ihnen das Schicksal Ihrer Bilder hier keine Besorgnis zu schaffen braucht. Wie schön, dass Sie hier gewesen

38 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

sind und dass wir uns zuletzt noch gesehen und gesprochen haben. Es war sehr lieb von Ihnen. Sehr dankbar sind wir Ihnen, dass Sie uns Ihre Bilder für einige Zeit anvertraut haben. Sie sind bei uns, wie wären es Ihre Kinder. – Es sind 15 Gemälde (12 gerahmt, 3 ungerahmt), 12 Aquarelle, 10 Zeichnungen, 24 Holzschnitte. Alles, soviel ich bis jetzt sehe, in bestem Zustand. Schreiben Sie mir, wie lange ich sie hierbehalten kann, was Sie zu verkaufen geneigt sind und zu welchem Preise. Ich hoffe, dass nicht alles nach Rutarhof zurückkommt. Einstweilen bin ich, sind wir alle, glücklich, Ihre Bilder bei uns zu haben, damit ein Stück von Ihnen. Wir denken oft an Sie, Ihre Frau, die neulich so gut geschrieben und Ihre Kinder. Heute lassen wir uns mit den Grüßen genügen, die wir dieser Karte anvertrauen. Vielleicht gelingt es doch noch einmal, Sie in Ihrer Wahlheimat aufzusuchen. Verleben Sie Pfingsten so schön, wie wir es tun werden im Anschauen Ihrer Bilder.

Herzlichst Ihr Heinrich Becker

Lieber Herr Werner Berg – wie glücklich sind wir diese Bilder hier zu haben und mit ihnen zu sprechen oder vielmehr sie sprechen zu lassen.

Vielen Dank – Ihnen allen ein schönes Fest. Bald hören Sie mehr, M. B.

Rutarhof, den 6. Juni 36

Liebe verehrte Herr und Frau Dr. Becker!

Nun muss es endlich Ernst werden mit der Schreiberei, seit Wochen trage ich schwer an dieser Absicht. Aber vom Tag, der mir zu sehr nur zerrissen und zu schnell gestohlen wird, muss ich mit Gewalt meist die zur Besinnung und Arbeit so notwendige Zeit retten, und das Schreiben bleibt. Dann denke ich auch: als Maler muss ich mich erweisen erst, denn anders wiegen auch die Worte nicht.

Heute aber soll geschrieben werden, zu niemanden täte ich es lieber. Auch passt es mit dem Wetter recht, das uns beim Mähen und beim Heuen etwas übel mitspielt. Seit einer Woche und noch zwei, drei darüber hinaus bin ich mit den Leuten alle Tage auf dem Kleefeld oder den Wiesen, deren wir auf unserem Berg ja riesig viele mit der Sense zu mähen haben, meist kurzes, zähes, aber gesundes Futter. Die Mahd ist allemal die hohe, aber auch schönste Zeit der Arbeit für uns, und die mache ich immer gern ganz mit, wenn ich auch sonst zu jeder Stunde weiß, dass ich auch andere Scheuern zu füllen habe. Nicht selten fluche ich auf die Wirtschaft mit ihren Tausend Sorgen,

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aber die Arbeit selbst, – wenn man sich ihr nur ganz hingeben könnte, ist immer herrlich. Aber: ich habe anderes zu tun, einmal ganz ausschließlich und unerbittlich. Im Juni soll dann immer noch gemäht werden, das macht die Knochen stark und den Sinn frei. Nicht leicht können Sie Herrlicheres sich vorstellen, als in der Früh mit der Sense auf den tauigen Berghängen zu stehen, in die Täler hinabzuschauen oder über die Nebel weg auf die Berge und Felsen, wenn nach der Dämmerung die Sonne sie aufglühen lässt. Und wenn die Felsen dann später weiß schimmern, taghell stehen, und die gemähten Schwaden liegen lang Reih auf und ab, dann überkommt mich ein starkes und stolzes Fühlen in Liebe zu diesem Leben und Unabhängigkeit von den Menschen, wie ich es zu allen Zeiten leider nicht kenne.

Nun sind die Bilder doch noch nach Bielefeld gekommen, dass es so lange dauerte, lag nicht an mir, in München sind die Menschen von besonderer Art. Wegen der Sendung und des nun einmal unvermeidlichen Drum und Dran lege ich noch einen Bogen bei. Die Bilder jetzt bei Ihnen zu wissen ist mir ein lieber Gedanke, gerade weil sonst der Betrieb um die Kunst in seinen Formen so unheimlich und sinnzerstörend ist.

Gern möchte ich Ihnen schreiben von dem, was mich dauernd bewegt, nur wird es mir leider so unendlich schwer, weil mir im Leben Auseinandersetzung, Reiben und dadurch Klären des Erkennens ganz fehlen. Einem Spüren folge ich nur und hoffe immer noch, einmal aus dem Leben die Gestalt zu gewinnen.

Doch kann ich nichts versprechen noch prophezeien und will vor Ihnen am wenigsten spiegelfechten. Nicht selten sehe ich in Verzweiflung den Weg zu Ende und versperrt, aber immer bleibt doch der Funke wach, und dieser ist ein Funke des wahren Feuers und meine einzige Rechtfertigung. Mit mir streben sicher heute viele in heißem Wollen, zu meinem Schmerze durfte ich auf Kameraden wahrer Gesinnung nicht stoßen. Ich weiß, wie peinlich Phrasen im Munde des Künstlers sind und Sentimentalitäten. Er soll arbeiten. Aber mir graust vor dem tausendfältig nur zu gut Gemachten. Der Grund des Lebens, auf dem ein Werk der Kunst sich erheben soll, kann nicht breit genug gelegt, dieses Leben nicht weit und voll genug gelebt sein. Der Wege sind sicher viele, und ich bilde mir nicht einen Augenblick ein, den einzig richtigen zu gehen. Aber unzählig sind die Irrwege, auf denen die Menschen mit Eile und Fertigkeit Scheinziele erjagen. Besser ist es, wenn es sein muss, zu zerbrechen, und auch dazu bin ich bereit.

Sie haben jetzt einige meiner Bilder um sich. Ich wollte, Sie möchten darin einen Hauch nur des Lebens erkennen, eine Schwingung, von der sie sel-

40 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

ber leben. Einmal muss daraus, wenn das Bilden Sinn haben soll, klare feste Form werden. Dazu brauche ich ein langes Leben und mehr Gunst des Schicksals, dass ich ohne Druck und Enge einmal arbeiten, nur arbeiten kann. Aber kommt es denn wirklich auf mich an? Auf jeden kommt es an, und ich will nicht ablassen.

Wie oft nicht habe ich mir mit ganzem Ernst gesagt: lass dieses Malen, bestell den Acker, nutze den Tag und du rettest das Leben dir und den Deinen. Aber: ich kann es nicht und so bin ich – Maler. Ein anderer sagt: wir malen, wie der Vogel singt. Ein schönes Wort. Aber aus den Bildern dieses Malers hören wir kaum mehr ein Zwitschern. Nein, Vogelflug und -singen sind unser Menschenschicksal nicht, und dem Größten war es nicht gegeben Sehnsucht und Ahnen zu greifen. Nur stark und mächtig war er ergriffen.

Auch die Kunst ist kein göttlich Tun. Ist Menschenwerk und -streben, aus starkem Leben und hohem Sinnen aber kann sie nur werden. Zerbrich mich Herr nicht, damit ich mein Leben nicht verlebe.

Lieber verehrter Dr. Becker, liebe gütige Frau Becker, mit Ihnen beiden bin ich verbunden in dem, was sich die Menschen selten nur geben und einzig geben sollten: Wahrheit und Liebe. Sie hatten ganz Recht zu sagen: all mein Tun sei nur Anlauf. Hoffen will ich, dass es weitergeht.

Bleiben Sie, ich bitte Sie, weiterhin zugetan Ihrem getreuen Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 20. Juni 1936

Mein lieber Herr Werner Berg, solange Ihre Bilder hier sind, will ich Ihnen schon schreiben. Aber immer wieder verschoben, zuerst gewollt, nachher gezwungen, soll mein Brief Sie endlich erreichen, den ich Ihnen längst schuldig bin, erst recht, nachdem Sie mir und meiner Frau so gut, so vertrauensvoll geschrieben haben. Erhalten Sie uns dieses Vertrauen. Dass ich Ihnen in den Jahren meiner öffentlichen Tätigkeit begegnet bin, ist mir ein wahrer Trost und hilft mir, an das Fortleben der Kunst unter den Menschen zu glauben. Sie müssen aus meinen Worten vor allem den lebendigen Widerschein Ihrer Arbeit wahrnehmen, müssen fühlen, mit aller Deutlichkeit, dass Sie Menschen etwas zu geben haben, dass andere sich an Ihren Werken nähren und stärken. Behalten Sie um alles den Glauben an den Ihnen gewordenen Auftrag. Wer ihn erteilt, kann Ihnen nicht zweifelhaft sein. Bleiben Sie sich selbst getreu wie bisher. Das andere steht in Gottes Hand.

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Ich selbst? – Zuerst habe ich mir mit ausgeschnittenen Bildern, die ich aufzog, geholfen, dann habe ich viele Jahre Kunstkritik geschrieben, das fing vor fast 30 Jahren an, – bis ich die öffentliche Kunstpflege in Bielefeld in die Hand nahm. 10 bis 11 Jahre hat das gewährt. Das Ziel war weiter gesteckt, als in der Zeit erreicht werden konnte, bei so geringer Resonanz zumal. Nun gehe ich mit der Kunst um, wie mit den Blumen im eigenen Garten. Ich pflege sie, hüte sie vor falschem Zugriff, freue mich an ihrem Blühen und hole andere heran, um gemeinsam zu schauen und zu bewundern. In diesem Zustand bin ich jetzt, wo Ihre Bilder zu mir kommen. Wir haben sie in unseren Wohnzimmern, die Sie kennen, aufgehängt und freuen uns jeden Tag neu. Wir werden nicht müde, sie anzuschauen, uns ist, als wären Sie selbst in Person ganz nahe. Schlimm, wenn das alles verschwindet. Aber der Abglanz davon bleibt und verbindet sich mit dem Geist, der in diesem Hause lebt. Alle Ihre Bilder graben sich tief in unser Inneres. Dass wir Ihnen sehr dankbar sind, müssen wir Ihnen sagen, sagt aber kaum alles. Natürlich ist, dass wir Ihre Bilder allen unseren Freunden zeigen. Jeden Tag ist irgendwer hier und, sehen Sie, hindert mich am Schreiben. Gestern hatte ich mir diesen Briefbogen bereitgelegt, da kommen wieder Leute durch den Garten geschritten und wollen Ihre Bilder sehen, zwei Stunden – und ich konnte wieder nicht schreiben. Aber es ist am Ende nicht das Wichtigste. Möchten nur noch viele kommen, ich will gern mit Ihnen teilen. Wenn Sie die Bilder hier aufgehängt sehen könnten, würden Sie sich auch freuen, denken wir uns. Bilder haben ja eine merkwürdige Verwandlungsfähigkeit. Sie wirken hier sicherlich anders als in München, im Sommer anders als im Winter, am Abend anders als am Tage, vor Menschen mit Herz anders als vor Kaltschnäuzigen. Sie sind doch Lebewesen, wenn auch nur von Menschen geschaffen und für Menschen bestimmt. –Nun wollen Sie gewiss hören, welche Bilder ich am meisten liebe. Das sind ganz besonders die mit Menschen. Die eingeschlafene Mutter bei Kerzenlicht, die kleine Theresa, den Schläfer draußen in der Nacht, den betenden Wallfahrer. Die Bilder Ihrer Frau sind besonders schön und innig. Ich liebe sie aber alle, keins, das ich nicht gern immer wieder sähe. Überhaupt muss ich Ihnen sagen, dass keins Ihrer Bilder an Stärke abnimmt, dass sie uns jeden Tag neu festhalten und überzeugen. Sagen ließe sich vor den Bildern noch viel, aber Sie sind weit weg. Ich hoffe, dass es uns noch einmal möglich wird, Sie mit Frau und Kindern auf dem Rutarhof zu besuchen. Aber es ist vielleicht zu schön, um daran jetzt zu denken. Sie, Ihre Frau und Ihre Kinder müssen deshalb mit unseren Grüßen vorliebnehmen, aber es sind die herzlichsten, die lebhaftesten, die wir Ihnen allen schicken können.

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Nun zu den praktischen Fragen. Die Sendung geht Anfang Juli, ich denke bis spätestens 10. Juli, an Gebrüder Wetsch in München für die Alte Pinakothek zurück. Sie erhalten dann Nachricht. Über die Verrechnung machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wenn Sie überhaupt verrechnen wollen, bitte ich für den Kunstverein, der die Kosten übernimmt, den einen oder anderen Holzschnitt hier behalten zu dürfen. Für die Sammlung des Kunstvereins möchte ich außerdem ein Aquarell oder eine Zeichnung zum Ankauf vorschlagen, vielleicht auch noch einige Holzschnitte. Dürfen wir dafür, ohne unbescheiden zu sein, die in Ihrem Brief enthaltene untere Preisangabe von 20 M in Anspruch nehmen? Auch ich selbst würde gern die Zahl der Holzschnitte, die Sie mir so freundlich verehren – sie sind richtig angekommen – gern um einige vermehren. Darf ich den gleichen Preis dafür zugrunde legen? Ja, mein lieber Freund, wenn ich ein vermögender Mann wäre, behielte ich den größten Teil Ihrer Sendung für immer hier. Mich wundert fast, dass andere nicht auf solche Gedanken kommen. In diesen Jahren muss ich anderen die Vorhand lassen und habe mich entschlossen, vor Herrn Delius zurückzustehen, wenn er das schöne Bild Ihrer Frau mit der Alpenrose kaufen will. Schreiben Sie mir bitte bald, um welchen Preis Sie es ihm überlassen würden. Zahlung müsste, wie er mir sagt, in Raten geschehen. Wenn ich den gleichen Vorzug haben könnte, würde ich gern eine der Zeichnungen für mich zu erhalten suchen, am liebsten ein Blatt nach der jungen Mutter oder die Wöchnerin. Ein Aquarell habe ich an einen Besucher abgetreten, es ist das Blatt „Winterabend“ mit den vier Trockenpuppen vorn. Als Preis fand ich den von Ihnen vorgeschlagenen von 50 M nicht für angemessen und habe 80 M gefordert, aber versprochen, Ihnen in der Sache noch einmal zu schreiben. Wenn Sie mir die Möglichkeit lassen, zwischen 70 – 80 M zu wählen, wird die Erwerbung zweifellos endgültig. Bezahlung ist nur an Ihre Mutter möglich. Ob noch anderes zu erwarten ist, sehe ich noch nicht, gebe Ihnen aber dann gleich Nachricht. Immerhin möchte ich Ihnen den Vorschlag machen, Ihre Mappe für weitere, spätere Gelegenheiten hier zu lassen. Wenn Sie neu drucken, können Sie gewiss entbehren und auch weitere Drucke senden, wenn sie hier mehrfach gewünscht werden. Selbst in Deutschland lassen sie sich von hier aus leicht verschicken. Bedenken Sie diesen Vorschlag und schreiben mir Ihren Wunsch. Nun habe ich noch eine Frage. Im Oktober des Jahres macht der Kunstverein im Kunsthaus eine Ausstellung von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen, vielleicht auch etwas Graphik. Eingeladen ist die Vereinigung „Der Norden“ (Benkert, Weidemann u.a.), Geiseler in München, Jaenisch und Graf Merveldt in Berlin. Auch für einige Ihrer Bilder würden wir Platz finden, wenn Sie Nei-

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gung haben, Ihre Arbeiten in dieser Verbindung zu zeigen. Dass wir es gern tun, wissen Sie. Aber Sie müssen sich ohne die leiseste Nötigung entscheiden, ob Sie an der Ausstellung sich beteiligen wollen! Wenn ja, wäre zu überlegen, ob die dafür bestimmten Arbeiten nicht bis Oktober hier blieben. Im anderen Fall schicke ich sie, wie gesagt, Anfang Juli nach München zurück.

Lieber Herr Werner Berg, Sie haben uns durch Ihre Bilder und Zeichnungen und Holzschnitte, die ich sehr liebe, viel Freude gemacht, dass wir Ihnen allein dafür aufrichtig dankbar sind. Die Sommersonne wirft auf Ihre Bilder einen so schönen warmen Schein, dass sie recht von innen her leuchten. Über dem Klavier hängen die sterbenden Blumen im Schnee und sind von unsagbarem Zauber, nicht minder als die Blumen, die draußen im Garten prangen. Und die herrlichen Malven der Theresa! – Genug, ich hoffe Sie fühlen, wie sehr Sie uns beglückt haben, und denken manchmal hierher an Ihre guten Freunde.

Ihnen, Ihrer lieben Frau und den Kindern viel, viel Gutes wünschend

Ihr Heinrich Becker

Grade dabei, Burckhardt-Briefe zu lesen, schreibe ich Einiges daraus für Sie hin:

„Sie träumen also nicht mehr von einer poetischen Existenz, wo einem die gebratenen Eichendorffe ins Maul fliegen. Gerade wer in seinem Leben einen großen und starken idealen Gehalt braucht, muss in unserem Jahrhundert am allermeisten auf eigenen ökonomischen Füßen stehen. Bilden Sie diesen Ehrgeiz, diesen Stolz in höchstem Grade aus! Da die Welt wenig von uns will und wenig annimmt, so dürfen wir auch von ihr wenig annehmen.“ (1856 an einen Schüler Burckhardts geschrieben).

Anderes doch lieber ein andermal, damit noch Platz für meine Frau bleibt.

Lieber Herr Werner Berg.

Ihre Bilder haben eine neue schöne Welt um uns geschaffen. „Schöne“ ist nicht ausreichend als Ausdruck. Wir gehen täglich mehrere Male von einem zum anderen und täglich erschließt sich etwas Neues. Die Bilder sind stark durch den inneren Gehalt, nicht zu erschöpfen in der Art, wie sie gestaltet sind und gemalt. – Jedes für sich ein Ganzes und doch bilden sie eine geschlossene Einheit, steigern sich gegenseitig. Wir lieben sie alle und sie hängen so, dass

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sie wie für den Platz geschaffen erscheinen. Könnten Sie und Ihre Frau nur kommen und sehen! Alle unsere Besucher sind davon erfüllt und weilen auch lange in der Betrachtung Ihrer Werke. Es wird auch einiges hiebleiben, was Ihnen doch recht sein wird. Wir sind Ihnen so dankbar die Bilder hier bei uns zu haben, so dankbar für die drei Holzschnitte, die so wunderbar sind im Ausdruck. Seit der Ausstellung von 32 haben Sie eine starke Entwicklung durchgemacht; und Sie dürfen nicht aufhören weiter zu schaffen, trotz der anderen wichtigen Arbeit die täglich auf Sie wartet und eine so fördernde Grundlage bildet für Ihr Schaffen. Es ist alles so echt, so klar, so tief empfunden, nichts ist erzwungen oder nur gemalt um zu malen. Jedes birgt noch mehr – ich möchte von jedem Bild zu Ihnen sprechen, vielleicht nächstens. Dieser Brief soll schon so lange zu Ihnen, aber wir werden immer abgehalten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Bilder uns verlassen werden, so viel beschäftigen wir uns mit ihnen. Es ist wirklich beglückend. Die Gedanken gehen viel zu Ihnen mit dieser Zuversicht, dass Sie dort in Ihren Bergen frei arbeiten, dass noch viel zu malen ist. Bald schreiben wir wieder, es ist noch so vieles über alles zu sagen.

Ihnen, Ihrer Frau und den Kindern meine besten und dankbaren Grüße

Martha Becker

Dr. Heinrich Becker, Bielefeld, 23. Juni 1936

Lieber Herr Werner Berg,

Meinem Brief vom Sonntag, der jetzt vielleicht in Ihre Hände gelangt, muss ich heute schnell noch eine kurze Anfrage hinzufügen. Einer meiner Freunde fängt an, sich lebhaft für Ihr Gemälde, „Winternacht“, mit dem großen Baum und dem Mond dahinter, zu interessieren, und möchte gern den Preis wissen, für den Sie ihm das Bild überlassen würden. Ich konnte ihm nur sagen, wie es in Ihrem vorigen Brief hieß: zwischen 300 und 800. Schreiben Sie mir doch bitte, wenn Sie können und mögen, einen festen Preis für das Bild. Für den Kunstverein erwerben wir, hoffe ich, ein Aquarell, wahrscheinlich „Stift Eberndorf“, und eine Ihrer schönen Zeichnungen. Holzschnitte können in der kommenden Zeit immer noch nachgeholt werden. Wie sehr ich Ihre Holzschnitte schätze, kann ich nächstens noch einmal schreiben. Heute muss es schnell gehen. Nur noch die Nachricht, dass ich gestern auch an Ihre Mutter geschrieben habe.

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Wir leben diese Wochen ganz mit Ihnen und schicken Ihnen und Ihrer Frau in Gedanken die schönsten Blumen unseres Gartens. Die Rosen blühen wie im Taumel. Seien Sie beide herzlich gegrüßt von meiner Frau und Ihrem Heinrich Becker Rutarhof, den 30. Juni 36

Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Becker!

Ein anderes besseres Mal werde ich Ihnen zurückschreiben. Meine innere Spannung ist wieder einmal hin von dem bisschen Malen, und dann fürchte ich mich ein Dankeschön zu setzen für das, was mich so selten wie selbstverständlich mit Ihnen verbindet.

Jetzt will ich mich nur auf das „Geschäftliche“ beschränken. Es tut sich ja sehr viel in Bielefeld, und – bei allem Für und vielem Wider – muss es mir sehr lieb sein.

Grundsätzlich: verfahren Sie in jedem Einzelfall nach Ihrem Ermessen, selbst in dem so denkwürdigen Fall einer notwendigen Preiserhöhung (!). Auch die Festsetzung der Holzschnittpreise ist mir – natürlich – recht, auch bin ich immer mit ratenweiser Zahlung einverstanden – wenn erst in Elberfeld einmal etwas für mich liegt, dann habe ich schon sehr viel mehr Freiheit in der Beschaffung des Materials und anderer notwendiger Dinge.

Mit dem Brief an meine Mutter, der ihr hierhin nachgesandt wurde, haben Sie mir einen wahren Freundesdienst erwiesen. Überweisungen kann nun in ihrer Abwesenheit auch mein Bruder annehmen, – Geld hierher zu bekommen ist jetzt ganz unmöglich. Auch haben wir es so vereinbart, da man sich vor allen Schwierigkeiten und Komplikationen nicht mehr auskennt, – dass ich meiner Mutter zum Dank für ihre Unterstützung meine Arbeiten übereigne, sodass diese dann von meiner Mutter gekauft würden.

Wegen der Ausstellung im Herbst und über so manches andere schreibe ich Ihnen sehr bald. Sollten Sie es gern wollen, so halten Sie die Arbeiten ruhig noch etwas länger da, – so gut und schön werden sie es nicht bald wieder haben. Dann freilich muss für dieses Mal wegen der Zollvormerkung etc. bis auf das, was in andere Hände übergeht, alles über München zurückgesandt werden. Später schicke ich Ihnen eine Reihe aller Holzschnitte, auch der neuen, entsprechend Ihrem schönen Vorschlag.

Lieber, verehrter Herr Dr. Becker, solche Dinge wollen erledigt sein. Wir wissen, dass es um anderes geht. Heute weniger denn je kann ich meine Worte

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mit dem erfüllen, was auf dem Grund meines Fühlens ruht, und vom dem ich so gern möchte, dass es zu Ihnen hinüberklänge.

Nehmen Sie viele herzliche Grüße, Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin, von meiner Frau und Ihrem treuergeben Werner Berg.

Clara Berg, Rutarhof, den 30. 6. 36

Sehr geehrter Herr Doktor!

Große Freude machte mir Ihr lieber Brief, der mir zum Rutarhof nachgesandt wurde. Ich bin nun schon seit Ostern hier und gedenke bis 1. Oktober zu bleiben. Bei der großen Wirtschaft und den vier Kindern ist eine Oma schlecht zu entbehren, zumal die zwei Kleinsten von ¾ und 2 Jahren viel Arbeit machen.

So schön ist es, dass Sie sehr geehrter Herr Doktor solches Interesse an meines Sohnes Arbeiten nehmen. Leider ist mein Sohn so weit von allem entfernt, was ihm Anregung und Aufschwung geben könnte und Ihre Anteilnahme bedeutet ihm unheimlich viel. Er hat es nicht leicht und nimmt es nicht leicht und zu allem kommen noch die großen Sorgen eines Gebirgsbauern und der Absperrung hier.

Wenn ich wieder in Elberfeld bin, werde ich Sie sehr gerne einmal aufsuchen. Einliegend eine Fotografie meines Sohnes, die ich noch vom vorigen Jahr habe.

Das Geld schicken Sie bitte an: Frau Clara Berg, Elberfeld, Schwanenstr. 52, wo es mein ältester Sohn für mich in Empfang nehmen kann. Sparkassen Konto haben wir nur vom Geschäft und möchte ich das Geld gerne privat erhalten.

Ich danke Ihnen nochmals herzlich für Ihre lieben, mich so erfrischenden Zeilen und bin mit herzlichen Grüßen für Sie und Ihre sehr geschätzte Gattin

Ihre Clara Berg Gallizien, 11. 7. 36

Lieber, sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Von einer Kartoffelfuhre zum Klopeinersee komme ich zurück und finde Ihren lieben schönen Brief vor. Ich radle nun gleich nach Gallizien, um diesen kurzen Bescheid noch heute aufgeben zu können.

Bitte haben Sie die Güte, die Arbeiten nach München zurückzusenden. Ans Ausstellen mag ich noch nicht denken. Als dann bitte ich Sie, das Bild der

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jungen Mutter (oder was immer es sei), falls Sie das möchten, bei sich zu halten und die Regelung einer sehr viel ferneren Zeit zu überlassen.

Die Ergebnisse dieser „Veranstaltung“ – der schönsten, die ich mir je wünschen konnte – sind in jeder Weise überraschend schön.

Aufs herzlichste dankt Ihnen beiden Ihr Werner Berg

Rutarhof, den 20. Juli 36

Liebe, sehr verehrte Herr und Frau Dr. Becker!

Zeit wird es, dass ich meinem letzten eilig-kargen Bescheid einige Zeilen folgen lasse. Jetzt ist die große Erntezeit auf den Feldern, viel, viel Arbeit und immer zu wenig Zeit. Doch gehe ich – es muss nun einmal sein – dem Malen nach und hoffe auf meine ferne Ernte, dass sie nicht verdorre oder niedergeschlagen werde.

Ihrer beider letzten Briefe waren mir eine große Freude. Ja, verehrter Dr. Becker und verehrte Frau Dr. Becker, was zu spüren ist zwischen Menschen, das spüre ich bei Ihnen beiden. Ihr weites Verstehen und ihr feiner Menschentakt geben mir mehr als alles andere Kraft in einer Zeit, deren ganze Schwere ich noch zu überwinden habe. Leid tut mir nur oft, dass wir uns nicht öfter sehen und sprechen können.

Die geschäftlichen Dinge sind wohl alle geklärt bereits. Ich muss zuweilen daran denken, dass Ihnen in diesen heißen Tagen und inmitten der Ferienvorbereitungen der Versand meiner Bilder noch so viel Arbeit macht. Aber es ist das Geringste von so vielem, dass ich Ihnen zu danken habe. Und die anderen Bilder führen sich hoffentlich bei ihren neuen Besitzern gut auf. Eine besondere Bitte habe ich noch an Herrn Delius: das Frauenbildnis einmal fotografieren zu lassen (wenn möglich 13x18), ich konnte das leider vor der Absendung nicht mehr besorgen.

Eine gute Reise wünsche ich Ihnen, Erholung und reiches Erleben in der sicher schönen Auvergne. Vor zwei Tagen habe ich meine Frau mit dem kleinen Veit auf die Bahn gebracht, sie hat in Wien einiges zu ordnen und wird auch, hoffe ich, ein paar Tage in Ruhe ausspannen – hier, wo sie bei jedem Schritt die herrlichste Natur umgibt, kann sie das nie haben. Sie lässt Sie sehr herzlich grüßen. Wir waren übrigens tief und freudig bewegt, als wir von der endlichen Entspannung der deutsch-österreichischen Beziehungen hörten, wir haben sehr unter dem unseligen Zwist gelitten.

Gern schreibe ich Ihnen wieder einmal mehr, auch über das Malen, aber zuvor muss noch einiges geschehen, denn das „male, Maler, male!“ ist auch

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für mich wichtiger als alles Quälen und Bohren. Vor einer Woche merkte ich das mit Deutlichkeit, als ich in einer Zeit sinnloser Verklemmtheit leicht und sicher eines meiner besten Bilder malen durfte: zwei Mädchen am Tisch, die eine vorn im Licht, die andere dunkel dahinter im sattgrünen Raum. Es ist gerade keine große, auch keine modern gescheite Angelegenheit, aber es hat sein Leben. Die Berliner Losung macht’s nun einmal nicht, die gestrige nicht und die heutige nicht. Auch sonst war ich nicht faul, aber zu tun ist noch unendlich viel.

Es grüßt Sie beide Ihr dankbarer und getreuer Werner Berg

Dr. Heinrich Becker, Bielefelder Kunstverein e.V., Bielefeld, 21. Juli 1936

Lieber Herr Werner Berg, nun sind sie wieder weg. Das Haus ist leer wie nach dem Besuch lieber Freunde. Geblieben ist Erinnerung, geblieben ist etwas von der Seele, die in den Bildern lebt und fortwirkt. Einiges ist noch hier: die ganze Mappe mit Holzschnitten. Auch das Bild „Junge Mutter“ habe ich einstweilen hierbehalten, es hängt noch an derselben Stelle und zeugt für alle anderen. Außerdem habe ich die Zeichnung der Wöchnerin, dieselbe, die in dem Bruckmannheft abgebildet ist, hier festgehalten. Wenn es Ihnen recht ist, vermindere ich den Preis um die Summe, um die die Aquarelle heraufgesetzt sind, was mir ganz in Ordnung erscheint.

Verkauft sind nun folgende Arbeiten:

Winternacht (Thermann) – 600 M

Frauenbildnis (W. Delius) – 400 M

Tigerlilien (Dr. Schuck) – 300 M

Stift Eberndorf (Kunstverein) 80 M

Winter-Aquarell (Dr. Angermann) – 80 M

Wöchnerin-Zeichnung (Becker) – 40 M

Herr Thermann schickt die 1. Rate Anfang August, die 2. Anfang Oktober, die 3. Anfang Dezember nach Elberfeld. Herr Delius wie im vorigen Brief mitgeteilt, Herr Dr. Schuck hat das Winter-Aquarell gegen die Tigerlilien umgetauscht und bezahlt; nachdem er mir heute 100 M gegeben hat, die morgen nach Elberfeld gehen, zusammen mit 40 M von mir, zahlt er den Rest in Raten am 1. September und 1. Oktober, spätestens bis ca. 1. November. Der Kunstverein bezahlt in den nächsten Tagen. Von Dr. Angermann schicke ich, sobald ich das Geld erhalten habe. Dieser letzte Fall ist noch nicht ganz geklärt, weil

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er noch lieber ein Aquarell mit sommerlicher Darstellung von Ihnen hätte. Wenn Sie also Blätter derselben Art und zu demselben Preis haben (80 M), bitte ich Sie, im September, nach der Rückkehr aus meinen Ferien, einige zu schicken, am besten ohne Passepartout, um das Paket handlicher zu machen. Wenn nichts Geeignetes da ist, bleibt er bei dem Winter-Aquarell. Ich hoffe, Sie sind mit der Ordnung der Dinge zufrieden.

Alles übrige, 11 Gemälde, 7 kleine Aquarelle, 3 große Aquarelle, 9 Zeichnungen – ist wohlverpackt, wobei sich meine Tochter Elise besonders eifrig bemüht hat, heute nach München abgegangen, wo es bis Sonnabend etwa eintreffen muss. Adressiert an Gebrüder Wetsch für Alte Pinakothek. Ich habe Briefe an den Spediteur und die Direktion der Alten Pinakothek geschrieben und diese letztere gebeten, Sie von der Ankunft der Sachen in München zu verständigen. Hoffentlich kommt alles gut an. Die Zeichnungen, die sich gelöst hatten, haben wir wieder befestigt, so dass Sie alles in gutem Zustand erhalten werden.

Damit ist der geschäftliche Teil meiner Bemühungen für diesmal erledigt und wir können uns in unseren Briefen wieder den künstlerischen und menschlichen Angelegenheiten widmen, die Ihnen und uns wert sind. Ihrer Mutter danken Sie bitte nocheinmal für Ihren Brief und das Bild, das sie mir auf meine Bitte geschickt hat, Ihrer Frau sagen Sie, dass sie durch Ihre Bilder in unserer Mitte ist, ganz in unserer Mitte, und dass wir uns freuen, sie einmal ganz lebendig zu sehen, hier in Bielefeld, wenn Sie die Reise einmal wagen können, oder auf dem Rutarhof, wenn der Weg für uns offen ist. Der Anfang ist ja gemacht, Sie können sich denken, dass wir uns freuen zu sehen, wie die Schrauben fallen, eine nach der anderen. Dieses Jahr rüsten wir nun zur Abreise in die Heimat meiner Frau. Montag, den 27. Juli gedenken wir abzureisen und sind bis 1. September wieder zurück. In der Zwischenzeit erreichen uns Ihre Nachrichten: 31, Avenue de Royat, Chamalières (Puy-deDôme)), Frankreich.

Das Leben der abgelaufenen Wochen ist für uns so gut wie ausschließlich ein Leben mit Ihren Bildern, fast als hätten wir sie gemalt und gezeichnet. Und meine Frau hat wirklich gezeichnet, um sich die Erinnerung der Bilder noch besser zu erhalten, sämtliche Bilder gezeichnet. Es ist nun alles unverlierbar bei uns eingeschrieben. Was heißt Kunstbesitz, wenn er nicht diesen Grad von Selbstverleugnung schafft, von Selbstvergessen und Selbstvergeudung.

Was nun noch hier ist, lieben wir als lebendige Zeugen aus dieser Zeit. Haben Sie Dank für alle Güte und Geduld, die Sie gehabt haben, und fahren Sie

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fort, wenn Sie können und mögen, uns von Ihrer Arbeit zu erzählen, von der bäuerlichen und der künstlerischen. Beide finden wir groß und schön. Wenn Sie neue Holzschnitte haben, schicken Sie sie uns zusammen mit der neuen Mappe, die Sie uns vor einiger Zeit in Aussicht stellten. Schicken Sie ruhig von einigen mehrere Exemplare, z.B. Heimkehr, Mutter und Kinder, Junges Pferd, Leidtragende u.a. Ich hoffe, dass sie im Laufe der Zeit manchem Freude bringen werden. Ihre Holzschnitte sind ein wichtiger Teil Ihrer Arbeit, scheint es, geworden. Fahren Sie damit fort.

Nun leben Sie wohl, mein lieber Werner Berg, grüßen Sie Ihre Frau und Ihre Kinder und bleiben uns verbunden wie bisher.

Herzlichst Ihr Heinrich Becker

Lieber Herr Werner Berg, welche schwere Trennung ist es gewesen, als die Bilder von ihren Plätzen abgenommen wurden – aber sie bleiben – in uns – nur manche werden wir hier wiedersehen und die anderen hoffentlich einmal bei Ihnen. – Die „Junge Mutter“ lieben wir sehr. Es waren so wertvolle schöne Wochen, die wir erlebten. Jetzt werden wir selber auch reisen – den Bergen meiner Heimat zu. Von dort werden wir Ihnen und Ihrer Frau einmal schreiben. Bis dahin nehmen Sie diesen raschen, aber herzlichen Gruß auch für Frau Berg Mutter und die vier Kleinen.

Martha Becker

Martha Becker, Chamalières, 22. 8. 36

Aus der alten schönen Auvergne senden wir Ihnen diesen kurzen Gruß, liebe Werner Bergs, um Ihnen zu zeigen, wie eigenartig der Berg ist, der dieser Gegend seinen Namen gegeben. Wir sind am 28. August wieder in Bielefeld. Schreiben Sie dorthin. Wir haben uns sehr über Ihren Gruß gefreut. Die Luft hier ist sehr heilsam für meinen Mann, hoffentlich ist bei Ihnen die Ernte gut. Nachher können Sie Bilder malen.

Viele herzliche Grüße von H. und M. Becker

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Rutarhof, den 1. Sept. 36

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Nun sind Sie schon wieder einige Tage in Bielefeld in Ihrem schönen Heim und verleben, so hoffen wir, diese schönen Spätsommertage erholt und gestärkt in guter Stimmung. Vor allem wünschen wir, dass Sie, verehrter Dr. Becker, gesundheitlich wieder ganz hergestellt sind, ich hatte ja keine Ahnung, wie sehr Sie in den letzten Jahren zu leiden hatten.

Ihnen, verehrte Frau Dr. Becker, danken wir herzlich für den lieben Kartengruß aus Ihrer Heimat, die schöne Aufnahme gibt den ganzen Zauber des uns fremden und zugleich fast vertrauten Landes. Die Kurve des Berges weckt den Gedanken an Cézanne und soviel andere große Malerei, die zu verkennen keinem guttut. So oft gingen im August meine Gedanken zu Ihnen in die Auvergne, ich hätte Ihnen immer einmal schreiben wollen und sollen. Doch hätte ich gern zuvor in den Atlas geschaut und Ihren Aufenthalt ausgekundschaftet, aber der ist, seit unser Knecht sich ihn einmal ausgeliehen hat, nicht wieder zum Vorschein gekommen. Aber jetzt wenigstens ein paar Zeilen nach Bielefeld zu schreiben, wohin ich mich auch ohne Geografie zurechtfinde, will ich nicht länger säumen, damit Sie mich nicht unter die treulos Undankbaren reihen.

Die Bilder aus München habe ich noch nicht zurück, für München ist das so in der Ordnung, und ich werde im September wohl auf drei Tage hinfahren müssen, bei welcher Gelegenheit ich dann auch Material fassen kann. Einiges Ungute hörte ich auch, aber gottlob besitze ich heute stärkeren Gleichmut, denn große Aufregungen über kleine Widrigkeiten zerstören nur zu leicht das Leben. Aus Berlin schrieb man mir, dass ich aus der Reichskammer der bildenden Künste ausgeschlossen sei, „weil ich meinen Kulturberuf außerhalb der Grenzen Deutschlands ausübe“. Mein Verdacht, dass diese Maßnahmen gegen mich und andere Maler persönlich gerichtet sei, bestätigte sich aber nicht, vielmehr hörte ich von einem Verwandten, der in Berlin vorsprach, dass es sich um eine generelle Verordnung handle. Angenehm ist das ja nicht (noch weniger gerechtfertigt), aber malen lässt es sich auch so. Mehr berührte mich eine andere Nachricht. Ich hatte – dieses eine Mal meine feste Absicht durchbrechend – bei einer Ausstellung des deutschen Künstlerbundes im Hamburger Kunstverein mitausgestellt, weil es, wie lange nicht, eine gesammelte Kundgebung unserer jungen Generation hätte werden sollen und Dr. Muthmann (ein Hamburger) wiederholt hierzu aufforderte. Meine Schwägerin in Wien schreibt, dass diese Ausstellung behördlich geschlossen und der Hamburger Kunstverein aus der Kammer ausgeschlossen worden sei. Ich

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selbst bekam noch keine Benachrichtigung. Aber ein Jammer ist es. Ich aber weiß umso fester, was ich für die nächsten Jahre zu tun habe: gesammelt zu arbeiten und nicht nach außen zu blicken.

In diesem Sommer habe ich nicht wenig gemalt, nicht gerade nach der Schnur, auch nicht die tiefsten Bilder, aber auch nicht schlecht. Ich muss lange noch suchen und wachsen, ich spüre es immer mehr, andere springen mit einem großen Coup auf die Bühne. Oft schmerzt es mich, aber im Grunde ist es mir lieb so. Umso glücklicher muss ich gerade in diesen Jahren über die Wärme Ihrer Teilnahme und die Selbstlosigkeit Ihrer Freundschaft sein. Und wie es sei und was werde: ich möchte und muss unablässig malen können, am liebsten möchte ich mich an die Pinsel klammern. Habe ich sie aus der Hand, dann bin ich wie der Soldat ohne Waffe im Kampf und die schlimmsten Feinde, die eigenen Gedanken, treffen tödlich.

Sollte es mir nicht vergönnt sein, Sie in nicht ferner Zeit wiederzusehen und zu sprechen, dann muss ich Ihnen des Längeren und Realen einmal meine innere und äußere Situation schildern. Dabei will ich Sie weder langweilen noch mit Geheimnissen überfallen, nur mag ich nicht, dass eine Spur nur von Illusionen den Grund mitbilde eines großen Vertrauens.

Auf einige Anfragen bin ich noch die Antwort schuldig. Wegen Dr. Angermann: sehr gern bin ich zu dem Umtausch bereit, nur bitte ich den Herrn, das Blatt einstweilen zu halten. Ich möchte ihm zur Auswahl neue und, wie ich hoffe, stärkere Arbeiten vorlegen. Gerade jetzt habe ich ein paar der größeren Blätter gearbeitet, und wenn mehr beisammen sind, will ich sie schicken. Aber lieb wäre mir, wenn das noch Zeit hätte. Dr. Fischereder aus Hannover (Peine bei Hannover) schrieb mir, dass er nicht habe nach Bielefeld fahren können, dass er aber in seinem Holzschnittbuch einiges abbilden wolle. Nur weiß ich nicht, ob ich die Reihe neuer Holzschnitte erst an ihn (falls er noch etwas davon aussuchen will) oder gleich nach dort schicken soll. Ein Brief für Herrn Delius ist lange auch fällig, der muss nun bald geschrieben werden. Wenn meine Mutter heimkommt, wird sie Ihnen eine ordnungsgemäße Bestätigung aller Eingänge schicken. Sie wird diesmal unsere Ursi mit nach Elberfeld nehmen und möchte so gern Sie auf eine Stunde einmal besuchen. Vorgestern war ich bei ihr am Wörthersee, wo sie nach vieler Arbeit und Aufregung etwas ausspannt. Wir machten einen Ausflug zusammen und bei dem strahlend schönen Tag überwältigte mich wahrhaft wieder die Schönheit des Kärntnerlandes. Ich dachte daran, wie gern ich es Ihnen zeigen würde und war froh, dass der Riegel der Gewalt nun nicht mehr diese schöne Möglichkeit versperrt.

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Habe ich mich bei Ihrem Fräulein Tochter für die große Mühe bedankt, mit der sie die Bilder verpackt hat? Ich tue es hiermit sehr nachdrücklich und einstweilen auf diesem Wege. Nehmen Sie viele herzliche Grüße von meiner Frau und Ihrem treuergebenen Werner Berg

Dr. Heinrich Becker, Bielefelder Kunstverein e.V., Bielefeld, 17. Sept. 1936

Lieber Herr Werner Berg,

Die Zeit geht mit solcher Eile, dass wir Mühe haben, mitzukommen. Ihr Brief, der uns bei unserer Ankunft in Bielefeld aufs Schönste erfreut hat, wird deshalb so spät beantwortet. Unsere Ausstellung, die wir für den Oktober planten und für die wir Sie ja auch eingeladen hatten, ist nun abgesagt. Gründe? Sprechen wir nicht davon. Es ist mit der Kunst doch ein rechter Kummer. Die Sache ist auch mit viel Zeitverlust verbunden gewesen. Wie gut, dass Sie in der Stille leben. Die Arbeit, die Sie Ihrem Land, Ihren Tieren, Ihren Blumen geben, ist nicht verloren, kommt auch Ihrer Kunst zugute, von der ich noch so viel erhoffe und mit der zu leben, mir und uns allen in meinem Hause, wohltut. In ruhigen Augenblicken sehe ich die Wände an, die nach Ihren Bildern rufen. Wie haben wir in Ihrem Reichtum und in Ihrer Güte geschwelgt, Wochen und Wochen. Das kann ich nun gar nicht mehr wegdenken. Gut, dass das kleine Bild mit Mutter und Kind hiergeblieben ist. Auch über die Gegenwart Ihrer Holzschnitte bin ich sehr glücklich. Wenn Sie neue Blätter haben, lassen Sie mich daran teilnehmen. Sie lassen sich ja leicht und sicher verschicken. Da ich hoffe, im Laufe der Zeit, für das eine oder andere Blatt hier neue Freunde zu finden, wäre eine zweite Reihe, mindestens der gut verkäuflichen Blätter, wünschenswert. Mit Dr. Fischereder in Peine halten Sie es, wie es Ihnen praktisch erscheint. Ich kenne ihn gar nicht und möchte wohl wissen, was das für ein Holzschnittbuch werden soll.

Mit der Angelegenheit Dr. Angermann, der das Winter-Aquarell erworben und ev. umtauschen möchte, steht es so: Zu den ersten Oktobertagen bezieht er sein neugebautes Haus und möchte zur Weihe und als Geschenk für seine Frau, Ihr Aquarell gerahmt an die Wand hängen. Wenn Sie ihm zu Gefallen sein könnten, wäre die Beschleunigung dieser Tauschsache ratsam. Sie sehen, ich stehe zwischen zwei Wünschen, Ihren und des Käufers, die ich beide berechtigt finde. Sie werden schon das Rechte tun.

Der Besuch Ihrer Mutter wird uns eine große Freude sein, nur darf er nicht so kurz sein, wie Sie in Ihrem Briefe schreiben. Und Ihre kleine Ursi wird sie gewiss mitbringen. Wie gern sehen wir die lebendigen Zeugen Ihres Daseins

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mitten unter uns! Dass wir dabei auch Ihre Frau lebhaft mitdenken, ist gewiss erlaubt, und da wir sie nicht in Person hier haben können, halten wir Zwiesprache mit ihrer bildlichen Gegenwart.

Von uns ist zu sagen, dass wir gestärkt und erholt heimgekehrt sind, und dass meine Genesung fühlbare Fortschritte gemacht hat. Und Sie haben recht, die Auvergne ist groß und schön. Sie würden sie auch lieben.

Zu brieflichem Besuch hoffe ich bald einmal wieder zu Ihnen zu kommen. Bis dahin für alle Tage herzliche Grüße, Ihnen und allen Ihren, auch von meiner Familie – Ihr ergebener Heinrich Becker

Beachten Sie den beiliegenden Ausschnitt, die Holzschnitt-Ausstellung in Warschau betreffend.

Rutarhof, den 12. Oktober 36

Lieber verehrter Herr Dr. Becker!

Heute sende ich sieben Aquarelle ab. Hätte ich gewusst, dass es dabei bliebe, dann hätte es längst schon geschehen können. Eine etwas verfahrene Geschichte leider.

Sie wissen, dass ich – leider und nicht leider – die Arbeit nicht serienmäßig erzeugen kann. Das hat sicher seine Nachteile und nicht nur äußere. So aber braucht alles seine Zeit und seinen guten Augenblick, zumal es in meinem Leben an Bindungen und Schwierigkeiten nicht fehlt. Vor der Staffelei stehe ich, wenn nur irgend möglich, und das muss in diesen entscheidenden Jahren so sein. Zur anderen Arbeit komme ich jeweils nur „anfallsweise“ oder bei besonderer Gelegenheit. Bei solcher Gelegenheit entstanden im Sommer diese Blätter, die ich nun endlich auf die Post geben muss, obschon ich sie lieber noch hier hielte, bis sich die Reihe etwas schließt. In diesem Herbst – das hatte ich mir seit Monaten vorgenommen – wollte ich, wie in früheren Jahren, einmal wieder ein paar Tage mit dem Aquarellzeug ausrücken (davon wollte ich dann auch einiges mit nach Bielefeld senden), und als es in der vorigen Woche glücklich soweit war, da fiel der Schnee Tag und Nacht und noch einmal Tag und Nacht. Das nasse Zeug blieb – auch hier viel zu früh –liegen, schwer und pappig über einen halben Meter hoch. Zu allen Stunden waren wir draußen, um den Schnee von den noch vollbelaubten Obstbäumen mit Stangen abzuschütteln, und dennoch war der Schaden leider groß. Auch Arbeit bleibt so viel und dringende unterm Schnee liegen, Kartoffeln, Rüben, Streu und manches noch, nur den Buchweizen hatten wir (er wird hier als Nachfrucht gebaut) mit knapper Not hereingeschafft und auch das nur dank

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der traurigen Tatsache, dass die Rehe ¾ der Ernte wegfraßen. „Die lieben Tiere“ sagt der Maler, „die verfluchten Biester“ jammert der Bauer.

Das war nicht schlecht gemeint und getan mit dem Hausen und Wirtschaften hier, den Plan halte ich immer für gut. Aber die Schwierigkeiten sollten nicht so viele und erdrückende sein, wie es hier nun einmal der Fall ist. Doch wollen wir nicht knieweich werden.

Dass Ihnen ein wohlbestelltes Feld verhagelte, tut mir herzlich leid, weh tut dieses laute Miss- und Nichtverstehen der Kunst. Auch ich habe einiges recht Üble wieder erlebt, aber es bringt mich nicht mehr sonderlich aus der Fassung. Über die Besonderheit meiner Aufgabe, die mir immer klarer wird, bin ich doch froh. Dass ich sie nur erfüllen könnte!

Das innere Befestigen in Besinnung und Einkehr erscheint mir weit notwendiger als Sensationen und Proteste, damit die Kunst nicht ohne alle Schwingung des Menschenherzens bleibe.

So vieles hätte ich Ihnen schreiben wollen, ich verschiebe es auf ein anderes Mal, da ich verkühlt, verklebt und reichlich zerfahren bin. Doch wollte ich die Blätter endlich abschicken. Bitte haben Sie die Güte, sie im Passepartout (sehr notwendig! – es gab das Ihrer Zeichnung) anzuschauen und zu zeigen. Falls Herr Dr. Angermann eines davon rahmen lassen will, so geht das sehr gut auch im kleinen Passepartout-Format (55 x 70). Sollte er von diesen Blättern keines recht wollen, so bitte ich ihn, den Tausch auf später zu verschieben. Sollte er nicht besonders den „Barockengel“ vorziehen, so behielte ich das Blatt gern. Die Aquarelle sind betitelt: „Abend am See“, „Bergfriedhof“, „Bergkirche“, „Barockengel“, „Stift Eberndorf“ (2x) und „Schneeballen und Klatschrose“. Sollte die Rolle ins Zollamt zuvor wandern, so lassen Sie die bitte (falls notwendig) dort vormerken wobei 20 M zu hinterlegen sind, die bei der Rücksendung wiedererstattet werden. Ich gebe immer den Wert eines Blattes mit 10,- an, so dass -,20 zu hinterlegen sind. An Dr. Fischereder sandte ich 20 Holzschnitte mit der Bitte, die bald an Ihre Anschrift weiterzubefördern. Er mag meine Holzschnitte, findet aber nur manche zu leer. Ich begreife diese Meinung sehr gut, glaube aber, dass in diesen Grenzen auch der Sinn dieser Holzschnitte liegt. Schönen Dank, dass Sie mich auf die Warschauer Ausstellung hinwiesen! Für Ihr Fräulein Tochter möchte ich bald eine ausgewachsene Leinwand verpacken dürfen, das wird mir viel Freude machen. Bitte nehmen Sie für heute mit den dürftigen Zeilen vorlieb, die eine schlechte Antwort auf Ihren schönen Brief sind. Bald will ich es besser machen. Meine Frau lässt Sie alle aufs Beste grüßen, in herzlicher Ergebenheit grüßt Sie und Ihre Frau Gemahlin Ihr Werner Berg

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Martha Becker, Bielefeld, 21. Okt. 36

Lieber Herr Werner Berg, aus der Fülle der Eindrücke, die in letzter Zeit uns stark beleben, gesteigert zuletzt durch die 9. Symphonie am selben Tag, wo Ihre Aquarelle an unseren Wänden so stark zu uns sprechen, komme ich endlich dazu, Ihnen zu sagen, dass Sie uns bei allem täglich sehr nahe sind. Sie, Ihre Frau, Ihr Heim, ihr Schaffen, Ihre letzten Briefe taten das Ihrige, um uns dieses Gefühl zu vermitteln; jetzt, wo neue Werke von ihnen hier sind, ist es noch intensiver geworden. Gehe ich oft am Tag von einem Bild zum anderen, so entdecke ich immer mehr, was Sie ausgedrückt haben. Die Landschaft wird durch Ihren Ausdruck eine reiche, fast symbolhafte Welt, die einen tief beglückt. Ganz besonders fesselt uns die breit angelegte Gebirgskette, vor der sich das Tal auch lang streckt – die beiden anderen mit den Kirschen; das Kreuz vor dem Gebirgssee ist ganz herrlich. Es geht uns wieder so, dass jedes uns lieb ist –dass man sich nicht wieder davon trennen möchte, weil täglich etwas daraus zu uns drängt und uns erfüllt. Ach! Es ist schön, dass Sie dort leben und so schaffen, dass wir daran teilnehmen können und innerlich Besitz davon ergreifen. – Wir möchten oft Ihnen sagen wie viele Zwiegespräche wir mit dem, was hier hängt, führen – erst mit dem Werk, dann mit Werner Berg, aber es ist eigentlich eins. – Unser Freund, der das Winterbild besitzt (ich gehe oft hin mit dem Wunsch es zu sehen!) ist täglich noch beglückt von dem Bild, das müssen Sie auch wissen. – So haben Sie schon hier eine Reihe Freunde Ihrer Kunst. Wir sprechen oft von Ihnen – besonders jetzt wo in unserer Familie sich manches verändert hat. Nach den Ferien ist, nach unserer Rückkehr aus Frankreich (ich denke, es kommt der Tag, wo die Auvergne Sie auch begeistern wird!), unser Freund, den wir so sehr schätzen, Sésées Verlobter geworden. Die Tage waren so erfüllt, dass wir Ihnen das nur mit der Anzeige mitteilen konnten. Ich sage ihm oft, dass Sie und er sich wunderbar verstehen würden. Alles was er von Ihnen gesehen hat, ist ihm nahe gegangen und liebt er. Mit einem äußerst lebendigen Innenleben, einer künstlerischen Natur, empfindet er alles stark mit, sucht selber im Wort eine Gestaltungsmöglichkeit und hat manches Wertvolle für sich geschaffen. So wird Ihr schönes Geschenk in diesem neuen Heim, das auch Raum für die Kunst sein soll, der schönste Beginn sein für die jungen Leute, um daran weiter zu lernen sich mit noch mehr zu umgeben. – Wir danken Ihnen sehr, als Eltern, für Ihre Güte, Ihre Wünsche. Diese haben mit jedem Menschen, der sie ausspricht, einen anderen Sinn. – Seitdem wir mit Bernd Eversmeyer so viel von Ihnen, Ihrer Frau, Ihrem Leben gesprochen haben, ist in mir der Wunsch immer stärker geworden, sie

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zusammen zu führen. Könnten Sie nicht, lieber Herr Werner Berg, im Winter nach Westfalen kommen, hier uns mehr Zeit schenken als das letzte Mal. Sie können doch mit mehr Ruhe die Wirtschaft im Winter verlassen? Oder nicht? Ihre Anwesenheit hier würde alle erfreuen, die von Ihnen etwas erworben haben und wir könnten so viel mit Ihnen besprechen. Diese Zeilen sollen aber nicht irgendeine Unruhe in Ihre Pläne, in Ihre Arbeit bringen. Sie sollen nur wissen, wie wir denken, was wir wünschen – wie wir uns über Ihr Kommen freuen würden. Wir finden in Sésées Verlobten so vieles, was stark und gut ist, dass wir diese engere Verbindung zueinander als ein besonderes Geschenk empfinden. Und unsere Tochter bekommt die schönste Aufgabe, die einer Frau zuteil werden kann, indem sie diesem Mann im Leben, in seiner Arbeit zur Seite stehen kann. –

In unserer jetzigen Freude ist nur eine dunkle Stelle: die Abwesenheit unserer ältesten Tochter, die noch in Madrid weilt. Trotz der guten Nachrichten, die wir von Zeit zu Zeit erhalten, warten wir sehr auf eine Klärung der Lage und wünschen recht, sie wiederzusehen.

Ich wünsche, es geht Ihnen beiden und Ihren Kindern gut. Wie gern würde ich sie alle vier sehen – später denke ich. Eigentlich geht täglich unser Dank zu Ihnen für alles, was Sie uns von Ihrem Leben schenken. Ihnen beiden noch viel Herzliches von Martha Becker

Lieber Herr Werner Berg,

Während ich im Musikverein Verdis Requiem geübt habe und noch ganz erfüllt bin, von der wunderbaren Klangwelt, hat meine Frau Ihnen geschrieben, und den Zustand, in den uns Ihre neuen Aquarelle versetzt haben, so deutlich gemacht, dass ich nur zu sagen brauchte: Gut so, schön so, besser hätte ich es gar nicht sagen können. –

Ich habe die Blätter, soweit ich konnte, in meine Wechselrahmen gelegt. Sie hängen an den Wänden und bezaubern uns täglich. Sie stehen Ihren Arbeiten anders gegenüber als wir, wissen genauer, was Sie künstlerisch noch nicht so realisiert haben, wie es in Ihrem Inneren dasteht. Auch wenn Sie nicht mit allem zufrieden sind, verlieren Sie nie den Glauben an die Kraft, die in Ihnen wirksam ist. Ich finde in Ihren Aquarellen wieder soviel Wesentliches, soviel Gemeistertes, dass Sie sich wie über Geschenke, die Ihnen gemacht werden, freuen müssen. Hören Sie auch nicht zuviel auf Ihren Doktor aus Peine. Ihre Holzschnitte sind nicht leer, sie sind lapidar, sparsam in den Wirkungsmitteln. Nicht alle sind in gleicher Weise gelungen. Wie wäre das auch möglich!

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Gleichgültig lässt mich keiner. Einige erfreuen mich tief und bleiben mir sehr nah. Sie werden vielleicht nicht immer bei dieser wortkargen Ausdrucksweise stehen bleiben. Aber ich warte nicht auf anderes, weil das, was Sie jetzt schaffen, sehr schön ist. Ob in der Mappe, die Sie nach Peine geschickt haben, neue Schnitte sind? Wenn Sie einmal hier sind – der Vorschlag meiner Frau gibt uns Hoffnung drauf – könnten wir über manches sprechen. Wie schön wäre es, wenn Sie wieder einmal hier sein könnten. Hoffentlich macht es Ihre Mutter wahr und besucht uns einmal mit Ihrem Töchterchen. Mit herzlichen Grüßen Ihnen, Ihrer lieben Frau und Ihren Kindern

Ihr Heinrich Becker

Sehr verehrte, liebe Frau Dr. Becker!

Rutarhof, den 28. Nov. 36

Drei Briefe sollten seit einem Monat schon geschrieben sein, aber wie sollte ich Armer es nur vermögen, ein solches Übermaß an Güte und Herzlichkeit zu erwidern, wie es mir aus dem Ihren entgegenschlägt! In den Kopf ist es mir freilich nicht gestiegen, wohl aber recht ins Herz gedrungen, wo es jene Wärme erzeugt, mit der es sich nun einmal so viel freier atmen und stärker arbeiten lässt. Ich darf annehmen, dass Sie mit mir miserablen Schreiber Nachsicht haben, und um die muss ich Sie für immer bitten, aber wissen müssen Sie auch für immer, wie meine, unsere Gedanken alle Tage zu Ihnen beiden gehen, und wie unendlich viel diese Verbundenheit für mich bedeutet. Ich möchte Ihnen das einmal besser sagen können.

Dass auch die kleine Sendung Blätter, die ich nicht mit besonders gutem Gefühl aufgab, so gut bei Ihnen aufgenommen würde, konnte ich nicht erwarten. Seitdem ist manches Neue entstanden und gottlob mit einigem Gelingen, wobei es mir eine bedeutende Erleichterung war, endlich auf besser zu bearbeitendes Material zu stoßen, denn ich habe mich in den letzten Jahren oft mehr als gut ist, damit herumgeschlagen.

Jetzt haben wir den Winter da, mit schärfstem Frost, und der lehmige Steig, durch den ich eben noch gestapft bin, und den ich mit den Herbstfeldern gemalt habe, klirrt frosthart unterm Tritt, und die ganze Welt ist vom schweren weißen Reif verzaubert. Die Schönheit dieser Welt könnte einem den Brustkasten sprengen, doch besser noch würde sie die Kräfte des Malers verhundertfachen. So aber muss ich mich damit begnügen, dass es nur weitergeht, und die feste Überzeugung zu haben, dass alles Mühen noch einmal fruchtbar werden könnte.

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Vor einer Woche kamen – endlich – die Kisten aus München zurück, es war doch ein schönes Wiedersehen mit den Bildern, und seit wir sie wieder bei uns haben, fühlen wir uns trotz allem, was inzwischen gepinselt wurde, reicher. Bei allem aber war mir, als wären sie nur zu einem schönen, tiefen Zwiegespräch mit Ihnen fortgefahren. Der Ankauf des Bildes mit dem Apfelblütenzweig durch die Staatsgalerie wurde nun auch durchgeführt, doch erfuhr ich entgegen allen anfangs allzu tönenden Zusicherungen manches Üble von München her, – aber wie gering wiegt das alles, sobald ich an Beckers in Bielefeld denke. Bei Gelegenheit grüßen Sie bitte alle dort, die in so schöner Weise zu meiner Arbeit stehen. Besonders auch den Besitzer des Winternachtbildes. Ganz besonders auch Herrn und Frau Delius, – ich muss ihnen nun endlich schreiben und begreife selbst kaum, dass es noch immer nicht geschah ... Aufs Herzlichste danke ich Ihnen allen für die liebe Einladung. Zum Winter wird mit dem Reisen noch nichts werden, denn je härter der Winter ist, umso mehr Ruhe kommt über uns, und die will ich, so gut es nur geht, zur Arbeit nützen. Danach aber, vielleicht im März, reise ich doppelt gern ein paar Tage, und selbstverständlich gibt es von der Grenze weg keinen kürzeren und schöneren Weg als den nach Bielefeld.

Vielen Dank für den schönen Brief und die besten Grüße an Fräulein Sésée und ihren Mr. Futur. So sehr hoffen wir auch, dass Sie gute Post aus Madrid oder gar Ihr Fräulein Tochter selbst wieder wohlbehalten bei sich haben. Und wie jeder Gedanke und jedes Wort, gleich wie es überschrieben ist, immer an die lieben, verehrten Beckers sich richtet, so grüßen in Ihnen, Madame, den Herrn Musjeh mit aufs herzlichste Ihre treuergeben Werner und Mauki Berg

So gern hätte ich für Ihr Frl. Tochter jetzt das Bild aufgeben wollen, – das kann nun erst später sein. Dann wollte ich Sie gern bitten, als kleine Weihnachtsgabe das Bild der jungen Mutter zu behalten. Und sollte dafür – ich fürchte das – schon etwas überwiesen sein, dann können Sie es vielleicht –wenn irgend möglich – mit anderen Überweisungen verrechnen. Vielen Dank noch für den neuen Aquarell-Verkauf, von dem mir meine Mutter berichtet!

Rutarhof, den 20. Dez. 36

Meine lieben verehrten Beckers!

Einen Weihnachtsbrief hätte ich Ihnen schreiben wollen, recht und seit langem bedacht. Es kam anders. Ich kehre heim von meines Lebens schwerstem Weg, zu Freiburg im Breisgau begrub ich meinen lieben, treuen Freund, Kurt Sachsse. Er erschoss sich, einsam, in der Nacht zum 6. Dezember, sich ver -

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zehrend im Übermaß seines Glaubens und seiner Liebe zu den Menschen, bis zum letzten Hauch ringend um seinen ewigen Gott. Könnte ich Sie nur mitahnen lassen dieses tragische, dennoch große und schöpferische Geschick! Wir, meine Frau und ich, waren dem Freunde nahe, näher, als es nun einmal in den Grenzen unserer menschlichen Verhältnisse sein kann, doch das Leben fortan lebt mit und in uns der Freund, und ihm gehört unsere Liebe und Güte, die wir im Leben genug ihm nicht geben konnten.

Tief bin ich verpflichtet, des Freundes Vermächtnis zu hüten: das Bild und Andenken eines reinen Menschen und das Werk eines wahren Künstlers. Das ist nun, ernstverbunden, mit Aufgabe meines Lebens, und wie nur je bitte ich den Herrn, meine schwachen Kräfte zu erhöhen.

Sie noch, unsere verehrten und geliebten Beckers, dürfen wir Freunde nennen. Möchte das Schicksal, das uns zueinander führte, nie weh als Irrende uns trennen!

Zum Weihnachtsfest grüßen Sie treu und von Herzen ergeben Ihre Werner und Mauki Berg

Martha Becker, Weihnachten 36

Liebe Herr und Frau Werner Berg, eben kam ihr Brief an, der so wunderbar tief und echt um den zu früh verlorenen Freund klagt. Sie legen in das Bild, was Sie von ihm machen, so viel wahre Bewunderung und Liebe, dass wir selber, ohne ihn gekannt zu haben, spüren, dass wir Menschen alle einen Freund verloren haben. Es liegt aber eine große Tragik in seinem einsamen Kampf mit sich und der Welt, ein Kampf, der ihn zur Trennung gezwungen hat.

Wir kommen gleich zu Ihnen beiden, um Ihnen unser Mitgefühl zu sagen, wir spüren so sehr, dass Sie recht, recht schwere Tage durchgemacht haben, dass noch lange in Ihnen ein Schmerz bleiben wird. – Wir können nur Ihnen selbst sagen, dass wir den Tod nicht als Trennung empfinden, sondern als Verwandlung; neulich las ich noch in einem Nachruf: „il a cessé de vivre pour être“ (er hat aufgehört zu leben, um zu sein).

Warme Freundschaft –

Wir reichen Ihnen die Hände mit Druck Ihrer Freunde Heinrich und Martha Becker

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1937 Werner Berg gerät durch die vielen Rückschläge des vergangenen Jahres und die nun völlig erloschene Möglichkeit mit seinen Bildern aufzutreten, in eine tiefe Schaffenskrise. Er versucht erneut den Kontakt zu Emil Nolde aufzunehmen, was aber nicht gelingt.

Im November unternimmt Werner Berg eine längere Reise über Bielefeld nach Paris. Er ist begeistert von der Metropole Paris und vor allem vom Louvre. Er besucht auch eine große El Greco Ausstellung und den Salon d‘Automne. Über die Weltausstellung schreibt er an seine Frau Mauki: „Der deutsche Pavillon ist wenig erfreulich. Mir kommt alles so vor, als ob nicht mehr das Schreiten und Vorwärtskommen die Hauptsache sei, sondern nur, dass man die Stiefel stampfen hört. Wie modern, wie frisch lebendig kommen andere Staaten daher.“

Werner Berg lernt den Dichter Walter Bauer kennen. Dieser schreibt an Werner Berg: „Wie schön ist es , in seine Mühe versenkt von irgendwoher eine Stimme zu hören – eine Stimme wie die Ihre – die ruft: Sieh auf, auch ich bin an der Arbeit, die einzig der Menschen würdig ist: Der Vermenschlichung der Erde.“

4. 1. 37

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Qu’est-ce que vous avez fait! Das war äußerst lieb von Ihnen, das Weiß aus Frankreich schicken zu lassen. Ich kann schwer noch feststellen, ob es die „Champ.-Kreide“ oder eine weiße Farbe ist. Jedenfalls haben sie toutes mes reconnaissances. Der Zoll war nicht unbeträchtlich, ich konnte das nicht mehr reklamieren, will aber bei Gelegenheit das noch am Zollamt sagen. Bitte danken Sie herzlich auch Ihrer Fr. Schwester in Chamalières in meinem Namen. Ich hatte große Freude und hoffe nun auch auf gute Arbeit.

Hoffentlich hat das Jahr gut für Sie alle begonnen und hat weiterhin viel Gutes für Sie bereit. Alles Gute für Ihre Frau Tochter!

Bitte lesen Sie von Walter Bauer: der Lichtstrahl (Deutsche Verlags-Anstalt). Das Buch wird Ihnen viel von einem besonderen Menschen sagen, bevor er zu Ihnen kommt. Hier ist’s sehr schön und sehr kalt. Trotzdem aber einen sehr warmen Gruß von Ihren getreuen W. u. M. Berg Grand merci pour la vente du Holzschnitt!

62 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS
63 WINTERLICHER REITER, 1937

Martha Becker, Clermont-Ferrand, 3. 2. 37

Liebe Herr und Frau Berg,

seit 14 Tagen bin ich hier, wo ich meinen alten, guten Onkel gepflegt habe – Sonnabend haben wir ihn begraben und es ist viel Schmerz, sich von dem besten Menschen zu trennen. Sein Beispiel, seine Güte, seine Liebe gegen jeden Menschen ist uns das Ziel für das eigene Leben geworden. – Wir konnten nicht schreiben, aber wir vergessen Sie nicht und wünschen Ihnen Kraft und Mut zur Arbeit. – Excelsior! Herzliche Grüße M. B.

Liebe, verehrte Beckers!

Zum Schreiben langt es nicht, aber einen Gruß muss ich Ihnen schicken, –ach könnte ich nur antworten auf Ihren schönen, schönen Brief, der bis ins Innerste mir drang! Sie schreiben aus Frankreich und sind auch an der Bahre gestanden, – ich weiß, wie das tut. Könnte ich Ihnen nur auch so große gute Worte sagen! Ihnen aber mit dem großen guten Herzen bleibt aller Sinn unverrückbar. Mich aber haben bald alle guten Geister verlassen und ich sollte mich nicht an die Freunde klammern, an die ich doch alle Tage denke. Hätte ich nur Kraft mehr und täte ein klares Werk, dann wollte ich Sie froher grüßen als Ihr allzeit getreuer Werner Berg

Mittwochabend, Poststempel 24. 2. 1937

Meine lieben verehrten Beckers!

Seien Sie, ich bitte Sie, nicht ungehalten über meine letzten Zeilen. Solche sollten ungeschrieben bleiben, das Gejammer ist erbärmlich, aber die paar verdrückten Worte mussten hinaus und Sie werden‘s gelten lassen.

Zwei Monate war ich dumpf und lahm, ohne Atem und Tun, es ging wahrhaft um die Existenz (nicht etwa die äußere, die dank Ihrer a.o. Bemühungen für eine Zeit sehr viel fester ist), dennoch begann ich zu arbeiten, es war ein bitteres Gemurkse. Ich hätt mögen ausgelöscht sein, von den Freunden vergessen, von den Meinen verstoßen.

Und jetzt, ich begreife es noch kaum, arbeite ich wieder, arbeite wie noch nie, es strömt recht und nicht aus enger Brust und verquält. Herrgott Himmel!, wenn es jetzt nicht wieder abreißt, kann alles noch werden, und alles Mühen kann noch zu einem lebenswerten Ziele führen. Lang wird es dauern zwar

12. 2. 37
68 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

und viel muss bis dahin überwunden und getan werden, aber es kann gehen und gebe der Himmel: es wird gehen.

Morgen ist Vollmond, hoch steht er und klar und rund schon überm Haus, die Schneefetzen leuchten durch die schwarzen Fichten. Der Tag heute war gelebt und gemalt. Bevor ich zum Haus hinuntergehe, muss ich Sie grüßen.

Auch dies wieder kein Brief. Vordem konnte ich Ihnen nicht schreiben, denn ich war ohne Ordnung, kaum noch glimmend. Jetzt kann ich nicht schreiben, weil ich in der Arbeit stecke und das Leben stark und heiß gewinnen will. Nur etwas Gnade!

Wenn sie können und mögen, beglücken Sie mich auch weiter zuweilen mit einem Zeichen, danken will es Ihnen immer und einmal auch manierlich beantworten Ihr treuergebener Werner Berg

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WERNER BERG MIT FAMILIE, 1937

Martha Becker, Dienstag, 2. März 37 Liebe Herr und Frau Werner Berg, als ich von Clermont wiederkam, fand ich Ihr Wort mit der Zeichnung des verstorbenen Freunds … ein wehmütiger Klang von Schmerz innerer Not. Ich wollte gleich darauf antworten, so nahe ging uns der Ausdruck Ihres Vertrauens, so gern hätten wir Sie unser Verständnis spüren lassen. Der Brief, der darauf folgte, ist voll Tätigkeits- und Schaffensdrang. Wie glücklich sind wir mit Ihnen, sich befreit zu fühlen. Das, was in Ihnen sich durchgerungen hat, kann in Form, Farben sich gestalten und ewigen Sinn bekommen. Mögen Sie viel schaffen in diesen Wochen, wo die Arbeit auf dem Land Sie noch nicht ruft. – Wir wissen, welches reiche, aber arbeitsreiche Leben Sie beide führen, wir denken täglich daran und begleiten Sie oft in diesen vielen, sich immer wiederholenden Pflichten, die für jeden von Ihnen da sind, immer wieder wünsche ich Ihnen beiden Kraft, Ausdauer dazu. Sie sind beide frei in Ihrer Arbeit, in Ihrem Denken, Fühlen; das möge Ihnen helfen in Augenblicken, wo die Last schwer zu werden scheint. – Diese frische, herbe Gebirgsluft macht Sie stark, aufrichtig und klar wie sie selbst. – In meiner Heimat habe ich das so sehr empfunden, wie befreiend das wirkt: in die Höhe gehen, sich heraufbemühen – es ist richtig wörtlich und bildlich.

Mein Mann ist so stark beschäftigt gewesen, dass er mir überlässt, Ihnen diese kurzen, raschen Zeilen zu schreiben, die Ihnen nur andeuten, dass wir alles, was von Ihnen kommt, mit Freude und Verständnis aufnehmen.

Vor einem Jahr – am 15. – kamen Sie nach Bielefeld. – Wie wird es in diesem Jahr? Können wir uns auf Ihr Kommen freuen? Machen Sie Reisepläne? Bitte sagen Sie uns vorher, wann es sein wird; mein Schwiegersohn, der Sonnabend und Sonntag nach hier kommt, lässt Sie besonders grüßen. Er auch möchte so gern Sie kennenlernen. Sésée wird gleich nach Ostern heiraten –also wäre es recht schön, wenn wir Sie vor ihrer Abreise bei uns hätten. Am 25. ist eine schöne Aufführung der Johannis Passion an der mein Mann und Sésée teilnehmen – das wäre etwas für Sie, die fern von diesen Möglichkeiten leben. Itta ist noch in Madrid. Wenn Sie kämen, könnten wir alles besprechen. Sonst müssen wir noch manches nachholen in einem längeren Brief. – Ihre Aquarelle, die hier hängen, werden immer schöner. Mein Mann hat im Braunschweiger Museum vier Ihrer Holzschnitte hängen sehen in einer Ausstellung – Haben Sie daran gedacht an der großen Kollektiven Ausstellung in München teilzunehmen? Im Januar hielt hier Dir. May aus Köln einen Vortrag und hat Ihre Bilder auch gesehen und gemocht. Vielleicht fordert er Sie auf. Denken Sie an das,

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was schon geschaffen ist. Welche breite Basis Sie haben. Wir wissen, wieviel Schönes wir noch erwarten können.

Ihnen beiden, liebe Werner Bergs, einen herzlichen Ausdruck unserer aufrichtigen Sympathie Ihre H. u. M. Becker

Schreiben Sie uns bald eine Karte nur, ob wir Sie sehen werden oder nicht.

Rutarhof, den 20. März 37

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Gestern war Josefi, der Kärntner Landesfeiertag, und morgen ist Palmsonntag, und in der Zwischenpause sollen nach Bielefeld (ich habe immer geradezu heimatliche Gefühle, wenn ich das Wort denke oder schreibe) ein paar längst schon fällige Zeilen geschrieben werden. Zuerst aber vielen Dank für die Ihren, und wie uns jedes Zeichen von Ihnen glücklich macht, das müssen Sie wissen. Auch in anderem Sinne ist eine Zwischenpause, denn eben haben wir ein paar Schweine verladen, die wegen des elenden Absatzes hier die weite Reise nach Wien machen müssen, und gleich erwarte ich den Zimmermann. Eine Pause also, in der es diesmal nicht nach Terpentin, sondern nach Schweinemist duftet, – wie man sich eben im Leben die „Parfumerln“ nicht immer nach Wunsch aussuchen kann. Von Pinsel und Palette war ich überhaupt wieder einmal länger ferngehalten, als mir lieb ist: wir hatten arges Pech mit dem Widder, der uns das Wasser 300 m weit heraufbefördert und streikte, wir hatten vierzehn Tage zu reparieren und zu graben und mussten das kostbare Wasser (die Viecher saufen viel!) mit Pferd und Fass führen. Jetzt haben wir wieder Wasser, aber Zeit und Arbeit hat es uns viel gekostet. An solchen kleinen Zwischenfällen fehlt es nie hier, und wenn man sie erst auch gelassen hin- und in Angriff nimmt, – zum Schluss versagen zuweilen die Nerven. Mit Recht denken Sie, wir sollten die gar nicht kennen, und doch kennen wir nur zu gründlich die Beschränktheit dieser menschlichen Einrichtung. Das ist schon so.

Sie schreiben so lieb und einladend vom Reisen, und ich dachte auch immer daran. Bis jetzt ist es nicht ausgegangen, aber vielleicht wird in der zweiten Aprilhälfte etwas daraus. Nie noch habe ich wie jetzt so stark das Bedürfnis gespürt, mit Menschen zu reden, und diese Menschen können nur Sie sein. Zwar muss ich mir oft vorwerfen, ich sollte tiefst dankbar Genüge finden an diesem seltenen Verhältnis, so wie es mir geschenkt ist, und dessen Ferne vielleicht seine schönste Gewähr ist, – ich solle nie mehr die zu leicht nur zerstörende Nähe suchen. Und wenn Erfahrung mich dies Bittere lehrte, so muss

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ich mir auch sagen, dass es an mir und meiner Natur liege, obschon ich das bis zu meinem Ende nie recht einsehen werde. Sie werden mir Ihre offenste Meinung nicht verhehlen.

Male Maler, usw.!, ich weiß, aber das ist wieder so eine Weisheit, zu der ich nie gelangen werde, die mit dem Bildererzwingen hier und dem Malen da, und verzeihen Sie, wenn ein Maler nicht zu glauben lassen kann, nichts erwärme und beschwinge uns mehr, diese kurze, nur so selten lichte Spanne bis zum ewigen Dunkel zu tragen und zu nutzen, wie die Zeichen menschlicher Liebe und Freundschaft. Aber ich mache lange Sätze und rede Ihnen etwas vor, – Ihnen, denen ich nur verpflichtet bin.

Derweil schlage ich mich mit manchen Plänen herum, einer hat schon feste Gestalt und die anderen schwimmen noch. Bei dem festen handelt es sich um eine neue Bauerei, und über alle möchte ich so gern mit Ihnen sprechen. Zwar hätten wir vom Bauen im Grunde die Nase voll, denn was ist in den Jahren hier nicht schon gemörtelt und gezimmert worden! Aus der schwarzen Küche wurde eine weiße, zwei Zimmer im Haus (die Kinder und die Leute!), Kuhstall hergerichtet und Schweinestall neu, Jauchegrube, Hühnerhaus, Atelier u.s.f., und alles auf einem entlegenen Berg! Aber diesmal geht es um die Besinnung und etwas hoffentlich Fruchtbares: ich will nämlich ans Atelier ein Zimmer noch kleben, in dem ich ganz für mich hausen kann, und das den langen Winter durch leichter zu erwärmen ist, – so nur könnte ich vielleicht einmal etwas mehr mit mir beisammen sein, und das wäre fürs Nächste das Notwendigste. Dabei tue ich, als ob die Zukunft frei zu blicken und nicht so scheußlich ungewiss und ohne jedes Versprechen wäre, auch weiß ich selbst nicht, woher ich den Mut dazu nehme. Doch ich weiß es: von meiner Frau, der allzu Guten, immer Opferbereiten. Vielleicht können Sie es einmal besser ermessen, als ich es mit doch nur peinlichen Worten zu greifen vermag, was meine Frau geleistet hat. Ihr wäre das Schicksal viel, viel schuldig, und doch kann der entscheidende Teil ihres Schicksals, der ihr Mann ist, es ihr nie vergelten.

Dann möchte, muss ich auch mit Ihnen von meinem Freunde reden, der nun tot, mir aber zu jeder Stunde gegenwärtig ist. Beraten möchte ich mich mit Ihnen über das, was ich zu unternehmen gedenke, und was geschehen könnte, damit eines wahren Künstlers Erdenspur und -werk nicht vergessen wird. Fräulein (z.Z. noch) Sésée hat in hat in ihrer Bescheidenheit nicht einmal die Andeutung eines Wunsches ausgesprochen, da sie kaum weiß, wie sehr es mich gefreut hätte. Nun hatten wir die Qual – die Wahl. Ein Bild für eine schöne Braut muss doch ein wenig Anmut haben und „wohnlich“ sein, und

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das ist wieder schwer, zumal ich weder prächtig noch beziehungsreich zu pinseln verstehe. Wie schön ließe sich sonst etwa „Thusneldas erste Begegnung mit Arminius“ (Verzeihung: Arminio) malen und das in der Nähe des Teutoburger Waldes. Seis’s nun ein Malheur: Das Bild steht seit gestern fertiggepackt im Atelier (längst dazu bestimmt!) und stellt lediglich ein Mädchen dar, das umgefallene Malven wieder aufrichtet. Ich warte nur noch auf die erbetene Mitteilung eines dortigen Spediteurs, der die Ihnen jetzt doppelt lästigen Empfangsformalitäten erledigt, und werde es dann gleich auf die Bahn geben. Sicher noch in der Karwoche.

Für Braut und Bräutigam jetzt schon unsere allerbesten Wünsche und Grüße. Und da Ostern vor der Tür steht, wünschen wir Ihnen allen feierschöne Tage. Immer noch versteht es der Frühling am besten, die Krusten zu sprengen, die unser Herz verengen wollen. Doch kennen Sie die wahrscheinlich gar nicht. Es grüßen Sie Ihre treuergeben Werner u. Mauki Berg

Auf der Rückseite auch noch ein PS. Hölderlin schrieb seinem guten Freunde Neuffer übers Schreiben:

„Ich wunderte mich nicht, dass Du so lange nicht schriebst. Ich weiß ja, wie das geht: man möchte gern dem Freunde etwas sagen, was man nicht gerade eine Woche später zurücknehmen muss, und doch wiegt sich die ewige Ebb‘ und Flut hin und her, und was in der einen Stunde wahr ist, können wir ehrlicherweise in der nächsten Stunde nicht mehr von uns sagen, und indes der Brief ankommt, den wir schreiben, hat sich das Leid, das wir klagten, in Freude, oder die Freude, die wir mittheilten, in Leid verwandelt, und so ist’s mehr oder weniger mit den meisten Äußerungen unseres Gemüths und Geistes. Die Augenblicke, wo wir Unvergängliches in uns finden, sind so bald zerstört, der Unvergängliche wird selbst zum Schatten und kehrt nur zu seiner Zeit, wie Frühling oder Herbst, lebendig in uns zurück. Das ist’s, warum ich wenigstens nicht gern schreibe.“

2. PS: ich vergaß noch einige Antworten. Von der Ausstellung der Holzschnitte hatte ich keine Ahnung. Dr. Fischereder sollte schon vor gut einem Jahr die Holzschnitte an Sie weiterschicken (20 Blätter, außer den alten). Jetzt ist er mir seit Monaten die Antwort schuldig. Auch darüber mündlich mehr. Mir geht es so bei allen Menschen, die nicht Becker heißen, und drum schere ich mich um nichts mehr. – In München werde ich nicht mitausstellen, ich blieb bei meinem länger schon gefassten Entschluss (Sie kennen ihn), obschon es mir schaden soll. Ich kann nicht anders und habe auch – so oder so – nichts Gutes zu erwarten. Ich hab ja auch noch alles vor mir, nämlich: etwas zu leisten. – Schön von Dr. May, ist er Buchners Nachfolger am Wallraf-Richartz-

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Museum? – Dass unsere Ursi noch nicht bei Ihnen war, liegt dran, dass ihr Vater gern selbst mit ihr nach Bielefeld gekommen wäre. Heute über einen Monat melden wir uns vielleicht in der Stapenhorststraße. Es geht ihr sehr gut bei der Großmutter, und auch die anderen Gauner sind gottlob gesund und immer wieder unsere große Freude.

Und nun verzeihen Sie den Auswuchs dieser Epistel! Ich will’s nimmer tun.

Frohe Ostern!

Heuer wird Nolde 70. Ich werde ihn wohl nie mehr sehen. Wir hätten auch – und wie! – Marées zu gedenken – 50. Todes- und 100. Geburtstag – unseres größten Malerhelden. Wir feiern aber das Jahr der deutschen Kunst.

Martha Becker, Bielefeld, 24. März 37 – abends

Sehr liebe Herr und Frau Werner Berg, wir kommen heim von einer Probe von der Johannispassion und mit Ihnen beiden will ich den Abend schließen, damit Sie zu Ostern etwas von uns haben. Jeden Tag in dieser Woche haben wir Sie erwartet und am Abend kam Ihr guter, wunderbarer Brief, der uns eine tiefe, große Bereicherung ist und Sie uns so nahe fühlen lässt. Es ist nicht mit Worten zu sagen, was wir alle hier aus ihm schöpfen und wie begeistert wir sind, in Ihnen beiden solche Freunde zu haben. Sie verstehen uns und schenken uns das Vertrauen, an Ihrem Leben teilzunehmen, das uns täglich beschäftigt. Heute will ich diesen ersten Dank Ihnen von Herzen sagen im Namen aller und hoffe recht, recht bald es Ihnen mündlich sagen zu können. Wie glücklich wären wir gewesen, Sie beide jetzt hier zu haben und wie schön wäre es, könnten Sie beide die Reise machen. Wir können Sie beide gut als Gäste aufnehmen. Arnold hat das Abitur (mit gut) bestanden und fängt gleich im April seinen Arbeitsdienst an – sein Zimmer steht also frei. Die Hochzeit von Sésée ist am Dienstag den 30., die Trauung um 2 ¼ in der schönen alten Kirche, wovon ich Ihnen ein Detail schicke. Sésée ist sehr beglückt über Ihr fabelhaftes Geschenk. Es ist so lieb von Ihnen und sie dankt Ihnen durch mich, bis Sie es Ihnen selber sagen kann – Ihre erste Erwerbung ist das eine Aquarell – Stift Eberndorf (Hochformat) mit dem schwarzen Himmel – das sie so lieb gewonnen hat, dass sie es in ihr Heim mitnehmen will. Das Geld schicken wir in diesen Tagen ab. –Wir wissen noch nicht, wo unser Schwiegersohn nach Ostern hinkommt, so wird Sésée nicht gleich mit einem Haushalt belastet sein und kann ganz für Ihren Mann leben und wird allmählich ihre Pflichten übernehmen. Ja, liebe

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Frau Berg, was Sie geleistet haben, erfüllt uns hier mit Bewunderung und Sie haben durch Ihre Leistung, Ihre Bereitschaft Ihrem Mann ermöglicht, sein Werk zu schaffen, was wir alle so lieben. – Leben Sie weiter so. – Herrlich wird es sein, wenn ein neuer Bau Ihnen eine ganz eigene Halle geben wird für Ihr Schaffen. Das ist sehr notwendig und erleichtert das Familienleben, denn die Kinder, die größer werden, brauchen auch mehr Raum. Das können wir alles mit Ihnen besprechen – aber ich habe Vertrauen zu Ihnen und weiß bestimmt, dass offene, aufrichtige Aussprachen verbunden mit dem Willen des Verständnisses keine Enttäuschung aufkommen lassen kann. … Ihre schönen Briefe geben uns dasselbe wie Ihre Bilder, es ist eine Einheit in der Stimmung. – Ich freue mich schon, wenn Sie kommen und sehen, wie schön die Aquarelle hier hängen. …

Ihre Heinrich, Sésée und Martha Becker

Heinrich Becker, Montag, 5. April 37

Liebe Herr und Frau W. B.!,

das Bild ist auf dem Bahnhof und muss lagern, bis wir die Antwort von Berlin haben, die es freigeben muss. Wir mussten beweisen, dass es nicht bezahlt war. En attendant je tiens à vous tranquilliser et nous remercier pour vos bons voeux reçus le jour du mariage de Sésée par télégramme. Très belle cérémonie joyeuse fête de famille à la maison – les jeunes ont fait leur voyage de noces. Der Rutarhof war zu weit, sonst wären sie gekommen.

Herzlichst H. u. M. Becker

Lieber Herr und Freund, Ich komme erst in dieser kurzen Pause dazu, Ihnen für alle Güte und Freundlichkeit, und das schöne Vertrauen, das Sie uns schenken, zu danken, wie ich kann. Lassen Sie sich nicht durch mein langes Schweigen oder die Kürze dieser Karte beunruhigen. Wir fühlen Sie uns nah, wie unsere ältesten Freunde und freuen uns auf den Tag, der uns ein Wiedersehen mit Ihnen und den Ihrigen beschert. Sobald wir wieder zur Ruhe kommen, bekommen Sie von mir mehr zu hören. Bleiben Sie und Ihre Frau unsere guten Freunde.

In herzlichem Gedenken und lebhaften Wünschen für Sie alle

Ihr H. Becker

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Sésée Becker, Bielefeld, am 13. April 1937

Lieber Herr Werner Berg, glauben Sie, dass Sie mich beschämen mit Ihrem Geschenk? Ich weiß gar nicht, wie ich dazu komme, und wie ich Ihnen unseren Dank aussprechen soll. Mein Mann und ich kamen am Samstag von einer kleinen Reise nach Süddeutschland zurück und fast gleichzeitig kam Ihr Bild in unser Haus. Es war dies ein so herrlicher Willkommensgruß, der uns immer gegenwärtig sein wird. Ich finde es, aufrichtig gesagt, einfach wunderbar, anspornend, erfreulich um solch ein Kunstwerk unser gemeinsames Leben zu gründen. In dem Bilde finden das Auge und der Sinn eine warme Stille, die uns oft fehlt und doch wohltuend ist. Ich liebe schon das Mädchen mit ihren Malven, und werde es immer mehr lieben, bin ich sicher. Die Farbtöne klingen so harmonisch, obwohl Dissonanz da ist; gerade da liegen der Reiz und die Schönheit des Bildes.

Es tut mir leid, dass wir es nicht gleich in unser Heim nehmen können. Unser Weg lässt uns noch nicht sehen, was in nächster Zeit aus uns wird. Vielleicht kommen wir einige Jahre ins fremde Land der gelben Japaner. Es ist verlockend die andere Welt kennen zu lernen, andere Menschen, Sitten und Künste zu studieren. Aber andererseits muss man auch viel im Stich lassen. Geduldiges Warten wird uns dann sagen, wohin unser Schicksal uns führen wird. Mit dieser japanischen Bewerbung hat mein Mann und mit diesen ersten Schultagen sehr viel zu tun und kann Ihnen wohl erst Ende der Woche schriftlich seinen Dank und Freude aussprechen.

Zum Zeichen meines Dankes reiche ich Ihnen herzlich die Hand und grüße Sie mit Ihrer lieben Frau und den Kindern

Ihre ergebene Sésée Eversmeyer

Heinrich Becker, Bfd., 13. 4. 37

Liebe Herr und Frau Werner Berg,

Das Bild ist da. Es kam am selben Tag, wie das junge Paar von der Hochzeitsreise heimkehrte.

Wie soll ich Ihnen unser Staunen, unsere Freude und Verwunderung schildern. Es ist so herzlich, dass diese beiden jungen Menschen, die von jetzt ab gemeinsam leben wollen, mit solchem Bild als Besitz dieses beginnen. Sie können sich der Wirkung dieses Werkes nicht entziehen, täglich wird es zu

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ihnen sprechen, ihnen den Weg zeigen zu richtiger echter Kunst und zugleich Ihnen eine Freude immer wieder bereiten, dieselbe, die man vor der Natur fühlt. Es soll Mittelpunkt ihres Heimes werden.

Immer wieder sehen wir das Bild an: was birgt es alles, wie herrlich ist es gemalt mit der so ganz persönlichen Seele der grünen Tannen, aus denen das herrliche Rot der Malven leuchtet. Es hat die Schönheit und das Geheimnisvolle zugleich mit der Natürlichkeit eines Märchens, eines Traumes. … Von allem, was sie bis jetzt besitzen wird ihnen dieses Bild am meisten geben; denn es beschenkt die Seele – es dringt ins Herz und übt einen tiefen Reiz aus.

Zunächst bleibt das Bild noch hier bei uns, da das Schicksal unserer Kinder nicht endgültig entschieden ist. Vielleicht werden sie ein paar Jahre in Japan sein, wo ihm eine Stelle angeboten wird, um die er sich bewirbt. Auf diese Antwort warten wir, ehe wir ihre Wohnung einrichten. Einstweilen werden sie in Bochum wohnen, wo er eine Stelle hat, die keine Anstellung ist. So haben wir solange den Genuss, das Bild zu besehen und da die Kinder öfter Sonntags hier sein werden, sind sie davon nicht ganz getrennt. – Mein Schwiegersohn wird Ihnen schreiben, da er sehr erfüllt ist. Sésée ist einige Tage noch hier und ich bin sehr froh darüber. Jetzt ist die Frage oft gestellt: wird Werner Berg kommen?? Man möchte Ihnen zeigen, wie dankbar wir sind, denn die Worte kommen uns zu schwach vor. … Der Frühling ist eingezogen mit all seiner fröhlichen Schönheit. Hoffentlich ist’s bei Ihnen auch so. …

Wenn alles, was Sie jetzt schaffen in derselben Linie ist wie dies Bild, so kommen Sie weiter und was sich in Ihnen angesammelt hat an Eindrücken, an Unausgesprochenem, bricht jetzt durch wie die Blütenknospen.

Wir reichen Ihnen beiden die Hände in freudiger Dankbarkeit. Ihre H. u. M. Becker

Sehr geehrter Herr Dr. Berg!

Bernd Eversmeyer, Bielefeld, den 24. Mai 1937

Ich möchte Ihnen nämlich danken, sehr herzlich danken für das schöne Bild, das Sie meiner Frau zur Hochzeit schenkten, das mir aber auch zugutekommt, weil ich die Freuden meiner Frau mitgeheiratet habe. Zugleich möchte ich Ihnen sagen, wie sehr ich Sie um Ihrer künstlerischen Tapferkeit willen, ehre. Ihr Bild, unser Bild nun, mag ich ganz und gar gern leiden, und so geht es mir überhaupt mit den Bildern von Ihnen, die ich bisher gesehen habe, die großartigen Holzschnitte nicht zu vergessen. Ich wollte in diesem Augenblick,

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ich wäre Galeriedirektor, damit Sie mit diesen Erklärungen mehr anfangen könnten. Aber ich bin nur Schulmeister – soweit man bei diesem Amte „nur“ sagen darf – und hinter meinem Namen kommt vorläufig nur ein Punkt. Aber ich liebe die Kunst sehr.

Dass Sie uns das Bild so freigiebig schenkten, ist ein schöner Beweis Ihres inneren Reichtums.

Mit den besten Wünschen für Ihre Arbeit in jeder Hinsicht grüßt Sie

Ihr ergebener Bernd Eversmeyer

Martha Becker, 27. 5.

Liebe Herr und Frau Werner Berg, wie schön muss es jetzt bei Ihnen sein – da möchte man für ein paar Stunden dort sein und mit Ihnen ins Tal hinabschauen oder ein paar Tage lang Ihnen richtig helfen bei der Frühjahrsbestellung. – Was macht das Bauen? Ist es gut und praktisch ausgefallen? Hoffentlich sind Sie fertig und damit zufrieden. Oft sehe ich von hier, wie alles vor sich geht und wie Ihre Kinder dazwischen spielen und laufen. Ist Ihre Mutter schon bei Ihnen? Ich habe nach Elberfeld geschrieben, da ich sie und Ursi so gern sehen würde vor der Abreise. Ich habe noch keine Antwort. – Die Sache mit dem Aquarell für Sésée ist erledigt. – Jeden Tag freuen wir uns über das Bild mit dem Mädchen und Malven, das einstweilen über unserem Klavier hängt. Ich möchte Ihnen alles sagen können, was ich oft dabei empfinde, aber die Wörter fehlen mir. – Kürzlich war Dr. Hoeltje aus Hannover hier, um einen Vortrag über V. Gogh zu halten. Er war unser Gast. Ihre Bilder und Ihre Holzschnitte haben ihm großen Eindruck gemacht. Er hat sich Ihre Anschrift notiert. In Berlin ist eine große, schöne Ausstellung mit Werken von Nolde über seine ganze Schaffensperiode. Er wird am 8. August 70 Jahre. Das wäre eine Gelegenheit, lieber Werner Berg, um ihm zu schreiben. Seine Werke und Ihre passen zusammen – immer mehr finden wir in Ihren etwas Neues, Seelisches, was Ausdruck Ihres Wesens ist. – Mögen Sie wieder etwas gemalt haben!

Mein Schwiegersohn hat Ihnen geschrieben. Diese raschen Zeilen sollen mit weg. Bald meldet sich mein Mann. Er sagt so oft „Ich will Werner Berg schreiben“ – warten Sie noch etwas. Er ist nicht immer frisch und wohl. – Ich spreche (wenn oft unbeholfen) für uns beide. Ihnen lieber Herr und Frau Werner Berg einen herzlichen Ausdruck von allem, was uns mit Ihnen und dem Rutarhof verbindet. M. B.

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Rutarhof, den 12. Juli 37

Liebe und verehrte Frau Dr. Becker!

Hätte ich Ihnen nur gleich auf Ihre guten, „unbeholfenen“ Zeilen geschrieben und gedankt, mit denen einem immer so viel, viel geholfen ist! Wenn es all die Zeit nicht geschah, so einfach deshalb, weil ich nicht bei mir selber war. Ich bin es noch nicht, aber ohne Zeichen kann ich Sie nicht lassen, zu denen die besseren, suchenden Gedanken alle Tage gehen. Es waren viele ungute Tage, aber ich wollte nicht klagen, wäre ich nicht so scheußlich mürbe, sodass ich nicht weiß, ob der Tiefpunkt bald erreicht und es – noch hoffe ich’s – einmal mit reiner Kraft wieder aufwärts geht, oder ob es wirklich das Ende ist. Lange kann es so nimmer dauern. Mein Gejammer ist wohl ein schwacher Versuch zur Rechtfertigung einer schwachen Existenz, und ich mag auf keinen Fall Ihr Mitleid herausfordern zur Aufrechterhaltung unserer Bande, die von mir aus nur durch gestaltete Leistung verdient werden könnten, und die einzig bedingt sind durch unser aller Streben zur Kunst als einer würdigen Erhöhung dieses Lebens.

Das Bauen, von dem ich Ihnen schrieb, ist beendet – endlich. Es hat viel länger gedauert, als vorgesehen war, und auch mehr gekostet trotz aller Einfachheit, das geht wohl meistens so. Aber ein selten schöner Raum steht mit guten Maßen vor dem Atelier, und ich will mich seiner dankbar freuen, wenn ich seinen Sinn noch einmal erfüllen kann. Nach der Bauerei ging wieder das Graben an bei unserer Wasserleitung, zu der ich nun neue Röhren legen muss. Leider kann ich sie weder von Deutschland beziehen, noch Gelder (meine eigenen dort) herausbekommen. Dann wurden alle Kinder nacheinander krank an Masern während der Heuernte, bei der uns das Wetter übel mitspielte. Von der Wirtschaft hier und den Menschen das böse Lied mag ich nicht wieder anstimmen. Vor ein paar Tagen aber gingen wir zwei, meine Frau und ich, daran, mit Rücksichtslosigkeit und heilig seltenem Vorsatz unserem Leben neue Richtung und Aufschwung zu geben. Wir machten eine kleine Wanderung ins Gebirge, freuten uns wie Kinder im scharfen, herben Wind der hohen Alm, badeten im rauschenden Bergbach und bestaunten die denkbar urtümlichste Bauernsiedlung im entlegenen Hochtal. Oft und immer wieder dachten wir daran, wann wir einmal des Landes Schönheiten Ihnen zeigen dürften, – denn wem zeigten wir sie lieber! Wieder zuhause wollte ich mit dem Bilde meiner Frau in der neuen Atelierstube beginnen, da brach sie nach ein paar Zeichnungsstrichen von Schmerzen gepeinigt zusammen. Meine Frau, die immer so stark war und nie ein Wehleid zeigte, und die in diesen sieben Jahren ungeheuer viel geschafft hat! Sie hat wohl einen schweren Anfall von

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Ischias, und sobald sie sich etwas bewegen kann, soll sie Moorbäder nehmen, die allein helfen sollen. Sie hätte das zu anderer Zeit nie geduldet, aber jetzt muss es sein, denn Kraft und Herzschlag meiner Frau sind die des Lebens auf dem Rutarhof.

Jetzt ist sie eingeschlafen und ihre Atemzüge gehen schwer durch den Raum, während ich schreibe. Ich könnte draußen arbeiten auf dem Felde, Korn mitschneiden. Ich arbeite gern und draußen ist noch Leben und Vergessen in Schweiß und hartem Tun, ja, das ist noch schön, aber meines Lebens Sinn kann das nicht sein, auch das wäre Ausflucht. Ich arbeite nicht, ich male nicht und denke leis und fern hoffend, ob ich den mürben, müden Baum des Lebens noch einmal brechen kann und darf.

Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen schreibe, so schreibe. Möchte es Ihnen allen doch recht gut ergehen, Ihrem Manne, dem vielgeplagten und immer aufrechten, dem jungen Paare, Ihrer Tochter in Spanien und dem strammen Arnold! Und Ihnen vor allem, verehrte Frau Dr. Becker! Waren Sie wieder in Ihrer Heimat oder werden Sie die Weltausstellung besuchen? Bei der Gelegenheit mag wohl auch viel schöne, starke Kunst zu sehen sein, jetzt kann ich nicht daran denken, die anzuschauen. Ich weiß noch nicht, wie alles wird, vielleicht aber hole ich im August meine – Gottgebe – gesunde Frau von Aibling ab und mache einen Sprung nach München. Ja, in München wird sich jetzt was tun. Stark denke ich daran, im November nach Deutschland zu fahren und in minder trauriger Gestalt vor Sie hintreten zu können. Ja, von Herzen gern möchte ich Nolde ein Zeichen geben dürfen zu seinem 70. Geburtstage, obschon ich zweifle, ob die große Entfernung je zu überbrücken sein wird. Wissen Sie vielleicht, wo Nolde sich zu dieser Zeit aufhält? Herrn Eversmeyer danke ich herzlich für seine Zeilen und all seine gute Meinung, von der ich nur wünsche, dass sie mir etwas besser auf den Leib passen würde.

Viele Grüße von meiner Mutter, die uns mit ihrer Tatkraft jetzt eine starke Stütze ist. Es grüßen Sie auch die Bilder ringsum. Losgelöst hängen sie da und fast fremd; aber ich weiß, dass die besten ein recht auf Existenz haben, auch wenn ich es nicht besitze.

Nehmen Sie, verehrte Frau Becker und Ihr Mann die herzlichsten Grüße Ihrer getreuen Werner und Mauki Berg

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Heinrich Becker, Bielefeld., 17. Juli 1937

Lieber Herr Werner Berg, wie so oft, ist meine Frau mit ihrem Brief für Sie fertig, ehe ich zum Schreiben Zeit finde. Diesmal aber habe ich gebeten, mit der Absendung auf mich zu warten. Wie lange bin ich Ihnen Brief und Dank schuldig, den auch meine Frau für mich nicht abstatten kann. Sie haben uns so oft durch Ihre freundschaftlichen Briefe erfreut – erfreut? Ist es das richtige Wort?, denn wir sind auch mit Ihnen traurig gewesen, oftmals auch unruhig und besorgt – immerhin, wir haben es als wohltuend und beglückend empfunden, dass Sie uns Ihr Vertrauen schenkten und uns in Ihr Inneres einen Blick vergönnten. Es ist darum höchste Zeit, dass Sie einmal auch von mir Antwort hören, wie sie jeder von uns braucht, um nicht in Einsamkeit und Absonderung zu geraten. Ich weiß ja nur zu gut, auch von mir selbst, wie Unruhe, Sehnsucht, Lebensangst, Zweifel und Verzagtheit nicht eigentlich aus äußeren Umständen kommen, sondern ihre Quelle mehr als irgendwo sonst in der eigenen Brust haben. Ich weiß aber auch, dass der Widerstand gegen Sorge und Gram nur aus dem eigenen Inneren kommen kann, nicht aus der Veränderung der äußeren Umstände um uns, und dass man bis zu einem gewissen Grad diesen Widerstand üben, stärken und durch bewusste Übung sich erhalten kann und also auch muss. Werfen Sie die Unzufriedenheit mit sich und Ihrem Tun von sich. Sie sind doch mit Ihrer künstlerischen Arbeit auf gutem Wege. Bedrängen Sie sich nicht zu sehr, zwingen Sie sich nichts ab. Bleiben Sie geduldig, wenn die Schaffenskraft einmal aussetzt oder schwächer wird. Es ist in alledem ein geheimes Gesetz, dem Sie nicht entrinnen können, dem wir alle unterworfen sind, wie die wachsende Pflanze, die ihre deutliche Wachstumsgrenze hat und respektiert. Was Sie in Zukunft noch leisten können, weiß ich nicht und wissen Sie nicht. Was Sie für Ihren Acker und Ihre Tiere tun, wessen sich Ihre Frau und Ihre Kinder im Zusammenleben mit Ihnen erfreuen, ist alles ebenso wichtig, wertvoll und nötig wie Ihre Kunst. Denken Sie von nichts gering, was Ihr Leben von Ihnen fordert.

Im Übrigen wissen Sie, dass auch Ihr Kunstschaffen andere Menschen erfreut. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie uns damit erfüllt haben, mich, meine Frau, meine Kinder, meine Freunde. Es heißt doch etwas, wenn Menschen, die Sie nicht oder kaum kennen, ihre Bilder erwerben, um Sie in ihrer Nähe zu haben. Von den Bildern, die vor einem Jahr vorübergehend in meiner Wohnung waren, ist keins aus meinem Bewusstsein geschwunden. Eins von ihnen hat Arnold so in sein Herz geschlossen, dass er vor einiger Zeit spontan äußerte: ich hoffe, dass ich das Bild später einmal kaufen und

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behalten kann. Der Kunstverein hat aus der Mappe Ihrer Mutter zwei Holzschnitte erworben: Das junge vom Baum fressende Pferd – und den Bettler. (Der Betrag geht Ihrer Mutter in den nächsten Tagen zu). Sie sehen, Ihre Arbeit ist nicht vergebens. Sie findet deutlichen Widerhall.

Gern wollte ich Ihnen auch ein Wort über Ihren abgeschiedenen Freund sagen, aber es ist nicht leicht, so aus der Ferne darüber zu sprechen. Vielleicht ist es möglich, wenn Sie einmal hier sind. Wenn ich Ihnen bei der Herausgabe seiner Gedichte helfen kann, tue ich gern alles, was ich kann. – Unterlassen Sie nicht, an Nolde zu schreiben. Seine Anschrift ist: Seebüll bei Neukirchen, Nordschleswig. Ich werde ihm aus der Heimat meiner Frau schreiben, wo wir auch Ihrer, Ihrer Frau und Ihrer Kinder gedenken werden. Sagen Sie allen, auch Ihrer Mutter, unsere Grüße. Ihnen tausendfach Gutes wünschend Ihr Heinrich Becker

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Mauki Berg, Sonntag, 17. Juli 1937

Heute muss ich Ihnen schreiben. Sie müssen wissen, dass wir in dieser schönen, reichen Abendstunde an Sie denken!

Wie bitter, ja bis zur Verzweiflung trostlos für den Künstler die Leerzeiten im Schaffen sind, das haben wir fast ein volles halbes Jahr erfahren. Keiner kann es zwingen, die Fülle nicht, die Leere nicht, ein Stärkeres waltet, dem jeder sich beugen muss. Und dann ist es auf einmal da, das reiche Glück des Schaffens, da die ganze Welt sich verändert, und der Künstler wieder sieht mit begnadeten Augen und wieder das Geheimnis und die Schönheit dieser Welt uns zeigen kann.

Ein guter Anfang ist gemacht. Ein schönes Bild ist im Entstehen, ganz einfach im Thema, aber tief und klangvoll im Malerischen. Ich will es Ihnen jetzt nicht beschreiben, es wird bestimmt eines von den Bildern, die auch Sie mit Freude anschauen werden. – Es hängen solche aus dem vorigen Jahr hier, starke Bilder, die Sie auch noch nicht kennen und von denen wir glauben, dass Sie sie nicht unbeeindruckt betrachten würden. Auch Sie würden finden, dass sich eine Linie verdichtet in einem eindeutigen Sinne und darüber sind wir heute glücklich, dass auch dieses neue Bild bereits im Entstehen Glied dieser sich immer klarer schließenden Reihe ist. Nicht als Produkt eines vorgefassten Systems, sondern als Ausdruck einer eigenen Anschauung, die im klarsten Einklang steht mit der selbstgewählten, ach so schweren Lebensform.

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Aber jetzt, da der Pinsel wieder über die Leinwand geht, erscheint uns alles leichter, gerne würde ich noch mehr Mühsal auf mich nehmen, wenn als Früchte aller Mühen diese Bilder entstehen, die bleiben.

Wir möchten Sie, liebe Dr. Beckers, so gerne hier sehen, Ihnen möchten wir gerne gerade hier die Bilder zeigen. Einmal wird es wohl werden.

Möchten Sie es bitte nicht falsch auffassen, wenn Werner in den schmerzlichsten Zeiten mit seinen Sorgen zuweilen zu Ihnen kommt. Freund ist ihm sonst niemand, und die Entbehrung der Gezweiung – wir sind darin zu sehr Einheit – kann tödlich schmerzen. Auch war es schon öfters so, dass die Waage des Geschicks sich hob, wenn er mitteilend sich von einer Last befreite, –dass es Ihnen gegenüber geschieht, darüber seien Sie bitte nicht böse. Werner hat – nicht leichtfertig aber unbedingt – den Glauben an seine Aufgabe, und zu ihrer Erfüllung erbittet er sich ein langes Leben!

Zum Schlusse möchte ich Ihnen, die immer so teilnehmend danach fragen, von dem neuen Raum erzählen, der trotz seiner Anspruchslosigkeit über Erwarten schön geworden ist, und von dem wir wissen, dass er die Grundlage zu einer neuen notwendigen Distanzierung des Malers von dem alltäglichen Zerriss bilden wird. Es ist ein ganz einfach bescheidenes Zimmer, mit der notwendigsten Einrichtung, unter der sich jedoch ein sehr schöner alter Bauernschrank befindet. Drei sehr gut proportionierte Fenster und eine Glastüre geben viel Licht und binden Blick und Herzen an unsere schöne Landschaft Es ist eine Zufluchtsstätte zur Kunst, so notwendig bei dem Betrieb des Hauses und der Wirtschaft, wo alle der Erfüllung kleiner und großer Pflichten leben und leben müssen, wo kaum ein bisschen Raum bleibt für Gedanken, die zur Kunst hinleiten. – Schwer betroffen hat es mich, dass gerade ich diesen Raum mit einem Krankenlager einweihen musste, aber wie dankbar bin ich jetzt dem Geschick, denn es hat uns Stunden erkenntnisreicher Aussprache beschert, für die ich mir sonst – gefangen im Pflichtenkreis der Mutter und Landhausfrau – weder Zeit noch Gedankenfreiheit genommen hätte. Aber dass dieses nun doch möglich ist, danken wir zuerst und zuletzt unserer lieben Oma, der großartigen Mutter Berg, die mich mit einer Selbstverständlichkeit, die keinen Widerspruch duldet, aus dem Arbeitsbetrieb ausgeschaltet hat und trotz ihrer 67 Jahre mich überall vertritt. Es freut mich sehr, dass ich dadurch auch einmal dazugekommen bin, Ihnen von uns zu schreiben, wie ich es schon lange wollte.

Nehmen Sie, verehrte Freunde, herzlichste Grüße von ihrer Mauki Berg

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Martha Becker, Bfd. 19. Juli 37 Von 22. Juli ab ist unsere Anschrift: 31 Avenue de Royat, Chamalières (Puy de Dôme), Frankreich

Lieber Herr Werner Berg, wie gut ist es, dass Ihr Brief uns noch erreicht hat bevor wir abreisen. Wir nehmen ihn so gern innerlich mit und teilen mit Ihnen alles, was auf dem Rutarhof geschieht. – Ich danke Ihnen, dass Sie offen mit uns sprechen über das, was Sie manchmal quält und hemmt – schrieben Sie es nicht, würden wir es erraten, denn es kann kein Mensch, der die Kunst wirklich liebt und für sie frei zu leben sucht (indem er täglich eine schwere Arbeit leistet) es leicht haben. Würde alles glatt vor sich gehen, ohne dieses Ringen, das oft die schwerste Last ist für Ihre Seele, wäre es mit Ihrem Kunstschaffen nicht gut gestellt. So kann nichts Großes entstehen ohne dieses Suchen, diese starke Hingabe und das – Warten.

Haben Sie Vertrauen, lieber Herr Werner Berg, fragen Sie nicht, ob der Tiefpunkt erreicht ist oder nicht; sammeln Sie in sich alles, was das Auge sieht, was sich einprägt, um wieder eigenwillige Form zu nehmen. – Dieser Alltag, der schwer und ernst ist, der viel Kräfte und Geduld verlangt, bietet Ihnen das Wunder des Lebens in der Natur. Alles, was wir von Ihnen gesehen haben, ist voll davon. Wir glauben so sehr an Ihre Kraft und wissen, dass immer wieder Bilder entstehen werden. … Vergessen Sie nicht, dass es schön ist zu leben –wirklich zu leben. Ich denke, Sie alle dort auf dem Rutarhof tun es. Die schöne Schilderung Ihrer gemeinsamen Wanderung lockt uns und der Plan reift langsam weiter in uns, einmal selber zu kommen. Wir fahren jetzt Donnerstag nach Paris, wo wir ein paar Tage bleiben, um dann in die Auvergne zu fahren, die mich so sehr anzieht mit ihren wilden Bergen. Dort treffe ich meine Familie – viele Jugendfreundschaften, die mir lieb sind. – Sésée und ihr Mann fahren mit. Sie werden von uns hören, wenn auch nur kurz, denn die Zeit geht dort sehr schnell herum. Ich werde in Paris Frau Zuloaga, die Frau von dem spanischen Maler treffen und ich freue mich, sie wiederzusehen. – Um sich von den Sorgen des Krieges zu befreien, hat er angefangen zu Bildhauern. – Wir sind Ende August wieder hier. – Gestern sind wir zum Arbeitslager gefahren, wo Arnold ist, um es zu kennen und von Arnold, der zum ersten Mal nicht mit uns fährt, Abschied zu nehmen. – Es hat uns alles gut gefallen und es waren lauter gesunde, nette Jungens da. – Die Landschaft ist weit und flach, nur Heide und Birken.

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Hoffentlich werden Sie, liebe Frau Berg, bald von Ihren Schmerzen geheilt. Ich empfehle Ihnen sehr: Forapin, das ein Bienengift ist zum Einreiben und sehr wohltätig ist. – Sie können gar nicht krank sein! Und ich wünsche Ihnen so sehr Kraft und Gesundheit, um Ihrem Mann zu helfen, den Kindern auch. Es ist ein reiches Leben, was Sie führen. … Hoffentlich wird es im Herbst ernst mit Ihrem Kommen. Sie sind dann unser Gast und haben Arnolds Zimmer. Wir werden gern hören von Ihren Münchner Eindrücken!! Mein Mann wird Ihnen Noldes Adresse schreiben – Alles Gute! Ihnen allen – Ihre liebe Mutter eingeschlossen. – Gute Ernte! In beidem Sinne! Die Gedanken gehen immer zu Ihnen, diese Zeilen sind nur ein schwaches Zeichen davon. Herzlichst Ihnen beiden Ihre M. B.

Rutarhof, den 2. Aug. 37

Liebe und verehrte Dr. Beckers!

Wie muss ich Ihnen danken, dass Sie sich noch vor Ihrer Abreise die Zeit genommen haben, diese Briefe zu schreiben! Sie trafen mich in anderer Verfassung an, ich bin wieder bei der Arbeit. Nicht als ginge es im sicheren Bötchen nun leicht dahin, – die Wogen werfen mich hoch und nieder und zuweilen fahre ich hart auf, aber ich bin doch wieder auf dem freien Meere, nach dem der Sinn immer stand.

Meine Frau hatte Ihnen auch geschrieben, Sie konnten Ihren Brief nicht mehr erhalten. Sie fährt übermorgen ins Moorbad Aibling, das ihr Heilung bringen soll, und ist dann seit 10 Jahren zum ersten Mal für ein paar Wochen „ausgespannt“. Wir erhoffen uns sehr viel davon. Dass dieses Leben hier nicht dazu da ist, weich zu werden, dass es sein klägliches Ergebnis wäre, zu Mitleid zu rühren, will ich nie vergessen. Jedes Ihrer Worte traf mich ins Innerste und war dort lange schon erwogen. Zu diskutieren ist jetzt nichts, dass wissen Sie wie ich, umso mehr zu tun. Ich sollte mich jetzt für die Jahre, in denen es um die Bewährung geht, von Ihnen verabschieden, und ich will es auch tun. Dennoch will ich zuweilen zu Ihnen kommen und auch Ihre gütige Einladung für den Herbst nicht ausschlagen. Ein merkwürdiger Abschied, was? Es ist aber einer.

Sehr freute mich zu lesen, was Sie von Arnold schreiben und von seinem Dienst. In diesen Menschen wird sich das Vaterland erneuern, und so ist doch nicht nur Bitterkeit und alle Hoffnung leer.

Eines jungen, kriegsgefallenen „Philologen“ Buch wurde mir kostbarer Besitz, Norbert v. Hellinggraths „Hölderlin-Vermächtnis“. Doppelt erschüttert

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und erhellt aber war ich, als ich gerade jetzt, post festum, seinen Vortrag über „Hölderlin und die Deutschen“ las. Wenn Sie es nicht kennen, möchte ich es Ihnen sehr gerne zu lesen geben dürfen.

Nach all den vielen Worten ums Ich herum aber zu des Schreibens Hauptzweck: ich wünsche Ihnen allen in Ihrer anderen Heimat schöne, freie Lebenstage und Aufrichtung Ihrer Kräfte. Diesmal gehen mit unseren herzlichen

Grüßen die Gedanken zu Ihnen in die Auvergne und in ihr Land, das wir nicht kennen aber lieben müssen als die Heimat so viel verehrungswürdiger Malerei und weiter Herzen.

Ihre treuergebenen Werner u. Mauki Berg

Vielen Dank noch Ihnen, verehrter Dr. Becker, für die Holzschnittverkäufe. Vous voulez trop du bien à moi!

Poststempel, 8. 9. 1937

Zum Abschied aus Deutschland – wir sitzen schon im Salzburg Zug – geschwind die herzlichsten Grüße. Das Geschehene ist unvorstellbar – zum Glück aber ist meine Frau wieder gut beisammen. Wir hatten ganz besondere Freude, Ihre Grüße nach München nachgesandt zu bekommen. Viel Gutes zwischen Zügen allen Ihre getreuen Bergs

Martha Becker, Bochum, 26. 10. 37

Lieber Herr Werner Berg –

es waren zehn volle Tage, die nötig waren, um den jungen Haushalt aufzubauen. Das „Mädchen mit den Malven“ hat einen so feinen symbolischen Sinn – in Ruhe und Güte alles aufrichten und stützen, dann können Blumen, Kinder, Menschen richtig leben und sich entfalten. So ist es wohl die edelste Tätigkeit der Hände. – Sésée und ihr Mann hoffen sehr, Sie einmal bei sich zu sehen, was wohl leicht zu machen sein wird, wenn Sie nach Elberfeld fahren.

Klagenfurt, 30. Okt. 37

Verehrte Dr. Beckers!

In Eile und Kürze – ich bin mit dem Pferd unterwegs – auf Ihre guten schönen Grüße diesen kurzen zurück. Wie eine sorgende Hand die Pflanzen begießt, so kommen aus der Ihren diese Grüße immer zur Zeit und dringen tief

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ein. Ich hoffe denn auch lange noch zu wachsen und nicht zu verkümmern. In der zweiten November-Woche denke ich – diesmal wirklich – mich bei Ihnen melden zu können. Wenn es geht, möchte ich wohl in Paris die schönen Bilder anschauen, – der Durst danach ist groß, nach fadem Getränk erst recht. Am meisten aber freue ich mich, Sie wiederzusehen und -zusprechen.

Leben Sie beide wohl, es grüßt Sie Ihr getreuer Werner Berg

Elberfeld, 8. Nov. 37

Verehrte liebe Dr. Beckers!

Also übermorgen bin ich in Bielefeld! Es war so schön, Ihrer beider Stimmen zu hören, es war schon fast wie ein Wiedersehen, auf das richtige freue ich mich recht von Herzen.

Nun spare ich mir alle überflüssigen Worte, – sie fließen mir wirklich über, wenn ich Ihrer denke, – und sage nur noch: Auf Wiedersehn!

Ihr getreuer Werner Berg

Martha Becker, Bielefeld, 9. Nov 37

Lieber Herr Werner Berg, es ist eine große Freude für uns zu wissen, dass Sie nächstens hier sein werden, dass wir mit Ihnen sprechen werden und zusammen sein werden. Sie sind unser Gast, nicht wahr, denn etwas Zeit müssen Sie für Bielefeld haben. Ich würde Sie so gerne mit den Menschen bekannt machen, die von Ihnen etwas besitzen. Passt es Ihnen? Sie wollen doch nicht incognito reisen? Ein Wort darüber bitte, wenn Sie uns Ihre Ankunft mitteilen.

Die Ausstellungen in Paris: le chef d‘œuvre de l’art français ist ganz wunderbar, sie allein verdient, dass Sie hinfahren und dann ist so viel im Louvre zu sehen! … Tun Sie es ja!! Bielefeld ist auf der direkten Strecke dahin. Also bald auf frohes Wiedersehen und viele herzliche Grüße Ihnen beiden von H. und M. Becker

Martha Becker, Bielefeld le 13. Nov Vous voilà à Paris, cher ami, dans ce coin où nous avons été souvent déjà où vous trouverez les traces de nos pas, nos regards posés sur les œuvres d’art que vous allez admirer. Nos pensées vous suivent avec plaisir sachant que vous allez trouver ce que vous cherchez pour satisfaire votre amour de l’art et

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continuer votre propre œuvre une fois rentré dans votre atelier. J‘espère qu’on a pu vous réserver une chambre et que vous êtes satisfait.

Hoffentlich finden Sie sich schnell zurecht und können morgen früh –Sonntag – gleich mit dem Louvre beginnen – hinterher können Sie zu Fuß die Tuilerien entlang bis zur Place de la Concorde gehen – nach den Bildern das Leben.

Ich habe inzwischen an zwei Freundinnen geschrieben und ich hoffe, Sie werden von jeder eine Einladung bekommen. Es sind: Mme. Germaine Laurreillard – professeur d’allemand – jeune encore – mère de 2 bébés charmants – un peu timide mais très intelligente, esprit ouvert – son mari est ingénieur et a trouvé dans l’aviation à l’armée une place (donc officier). Par principe tous deux pacifistes. Elle habite: 14 Rue Neugesser et Coli P. 16.e. Elle sait très bien l’allemand – a été à Bielefeld, chez nous, je l‘aime beaucoup.

Mme. G. A. Blache, 162 rue Ordeneur P. 28c, amie d’enfance, avons été ensemble au lycée de Clermont – veuve de guerre – femme de coeur, devouée, droite mais très nationaliste.– sait l’allemand. Vous pouvez lui téléphoner: Lab: 0415 au cas où son invitation ne vous convienne pas – ou pour prendre un rendez-vous avec elle. – Je l’admire et l‘aime. Gehen Sie zu der Galerie Billiet , wo Sie mit Herrn Pengatz sich über Kunst unterhalten können und von ihm erfahren werden, ob Masereel immer noch rue Lamarck wohnt. – Er kann Ihnen auch andere Galerien nennen, die für Sie wertvoll sein können. Der Inhaber Herr Worms ist wenig sympathisch. Wenn Sie jemand sprechen mögen, können Sie noch Anschriften bekommen. – (z. B. Debay. 7 rue Washington – Seitenstrasse der Champs-Elysés. –amie d’enfance mariée à un avocat – mais ils ne savent pas l’allemand.) – Faites vos découvertes; dans le Métro vous verrez le peuple aller et venir et son visage multiple; dans les rues, le restaurant, la foule est cosmopolité. Paris est vraiment le monde en petit.

Schreiben Sie uns bald eine Karte, (ich legen Ihnen eine bei – Karten aus dem Ausland 1 Frc, Brief: 1,75 Frc). – Es war so schön für uns, Sie gesehen zu haben, noch schöner, Sie noch einmal erwarten zu können; wir haben noch viel uns zu sagen, bevor Sie abfahren. Ich werde in der Zeit die Schriften von Kurt Sachsse lesen – wie schade, dass er nicht zu uns gekommen ist, als er in der Lüneburger Heide war. Er hätte vielleicht sich aussprechen können. Jetzt denken Sie nicht an dieses Erlebnis – Genießen Sie diese Tage voll und ganz – es geht so rasch – Ich gehe schnell zur Post, dass der Brief Sie morgen früh erreicht. Nous vous envoyens dans ces lignes l’expression sincère d’une forte amitié H. u. M. B.

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Martha Becker, Bielefeld, 14. Nov. 37

Liebe Frau Werner Berg, Sie sind jetzt allein auf dem Rutarhof und so will ich zu Ihnen kommen, um mit Ihnen zu sprechen, als käme ich wirklich selber. Sie haben mir einen sehr schönen Brief geschrieben; er kam am Morgen meiner Abreise nach Paris und ich habe ihn im Zug gelesen – er hat die Reise mitgemacht. Oft schon habe ich Ihnen danken wollen, dass Sie mir so schön von Ihrem Leben, vom Neubau und ganz besonders von Ihrem Mann erzählt haben. Ich tue es heute und will Ihnen dabei sagen, wie ich mich freue, dass Sie wieder gesund sind, dass Sie durch Ihre Tätigkeit es ermöglichen, dass Ihr Mann reisen kann, dass er seinen Wunsch, Kunst zu sehen, erfüllen kann. – Es war eine sehr große Freude ihn wiederzusehen; es geht von ihm eine Wirkung von starker, gütiger Ruhe aus, die auf einen wirkt, wie die große Natur, - Sein stolzer Glaube an seine Kunst, an die Kunst, sein Vertrauen, das er uns schenkt, haben uns in den kurzen Stunden des Zusammenseins beglückt. – Wenn solche Künstler heute leben, ist es ein Geschenk für uns alle, die die wahre Kunst lieben; wenn solche Menschen in der Weise zu leben wissen, ist es ein Trost. Sie bewahren sich beide Ihr „Selbst“ und können trotz der Anstrengungen des Alltags Ihr Denken und Fühlen aus den großen Eindrücken, die die Berge geben, nähren und wachsen lassen. Wir denken oft hier an den Rutarhof und er bedeutet viel für uns, ohne ihn zu kennen, bloß weil wir wissen, was dort an Werk entstanden ist, weil wir aus Ihren Briefen an Ihrem Leben und Denken teilnehmen dürfen. Wir haben mit Freude und Staunen an den Fotos gesehen, wieviel Neues gemalt worden ist in den vergangenen Monaten und bedauern bloß, nicht die Bilder selber sehen zu können. Aber ich denke, eines Tages kommen wir selber, damit wir Sie alle zusammen sehen. Jetzt ist es gut, dass Werner Berg in Paris ist – dass er die schöne Ausstellung sieht, die Bilder im Louvre. Ich hätte ihn so gern begleitet, aber vor kurzem hatte ich meinen Mann allein gelassen und so konnte ich schlecht wieder fort. In Gedanken sehe ich ihn dort bewundern, was wir lieben und ich warte recht auf seine Rückkehr, um mit ihm sprechen zu können. Alle die hier seine Bilder gesehen, wollen ihn kennen lernen und er hat schon seine Bilder wiedergefunden, die hier bei Freunden und Bekannten hängen. Wir waren zusammen auf zwei westfälischen Höfen, er fand, dass es die Bauern hier recht leicht haben. – Bevor er abreiste, lies er uns die Schriften des verstorbenen Freundes hier und ich habe sie angefangen zu lesen – mit Erschütterung. Das Schicksal dieses empfindlichen Menschen mit der Dichterseele, diese wunderbare starke Freundschaft, ohne der er nicht leben kann,

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sein Wille innerlich frei zu sein, stehen vor mir und ich kann jetzt begreifen, was Ihr Mann voriges Jahr durchgemacht hat, als er den Freund verlor. – Starke, hingebungsvolle Freundschaft ist das Schönste, was wir haben können.

Ich hoffe in diesem Winter Ursi einmal zu sehen, die drei anderen Kinder und Sie selber sehe ich nur oft auf dem Bild, das W. B. uns gab. Sie dürfen, liebe Frau Mauki Berg, nie wieder im Gebirgsbach baden, Sie würden genau wieder so krank. Hoffentlich wird Ihnen die Zeit nicht zu lang und es klappt alles auf dem Hof in der Abwesenheit von W. B. Wir grüßen sie, liebe Frau M. Berg und warten auf den Tag, wo wir Sie selber sehen und sprechen können. Herzlichst Ihre H. u. M. Becker

Martha Becker, Bielefeld, 14. Nov. 37

Avant d’aller à une répétition du concert qui aura lieu mercredi, je vous envoie, cher ami, une pensée ou plutôt mes expressions des nombreuses pensées qui vous suivent à travers Paris. Nous parlons souvent de vous. Das Tagesbuch von Kurt Sachsse hat mich tief bewegt und ich muss viel daran denken und an Ihr gemeinsames Leben. Bald mehr darüber. Heute Abend bei Tisch kamen wir darauf, dass wir vergessen haben, Sie zu warnen, wenn Sie in der Metro sind oder im Gedränge; es gibt sehr gerissene Diebe und mein Mann hat es teuer erfahren. Also achten Sie immer auf die Leute um Sie und ihre Hände. La prudence est mère de la sûreté. Ne vous moquez pas trop de ce conseil pratique et recevez nos sincères amitiés. Etes-vous content ??

Paris, den 16. Nov. 37 morgens

Meine lieben verehrten Beckers, nun musste tatsächlich der dritte Tag in Paris anbrechen, ich musste erst Ihren lieben Brief mit all den wertvollen Ratschlägen erhalten, bevor ich ein Wort von mir hören lasse! Schuld daran hat diese unvorstellbar reiche Stadt, das Übermaß der ausgebreiteten Herrlichkeiten, – das alles verschlägt einem den Atem, ja, und auch die Möglichkeit davon zu schreiben. Untergebracht bin ich hier aufs denkbar Angenehmste. Am Abend der Ankunft noch war ich am Seineufer, vor der beleuchteten Front der Notre Dame, die wohl noch jedes Menschenherz begeistert hat, und in den weiten Trakten des Louvre.

Nach der stillen Frühmesse zu Notre Dame war ich den ganzen Sonntag dann im Louvre. Ein Engel hatte meine Augen klar und stark gemacht und

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mein Herz weit offen, es war ein ewig unvergesslicher Tag. Mit dem Menschenstrom floss ich hinaus, schlenderte durch die Tuilerien zwischen den schwarzen Bosquets flammten die Lichter auf vor dem hohen offenen Himmel, ich ging zwischen den stillen Bäumen der Champs-Elysées und war bei den Kindern, die Rollschuh liefen und auf reizenden Ringelspielen fuhren, und bald war ich zwischen ihrem hellen schönen Lachen im Théâtre Clignon.

Dann wieder draußen – fern ringsum der tausendfältige Betrieb der Weltstadt – war es ganz still, ich dachte an meine Kinder, meine lieben Kinder, die ein gütiges Schicksal behüten möge, ich dachte an meine liebe, liebe, starke Frau, und ich dachte an Sie, meine Freunde, die mir die Eiseskälte der Öffentlichkeit durch die Wärme Ihrer Herzen vertreiben. Ich war ganz heiter und gelöst und aus meinen Augen fielen ein paar runde Tränen der Dankbarkeit.

Gestern war ich im Chef d’œuvre de l‘art français, – sie kennen diese Ausstellung, die erlesenste, die man wohl je sehen kann. Was soll ich Ihnen davon reden! Kurz, gerade vor dem endgültigen Schluss war ich auch noch in der großen Exposition des Independants, hatte auch sehr merkwürdige Begegnungen mit Bekannten. Sehr leid tat mir, dass ich Madame Blache verpasst hatte, die bereits geschrieben hatte und beim Hotel war, um mich abzuholen. Am Abend après le diner war ich dann draußen in der rue ordeneur, mir war sehr wohl zwischen diesen feinen starken Menschen, nur saß ich ein wenig schwerfällig und stumm zwischen all der Beweglichkeit des Geistes, der sicher kein seichter ist. Die Grüße aber werde ich selbst dann ausrichten und – ach so viel zu erzählen haben. Auch Madame Laureillard schrieb einige äußerst liebenswürdige Zeilen und lud mich für morgen Mittwochabend ein. So darf ich dann – hätte ich es nicht schon längst gewusst! – aufs Schönste erfahren, wieviel Menschlichkeit diese Mauern bergen.

Ob ich noch Kunsthandlungen aufsuchen werde – sicher nicht viele –, weiß ich nicht, mir scheint den Louvre und das Chef d’œuvre könne man sich nicht genug anschauen.

Möchte nur daheim auf dem Hof alles gut gehen, – diesmal muss ich die Reise ausdehnen, es muss sein. Retourné dans notre ferme et dans l’atelier je serai de nouveau chez moi et moi-meme. Croyez – moi! Je n’oublie point du tout ce qu‘il y a à faire pour nous et pour moi! Devant la chaîne non interrompue des ces maitres grands et heureux j‘ai senti le surpoids de notre grave destinée: d’étre toujours isolé, chacun pour soi, enfermé dans son coeur ardent qui ne veut rien que l’humanité. Je l’ai su toujours, je le sais de nouveau dans ce moment et dès que j‘ai un oeil en oeil avec lui – même notre grand chevalier de pinceau et de coeur: Marées.

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Mes épaules sont faibles assez, mais quoiqu’il en soit, je ne m‘en échapperai pas. Le Seigneur en haut là soit bon pour moi afinque je puisse rester fidèle à moi-même, à mes tâches et à vous, les amis bien généreux

Votre Werner Berg

Martha Becker, Bielefeld, 20. N. 37

Monsieur et cher ami – nous avons lu avec un vif plaisir votre bonne lettre. Heureux de voir avec quel enthousiasme vous vivez ces journées de jouissances artistiques. N’oubliez pas d’aller à Chartres, c’est très important et vous aurez l’impression d’une ville de province. Tâchez d’aller voir F. Masereel car de de pouvoir vous entretenir avec un peintre vous fera certainement une forte impression. Il vous plaira comme à nous, vous verrez. Jai reçu une charmante lettre de M.elle Vigny, dites-lui merci de ma part et que je lui écrirai prochainement.

Sie sollen sich nur mit der Kunst dort befassen, mit sich selbst. Können Sie nicht ein paar Skizzen machen? Der Blick von Ihrem Fenster oder eine Ecke vom Jardin du Luxembourg. – Versuchen Sie es doch! Wir werden über unsere Eindrücke sprechen oder später schreiben, wenn das Wort nicht glückt. – Es beschäftigt uns vieles. – ich bedaure sehr, dass Zuloagas jetzt nicht in Paris sind, die hätten Sie unbedingt sehen müssen. Une autre fois certainement. Nous vous souhaitons un bon retour et vous attendons ici et vous envoyons notre invitation amicale. H. u. M. B.

Chartres, 21. Nov. 37

Meine lieben, verehrten Beckers!

Es gibt Dinge, die man gern anschaut und gut findet, Dinge, die einem durch die Augen dringen und ans Herz greifen, es zu pressen und Dinge (?) die einem die Kehle zugleich zuschnüren. O Ewigkeit, du Donnerwort! O Scheiben und Steine von Chartres!

Vom letzten Sonntag bis zu diesem haben meine Augen eine Wanderung gemacht so weit wie nie zuvor in wenigen Tagen, von dem Gipfel des letzten Sonntags bis zu den firnigen heute. Dazwischen liegen viele Berge, gewaltige oft, Hügel und auch Täler (Wust gibt es auch in Paris), in den Morast bin ich gottlob nie getreten. Gut, dass ich Menschen mir zur Seite und verbunden weiß, denen meine ganze Liebe gehört – dass ich Ihnen nur danken könnte! –, gut dass ich eine Stätte habe zu arbeiten, ganz abseits von allem, was sich tut.

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Wie es weitergehen wird, weiß ich heute nicht. Es stimmt schon, das mit den Don Quichoten. Ach, dass nicht unsere Lanzen auch noch von Pappe wären! Um einen Hauch von Segen nur bitte ich.

So vieles wäre zu berichten, es würde Sie – mit recht – mehr interessieren als mein Gestammel. Bei Laurelliards hat es mir sehr gefallen, diese Menschen haben jungen, klaren Geist.

Heute wollte ich Ihnen ja nur einen Gruß aus Chartres senden, einen herzlichen, dankbaren Gruß Ihr getreuer Werner Berg

Von zu Hause bekam ich gute Post. Mittwoch fahre ich zurück. Wie gut, dass ich Sie noch sehe! Dank noch für die Karte.

Martha Becker, Montag abend, 29. 11. 37

Ihr Brief, lieber Freund Werner Berg ist da – erwartet und gern gelesen. Es klingt daraus so ernst zuversichtlich und gibt das Ergebnis Ihrer Reise: die innere Bereitschaft das begonnene Werk weiterzuführen, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringt. Wir ermessen die Bedeutung dieses sich selbst gegebenen Versprechens. Wir wissen, dass der verschlossene Schatz Ihnen ein Quell der Kraft sein wird, wenn es nötig sein wird. Das Leben, das Sie mit Ihrer Frau auf dem Rutarhof führen, gibt Ihnen die innere Freiheit, lenkt Sie zum Wesentlichen, breitet den ganzen Tag Form und Farben vor Ihnen aus, und die Einsamkeit der Berge schützt Sie vor Ablenkung, die die Stadt zu leicht aufdrängt.

Nicht viele wissen so viel von Ihnen wie wir, und Ihr geschenktes Vertrauen gibt uns die Möglichkeit, Ihnen zu folgen, Sie zu verstehen, immer mehr und besser. Können Sie wiederum ermessen, was das für uns bedeutet, dass Sie so sind, so leben, mit dem Ziel vor Augen – jetzt gerade? Die kurzen Stunden neulich haben uns spüren lassen, wie fest in sich Sie sind (que de différences avec votre ami sans ces tourments!) – was für Möglichkeiten in Ihrem Schaffen liegen. … Während Ihrer Reise haben uns diese Eindrücke beschäftigt, immer mehr und wir werden davon bald sprechen. Kommen Sie wann Sie wollen und Sie können wissen: wir erwarten Sie und sind recht froh, dass Ihr Wunsch mit unserem harmoniert, einfach zusammen zu sein. – Aber eine Bitte sprechen wir aus: die Stunden mögen nicht arg zu kurz sein – denn die Trennungen zwischen Ihren Reisen sind recht lang! Und so vieles möchte noch gesagt werden. Sie sollen sich nicht nur die Reiseeindrücke mitnehmen – so wesentlich und wichtig sie sind – Sie müssen wissen, wie unbedingt wir zu Ihnen stehen, wie wir den Rutarhof mit den Menschen dort und das

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Schaffen lieben, wie Ihr Werk in unserem Leben wirkt. – Täglich hat es uns etwas bedeutet, gegeben – in reichem Maße. Es lässt sich nicht einmal einfach sagen. – Gestern haben wir mit den Kindern alles durchgesehen – heute ist Sésée abgefahren und bedauert so, Sie nicht zu sehen. Der Maler Böckstiegel hat auch Westfalen verlassen, er lässt Sie grüßen und bedauert, dass Sie sich nicht sehen werden. Wir werden mit niemand über Ihr Kommen sprechen, so sind wir dann für uns. Quel charme!

Sagen Sie bitte Ihrer Mutter unsere Grüße und unseren Wunsch, Sie einmal in diesem Winter zu sehen und wie gern würde ich Ursi hier haben! Sagen Sie ihr, es gäbe hier eine Tante, die gerne noch spielt – und schöne Geschichten weiß.

Für Sie unseren Dank – nos amitiés et à bientôt! H. u. M. B.

Martha Becker, Mardi soir, 30. 11. 37

„L’art c’est la rupture avec la société“

Monsieur et cher ami,

après Paris, Chartres … vous voici revenu dans la Ruhr, le pays de nous. Je suppose que vos yeux intérieurs continuent à admirer les beautés vues, qui dans ce tête à tête intérieur ont pu s’imprégner fortement dans votre souvenir – le matin nous avons reçu votre lettre de Chartres avec les esquisses si caractéristiques où nous reconnaissons facilement les sculptures disséminées. Quand vous serez ici vous verrez le grand ouvrage que nous possédons sur cette belle cathédrale et publié par un gardien : M. Haeret. L’avez-vous vu ? Lui avez-vous parlé ? C’est un vrai gardien – car il ne connaît qu’elle et n’aime qu’elle. Il a fait une pétition pour qu’on éloigne le camp d’aviation qui mettait „sa “ cathédrale en danger. C’est pour lui déjà le ciel ici-bas, la porte du paradis. Nous n’oublions jamais le culte de cet homme si simple, si modeste, pour l’œuvre d’art, pour lui c’est plus que de l’art, c’est la foi sculptée. J’ai oublié de vous inscrire le titre d’un livre qu’il faut posséder, mais que vous pourrez faire venir de Vienne au Rutarhof c’est „les cathédrales de France par Rodin“ - il contient aussi son testament. Il renferme une foule d’idées très belles sur l’art, et après avoir vu Notre dame et Chartres vous aurez une impression de la pensée du grand sculpteur. Avez-vous vu le musée Rodin?

Je vous montrerai ce livre quand vous serez ici. Les lignes viennent à votre rencontre sur le chemin Paris-Bielefeld pour vous dire que nous vous attendons avec joie, mais avec cette crainte de voir passer les jours de réunion trop

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vite. Il nous semble que vous avez tant à nous dire, mais vous avez aussi besoin de recueillement pour vous retrouver vous-même. Rangez-vous du côté des grands maitres ; c’est dans la solitude de vos montagnes, loin de la ville, de la foule, que l’ouvre se créera. Vous savez que nous aimons et admirons le compositeur H. Kaminski – comme vous il vit dans la retraite des montagnes ; même loin de sa famille, et travaille. Sa pensée et sa force et la pureté du souffle des senteurs.

Ich bin auch froh, dass Sie einige an menschlichen Eindrücken mitbringen, neben den vielen künstlerischen.

Können Sie überschauen, wie lange Sie in Elberfeld bleiben und wann Sie in Bielefeld sein werden? Sésée und ihr Mann werden Sonnabend und Sonntag hier sein. Ich würde Sie gerne mit dem Herforder Kunstsammler bekannt machen. Hier möchten manche Sie kennen lernen (wir kaufen auch einmal ein Bild von W. B. hieß es dann). – Hoffentlich ist Ihnen das nicht zu lästig. Wir selber haben stark den Wunsch, Sie auch nur für uns allein!! zu haben. Aber Sie sollen darüber entscheiden und wir tun dann, was Ihnen wertvoll erscheint, für sich persönlich. – Bewahren Sie sich besonders, was Sie innerlich gesammelt haben – es darf Sie nichts fremd berühren. Le retour à la vie ordinaire n'est pas facile, mais dite-nous que vous avez la meilleure part, même si elle demande tant de sacrifice personnel et un de Mme. Berg.

Recevez notre pensée amicale et au revoir H. et M. B.

Ich möchte Ihnen ein paar Zeilen aus dem letzten Brief, den mein Mann von Walter Bauer bekommen hat, mitteilen:

„… Wenn ich auch bedaure, dass aus dem Vorsatze nichts wurde – das Bedauern darüber wird von der Freude aufgehoben, die ich an dem herzlichen Ton der wenigen Briefe haben durfte, die Sie mir schicken und hinter denen immer die Gestalt des Malers in Kärnten als Anreger unserer Verbindung stand. Die Kunst, die uns zusammenbrachte in diesen Briefen, die Kunst ist lang und ich bin jung – eines Tages wird aus den Briefen schon ein wirkliches Zusammensein werden. Sollte der Zufall Sie in unsere Gegend bringen, denken Sie doch daran in Halle auszusteigen – es wäre uns eine Freude, Sie hier willkommen zu heißen.

Diese Wochen ließ ich mir antiquarisch eine Auswahl der Briefe von Marées besorgen. Was Sie vor dem Bilde in Bremen empfanden, spricht auch aus diesen Zeugnissen: die Klage, doch auch die Gewissheit, dass die Kunst das Leben überflügelt und alle, die an ihr hängen, werden emporgetragen. – etc.“

Ja, wir waren mit Freunden einen Tag in Bremen und vor dem Bildnis von Marées hatten wir so stark das Gefühl, dass alles in seinem Ausdruck als

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„Seufzer des Genius“ bezeichnet werden könnte. – Kennen Sie die Kunsthalle in Bremen? Es sind auch einige einzigwertvolle Bilder da.

Es war ein schöner Tag, eine Ausspannung, sonst gab’s seit Monaten immer mehr zu tun und zu denken. – Wir haben in den letzten Wochen sehr viel Anteil gehabt am Lebensschicksal von Menschen, die uns nahestehen. – Gerade um Ostern steigerte sich alles und wir sind noch sehr damit beschäftigt – wir armen Menschen, was kann aus uns werden, wenn das Schicksal uns Prüfungen auferlegt, wenn Leidenschaft das Gleichgewicht der Gefühle zerstört – ! Freuen Sie sich, dass Sie so geschlossen für sich mit Kindern und Hof leben können, jeder an seiner Aufgabe und doch für alle, jeder mit allen ist und lebt. Unsere kleine Christiane ist ein reizendes kleines Kind, die uns so viel köstlicher Trost ist. – Nächstens werden wir sie und Sésée für acht Wochen bei uns haben, da unser Schwiegersohn eine Übung machen muss. – Darauf freuen wir uns sehr. – Das Erwachen der Seele ist so schön und was könnte aus einem Kind werden, wenn wir selber die besten Menschen wären. Ihre Fehler, Ihre Schwächen sind ja unsere!!

Mein Mann arbeitet eifrig für sich – er ist mit dem Werk eines französischen Schriftstellers, Georges Duhamel, beschäftigt, d.h. „Defénse des Lettres“ – alles darin ist seine eigene Anschauung und die, durch die Anlage des Buches und der Gedanken gefundene Gestalt regt ihn sehr an. Er übersetzt’s für sich – zunächst. Der ganze Winter gab uns viel durch die Musik, die hier herrlich gepflegt wird.

Ich kann nicht schließen, ohne zu erwähnen, dass die Ausdehnung des spanischen Kriegs uns viel Leid macht. Die Sorge wächst, je länger wir warten müssen – oft qualvoll – Mehr kann ich nicht sagen: ich warte auf den ersten Tag, wo ich abfahren kann, um Itta wiederzufinden. – Wann wird es sein?? Wir freuen uns, dass Frau Berg wieder bei Ihnen ist und Ursi auch. Wir grüßen Sie alle, jeden Einzelnen mit Herzlichkeit – und Sie beide, liebe Herr und Frau Werner Berg ganz besonders Ihre H. u. M. Becker

Lieber Werner Berg, zu soviel Gutem ist nichts hinzuzufügen. Hier ist kaum ein Tag ohne Gedanken an den Rutarhof und seine Bewohner. Jetzt wäre die Zeit miteinander zu sprechen, statt zu schreiben.

In allem unverändert herzlichst Ihr H. B.

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Martha Becker, Bielefeld, 4. 12. 37

Liebe Frau Werner Berg, einige Stunden nur war Ihr Mann da – wir haben viel zusammen gesprochen und hätten ihn sehr gern länger hier gehabt. Es ging so rasch dahin und uns trennt die weite Entfernung. Das empfand ich sehr, als er fortfuhr. Aber eine schöne Erinnerung behalten wir daran und werden den Eindruck seiner ganzen Person – als Künstler und als Mensch – nie vergessen. Bald wird er wieder bei Ihnen sein und durch ihn ist dann auch eine Verbindung zwischen uns. Wir hoffen sehr, dass Sie auch einmal nach Bielefeld kommen werden, mit ihm oder allein, damit wir uns sehen und nicht nur lesen. Ihre Zeilen haben mir viel Freude gemacht; ich weiß was auf Ihnen ruhte in der Abwesenheit Ihres Mannes. In meinem Brief habe ich ganz vergessen, Ihnen zu sagen, wie schön wir die bäuerliche Holzfigur der Pieta finden und wie lieb uns dieses kleine Werk ist, das der Ausdruck des Landes ist, wo Sie beide leben. Sagen Sie es Ihrem Mann noch einmal von uns, wenn er heimkehrt, und wir wünschen ihm schaffensreiche Wochen, so lang das Land schläft. Er wird Ihnen viel erzählen.

Ihnen beiden, liebe Frau Werner Berg, der Ausdruck unserer Freude über das Wiedersehen und viele herzliche Grüße von Ihren H. u. M. Becker

Elberfeld, Sonntag abd., 5. Dez. 37

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Hier begrüßten mich Ihre Zeilen. „L‘art, c’est le rupture avec la sociéte“. Ja, das ist nachgerade so selbstverständlich, dass es nicht weh tun sollte, – wie jetzt hier. Aber das geht vorüber, wenn ich erst wieder bei der Arbeit bin und auf dem Hof. Wenn je eine, dann war diese Reise für mich eine „notwendige Reise“. Fürchten Sie nicht, sie habe mich nur sentimentaler gemacht, – und auch nicht, ich wolle nur ein paar Gescheitheiten daraus gewinnen. Den reichen Schatz habe ich jetzt fest verschlossen, daheim werde ich ihn hervorholen und dann wird alles zum inneren Bild werden. Die Arbeit aber werde ich weiterführen, wo ich aufhörte, – weiter und stärker. Es wird und soll mir nicht anders gehen als Jakob mit dem Engel. Donnerstagmorgen werde ich sehr wahrscheinlich hier abfahren. Ich melde mich dann in der Stapenhorststraße und würde am liebsten, wenn es sein kann, nur einige Stunden mit Ihnen beiden zusammen sein, – in ein paar guten Stunden lässt sich so viel reden! Am Abend fahre ich dann weiter.

So kurz jetzt, so vieles dann. Es grüßt Sie – mir fehlen die Vokabeln! –

Ihr getreuer Werner Berg

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Martha Becker, Dienstag, 7. 12. 37 Lieber Freund Werner Berg, als Sie abfuhren – der Tag war so grau und Sie fehlten uns sehr – sah ich die Wege, die Sie und wir gehen müssen bis sie sich wieder begegnen werden, vor mir, mit den noch unbekannten, ungeahnten Merkmalen, die dem Leben eine Bedeutung geben. – Für Sie werden es die Bilder sein, die entstehen werden, auf die wir warten mit Zuversicht. Denn, so kurz die Stunden bei uns waren, so viel haben Sie uns gegeben durch die starke Prägung Ihres eigenen Wesens, den festen Willen mit dem Ihr Leben auf das Ziel führt, das noch so viel von Ihnen fordern wird. Ihre Gegenwart bleibt in unserer Erinnerung und es kristallisiert sich alles um Sie, was wir an Worten und Eindrücken gehabt haben. – Oft sagen wir uns, Sie hätten länger hier sein müssen, aber wir wollen Ihnen danken, dass Sie gekommen sind, denn wir wissen, wie kostbar Zeit für Sie ist. – Wie haben Sie uns verwöhnt! Täglich oder besser oft am Tag ruhen die Augen auf der Holzfigur, die etwas in uns vibrieren macht: la grande pitié pour toutes les souffrances humaines. La force du sacrifice par l'amour du bien, de la vèrité, de l’art. – Alles liegt darin so schlicht, so wahr. – Die schönen blühenden Rosen, die noch so duften, sagen mir, wie es vor kurzem war, als Sie selber mit uns sprachen. Frau Germaine Laureillard hat mir geschrieben und sagt von Ihnen: „Mit großer Freude haben wir Ihren Freund, den jungen Maler, empfangen und sogleich sein offenes und freundliches Wesen liebgewonnen. Wir konnten ihn nur ein paar Stunden sehen, da er mit Museen und Besichtigungen sehr beschäftigt war. Er schien sich gut zurechtzufinden.“

Donnerstag. 9. 12.

Sie, guter Werner Berg! Ich will Ihnen danken für das Buch, das gestern Morgen kam und mir als Gruß von Ihnen doppelt wertvoll ist. Ich werde es bald und gern lesen, um Ihnen zu sagen, wie ich es finde. Es war gestern eine Freude, die den ganzen Tag erhellte. Wir denken, Sie sind bald daheim und werden den Rutarhof ganz verschneit wiederfinden; es sind dann da auch neue Eindrücke nach dem vielen Künstler-Sehen. Ich denke mir, Sie steigen gleich ins Atelier und malen den verlorenen Sohn (I. Fassung), der Ihnen so lange vorschwebt und jetzt Form finden kann, weil Sie selber die Heimkehr erleben nach einer ungewohnten Trennung. Und Sie, liebe Frau Mauki Berg – müssen die Reise durch Erzählung nachmachen und werden sich sicher auch begeistern. Könnten Sie nur das alles selber auch sehen. Wissen Sie, dass ich mich mächtig darauf freue, Sie beide auf dem Rutarhof zu sehen. Aber wenn ich da bin, will ich alles mit Ihnen tun,

98 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

nicht als müßiger Gast komme ich, ich möchte dann an Ihrem Leben teilnehmen. – Ihnen etwas abnehmen; so wird’s dann schön. …

Ich schicke Ihnen den Brief von Walter Bauer, der hier liegen blieb und die Gedichte. – Bald mehr! En attendant seien Sie beide, lieber Herr und Frau Werner Berg vielmals und herzlich gegrüßt en toute amitié H. u. M. Becker

Elberfeld, Mittwoch abd., 8. Dez. 37

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Die Ursi setzt mir zu, ich solle noch einen Tag bei ihr bleiben, und da ich ohnehin meine Besorgungen noch nicht beisammen habe, komme ich erst am Freitag nach dort. Dies nur in Eile, damit Sie nicht etwa vergeblich auf mich warten. Ihren Brief erhielt ich, in ihm war alles, was sich Menschen geben können, ich darf mich glücklich nennen und bin’s auch.

So vieles dann und heute nur einen herzlich ergebenen Gruß Ihres Werner Berg

Samstag abend 11. Dez. 37

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Den letzten Gruß aus Deutschland Ihnen. Ich sitze im Zuge München – Salzburg und bin in wenigen Stunden bei meiner Frau. Aufs Wiedersehen freue ich mich und aufs Wiederarbeiten. Noch ist mir jeden Tag, als spräche ich mit Ihnen, den verehrten Freunden. Treu ergeben Ihr W. B.

Rutarhof, den 15. Dez. 37

Liebe, verehrte Freunde!

Jetzt wollte ich, Sie säßen neben mir in meiner wahrhaft guten Stube und sähen mit mir nach allen Seiten hinaus in das weite weiße Land, das in der schwebenden Zartheit und der rauschenden Gewalt der Stille feiert. Und dann sähen Sie zwei Menschen, denen sehr feierlich ist in Zuversicht und schwerem Glück. Das Leben beginnt neu – in jedem Augenblick und in diesem hell bewusst, – die Welt ist soo schön!

Am Mittwoch stand ich vor meines Freundes Grab in Freiburg. Nach einem Jahr. Dass du, lieber, nicht vergessener Freund, dich und dein Vermächtnis doch keinem Unwürdigen anvertraut hättest, der unfähig wäre, es zu bewahren und weiterzugeben! Aber wie du den nahen Tod herbeiriefst, so klammere

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ich mich an das Leben, meine Menschen, meine Arbeit, – ich hab ja so viel, alles noch zu tun! Und kann und will nicht ablassen. Möchte das nur nicht Vermessenheit sein.

Den vierten Tag bin ich wieder auf dem Hof, in unserem Leben, bei meiner Frau und den lieben Kindern. Nach dieser großen Reise kommen ein paar Tage, die wie im Flug vergehn mit Zusammensein, Erzählen, Anschaun, Spielen, – mit Feiern. Morgen, übermorgen. Ich weiß und spür es, es wieder angehen mit Anspannung, Erhebung und Versagen, Aufschwung und dem wehen Schmerz der Unzulänglichkeit, – nur an Zerstörung kann ich nicht denken. Gestern kam Ihr lieber guter Brief – ich hätte Ihnen schon längst schreiben wollen. Aber verstehen und verzeihen Sie, wenn das bei mir, bei uns nie glatt und pünktlich geht (nous vous envions vos grands dons!), – aber es kann nun einmal zwischen uns, die wir uns verbunden wissen, keinerlei Rechnung geben. Die Tage und Stunden in Bielefeld aber sind nicht vergangen mit Tag und Stunde, sondern immer gegenwärtiger Bestand des uns geschenkten Reichtums dieses Lebens.

Mit dem schönen Buch haben Sie meiner Frau eine große Freude bereitet, sie wird sich recht noch hineinsehen. Mit mehr Bedeutung konnten Sie uns nicht beschenken – Sie wussten das – als mit diesen zwei Büchern. Das eine gibt meiner Frau den Eindruck und mir die festere Erinnerung an das tiefe Sehen und Erleben dieser Reise, die mich reicher und reifer gemacht hat. Das andere verbindet mich mit dem Gefährten, der mir nach einmaliger Begegnung in den Bahnen des weiten Raumes so nah ist. Ich hoffe sehr, der Bielefelder Vortrag Walter Bauers kommt zustande und ich darf dann von Ihnen hören, wie es war und wie Sie den Menschen sehen. Das Buch möchte ich nicht beurteilen, will wohl auch nicht als „Buch“ und zur „Beurteilung“ sich geben. Das vorangestellte Gedicht, das ich erst nach Bielefeld las und meiner Frau mitteilte, gehört in der heißen Schmelzmasse der Empfindung, bevor es in diesem Dichter zur ehern schönen Form wurde, mir selbst inwendigst an. Manches werde ich Ihnen noch zu berichten haben, ein anderes späteres Mal, und auch ein Traktat über die Pinselei wird malheureusement nicht ausbleiben. In München durfte ich übrigens vor der Fahrt über die Grenzen noch einige menschlich schöne, versöhnliche, nicht erwartete Zeichen erfahren. – Sie sehen, gemalt habe ich noch nicht, – aber ich stecke voll Malerei. Nur dürfen Sie nicht jetzt, lange nicht oder nie einen verlorenen Sohn erwarten. Ich will mich diesem unerhörten Leben hingeben, seine leisesten Zeichen anschauen und dankbar froh sein, wenn ein Hauch seines Reichtums mein Bild bleibend macht. Noch hab ich diesen Glauben.

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„Bereitet den Weg des Herrn“, so sagt es die Kirche. Möchten Sie alle, sie –unsere verehrten Freunde –, die Ihren und alle die feinen offenen Bielefelder Menschen in Frieden einem schönen Weihnachtsfest entgegen gehen! Doch keine Predigt ohne Amen und kein Brief – geschrieben oder ungeschrieben –ohne Gruß an unsere lieben Beckers!

Ihre getreuen Werner u. Mauki Berg samt Kindern, Viechern, Hof und aller Winterherrlichkeit

Brief Mauki Berg, 27. 12. 37

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Einige Stunden waren uns beschieden bei Büchern und Bildern, es waren die schönsten des Festes. Und Ihnen, verehrte Freunde, danke ich jetzt erst richtig für das reiche Geschenk. Unerschöpflich ist es an Schönheiten, zum tiefen Erleben zwingend. – Auch von Ihnen sprachen wir immer wieder, da mein Mann von seiner Reise erzählte. Froh und dankbar bin ich, dass das möglich war, dass die Begegnung mit Ihnen die Bande echter seltener Freundschaft noch stärker knüpfte, dass der erste Aufenthalt in Paris so voll fruchtbarer starker Eindrücke war. Das stärkt die Kraft und Zuversicht zur Arbeit. Da das Jahr mit noch ungebrochener Kraft zuckt, wollen wir in Demut für das nächste hoffen und mit neuem Mut beginnen. Und zu Ihnen gehen in diesen Tagen unsere Gedanken hin mit aufrichtigen herzlichen Wünschen für ein gutes segensreiches Jahr.

Unsere Kinder haben Sie zum Weihnachtsfest so lieb bedacht. Sie lassen den unbekannten „Onkel und Tante“ vielmals danken und ich sollte schreiben, „dass kommen muss.“ Dieser Bitte schließen wir uns an; lassen Sie uns die Hoffnung, dass wir sie im Sommer hier begrüßen dürfen. Wie würden wir uns freuen mit Ihnen vor den Bildern zu stehen! Und wie sehr wünsche ich, Sie beide kennen zu lernen!

Seien Sie, verehrte liebe Freunde, herzlichst gegrüßt von Ihren Werner u. Mauki Berg

Martha Becker, Bielefeld, 29. 12. 37

Liebe Herr und Frau Werner Berg, in diesen Tagen ist die Zeit so knapp!! Sie sollen deswegen nur diese Zeilen bekommen, um Ihnen zu danken für Ihren herrlichen Brief, die köstliche weihnachtliche Nascherei. Sie werden aus Clermont ein Paket bekommen mit

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Champagnerkreide (blanche d‘ Espagne!!) Es ist zollfrei gemacht und ich hoffe, dass Sie es ohne Schwierigkeiten und Unkosten bekommen werden. Sie müssen darauf bestehen, dass es zollfrei gemacht ist – auf den Papieren muss es stehen. Ist es auch das Richtige?? Meine Schwester war so unwissend wie wir! Also, c’est pour la nouvelle année, et toutes les belles peintures que vous allez faire. Tous nos meilleurs vœux de santé ! Bonheur pour vous et vos enfants et nos amitiés pour 38 bien sincères H. u. M. B.

1938 Nach dem Anschluss Österreichs wird die Ausstellung „Entartete Kunst“ auch in Wien gezeigt. Auch Werner Bergs Bild „Nächtliche Scheune“ ist in dieser, die Moderne verhöhnenden, Auswahl dabei. Beckers, die in ihrem Bielefelder Kreis den „entarteten“ Künstlern treu bleiben, gelingt es vereinzelte Werke Werner Bergs an Freunde zu verkaufen. Otto Benesch, der Direktor der Albertina, schreibt Berg: „Es wäre mir eine wirkliche Freude, Sie hier wieder einmal zu sehen und mit Ihnen über Ihre Pariser Eindrücke zu sprechen. Sie sind auf dem richtigen Weg – alle sachliche Arbeit ist heute mehr oder weniger ‚Privatissimum’. Schön wäre einmal eine Aquarell- und Graphikausstel -

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lung von Ihnen in Wien. Lassen Sie sich in Ihrer Kunst nicht irre machen und gehen Sie ruhig Ihren Weg weiter. Sich selbst treu bleiben, ist heute, wo jeder andere Halt fehlt, das erste Gebot für den Künstler.”

Später, schon aus der Emigration in Paris, schreibt Benesch: „Der Schmerz nicht zu Ihnen zu kommen, war für uns besonders groß, da uns das Vorgefühl bedrückte, dass es vielleicht ein Abschied fürs Leben ist. Für die nächsten Monate bleibe ich hier, warte eine aussichtslose Entscheidung in der Schweiz ab und bereite eine neue Existenzgründung in U.S.A. vor. Über die Situation der Kunst sprechen wir uns in einvernehmlichem Schweigen aus. Vielleicht auch über das Übrige.“

„Unser Leben, das schwer und reich, nur unerträglich oft verlassen ist“, so kennzeichnet Berg seine Situation am Rutarhof.

Martha Becker, 24. Januar 38

Liebe Herr und Frau Werner Berg, Sonnabend saßen wir hier im kleinen Kreis und sprachen von Ihnen, von Walter Bauer, mit Menschen, die gern davon hörten. Delius waren da, Schaders (die jetzt einen Holzschnitt erwarben) und der Sammler aus Herford. Mein Mann las den „Seufzer des Genius“ um sich für den kommenden Vortrag von Walter Bauer vorzubereiten, der am 18. Feber sein wird, er las Stellen aus Ihren letzten Briefen, die diesen Freunden Ihrer Kunst etwas von Ihnen selber geben konnten, da diese nicht mit Ihnen persönlich sein konnten, als Sie die kurze Zeit hier waren.

Es war ein schöner Abend und es war mir am anderen Morgen, als seien Sie selber hier mit uns gewesen, so nahe waren Sie durch das Denken an Sie und Sie waren auch wirklich zu Worte gekommen.

Das wollte ich Ihnen, lieber Herr Werner Berg, erzählen, damit Sie hierher sehen und hören können und wissen, dass wir nie ganz schweigen, auch wenn keine Briefe zu Ihnen kommen. – Sie haben uns beide so erfreut mit Ihren Briefen, die wir gern lasen. Es war schön für uns Ihre Rückkehr auf den Rutarhof mitzuleben, Ihre Festigkeit und Entschlossenheit die nächsten Ziele zu suchen und zu verwirklichen. Wir wünschen Ihnen in diesem neuen Jahr eine reiche Erfüllung dieser Pläne. – Möge jeder von Ihnen, groß und klein, weiterwachsen in seinem Wesen.

Wir haben so stark oft das Empfinden, dass Sie den schweren, aber richtigen Weg gefunden haben. – Jeder von uns steht an einer Stelle seines Weges, ohne zu wissen, wie lang er noch ist, welche Schwierigkeiten er uns bereiten wird, so ist wirklich jeder Schritt wichtig, jede Tat, jedes Wort – ohne sich deswegen

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eng zu klammern, da das sich Lösen fast genauso wichtig ist, um bereit zu sein, wenn es nicht weiter geht.

Vor kurzem war Frau Nolde hier, ganz kurze Stunden. Wir wurden gebeten nach Berlin zu kommen und hörten von ihr, dass er, Nolde, sehr rüstig am Schaffen ist. „Ich bin jetzt der Älteste“, hat er gesagt, als er vom Tod von Christian Rohlfs erfuhr.

Sie können sich vorstellen, dass jeder eine Frage hatte und wir allerhand von ihr erfuhren. – Ich verstehe übrigens gut Ihr Urteil. Es ist schade, dass ich nicht ausführlich darüber schreiben kann – aber später erzähle ich Ihnen davon. Auf jeden Fall sieht sie, dass die Kunstfreunde hier wissen, was sie für wertvoll halten und fest auch. – Es wird Ihnen vielleicht auch Freude machen, wenn ich Ihnen sage, dass mein Mann neulich anschließend an einleitende Worte zu einem Vortrag im Kunstverein ein Gedicht von Weinheber vorlas, was sehr gut gefiel. Das Bändchen ist oft schon zur Hand genommen. – Mein Mann schreibt selber darüber. Hoffentlich haben Sie nicht gelacht, als die Kreide ankam. Ich wollte nur wissen, ob sie die „Richtige“ ist.

Ich habe oft in letzter Zeit eine starke innere Unruhe, wenn ich an Itta denke und Weihnachten war es schwer, froh zu sein. Überhaupt wird das Warten so schwer, je länger es dauert. Denke ich an die kommenden Menschen, so wünsche ich die Welt anders – aber der Trost sind die guten Menschen und Freunde, die man hat und dazu gehören Sie immer. – Nehmen Sie beide mit diesen Zeilen viele herzliche Grüße

Ihre Martha Becker

Heinrich Becker, 25. Jan. 38

Lieber Herr Berg,

Meine Frau hat ihren Brief für Sie gestern Abend noch angehalten, so dass ich heute Morgen, bevor ich in die Schule gehe, noch einige Zeilen für Sie und Ihre Frau hinzufügen kann. Wir entfernen uns schon wieder sehr fühlbar von den glücklichen Tagen unseres Zusammenseins und werden dadurch neu erinnert, wie sehr menschliche Gemeinschaft auf geistiger Zugehörigkeit beruht; und wie wenig die Nähe im Raum Freundschaft und bleibende Zuneigung verbürgt, erfahren wir ja alle täglich im Umgang mit den Mitmenschen. So lassen Sie uns einander auch künftig in Gedanken suchen, wie wir es schon so viel seither getan haben. Ihre Bildwerke vertreten Sie so schön bei uns und helfen so willkommen, Ihre Person uns gegenwärtig und wach zu halten.

104 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

In der Zwischenzeit haben Sie uns neue und noch ungedankte Freude bereitet mit dem kleinen Gedichtbändchen von Weinheber, der mir in vielem sehr nahe geht und zu dem ich gern zurückkehre, und mit dem Roman von Walter Bauer. Dadurch haben Sie den Beziehungen zu diesem lebendigen, jungen Menschen neue Nahrung und Wärme gegeben. Der verabredete Vortrag über Caspar David Friedrich soll am 18. Februar stattfinden. Ich freue mich schon sehr auf diese bevorstehende Begegnung mit ihm und werde Ihnen danach so bald wie möglich berichten. Augenblicklich stehe ich unter dem Eindruck der Kriegs- und Nachkriegsbriefe Rilkes, die mich tief erschüttern und zur Bewunderung rufen. – Ich höre auf, oder vielmehr unterbreche mich bis zur nächsten Gelegenheit, schicke Ihnen Dank für alle Ihre Güte, die Sie für uns haben und grüße Sie, Ihre Frau und Ihre Kinder von Herzen Ihr Heinrich Becker

Martha Becker, Bochum 29. 1. 38 Liebe Herr und Frau Werner Berg, in diesen Tagen erlebe ich mit meiner Tochter Sésée das wunderbare, geheimnisvolle Erwachen eines neuen Lebens. Seit Mittwoch ist sie Mutter und hat einem Mädchen das Leben geschenkt: Christiane-Franziska. Ich war sehr bewegt Sésée mit ihrem Kind zu sehen als ich hier ankam. – Diese kleine Sésée, die ich selber vor Jahren auch so hielt! – Es geht ihr gut und das Kind finden wir so schön. Es ist gesund und will gern leben und es hat wohl Vertrauen in unsere Welt. – Sésée ist glücklich und wir sind alle dankbar. – Es ging alles rascher, als wir dachten und sie konnte die Reise nach Bielefeld nicht mehr machen. So bleibe ich ein paar Tage hier und hoffe sie nachher noch in Bielefeld pflegen zu können. Machen Sie wie früher die guten Feen und sagen Sie für unser Kind einige gute Sprüche und Wünsche.

Sésée denkt oft an die Gestaltung der jungen Mutter, die Sie so zart im Bilde festgelegt haben und versteht noch besser.

Nehmen Sie mit dieser Botschaft viele herzliche Grüße von M. Becker

Brief Mauki Berg, 2/II 1938 Liebe, verehrte Dr. Beckers!

So schnell kam auf Ihren lieben Brief die Karte mit der frohen Botschaft, dass wir nun für beides freudigen Herzens danken. Wie sind wir glücklich mit Ihnen über das kleine Menschlein – und wir senden innige Glück- und

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Segenswünsche zu der jungen Mutter mit dem Kinde und zu Ihnen, verehrte Freunde! Ich schreibe diesmal für meinen Mann mit, er ist weg und weiß noch nichts, erst heute schicke ich ihm die Karte. Er hatte schon seit langem das Vorhaben einmal mit dem Schlitten auf mehrere Tage zum Malen loszuziehen. Wetter und Schlittweg waren besonders günstig, drum hat er sich am Sonntag mit seinem ganzen Malkram aufgemacht und ist nach Diex, einem hochgelegenen Dorfe am Fuße der Saualpe gefahren – eine Tagesreise weit von hier. Eine große Freude war ihm gerade vor der Abfahrt noch Ihr schöner Brief. Wohl weiß er auch ohne Zeichen um Ihre immer gleichbleibende freundschaftliche Gesinnung, doch tut es dem geistig Einsamen gut von Zeit zu Zeit in den Briefen die Wärme wahrer Freundschaft zu spüren. Leider kann auch ich ihm nur selten ersetzen, was er bei Ihnen in reichem Maße hatte und in Ihren Briefen immer wieder hat – die fruchtbare geistige Aussprache. Auch sind wir zu sehr eins. Die geistige Berührung von außen ist notwendig.

In der Malerei hat das Jahr gut angefangen und ich habe die starke Zuversicht, dass es nicht nur bei dem guten Anfang bleibt. Es sind nacheinander drei gute Bilder entstanden. Als erstes eine große Felslandschaft an der Drau, dann ein sehr stilles winterliches Abendbild mit Figuren und wieder eine Schneelandschaft. Der Winter ist schön bei uns, ich kann mir keinen Maler denken, der sich hier des Eindrucks der weißen Landschaft entziehen könnte und der nicht dem Geheimnis der stillen Natur in immer neuen Bildern nahe zu kommen strebte.

Nehmen Sie heute bitte meine Zeilen als Ersatz für einen Brief von meinem Mann. Ich hatte mich so gefreut über die Botschaft, dass ich gleich schreiben musste. Bald werden Sie auch von ihm wieder hören.

Viele herzliche Grüße Ihnen, verehrte Freunde von Ihrer Mauki Berg

N.B.: Haben Sie das Nordlicht gesehen? Wir hatten das Glück, es lange schauen zu können. Es waren Stunden tiefer eindringlicher Schönheit. Wir mussten beide an Grünewald denken.

Rutarhof, den 14. Feber 38

Liebe, verehrte Beckers!

Wieviel man doch in einem guten Monat erleben kann! Unter den Bäumen, die sich reifschwer bogen, bin ich das Drautal aufwärts gegangen im Morgenund Abendfrost, neben dem grünen Fluss, auf dem die Eisschollen rauschen, klirrend sich schoben. Ich hab die Felsstirne über dem Wald gemalt mit ihren

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alten, tiefen Zeichen, so gut ich’s konnte. Ich hab daheim den stillen Abend gemalt, und lange standen wir unter dem flammenden Nordlichthimmel in der Winternacht. Den Knecht und das Pferd hab ich gemalt – und das Mistausfahren wurde dabei nicht vergessen – und den fahlen Eichenzweig mit sehr viel Schnee überm Rutarhof. Dann wurde der Schlitten angespannt, mit Leinwand und Farbe bepackt, und über die Drau ging es nach Völkermarkt und immer aufwärts, bis im Schneesturm das Pferd stecken blieb und wir mit vieler Mühe es noch bargen. Aber nach Diex hinauf kamen wir dennoch am nächsten Tag, – auf dem breiten Buckel der Saualpe stehen vier stattliche befestigte Kirchen mit Wehrmauern und Türmen, die den Morgengruß der Sonne auffangen und im letzten Schimmer der Dämmerung erklingen. Ja, Grüß dich Gott Walter Bauer: „In den Dämmerungen regiert das Herz.“

Und dieses Leuchten der Sonne in der Höhe, deren scharfer Wind den letzten Dunst wegfegt! Ja, auch die Sonne habe ich gemalt und nicht gefragt, ob ich’s darf, – ich will ja nicht fragen und denken und an den engen Mauern, die ich nicht überwinden kann, zerschellen, malend aber gewinne ich – nicht leicht und schnell – den Erdenraum unterm Himmel weiter und schöner immer. Viel und Großes darf ich nicht tun, aber etwas, und für dieses Etwas bin ich so dankbar. Auf den weiten Schnee- und Waldkuppeln stand ich, unten lag Kärnten, das ganze überreiche Land und viele ferne Berge vieler Länder. Willst du dich erheben, Mensch, oder aufgeregt klein dich zerwurmen? Durch den hohen Graben ging ich nach Feistritz, wo wie ein Wunder zarteste Gotik blüht. Und Chartres, ja Chartres! Jetzt stürmen die Kinder aus der Schule – solcher Schulen werden nicht mehr viele auf der Erde sein – mit ihren Brettln sausen sie ins Tal, das in der gleichen Minute ihren letzten Jauchzer verschluckt, der alten Bäume Äste zittern leis im Sonnenlicht vor der hohen weißen Berglehne mit den höchsten Bauernhuben, und darunter durchfährt des Glückes Schauern einen Menschen, der lang leben, sehen und sich mühen möchte.

Nach allem wieder sehe ich in das warme Licht zweier Augen, der besten. Herrgott, du hast es nicht schlecht gemeint mit mir fehlendem, strebendem Menschen, überwinde dich nur und viel Kleines zuwidere!

Da hängt er, steht er vor mir: Saint Théodore mit der Lanze, der das Kettenhemd so leicht trägt und drüber Haupt und Antlitz: innig und fest, demütig und stolz.

Als ich im Schnee draußen stand, brachte mir am Tag vor der Diexer Fahrt unsere Klärchen Ihren Brief, der so viel Freude und Wärme gab. Und bald erreichte auch mich in Diex Ihre Karte. Dank Ihnen, dass Sie uns so bald an

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Ihrer Freude teilnehmen ließen, auch die hat mich zu allen Stunden begleitet, auch wenn ich noch nicht von mir hören ließ. Grüßen Sie bitte von uns das kleine liebe Mädchen mit dem schönen Namen und die hoffentlich immer glückliche Mutter. Aber ein Lächeln kann ich nicht unterdrücken: Mme Becker – grand mère – aber eine kleine Mutter ist es wahrlich nicht. Möchten doch Sie beide, die Sie fremder Mutter Sorgenkind so zu beschenken vermögen, an allen Ihren Kindern und Kindeskindern nur Gutes erfahren!

Jetzt kommt bald Walter Bauer nach Bielefeld und hoffentlich auch in Ihr Haus. Gern hätte ich gewollt, Sie hätten sein schönes, offenes Buch ‚Der Lichtstrahl’ zuvor gelesen. Mir ging es nahe, wie der Zuruf des guten Kameraden neben mir – und doch viel mehr als ein Zuruf: ein geöffnetes Herz ohne Falsch und ein gestaltetes Werk ohne Makel.

Die Begegnung mit Walter Bauer wird immer ein seltenes, großes Ereignis in meinem Leben bleiben. So einmalig, so schön, dass ich nie daran dachte, sie fortzusetzen, sie der oft erfahrenen Menschengefahr des Missverstehens und schmerzlichen Verlierens auszusetzen. Auch hat dieser Mann sein Ding zu tun, und ich habe das meine zu tun. Aber dann kam im Erkennen und Umgreifen mir alles so unerhört nah, und ich denke nichts mehr. Sie haben ein weiteres getan, Sie, die immer guten Freunde. Schreiben Sie mir bald wie es war. Ich bitte Sie: grüßen Sie Walter Bauer von mir und meiner Frau, und heißen Sie ihn wie in Ihrem, so in unserem Hause willkommen.

Vom Tode Christian Rohlfs erfuhr ich erst durch Sie. Eines Mannes Festigkeit überdauert vieler Zeiten Wandel, und sein Werk die Zeit selbst.

Wie so oft verzeihen Sie auch diesmal einem Pinselschwenker das Wortemachen, und wollen Sie aus allem nur erkennen die treue Verbundenheit und Ergebenheit Ihrer Werner u. Mauki Berg

Kurt Sachsses zu gedenken, brauche ich Sie nicht erst bitten. Sein letztes Buch konnte ich wohl jetzt noch nicht schicken.

Hölderlin:

„Wenn dann in kommender Zeit

Du einem Guten begegnest, So grüß ihn, und er denkt, Wie unsere Tage wohl Voll Glück, voll Leidens gewesen.“

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Heinrich Becker, Bielefeld, 27. Febr. 38

Lieber Herr Werner Berg, immer wenn ein Brief von ihnen kommt, ist es uns, als wären Sie selbst dagewesen. So lebendig fangen Ihre Worte an zu klingen, mit dem Ton Ihrer Stimme, die uns wohl vertraut ist. So finden menschliche Worte ihren Weg durch weite Räume auch ohne die technischen Hilfen des Telefons und des Radios. Schwung und Feuer Ihrer unverbrauchten Jugend sind gegenwärtig um uns, wenn wir sie lesen. Haben Sie Dank für das Geschenk Ihrer Mitteilung und danken Sie auch Ihrer lieben Frau für alles, was sie uns aus ihrem vollen Herzen schrieb, als Sie selbst in Diex an der Arbeit waren. So konnten wir, unterstützt durch die mitgeschickten Fotokarten, Ihnen auf Ihren Wegen folgen. Auf der Karte mit dem Heiligenhäuschen vorn und dem Weg, der auf der Höhe dem Dorf mit seinen beiden himmelwärts weisenden Kirchtürmen zudrängt, meinen wir etwas von dem Charakter der uns immer nahen Auvergne wiederzufinden. Was mag dieses Stück Land, das Sie im Schnee gesehen haben, aus Ihnen herausgelockt haben. Wir sähen es gerne – und gern denken wir an den Tag, der uns einmal auf den Rutarhof führen soll, um Sie in Ihrer Welt, in dem Kreis der Ihnen zugehörigen Menschen, von Frau und Kindern umgeben, in der Fülle Ihrer Arbeit, der erdgebundenen und der künstlerischen, wahrhaft freien, zu sehen. Hoffentlich kommt uns dieser Tag einmal.

Unser Leben hier ordnet sich in diesen Wochen um den kleinsten Menschen unter uns, Christiane Francisca, noch klein und doch Mittelpunkt unseres Tuns und Schauens. Es ist uns ganz zumute wie damals, als uns unsere eigenen Kinder geschenkt wurden und wir fühlen keinen Abstand. Fast ist es schon, als ob die Kleine immer dagewesen, so schnell fasst der Mensch, der kleinste schon, festen Fuß auf dieser Erde. Wollte Gott, dass sie zu allem Guten geboren ist, dass sie helfe, den Vorrat an Liebe und Güte unter uns Menschen zu erhalten und zu vermehren.

Und nun warten Sie gewiss, von Walter Bauer zu hören, wie er gesprochen, wie er sich gegeben hat. Da müssen Sie noch einige Zeit Geduld haben. Denn er ist jetzt nicht gekommen, konnte nicht, weil ihm der Urlaub nicht gewährt wurde. Am 18. Februar am Abend, wo er hier sprechen sollte, habe ich ihm geschrieben, auch von Ihnen und Ihren Grüßen, worauf er sehr freundlich antwortete und mir Grüße für Sie auftrug. Wir hoffen, dass es im Laufe des Jahres möglich sein wird, ihn zur Zeit seiner Ferien einzuladen, und dann gedenke ich ihm mehr von Ihnen zu sagen und ihm Ihre Arbeiten zu zeigen, die ich hier habe. Ein Zusammentreffen zu dreien habe ich es in meinem Brief an Bauer genannt. Und hoffentlich wird es das.

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Und sonst machen wir Musik und hören Musik, zuletzt eine herrliche Bruckner-Symphonie und freuen uns, dass wir an so vielem teilhaben, das uns über Tag und Stunde hinaushebt. Fahren Sie fort, uns durch Wort und Werk dabei zu helfen. Ihnen und Ihrer lieben Frau von Herzen zugetan grüßen wir und wünschen Ihnen viel Gutes. Ihr H. B.

Martha Becker, Febr. 38

Liebe gute Freunde,

Sie warten auf Nachrichten von uns, und wie tut es mir leid, dass wir Walter Bauer noch nicht hier sehen konnten und Ihnen von Ihm erzählen können. Aber ich glaube, Sie haben recht, die schöne Begegnung, die Sie mit ihm hatten – durch seine Werke – kann kaum überboten werden. Das angenehme Menschliche trifft man öfters – aber viel seltener das starke Künstlerische damit verbunden. Mein Mann wird Ihnen die Einzelheiten geschrieben haben. Ich komme ganz besonders, um Ihnen beiden zu danken für die beiden schönen Briefe, die wir bekommen haben und Ihre Wünsche sind nun in diesem Fall ganz besonders lieb. Ich stehe vor diesem Kind, wie vor einem Wunder – und einem Rätsel, das ich nur lösen kann, wenn ich seine Entwicklung miterleben kann. Es hat etwas sehr Tröstendes in dieses Gesichtchen zu schauen und dieses rein vegetative Leben hat etwas so sehr mit der Natur Verbundenes. Aber wie sehr wird’s klar, dass unsere Seele erst uns zum Menschen macht – da ist das „Neugeboren“ werden. Darauf kommt’s an. Auf diese Seele warte ich und in dem Namen liegen unsere Hoffnungen. Es gibt nichts im Leben, was uns nicht auch viele Fragen bringt, aber gerade das Leben und der Tod, diese beiden Türen der Ewigkeit, rücken uns fern vom Alltag, um uns nahe an diese Grenzen zu führen. – Sie, lieber Herr Werner Berg, werden durch Ihre Werke, Ihren Schaffensdrang viel mehr und viel öfter und intensiver an diesen großen Abstand geführt von der gewöhnlichen Wirklichkeit. La réalité artistique qui peut-être est la seule réelle et immortelle –Wie freuen wir uns mit Ihnen beiden, dass Sie ein paar Tage fort waren, in so schöner Natur (die Karten sagen schon viel!) – Die Bilder werden schon etwas bergen von dem, was Sie uns in Worten so schön bildhaft schildern. Oft denke ich, Sie könnten auch mit der Feder viel gestalten – vielleicht gerade, weil Sie weit von Menschen und ihren vielen nichtssagenden Worten sind. – Freuen Sie sich, die Berge sind ein schützender Wall gegen sehr Vieles, was uns in der Stadt zu leicht erreicht. – Mein Mann hat vergessen zu sagen, dass wir mit Freunden Herrn Thermann zu seinem Jubiläum (der Firma) einen Holzschnitt

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von W. B. geschenkt haben. … Seit dem 16. 1. sind wir ohne Nachricht aus Madrid – das ist ein tiefer Schatten – wie viele gibt es überhaupt!

Ich denke gern und oft an Sie und Grüße Sie herzlichst Martha Becker

Postkarte mit dem Bildnis des japanischen Schreibers Hitomaro, 29. 5. 1938

Liebe, verehrte Dr. Beckers!

Dieser schöne Mann soll Ihnen künden: wir gedenken demnächst zu schreiben. Pinsel und Federhalter lassen sich schlecht beide gleichzeitig in der Hand halten. Oft denke ich an Sie, immer Ihr getreuer W.B.

30. Mai 38

Meine lieben, verehrten Dr. Beckers!

Immer, wenn der Fluch losgehen will über Verlassenheit und Verstoßensein, sind Sie wahre Freunde bei mir und zerstören ihn. Längst wäre es an uns gewesen Nachricht zu geben, stattdessen kommen sie zu uns gütig wie immer, und wenn sich in diesen Monaten trotz aller nie gestörten Verbundenheit kein Wort lösen konnte, so begreifen Sie auch das ohne Vorwurf. Freunde.

Das geschichtliche Geschehen dieser Monate ist fraglos groß, in unserer Situation mussten wir es besonders stark verspüren. Nutznießer der Entwicklung sind wir nicht. Sie, verehrte Frau Becker, sagen das Selbstverständliche: die Aufgabe der menschlichen Bewährung bleibt in jedem Augenblick die gleiche, Sterne und Gewissen haben ihren Ort nicht verändert. Und wenn ich auch sehr oft mit Ihnen, lieber Herr Dr. Becker, denke, jetzt wäre es gut miteinander zu reden, so würden wir doch bald wissen, dass unser Standpunkt nicht verrückt wurde, der zueinander schon gar nicht.

Eines nur schmerzt mich, und lang und für immer wollte ich es Ihnen schon sagen: dass ich soviel Teilnahme, mit der Sie unser Leben bereichern, nie gleich vergelten kann, wiewohl ich oft mit heißen Wünschen an Ihr und all der Ihren Geschick denke. Oft erschrecke ich, wie hart und zurückstoßend ich bin, gerade auch bei meinen liebsten kleinen und großen Menschen hier, und doch geht es nicht anders, wenn ich mich nicht verlieren will. Das Sichverlieren, ein sehr biederes, wäre oft und gerade hier verlockend, und dann wäre vieles leichter, – aber den verfluchten Massentod will ich nicht sterben, während das Blut noch kreist.

Nach einer unfreiwilligen, aber unumgänglichen Pause arbeite ich seit einem Monat wieder mit Anstrengung. Nun weiß ich es, dass ich in meiner

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Arbeit vor etwas Neuem stehe, das mit verbissenem Bemühen erworben sein will. Ob ich je ein fern geahntes Ziel erreichen werde, weiß ich nicht, nur dass ich mit der Zuversicht gehe, nicht matt auf der Strecke zu bleiben. Sie aber bitte ich, wie immer das Ergebnis sei: bleiben Sie mir! Sie müssen mir bleiben. Einmal werden Sie auf den Rutarhof kommen. Dass es jetzt noch nicht sein kann, weiß ich, aber in Zukunft wird es vielleicht sich besser einrichten lassen als bisher. Sollte aber von Ihren lieben Bielefelder Freunden, bevor das Ereignis Ihres Kommens Wahrheit wird, wer eine Reise in unsere Gegend planen und den Weg auf den Rutarhof finden, so würde uns das herzlich freuen. Menschen dürfen wir ja kaum je bei uns sehen. Bitte grüßen Sie bei Gelegenheit alle herzlich von mir.

Nun muss ich Ihnen noch erst gründlich für Ihr mir überaus wertvolles Geschenk danken: die Kreidesendung. Da auf der Tüte „Bleue de Paris“ stand, fürchtete ich erst ein Missverständnis, dass es sich nämlich um ein weißes Pigment handle. Die Probe durch Salzsäure und dann die entscheidende auf der präparierten Leinwand konnte ich nicht gleich machen, auch wusste ich damals noch nicht, dass B. de P. eine Bezeichnung für Kreide ist. Dieses Material ist nun unvergleichlich besser als das mir bisher zur Verfügung stehende und fördert gerade mein jetziges Bemühen ganz wesentlich. Ich bitte Sie so unverschämt wie herzlich, mir später, wenn Sie nach Frankreich kommen, noch einmal eine Sendung zukommen zu lassen (eilt nicht!). Diese gute Grundkreide stammt aus der Champagne und ist geschlemmt, nicht gestäubt. Bis vor kurzem hätte ich leicht die Möglichkeit zu einer Verrechnung über die Grenze gehabt. Das geht jetzt leider nicht mehr. Doch lassen sie bitte alle Porto- und Zollspesen zu meinen Lasten gehen, denn diese Ausgaben stehen in keinem Verhältnis zu dem Wert, den das Material für mich hat.

Die Bremer Kunsthalle kenne ich, das Selbstbildnis Marées am besten von allem Schönen dort. Der knapp 25jährige (!) hat es mit unerhörter Sicherheit gemalt. Wenn man von diesem Selbstbildnis in Bremen, aus dem die Weichheit der Jugend und die Zuversicht des Mannes zugleich blickt, einmal unmittelbar vor das letzte Selbstbildnis (in München) träte, diesen wie keinen aufrechten Mann, den nur mehr harten und gelassenen, von dem alles Beiläufige abgefallen ist, dann wäre man unheimlich naher Zeuge eines ganzen Lebens voll der angestrengtesten Anspannung und – ja – einer nur menschenmöglichen Vollendung. Was vermag doch die Kunst und was vermochte dieser Mann, denen beiden wir so viel schulden! Einen allzubilligen Seufzer will ich – gar nicht leicht – unterdrücken. Seien Sie aufs herzlichste gegrüßt von meiner Frau, meiner Mutter auch und Ihrem getreuen Werner Berg

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… Es machte mir große Freude, durch Sie von Walter Bauer zu hören. Leid, sehr leid hat es mir getan, dass aus Vortrag und Zusammentreffen im Februar nichts wurde.

Poststempel, 16. 7. 38

Liebe verehrte Beckers!

Gestern waren wir auf ein paar Stunden mit den Kindern bei Mutter, Schwester und Schwager am Klopeinersee. Den Weg hinunter, den Weg hinauf, sprachen wir von „unseren“ lieben Beckers. Verzeihen Sie un peu trop d’attachement, es ist nicht gefährlich, für uns aber bedeutet es so viel, am sonst absolut dunklen und leeren Horizont immer wieder Ihre Gestalten und Gesichter uns zugewandt leuchten zu sehen. Möchte Ihnen nur schlechtes nicht widerfahren sein!

Kennen Sie Distelbarth: das lebendige Frankreich? Das Buch hat mir viel gegeben, von selbst wurden beim Lesen die Gedanken oft zu Ihnen hingezogen.

„Vivre libre ou mourir“, ich denke so oft an den marmornen Spruch. Und doch gilt es die Stellung, sei sie noch so klein und zurückgeworfen, zu verteidigen. Auch das und jetzt gerade das sollte zu leben wert sein. Freilich denkt das der Kopf, und im Herzen bleibt das Weh. Ça ne fait pas bien d’avoir la mort dans le cœur, es sollte doch nur stark und pulsend Blut und Leben fördern, und dieses Leben wäre so schön!!

Alle guten Wünsche, alle guten Grüße nehmen sie von Ihrem getreuen

Werner u. Mauki B.

Martha Becker, Bielefeld, 17. Juli 38

Liebe Freunde Herr und Frau Werner Berg, seit Sie uns schrieben sind mehr Wochen hingegangen bis zu diesem Brief, als wir es selber wollten. – Aber wir haben beide viel zu tun gehabt und die Gedanken gingen ohne Worte zu Ihnen in Ihr schönes Kärnten.

Heute will ich Ihnen nur kurz sagen, dass wir am 23. reisen – nach Paris und von da wieder nach Auvergne. Wir nehmen Sésée, ihren Mann und Christiane mit und wir freuen uns sehr auf diese Zeit in den Bergen, in der Nähe von allen Menschen, die wir seit unserer Jugend lieben. Mein ältester Bruder war sehr krank und wir verdanken sein Leben dem raschen Eingreifen des Arztes. So ist’s sehr wichtig, dass wir ihn wiedersehen. Wir schreiben

113 1938

Ihnen von dort und ich werde Ihnen sehr bald die Kreide schicken, so froh bin ich Ihnen, lieber Herr Werner Berg, eine kleine Freude zu machen.

Wir werden Ihnen schreiben, was es zu sehen gibt in Paris. Der Louvre allein zieht uns jedesmal an – er ist unerschöpflich. – Bitte schreiben Sie mir wieviel Kreide Sie gebrauchen können. Ich habe von den Mengen, die Sie brauchen können, gar keine Vorstellung und wenn Sie noch etwas anderes wünschen, bitte sagen Sie es mir. – Alles, was Sie schrieben, lesen wir so gern. Sie sind am Werk, das ist für uns die Hauptsache. Jedes Bild ist wichtig, bringt Sie weiter und zeigt Ihnen den Weg zum höchsten Ziel, das Sie sich gesetzt haben. Mögen Sie sich die innere und äußere Freiheit bewahren, so zu schaffen, wie Sie wollen, ohne nach den Vorschriften des einen oder anderen zu hören. Ihre Berge sind ein wertvoller Schutz; ich denke, so leicht kann nicht das Gerede zu Ihnen. Sie haben auch wenig Zeit für alles, was unwichtig ist.

Wir freuen uns so sehr die beste Kunst wiederzusehen im Louvre, denn hier haben wir nichts zu sehen bekommen das ganze Jahr. Die Musik bietet viel Schönes und wir sind sehr froh darüber.

Es kann sein, dass mein Mann im nächsten Frühjahr mit dem Musikverein nach Graz kommt, um ein Konzert mitzusingen. In dem Fall, und wenn er sich von der Gruppe trennen könnte, würde er bis zu Ihnen kommen – et moi aussi – Ce sont des projets et il faut attendre pour savoir s’ils seront réalisables.

Dans ce cas nous vos avertirons á temps. –

Wieder ist der Winter hingegangen, ohne dass wir Frau Berg und Ihre kleine Ursel kennen gelernt haben. Ich war durch meine Großmutterpflichten sehr gebunden und habe keine Reise machen können als nur zu Sésée. …

Notre adresse à partir du 23 juillet : 31 Avenue de Royat, Chamelières (Puy de Dôme) Frankreich

… Nos pensées les plus sincères H. et M. Becker

Immer der Alte, und Ihnen gleichmäßig zugetan, grüße ich Sie alle von Herzen Ihr Heinrich Becker

Mauki Berg, 9 / V III. 1938

Sehr verehrte, liebe Dr. Beckers!

So gern hätten wir Ihnen nach Paris schon geschrieben, umso mehr, als uns die unvergleichlich starken Eindrücke, die mein Mann dort und ich durch ihn hier empfing, oft beschäftigen. Wir sind begierig wieder den starken künstlerischen Atem dieser Macht in Ihren Briefen zu spüren. Unvergesslich bleiben meinem Mann die Eindrücke von dort – für lange Zeit wohl ist dies alles nur

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in der Erinnerung wieder erreichbar. Damals gerade hatte er so viel liebe Post von Ihnen bekommen! Wie gerne und dankbar denkt er daran!

Seither kamen wir bis jetzt nicht zum Schreiben, die Erntezeit verlangte alle Kräfte und der landwirtschaftliche Arbeitsfaden reißt auch weiterhin noch lange nicht ab. Und trotzdem sind wieder Bilder entstanden. – Sie stehen in und doch über aller Qual und Not. Könnten Sie beide doch endlich einmal kommen, dann wäre es leichter vor den Bildern über alles zu sprechen.

Für Ihren Aufenthalt in der schönen Auvergne wünschen wir Ihnen recht von Herzen alles Gute! Mögen Sie in der Heimat doch alles gut anzutreffen haben und eine glückliche Zeit mit Ihren Lieben verleben!

Poststempel, 23. 8. 1938

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Die Ernte macht heuer mehr Arbeit denn je, nur die Gedanken haben Zeit, oft und oft zu Ihnen in die andere Heimat zu ziehen. Hier wie dort stehen die Berge breit und fest. Atmen Sie tief aus und ein et passez avec les vôtres des semaines libres et heureuses! Das wünschen Ihnen mit vielen Grüßen Ihre getreuen Bergs

Également nous vivons en meilleurs voisins avec le mont Obir! Saluez ses confrères auvergnats de sa part et ne laissez pas échapper l‘occasion de faire sa connaissance. Vous serez heureux et il sera charmé.

Martha Becker, Chamaliers, 31. Aout 38

Monsieur et cher ami, les semaines de vacances passent avec rapidité, nous avons joui profondément du tout ce qu’offre mon beau pays – sans oublier ceux qui ne peuvent y venir tous les ans. Merci infiniment pour la lettre de M.me Berg et de votre carte. Il y a bien une grande Union dans la nature et les vents d’ici qui emportent les senteurs des herbes sauvages qui vont jusqu’à vos belles montagnes. Samedi ma sœur et moi avons cherché du blanc de Paris et l’avons expédié à votre nom en vous laissant les frais de douane. Il y en a 19 Kilos. C’était le même frais de port et aussi vous en avez pour quelque temps. J’espère que vous en serez satisfait. M. Becker part demain, je reste encore avec Sésée et le bébé. De Bielefeld je vous écrirai plus longuement. Les jours sont si remplis ici qu’il me reste très peu de temps pour écrire.

Contents de vous savoir à l’œuvre nous vous disons bon courage et bon espoir et vous envoyons nos meilleures amitiés Henri et Martha Becker

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Martha Becker, Bielefeld, 27. Sept. 38

Monsieur et cher ami, pardonnez notre long silence et patientez encore un peu, alors vous aurez de plus amples nouvelles. Nous vivons des journées si tragiques qu’il n'est pas possible d’écrire longuement. Nous avons vécu de très belles semaines de sorte que cette réalité si dure et brutale nous fait beaucoup souffrir. Vous comprendrez aisément tout ce que nous ressentons. Le départ de notre Sésée et son mari et la belle petite Christiane est fixé au 22 oct. Belle longue séparation une perspective qui me rend triste et je ne peux pas m’habituer à cette pensée aussi. Je tâche de les voir souvent et nous avons prolongé pour cela notre séjour à Chamèlieres et à Paris. Votre carte m’est parvenue ici – quels beaux paysages ! Jouissez de votre travail de tout ce qu’il y a de beau et sachez que nous pensons souvent à vous. Vous pouvez toujours compter sur nous. Pour votre Mme et vos enfants nos pensées très amicales H. et M. Becker

Poststempel, 3. 11. 38

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Auf Sonntagsrückfahrkarte war ich in München, um ein paar Tage vor Schluss noch die großartig schöne und reiche Altdorfer Ausstellung zu sehen. Wäre München nur nicht gar so weit von Bielefeld weg!

Ohne Näheres zu erfahren, hörte ich vom Tode Barlachs. Das sollte einen tief angehen und doch kommt die Nachricht von so fern her, weil nie noch der Tod wohl so media in vita des Künstlers gestanden ist. Gleich fahre ich heim und bin morgen früh wieder bei Frau und Kindern. Doch zuvor aus minderer Entfernung noch einen herzlichen Gruß Ihres W. B.

Martha Becker, Bielefeld, 6 Décembre 38

Chers jeunes amis, Herr und Frau Werner Berg, endlich! werden Sie sagen, und mit Recht, aber es waren so volle Monate, mit viel Arbeit, viel Gemütsbewegung, auch großer Anregung und in allem dem sind Sie nie vergessen worden und Ihre Werke an unseren Wänden sprechen täglich für Sie zu uns. Für uns spricht nichts, Sie können vielleicht vertrauen, wenn Sie uns richtig kennen und spüren, dass es kein Schweigen zwischen uns gibt, auch wenn Worte nicht zu Ihnen kommen. – Leider haben wir nichts anderes, um uns zu äußern. Manchmal dachte ich: könnte ich so schreiben – wie Goya zeichnete – das wäre fein, aber es wäre nicht alles klipp und klar!

116 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Von den vielen Veränderungen in unserem Haus ist das sichtbare, was Sie interessiert, dass Ihr Bild „Mädchen mit Malven“ an unserer Wand im Esszimmer hängt. – Wenn ich es ansehe, denke ich wiederum: „Wie malt er jetzt, nach den großen Eindrücken in Paris?“ und ich freue mich schon auf den Tag, wo wir das Ergebnis Ihrer Arbeit sehen werden, von dem vergangenen Jahr. Es ist ein Jahr her, dass Sie so innerlich reich beladen nach dem Rutarhof zurückkamen, um neu und weiter zu schaffen. – Tun Sie es, unbeirrt, malen Sie für sich, für die Aufgabe, die Sie lösen wollen, erreichen wollen. Möge Ihnen die andere schwere Arbeit immer noch Kraft und Zeit dafür übriglassen, mögen Sie, liebe Frau Berg, ihm abnehmen, was Sie leisten können, ohne Ihren Körper, Ihre Kräfte gar zu sehr auszunützen. Wie herrlich muss es Ihnen doch sein, auf eigener Erde zu leben. Ihre Arbeit einzuteilen, wie Ihre Absichten es für nötig halten, frei herumzugehen in dieser herrlichen Natur, wo keine Straße, keine verbotenen Wege Sie hindern und aufhalten. Wie schön muss es sein, wenn Sie malen, so für sich, ohne andere Bedrängen als den künstlerischen Willen. Alles was ich erwähne, ist ein ungeheurer Schatz, verstehen Sie mich recht! Wir danken Ihnen für die Zeichen Ihres Denkens an alles, was sich hier abspielte in unserer Familie. Ja, es war schade, dass München so weit ist und Sie nicht noch bis hierher kamen – wie gern hätten wir mit Ihnen gesprochen, Ihnen alles erzählt, was uns froh und traurig macht, Sie mit unserem Gast bekannt gemacht, der mehrere Wochen hier bei uns war und uns so viel gab durch seine Tätigkeit mit der Musik. Er liebte sehr gerade das Bild von dem Mädchen mit Malven und wer zu uns kommt, sagt etwas Schönes darüber; wir hoffen sehr, dass es eine Begegnung eines Tages geben wird, denn es spielt noch immer eine Möglichkeit in Graz zu musizieren im Sommer (ich glaube im Juni); mein Mann müsste mit und ich würde mich anschließen und Sie beide müssten dann nach Graz kommen und den hiesigen Chor dort singen hören – es sind so Pläne, die vielleicht Wirklichkeit werden. Es wird sich entscheiden, denke ich; bald. Sie sehen, wir hoffen so endlich selber fast zu Ihnen zu kommen. – Aber ich wage so weit noch nicht zu schauen. Diese letzten Monate waren so bewegt, dass ich nicht die innere Ruhe habe, recht darüber zu schreiben, Sie müssen sich es vorstellen – Sésée ist mit ihrem Kind fort und ich kann noch nicht fassen, dass so weite Strecken, so viele Jahre uns trennen sollen. – Ich liebe dieses kleine Kind, das für mich ein Stück der Kindheit meiner Kinder ist, so sehr, und ich sehe es nicht mehr! Sésée und ich waren Freundinnen geworden; ich kann ihr nicht mehr helfen. –Itta ist noch in Madrid und es dauert der Kampf weiter. Nein, ich will nicht klagen. – Die Briefe von der Seereise sind so voll Glück und Sonne, von so

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schönen Eindrücken, dass ich mich mit den jungen Eltern freue und hoffe, diese Erlebnisse werden sie stark machen für die neue große Aufgabe zwischen den fremden Menschen, deren Sprache sie nicht beherrschen.

Ich weiß nicht, ob ich Ihnen von unserer Begegnung in Paris mit G. Duhamel geschrieben habe; mein Mann übersetzt sein Buch, bald wird die Arbeit abgeschlossen und wir hoffen, dass auch ein Verleger es bringen wird. Es enthält so viel Wertvolles gerade für die Menschen aller Länder, die noch Freude an künstlerischen Werken haben. Wir sind selber sehr dankbar, dass es geschrieben wurde, und möchten es bald im deutschen Buchhandel sehen.

Wie weit ist unsere Reise! Ich will wahrscheinlich im Frühling nach Paris zu meinem Bruder und dort viele Freunde, die im Sommer weg sind, wiedersehen. Von dort würde ich Ihnen schreiben. – Frau Zuloaga hat uns einen Katalog aus Venedig geschickt von der Biennale, wo ihr Mann auch ausgestellt hat, jetzt ist in London eine Ausstellung eröffnet, eine Anregung von Lady Chamberlain, die etwas zugunsten Francos machen will. Zuloaga arbeitet mit Eifer. Aber im Katalog sieht man ein sehr buntes Gemisch von Werken, die etwas anempfunden oder nichtssagend sind. Ganz wenige haben wirklichen Wert, am meisten die von den bekannten französischen Malern. – Hier ist nichts über Kunst zu sagen – die Musik lebt noch wirklich und das ist für mich ein großes Glück. – Haben Sie dort schon Schnee? Frost? Nun lieber Herr Werner Berg, schnell den Pinsel wieder zur Hand und entschuldigen Sie das lange Erzählen, statt Ihnen bloß Grüße und gute Wünsche zu sagen, was der eigentliche Zweck des Briefes ist – für beide, für alle – aber besonders – ganz besonders für Ihre Kunst

Martha Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 7. Dez. 38

Lieber Herr Werner Berg, nach dem ausführlichen Bericht meiner Frau wäre heute für mich kein Anlass, Ihnen zu schreiben, wenn ich nicht das immer gehegte Bedürfnis empfände, ein persönliches Wort an Sie zu richten, Worte mit Ihnen zu wechseln, die uns gleichbleibender Verbundenheit zu versichern vermögen. Da ist zwischen Ihnen und uns eine Grenze gefallen, aber es hat für unsere persönlichen Beziehungen nichts zu bedeuten, denn da waren die Grenzen längst früher gefallen und das Hinüber und Herüber unserer Gedanken, Wünsche und Mitempfindungen ging ohnehin ohne Pass- und Zollrevisionen vonstat-

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ten. Dass sich jeder von uns, wenn er sonst kann und mag, einfach auf die Eisenbahn setzen braucht, um zum anderen zu kommen, dass da kein sinnfremdes Hindernis mehr im Wege ist, ist doch wunderbar. Wollte Gott, dass noch mehr, noch viele solche Hindernisse fielen. Wieviel glücklicher wären die Menschen. An die von meiner Frau angedeutete Möglichkeit, Ende Juni zum Musikfest nach Graz zu kommen, wo der Bielefelder Musikverein vielleicht singen wird – ich wäre dann auch dabei – denken wir mit heimlicher Freude, ebenso heimlich hoffend, Ihnen und Ihrer Frau bei solcher Gelegenheit begegnen zu können. Ich habe schon auf der Karte nachgesehen, ob von da der Rutarhof in Kürze zu erreichen wäre. Ohne das Gebirge müsste es möglich sein. Oder muss man fliegen? Sobald die Dinge feste Form haben, sollen Sie mehr darüber hören. – Sie wissen bereits, wie allein wir sind, Sésée nun auf dem Weg nach Japan, wo ihr Mann für drei Jahre eine Lektorstelle an einer japanischen Oberschule angenommen hat. Wir erfahren nun aufs Neue, wie schwer es ist, Mensch zu sein und das Herz lebens- d. h. widerstandsfähig zu erhalten. Manchmal meint man, nun wäre man so weit, dann kommen wieder Attacken von innen und von außen, im Grunde so wie in Ihrer Kunst. Und, wie Sie in Ihrer künstlerischen Bemühung, suchen wir noch immer, wie es zu machen ist, um reif zu werden wie der Apfel am Baum, um sich selbst zu erfüllen.

Hundert Dinge wären noch zu sagen und, hoffe ich, werden unter uns noch gesagt werden. Einstweilen sind wir noch genug mit der Enge des eigenen Daseins beschäftigt, das in Ordnung gehalten sein will. Aber von Zeit zu Zeit suchen wir neu in die weiten Horizonte der Kunst zu gelangen, das Geringfügige hinter uns, unter uns zu lassen. Bleiben Sie uns dabei auch weiterhin behilflich und lassen uns dann und wann von Ihren Mühen und Ihren Funden wenigstens hören, solange wir davon nichts sehen können.

Grüßen Sie Ihre Frau und Ihre Kinder und empfangen Sie die herzlichsten Gedanken Ihres Heinrich Becker

Poststempel, 22. 12. 38 Herzlichst danken wir Ihnen, verehrte Beckers, für Ihre Briefe. Einmal wird wohl auch bei uns wieder eine Epistel reifen, doch soll die kein äußerer Anlass vor der Zeit und allzu sauer abschlagen. Der Winter ist immer wieder unerhört schön hier, ich hab die heftigsten Mal-Wehen. Zum Christfest wollten Sie nur aufs herzlichste grüßen Ihre Bergs

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Martha Becker, Bielefeld, 30. 12. 38

Meine Lieben Herr und Frau Werner Berg, die Christrosen stehen auf dem Tisch in der Schale und erzählen uns von Ihrem verschneiten Garten, der Gruß von Ihnen ist gekommen und gestern holte mein Mann vom Zollamt das Paket, das uns eine so schöne Überraschung gemacht hat. Der Teller ist schön bemalt und diese Königin mit drei Königszeichen verbunden, finden wir sehr interessant und beschäftigt uns nicht nur, weil sie so köstlich daherreitet. Es ist zu lieb von Ihnen, uns so zu verwöhnen und wir danken Ihnen recht herzlich alle beide. – Leider hat der Teller einen Bruch erlitten und heute Morgen habe ich es zusammengekittet und hoffe, dass es kaum zu sehen sein wird, wenn es eingetrocknet ist. – Vieles spricht mit uns von Ihnen in unserem Haus, und Sie sind dadurch nie vergessen und sogar oft ganz lebhaft mit uns, und wir sprechen dann mit unseren Gästen gern von Ihnen, von Ihrer Arbeit. – Morgen ist das Jahr vorbei und man schaut zurück, man schaut vor sich mit leisen Fragen und Hoffen. Zu Ihnen kommen unsere Wünsche für das Glück, die Gesundheit der Familie, für das Schaffen des Künstlers, der so viel sieht und festhält in Farben. Mögen Sie immer weiter suchen und finden, was Sie gestalten wollen. Verlieren Sie nicht die Geduld, nicht die Freude daran. Es gibt sicher sehr viel, was fertig wartet auf Menschen, die es aufnehmen und lieben sollen. Oft fragen wir uns, wann wir das alles selber sehen werden. – Hier hatten wir auch richtig Winter, viel Schnee und eine harte Kälte. – Arnold hat jetzt seinen Urlaub und will noch Ski laufen. Das junge Paar, das Sie in Paris besuchten, sollte zu Weihnachten kommen. Leider bekam er keinen Urlaub und sie sind richtig betrübt darüber. Sehr stark suche ich in der Ferne die abwesenden Mädels und die alten Erinnerungen werden lebendig, um zu trösten. Halten Sie beide Ihre Kinder um sich, freuen Sie sich täglich darüber, sie zu haben, zu sehen und noch keine Zukunftssorgen um sie zu haben. Ich schreibe Ihnen heute nur kurz, da viele einige Zeilen haben sollen ...

120 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1939 Walter Bauer besuchte Werner Berg auf dem Rutarhof. Gemeinsam machen sie eine zweitägige Wanderung auf den Obir. Werner Berg unternimmt mit seiner Frau eine Reise in die Schweiz, nach Genf zu einer Ausstellung mit Meisterwerken des Prados, nach Bern und Zürich. Bei der Rückkehr wird er vom Kriegsausbruch überrascht: „Den Augenblick werden wir nie vergessen, wo wir den Rutarhof wiedersahen, - ein letzter Augenblick, in dem Schönheit und Frieden für uns wirklich waren. ...Ich möchte mich zum Sanitätsdienst an der Front melden, doch ist es noch nicht bestimmt und leicht gehe ich nicht vor der Zeit vom Hof weg. – Tage sind jetzt herrliche, bei der größten Spannung der herbstlichen Farben von unsagbarer Verhaltenheit, die das leuchtend Wirkliche fern entrückt, das sehe ich beim Aufschauen unterm Kartoffelklauben. ... Die Wirtschaft erfordert so viel, die elende Bürokratisierung des Lebens gibt den Rest. All diese Wege! Dreimal in der Woche fahre ich seit Mitte September mit dem Rad nach Klagenfurt zur Sanitätsausbildung. Es ist anstrengend und ich sollte jeden übrigen Zerriss meiden, und doch muss ich den Entschluss gutheißen.“ Im November besucht Berg Walter Bauer in Halle und wird in dessen Freundeskreis herzlich aufgenommen.

121 AUFFLIEGENDE KRÄHEN, 1939

„Die Heimkehr war sehr schön, es ist schon etwas wert hier zu leben. Auch in diesem tristen Monat ist das Land herrlich, ob die Nebel schon liegen oder das Licht, ein schon unwirkliches, durchkommt. Die Wiesenflächen sind braun, die Lärchen einzig setzen farbige Flecken und vor lauter dunklen Gründen stehen weiß die Birkenstämme. Könnte ich nur malen jetzt! Die Arbeit ist ja bei uns nie fertig, aber jetzt in der Angst vorm Schnee drängt sie sich stark. ... Bald geht es ans Malen, ich spüre es in den Fingerspitzen - mags vermessen klingen! -, dass ich weiterkomme. Ich grundiere jetzt einen Stapel Leinwände, und mit oder ohne Gunst der Zeit: ich werde arbeiten”, schreibt er anschließend dem Freund.

Martha Becker, Januar 1939

Liebe Freunde Herr und Frau Werner Berg, also hier (eingeklebt) die offizielle Einladung für den Musikverein. Mein Mann beteiligt sich als Sänger und freut sich, Sie dort als Hörer zu sehen und Sie mit dem Dirigenten bekannt zu machen, der so angetan ist von Ihren Werken, die er bei uns sah. Ich vermute, dass Frau Delius auch nach Graz fährt. – Mein eigenes Kommen hängt ganz von den Ereignissen in Spanien ab, die wir jetzt täglich mit Spannung erwarten. – Es gibt dort ganz schreckliche und traurige Schicksale; jeder Tag kostet Opfer! – Sobald der Friede beschlossen würde, führe ich nach Frankreich oder Spanien, um unsere Itta wiederzusehen. – Sésée schrieb sehr traurig aus Shanghai, wo alles die Not der Menschen zeigt: Krieg – entsetzliches Elend und Schmutz. … Haben Sie vielen Dank für den Bauernkalender, der so bunt ist wie die Tage des Jahres, wo keiner sich gleicht. Malen Sie, lieber Herr Werner Berg, es ist immer notwendiger, was Sie tun. – Retten Sie, was Sie retten können. –

Hier arbeiten wir auch, anderes Gebiet, wenn alles fertig ist, hören Sie davon. Für heute dieser flüchtige Gruß kommt zu Ihnen, um die Zeit bis zum nächsten Brief – von Ihnen oder von uns – nicht ganz stumm verlaufen zu lassen. – Herzlichst grüßen wir Sie beide, die Kinder, den Hof, die Berge – Ihre H. u. M. Becker 6. 4. 39

Liebe und verehrte Beckers!

Die Wahrheit klänge zu unwahrscheinlich, wenn ich Ihnen nämlich sagen wollte, wie oft ich zu schreiben angesetzt und auch begonnen habe. Es wird höchste Zeit, dass wir uns einmal wieder sehen, miteinander ausreden. Wenn Sie nach Graz fahren, dann kommen Sie doch auf den Rutarhof – oder? Das wäre ein großer Jammer.

122 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Haben Sie nach so viel Bangen endlich gute Nachricht aus Madrid? Die guten Worte aus Japan machen mir tiefe Freude. Über ein paar gute Worte freut sich jeder geschundene Hund – ich lass schön grüßen.

Was soll ich Ihnen viel daherreden! Aufgeben will ich nicht, obschon zu glauben kaum mehr möglich ist. Aber auch das will ich: Glauben!

Einen Ostergruß Ihnen Guten, ach so Fernen, von Ihrem Werner Berg

Martha Becker, 26 April. 39

Sehr liebe Freunde Herr und Frau Werner Berg, aus Ihren kurzen Zeilen waren wir froh, denselben Wunsch herauszulesen, den wir selber hegen, auch oft aussprechen: einmal zusammen uns aussprechen zu können. Es gibt so viel zu fragen, auszutauschen außer den persönlichen Erlebnissen, die auch schon lohnen, erwähnt zu werden, da sie uns mit der ganzen Welt verbinden. Immer wieder erwähnt Sésée Ihren Namen, wenn Sie uns die japanische Landschaft schildert, Sie sind dort für unsere Kinder ein Stück von der starken Kunst, die sie mit der Heimat – Europa – Deutschland – in ihrer Vorstellung lebendig tragen. Es ist schön, nicht wahr? Hier vergeht kein Tag, ohne dass ein Zwiegespräch mit irgendeinem Ihrer Bilder stattfindet. Sie können nicht vergessen sein, glauben Sie beide ganz fest daran! Mein Mann hofft sehr, Sie zu sehen während der Grazer Musiktage; wenn die Tagesprogramme feststehen, wird er Ihnen darüber schreiben. Da ich keine Sängerin bin, ist meine Reise dorthin noch nicht bestimmt. Erst muss ich aus Spanien zurück sein, wo ich hoffe, bald sein zu können. Sobald mein Pass überall gültig ist, werde ich abfahren (vielleicht nächste Woche schon) über Paris – Clermont – Bordeaux. – Die zwei Karten, die wir aus Madrid bekamen – nach dem 28. März – enthalten den tiefen Ausdruck der langen, schweren Zeit und das Aufatmen des Befreitseins. – Ich werde dort sehr erwartet, genauso, wie ich selber wünsche hinzukommen, um zu trösten, aufzurichten, vieles wieder gut zu machen – und über alles mit Itta sprechen, was sie nicht schreiben konnte. –

Mein Mann war in der Osterwoche in Berlin und wird Ihnen selber darüber schreiben oder erzählen; auch Nolde hat er gesprochen; er ist sehr tätig, malt viel. Tun Sie das auch, lieber Herr Werner Berg, für sich, ganz für sich und für die, die einmal gern alles sehen werden, was entstanden ist. – Hoffentlich können Sie sich dafür immer wieder etwas Zeit nehmen und spüren, trotz der vielen Arbeit, die zu leisten ist, die Verantwortung, die auf Ihnen ruht.

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Wir wünschen auch, dass alle gesund sein mögen, alle froh, lebensmutig wie die erwachende Natur, die bei Ihnen so herrlich anzuschauen ist. Diese kurzen Zeilen vor meiner Abreise damit Sie wissen, wie sehr wir auf diesen Frieden gewartet haben, was uns jetzt beschäftigt, welche Pläne wir machen. Nehmen Sie beide, liebe junge Freunde, mit unserem Dank viele herzliche Grüße von uns H. u. M. Becker

Heinrich Becker, Bielefeld 27. 4. 39

Lieber Herr Werner Berg, dem Brief meiner Frau möchte ich auch ein paar freundliche Worte hinzufügen, um zu versichern, dass Sie bei uns unvergessen sind. Mir liegt umso mehr daran, als Ihre letzten Worte, die Sie uns zu Ostern schickten, nicht froh klangen, und Ihre Aussprache, an die Sie uns dank einem schönen Vertrauen seit Jahren gewöhnt haben, zu fehlen begann. Wenn die Feder nicht sprechen soll, wollen wir, angesichts der bevorstehenden Tage in Graz, alles tun, was möglich ist, um eine persönliche Begegnung herbeizuführen. Nach dem bis jetzt aufgestellten Programm würde mir zwischen Morgenproben und Abendaufführungen, bei der umständlichen Eisenbahnverbindung, eine Fahrt zum Rutarhof kaum möglich sein. Da aber noch über andere Pläne, anschließend an Graz, verhandelt wird, habe ich immer noch Hoffnung, Sie mit Frau und Kindern im eigenen Bereich zu sehen und mit Ihnen allen zu sein. Sobald dieses Wunschbild feste Form annimmt, schreibe ich Ihnen neu. Im ungünstigsten Falle such ich mich mit der Aussicht zu trösten, Sie als Besucher in Graz zu sehen. Wäre das wenigstens möglich? – Demnächst müssten wir auch an Ordnung und ev. Rücksendung Ihrer noch hier liegenden und hängenden Blätter denken, da neue Liebhaber noch nicht gefunden sind. Aber wir alten, an Ihrem Tun und Schaffen ernstlich und herzlich Beteiligten, werden mit unserer Wahl immer nicht fertig. Aber hoffentlich bald. Und nun Gott befohlen, Sie, Ihre Frau, Ihre Kinder, Ihre Kunst und tägliche Arbeit! Ihnen allen die herzlichsten Grüße

Ihres Heinrich Becker

124 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Martha Becker, Bielefeld, 2. Mai 1939

Lieber Herr Werner Berg, in einem Brief aus Japan vom 31. Januar stehen in einer Beschreibung von einem Spaziergang folgende Sätze, die ich Ihnen übersetze (meine Tochter schreibt mir französisch): „Auf der anderen Seite des Tales hat das Gebirge ein Kleid von den herrlichsten Bäumen, eine Tannenart, sehr groß, einige Bambusbäume, dann andere, die helle, grüne Flecken bilden. So gab es eine reiche Abstufung der verschiedensten Grün. Ich musste an Werner Berg denken, der diese so wunderbar in seinen Bildern malt. Grüßt ihn herzlich von uns, wenn ihr ihm schreibt.” So sind diese Nachrichten recht erfreulich, die Landschaft mit Gebirge und Ozean bietet große Reize. Es geht den dreien gut dort, Gott sei Dank. Wir warten täglich auf die Befreiung Madrids; wir sind jetzt zwei Monate ohne Nachricht und auch oft recht unruhig über das, was man hört. Deshalb schreiben wir Ihnen heute nur diese Zeilen. Wir sprechen oft von Ihnen, Ihre Bilder sind uns gute, stärkende Freunde, wie Sie selber. Von uns dagegen haben Sie zurzeit nichts; aber wir vergessen Sie nicht und hoffen eines Tages von der Sorge um Itta befreit, Ihnen ausführlicher schreiben zu können. – Mein Mann hofft sehr auf Graz. Am 26. und 27. Juni sind die Aufführungen, am 23. fahren sie hier ab. – Mein Mann muss am 28. mit dem Verein zurück wegen der Schule – Bald mehr über alles. Heute der Gruß von Sésée Ihnen allen, aber Ihnen beiden ganz besonders viele, viele Grüße von Ihren Beckers

Rutarhof, 6. Juni 39

Liebe, verehrte Beckers!

Wie ich das Datum Ihrer letzten gütigen Zeilen lese, erschrecke ich. So gern hätte ich Ihre uns tief berührende Herzlichkeit schnell erwidert, – es ging nicht. Das Leben wurde uns gallig bitter, verzeihen Sie, noch hoffen wir durchzukommen. (Über das Vorgefallene ein ander Mal. Ich traue der Post nicht.)

Bitten möchte ich Sie liebe Freunde, uns zurzeit hinsichtlich Ihrer Grazer Reise zu verständigen. Auf den Rutarhof brauche ich Sie nicht erst einladen, es wäre wohl sehr, sehr schön, wenn Sie beide eine Zeit bei uns verbringen könnten. Sollte es Ihnen aber durchaus nicht möglich sein, im Anschluss an Graz zum Rutarhof zu kommen (die Verbindungen möchte ich Ihnen noch genau erklären), dann kämen wir oder käme ich zumindest kurz nach Graz. Wiedersehen müssen wir uns, und gebe Gott, dass es einmal doch am Rutarhof wäre.

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Auch wünsche ich so sehr, dass meine Frau Sie sähe. In diesem Augenblick stehen Sie, Frau Becker und Herr Becker, greifbar deutlich vor mir, gütig, offen und reich – fast hätte ich Trottel vergessen, dass ich noch so teure Freunde habe.

In herzlicher Ergebenheit grüßen Sie Ihre Werner und Mauki Berg

Heinrich Becker, Bielefeld 18. Juni 39 Lieber Herr Berg, sehe ich auf Ihren letzten Brief, mache ich mir Vorwürfe, Ihnen nicht gleich geantwortet zu haben. Aber das Entscheidende war damals nicht zu sagen, denn es war ganz ungewiss geworden, ob ich die Reise des Musikvereins nach Graz mitmachen würde. Alles hing von der Urlaubsgewährung ab, die nicht vorlag und immer zweifelhafter wurde. Nun ist der Bescheid da: ich kann fahren, Abfahrt Freitag, 23. Juni, mit Sonderzug ab Essen, der Sonnabend-Mittag etwa 1 Uhr in Graz eintreffen soll. Sonnabend-Nachmittag werde ich nach der langen Fahrt der Ruhe bedürfen. Sonntag-Vormittag, ebenso Montag-Vormittag bin ich durch Proben in Anspruch genommen, die unvermeidlich sind, weil wir mit einem Grazer Orchester musizieren, hier also nicht zusammen proben können. Erste Aufführung der Kantate „Säen und Ernten“ von Kurt Thomas findet Montag-Abend (26.6.), die zweite Dienstag-Abend statt. Ob ich bei dieser Besetzung zum Rutarhof kommen kann, ist mir sehr zweifelhaft. Mittwoch, den 28. Juni muss ich wieder zurück, weil längerer Urlaub unmöglich ist. Wenn Sie mit Ihrer Frau Montag nach Graz kommen könnten, abends das Konzert anhörten, die Nacht in Graz verbrächten, hätten wir den ganzen Dienstag bis zur Abendaufführung für uns. Da ca. 5000 Gäste in Graz erwartet werden, müssten Sie rechtzeitig für Unterkunft sorgen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Wo ich selbst wohnen werde, erfahre ich erst später, vielleicht erst bei Ankunft. Ich könnte Ihnen von dort sogleich schreiben und bitte für Sonnabend einen Brief – Adresse: Dr. Heinrich Becker aus Bielefeld, hauptpostlagernd Graz – rechtzeitig zu schicken, damit ich von Ihnen höre, welche Möglichkeiten unseres Zusammentreffens Sie sehen. Ich fürchte, dass eine Verständigung über meine Bielefelder Adresse nicht mehr möglich ist. Wenn Sie es versuchen wollen, schicken Sie auf jeden Fall auch Nachricht nach Graz. Lassen Sie uns alles tun, was möglich ist, um uns nicht zu verfehlen. Wir haben uns beide so manches zu sagen, was sich nicht gut schreiben lässt. Ihr letzter Brief deutete das ja auch an. –

126 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Auf meine Frau müssen wir leider verzichten, denn sie ist noch gar nicht zurück von ihrer weiten Reise, die nötig war, um die Angelegenheiten meiner Tochter in Madrid in Ordnung zu bringen. Davon würde ich Ihnen gern mündlich sprechen. Für heute nur dies: nach den mir vorliegenden Nachrichten ist ihre Aufgabe so weit gelöst, dass sie, denke ich, im Laufe der kommenden Woche die Rückreise antreten kann. Alsbald nach meiner Rückkehr aus Graz hoffe ich, sie hier wiederzusehen. Es sind auch für uns schwere Wochen gewesen, wie auch die letzten Jahre uns viel Sorge brachten, durch den mutigen Einsatz meiner Frau ist aber alles um vieles besser geworden, vielleicht ist es sogar gut. Ich weiß noch nicht.

Ich warte mit Ungeduld, nun auch von Ihnen zu hören. Halten Sie sich deshalb, wenn es geht, so frei, dass uns ein Wiedersehen und Wiederfinden vergönnt ist. So nahe beieinander zu sein und sich nicht zu sehen, wäre schmerzlich. Sollte sich eine Möglichkeit zeigen, dass ich zum Rutarhof käme, würde ich suchen, Sie vorher zu verständigen.

Ich fahre mit der Hoffnung, Sie bald zu sehen und reiche Ihnen schon jetzt im Geist beide Hände.

Ihnen, Ihrer Frau und den Kindern herzliche Grüße, unverändert Ihr Heinrich Becker

Express-Postkarte an Dr. Becker in Graz, 23. 6. 1939

Verehrter Herr Dr. Becker!

Haben Sie herzlichsten Dank für Ihre lieben Zeilen. Eben behebe ich Ihren Brief und Ihre Karte auf der Post und schreibe Ihnen in Eile, dass ich alles daransetzen will, Sie wiederzusehen und zu sprechen. Wahrscheinlich komme ich Sonntagabend oder Montag nach Graz (wenn möglich mit Frau) über die Packstraße. Bitte lassen Sie sich auf keinen Fall in Ihren dortigen Plänen und Verpflichtungen stören, sondern hinterlassen Sie nur in Ihrer Wohnung, wo und wann Sie zu treffen sind (Montag oder Dienstag). Ihnen bald gegenüberzustehen, freut sich unendlich Ihr treu ergebener Werner Berg

Poststempel, 4. 7. 1939

Von zu Hause, wo wir die schönen Tage des Wiedersehens mit ganzer Stärke nachempfinden, grüßen Sie, verehrter Herr Becker, herzlichst Ihre Mauki und Werner Berg

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Liebe Frau Berg, lieber Herr Berg

Heinrich Becker, Bielefeld 23. Juli 39

Sah ich bisher, wenn ich zum Rutarhof dachte, den einen von Ihnen deutlich, so bestimmt, wie das Herz das Bild eines Menschen festzuhalten vermag, den anderen nur wie geträumt, so habe ich Sie nun, nach unserer Begegnung in Graz, beide vor meinem inneren Blick und beide ganz nah. Nah fühle ich Sie auch räumlich, näher als die Vielen, denen ich hier jeden Tag begegnen kann. Und was mir Ihre Augen, als wir uns auf dem Bahnhof in Graz trennten, sagten, hat mich seitdem nicht mehr verlassen. Zwei kurze Tage waren wir miteinander, und sie enthielten mehr als zwanzig andere: ich war wirklich wie beschenkt von Ihrem Vertrauen, Ihrer Güte, Ihrer Zuneigung. So ist es nun gekommen, dass auch der Raum, der zwischen uns liegt, kleiner geworden ist, und dass es viel weniger Entschlusskraft bedarf, scheint mir, uns hier in Bielefeld oder bei Ihnen auf dem Rutarhof wiederzusehen. Diese Aussicht wird mich in der kommenden Zeit noch oft erfreuen. Haben Sie also Dank für Ihre Reise nach Graz, ich hoffe, dass Sie dadurch nicht in Schwierigkeiten in der häuslichen Arbeit geraten sind, sondern, wie ich selbst, erfrischt und entspannt heimkehren konnten.

Bald nach meiner Ankunft in Bielefeld bin ich noch einige Tage mit Arnold zusammengeblieben, der vor dem Abgang ins Manöver Urlaub hatte, leider nur bis zu dem Tage vor der Rückkehr meiner Frau, so dass sie ihn nicht mehr sehen konnte und nun warten muss bis zum Ende unserer Ferien. Sie beginnen kommenden Donnerstag (27. 7.); wir gedenken dann gleich abzufahren, um möglichst bald mit Itta zusammenzutreffen, die meine Frau, von Madrid zurückkehrend, bei ihren Verwandten gelassen hat. Wir hoffen, dass sie sich inzwischen weiter erholt hat und die Schädigungen, die ihr Hunger, Kälte, und so viele seelische Qualen zugefügt haben, mehr und mehr überwindet. Was sie durchgemacht hat, ist nicht schnell zu sagen. Es braucht Zeit und geduldige Pflege, dass sie von so viel Leid genest. Was meine Frau in den zwei Monaten ihres spanischen Aufenthalts gesehen hat, ist so grausig, dass noch die Erinnerung daran sie elend macht. Was ist aus den Menschen geworden, die, zu großen und guten Dingen berufen, den grausamsten Instinkten sich überlassen! Es muss alles getan und alles geduldet werden, was hilft, den Menschen wieder gütig, hilfsbereit, geduldig zu machen. Jeder muss in diesem Bemühen bei sich selbst anfangen, wenn‘s gelingen soll.

Wann wir zurückkommen, hängt von der Entwicklung der Dinge ab, wir hoffen aber, dass die Welt sich beruhigen wird und wir des Zusammenlebens mit Itta, unseren Verwandten und Freunden froh sein können. Wenn Sie Zeit

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zu ein paar Zeilen finden, schreiben Sie uns (bis ca 1. Sept.) nach 31, Avenue de Royat, Chamalières (Puy-de-Dôme), Frankreich

Aber, lieber Herr Berg, schicken Sie kein Bild, auch keine Zeichnung, auch keinen Holzschnitt dahin, wie Sie vorzuhaben scheinen. Auch meine Frau hält es nicht für richtig. Es würde doch hier in Bielefeld landen, und wir haben schon so schöne Dinge von Ihnen hier, dass Sie uns nicht noch mehr verwöhnen dürfen. Dagegen unterlassen Sie nicht, die in Hannover noch liegenden Holzschnitte mir zusenden zu lassen, damit ich sie mit den anderen hier verwahre (nach unserer Rückkehr! 6. September geht die Schule wieder an).

Ihnen, Ihrer Mutter, Ihren Kindern viele herzliche Grüße. Sie sind seit unserem Abschied in Graz täglich gesagt und gewiss bei Ihnen angekommen. Sie müssen sie gehört haben. Ganz der Ihre – Heinrich Becker

Walter Bauer, 1. 8. 1939

Lieber Herr Dr. Becker, wir sind auf unserer sommerlichen Fahrt bis an die Grenze von Kärnten gekommen, um Werner Berg zu besuchen und haben auf dem Rutarhof schöne, unvergessliche Tage verlebt; ich bin glücklich, W. B. begegnet zu sein. Mit herzlichen Grüßen Ihr Walter Bauer und Clärle Bauer Gestern abend haben wir Bauers auf die Bahn gebracht, es war ein schöner und bedeutungsvoller Besuch. Bald schreibe ich auf Ihre Briefe, die uns tief freuten. Heute nur grüßen sie beide herzlichst Ihre getreuen Bergs

Martha Becker, 13. 8. 39

Liebe Freunde, wenn mein Mann von Graz spricht, so ist es meistens von Ihnen. Ich bin so froh, dass die Tage sie zusammengeführt haben, um sich einmal auszusprechen. – Seit ich zurück bin, will ich Ihnen schreiben, denn dort in Spanien kam ich nicht dazu. – Ich bin noch innerlich von allem Gesehenen und Gehörten stark beschäftigt. Was haben die armen Menschen körperlich und seelisch gelitten, wie schwer waren die letzten Monate! Es ist nicht zu beschreiben. Täglich wurden mir viele Einzelheiten geschildert und die Verwüstungen habe ich sehen können. Was sind wir Menschen, wenn wir selber solches Unglück über unsere Geschlechter bringen? Viele Fragen drängen sich dann, für die man keine Antwort findet. Dabei bewundert man die Menschen, die groß und stark waren, die geholfen haben. Die Freunde meiner Tochter sind solche. Sie selber hat sich wieder etwas erholt und wir werden unsere Ferien mit ihr verbringen. Im Winter wird sie voraussichtlich in Bie -

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lefeld sein. So ist das wiederum ein neuer Abschnitt, der anfängt. Ich hoffe, Ihnen allen geht es gut; Sie können in Frieden ernten, gut ernten und dann im Herbst wieder malen. – Es gibt für mich viel zu tun nach meiner langen Abwesenheit und so sind meine Grüße, die zu Ihnen kommen, hastiger als ich es will. Sie sollen wissen, dass Sie nicht vergessen sind und dass ich hoffe, Sie ein anderes Mal zu sehen.

Ihnen, liebe Werner Bergs, viele herzliche Grüße en toute amitie M. B.

Rutarhof, den 13. Aug. 39 Liebe, verehrte Beckers!

So weit zurück liegen nun schon die Tage in Graz und sind uns doch so oft nah und gegenwärtig in der unmittelbarsten Erinnerung. Sie waren recht wie eine Insel inmitten des sonst so hart uns bedrückenden Lebens, und nun ist uns bewusst, wieviel doch solches Wiedersehen und Miteinander-Schlendern bedeutete. Uns begegnete die Unverrückbarkeit menschlicher Güte, und diese kostbarste Erfahrung bestätigen Ihrer beider so überaus liebe Briefe. Schade nur, dass Sie, Frau Becker, nicht mit von der Partie waren, – und doch waren Sie es wie selbstverständlich auch. Es ist doch etwas Wunderschönes um das Wiedersehen der seltenen Freunde, und sei es nur, dass man sich einmal wieder gegenübersitzt und das Glas hebt, derweil unten der Fluss rauscht.

Die Grazer Tage waren aber für uns überhaupt eine Wende zu besserem Geschick. Sie wissen schon vom Besuch Walter Bauers und seiner Frau, über den ich Ihnen endlich Bericht schulde, – sofern sich das Wesentliche berichten lässt. Heute – Sonntag – vor drei Wochen verbrachten wir den ersten Tag miteinander und vor 14 Tagen nahmen wir Abschied voneinander wie Menschen, die sich immer kannten und nahe waren. Dazwischen lag eine Woche der schönsten Erlebnisse und das schöne Land überbot sich selbst an Duft und Farbigkeit. Wir stiegen miteinander auf den Hoch-Obir, badeten im verlassenen Drau-Tal, besuchten Eberndorf im letzten warmen Schein der Sonne, gingen oft durch die nahen Wälder und über die Wiesenhänge und waren viele Male vor den Bildern, zu denen sie ein so nahes und schönes Verhältnis fanden. Lang saßen wir an den warmen Abenden zusammen, waren oft ausgelassen und oft besinnlich. Und wie der Wind am Strande den Geruch des Meeres und der Weite herträgt, so kam immer mit den Worten des Mannes der Hauch von Menschengröße und Erdenweite zu uns. Nie habe ich den Sinn und das Ausmaß der menschlichen „Bildung“ so stark erlebt wie hier, wo sie nur ersehnt und erworben und in nichts geschenkt oder ererbt wurde, eines

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inneren Ergreifens, das die leisen und dunklen Klänge des Verschränkten und die Adlerkühnheit des Abenteurers zugleich umfasst. Sicher wird auch Ihnen das scheinbare Vielerlei der äußeren Betätigung einmal verständlich sein, – zudem gilt das alles nur als ein vorläufiges Abstecken der Grenzen und auch Befestigen der Existenz. Nie habe ich so an einen Mann meiner Generation geglaubt, an seine Leistung und den Keim zum Großen, wie bei Walter Bauer, und ich würde mich freuen, Sie teilten diesen Glauben.

Übrigens sind wir im gleichen Jahre geboren und verstehen einander bis in die Winkel des Ahnens. Der Mann ist bei argen Schwierigkeiten wunderbar unverbraucht und ungebrochen, zart geradezu und ganz männlich-unbeirrbar. Ich bin nicht jäh überschwänglich und das Gefühlsduseln hätte die Zeit mir hart abgestreift, aber ich bin sehr glücklich, diesen Menschen als mir zugewandten Kameraden zu wissen. Sehr vieles ist danach anders und leichter. Dass ich etwas nur zurückgeben könnte, wünschte ich.

Ihren Anruf zur Güte höre ich und verstehe den tiefen Antrieb nach all den furchtbaren Erlebnissen, die nun endlich ganz überwunden sein möchten. Bitte grüßen Sie Ihr Frl. Tochter, die ich vielleicht auch noch einmal kennenlernen darf, und ich wünsche so sehr, dass ein glückerfülltes Leben vor ihr liegt und in ihr die Spuren der furchtbaren Ereignisse auslöscht. Bitte grüßen Sie auch von mir Ihr so liebenswürdiges Fräulein Schwester-Schwägerin, der ich nur aufs herzlichste für ihre Bemühungen danken kann. Glücklicherweise ist es mir inzwischen gelungen, eine recht gute Grundierkreide aufzutreiben. Verleben Sie alle miteinander in der Auvergne schöne, erholsame Wochen, und hoffen wir gleicherweise auf einen vernünftigen Weltzustand.

Ganz herzlich grüßen Sie Ihre allzeit treuergeben Werner und Mauki Berg

Sagen muss ich noch – mir kommt es fast grotesk vor, dass Bauers sich nicht davon abhalten ließen, ein Bild von mir zu erwerben. Dann kam vor einer Woche ein schwerreicher Mann aus Wien, der sich eine ganze Kiste Bilder kommen ließ. Und so bin ich tout à coup auf dem Weg zum saturierten Bürger. Allein ich werde nicht stolpern, – keine Bange.

Übrigens bleibt der Pack, der aufgebundene, gleich schwer, – nur wird der Schritt rüstiger. Und könnte ihn wer von sich werfen, so verlöre er nur die Sehnsucht nach dem Fluge und würde doch nie so leicht, dass er fliegen könnte.

Von hier fuhren Bauers übrigens zum Dichter der „Wälder und Menschen“, der ihnen sehr freundschaftlich zugetan ist. Unterdes sind sie wieder in ihrem Zuhause, von wo uns eben Nachricht, schönste Nachricht, erreicht.

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30. Sept. 39

Liebe verehrte Beckers!

Nur zu gut fühlen wir, wie Ihnen zumute ist, – dass Sie den Wunsch haben, von Menschen nicht behelligt zu werden, geschweige denn ans Schreiben denken können und mögen. Doch bewegt uns in diesen Wochen die Frage nach Ihrem und der Ihren Geschick immer wieder und so stark, dass ich Sie doch um eine noch so kurze Mitteilung bitten möchte. Bitte nehmen Sie das nicht als Zudringlichkeit, wir würden so gern auf alle sorgenden Fragen ein Antwortzeichen hören.

Ihre Ihnen immer verbundenen und treuergeben Werner u. Mauki Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 2. Okt. 39

Meine lieben Freunde, seit unserer vorzeitigen Rückkehr aus Chamalières steht Ihr Name auf meiner Briefliste und mahnt mich, von neuem bei Ihnen einzukehren. Wenn ich Ihnen schreibe, dann fühle ich mich wirklich in Ihrer Nähe, spreche, wie ich es gewohnt bin und horche auf Ihre Antworten, als wären wir miteinander. Heute Abend ist Ihr guter Zuruf vom Sonnabend angekommen, und gleich darauf suche ich Sie zu erreichen und schreibe, was sich schreiben lässt.

Sie wissen, wieviel Liebe und gute Freundschaft uns in der Heimat meiner Frau immer zuteilwird. Umso schwerer war es diesmal, nach unruhevollen Wochen des Wartens und Hoffens, Abschied zu nehmen. Längeres Verweilen wäre nicht ratsam gewesen, und so sind wir 2 Tage vor Ausbruch des Krieges hier eingetroffen und bemühen uns, das Gleichgewicht zu bewahren. Dass es nicht immer leicht ist, brauchen wir Ihnen nicht zu verhehlen, zeigen mir doch die guten Worte Ihres letzten kurzen Schreibens, dass Sie um unsere Unruhe und Zwiespalt wissen. Arnold, der unter normalen Verhältnissen den Waffenrock in diesen Tagen hätte ablegen können, steht nun mit den vielen seiner Kameraden im Westen und muss auf seinem Posten ausharren. Von Zeit zu Zeit erhalten wir einen Brief von ihm, ohne Andeutung, wo er ist, was er tut, nur persönliche Mitteilungen und stille Hoffnungen. Hoffnungen und Wünsche, die wir alle hegen, Sie und wir. Tröstlich ist, dass wir Itta wieder bei uns haben, die sich allmählich wieder kräftigt und erholt. Dennoch, aus der spanischen Katastrophe kaum entronnen, wieder in neue Spannungen, in neue innere und äußere Bedrängnisse zu geraten, scheint uns Eltern für Itta ein hartes Schicksal. Wir hoffen, dass sie auch dieses meistern wird.

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Von Sésée aus Japan, von ihrem Mann und Christiane, kommen immer wieder gute, beruhigende Nachrichten an, so dass wir die Trennung leichter ertragen, ja nach Lage der Dinge gutheißen müssen.

Während der Ferien haben Sie uns durch Ihre Grüße, den Brief nach der Begegnung mit Walter Bauer und das schöne Buch „Abschied und Wanderung“ herzlich erfreut. Für alles sind wir Ihnen aufrichtig dankbar. Das Buch von Bauer ist vortrefflich; über Themen wie diese darf nicht jeder schreiben, taktvoll, behutsam tastend weiß Bauer Begebenheiten anzudeuten, die mir nicht unbekannt waren – die drei Namen genügten, um zu wissen, wovon das Buch erzählen will – die nun in das wohltuende Licht liebenden Anschauens gerückt werden. In guter Stunde schreibe ich Bauer vielleicht ein Wort, um auch ihm zu danken.

Seit langem in Ihrer Schuld, lieber Herr Werner Berg, bitte ich mir, Ihr Konto bei einer Sparkasse, Bank oder dgl. anzugeben, wohin ich Geldsendungen für Sie überweisen lassen kann. Eine bare Auszahlung durch den Briefträger möchte vielleicht unrätlich sein. Und schreiben Sie mir das bald – und vieles andere dazu. –

Ich denke so gern an Sie beide und finde Sie mir näher und erreichbarer noch seit den glücklich gelebten, gemeinsamen Stunden in Graz. War das einmal Wirklichkeit? Wie weit dünkt es mich inmitten der sturmbewegten Gegenwart. – Grüße und Händedruck Ihnen beiden, von ganzem Herzen Ihr Heinrich Becker

Liebe Freunde, Ihre Zeilen sind ein Trost in dieser schweren Zeit – ich kann Ihnen nicht mit Worten sagen, wie groß die innere Not ist. Mit Ihnen freue ich mich, dass Ihre Kinder noch klein sind. Von Herzen grüße ich Sie alle M. B. Rutarhof, den 21. Nov. 39

Liebe, verehrte Beckers!

Hätte ich nur damals gleich aus der ersten, großen Freude über Ihren Brief geschrieben! Doch ist sie keineswegs noch vergangen, ebenso wenig die Wärme, die Ihre guten Zeilen in diese eiskalte Zeit brachten. Ganz fühlen wir mit Ihnen, verehrte Freunde, wie fad und leer müssen fromme Tröstungen tönen, wo zu fluchen alleine tröstlich klingt!

Vor der Schwere Ihres Geschickes will ich mich auch nicht etwa in lamentierenden Betrachtungen über das unsere ergehen. Ich will nur auf eine Stunde

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zu Ihnen kommen, mit Ihnen reden. Nach schwersten Wochen brachte uns dieser Sommer so viel Schönes, Stärkendes, dass schon inmitten so viel lang nicht gekannten Glückes die dunkle Ahnung des Bevorstehenden zitterte. Und über wem wäre die nicht gelegen, denn was seitdem über die Welt hereingebrochen ist, lag nicht erst seit gestern in der Luft. Da waren, nicht oft genug zu vergegenwärtigen, die Grazer Tage, in denen wir so jung, so einander zugetan und ohne Last beisammen waren, – ja fern ist das nun, wie fern, aber es war Gott sei Dank Wirklichkeit. Bauers waren hier eine leuchtend schöne Sommerwoche lang, die Verbindung mit Walter Bauer wird, soll für mein Leben Ereignis bleiben. Dann verkaufte ich eine Reihe von Bildern, und so belanglos das im Grunde ist, gibt das nun einmal doch neuen Auftrieb. Dann, – davon wissen Sie noch gar nicht – waren wir in der Schweiz, sahen die Pracht der Prado-Bilder in Genf. Und dann war Krieg. Als wir von dieser großartigen Genfer Ausstellung hörten, stieg der Wunsch stark in uns auf, sie zu sehen, und mit der sich bietenden Möglichkeit unternahmen wir bald alle Schritte hierzu. Am 25. August kamen die Billetts und (in Verbindung mit der Schweizer Landesausstellung in Zürich) eine kleine Franken-Zuweisung, am 26. saßen wir auf der Bahn und schon schien alle Hoffnung vereitelt zu sein. Dann konnten wir durch einige unglaublich günstige Fügungen doch noch fahren. Ja, vor nicht viel Wochen gingen wir die rue des Casemates in Genf hinauf, um in eines der würdigsten Arsenale der Welt einzutreten: wir standen vor dem grandiosen Bild Karl V., zwischen vollendeten Gobelins, das wie vielleicht kein zweites Gemaltes ganz Malerei und ganz Weltgeschichte ist, wir bewunderten – dort nur fassbar – was ein Velasquez mit Pinseln zu realisieren vermochte, in uns strömte der aus einmaligen Farben und Leibern aufsteigende, himmlische Rausch Grecos (Heise meint, nach modischer Überschätzung sei eine starke Ernüchterung vor Greco zu „notieren“, wir fanden das gerade Gegenteil, wohl ist der Abstand zu unserer Armseligkeit riesig geworden), wir sahen Goya, viele Goyas, Breughels unheimlichen „Triumph des Todes“, Bosch und die so andere wie überzeugende Klarheit der Niederländer (was für ein Bild – diese Kreuzabnahme des Rogier van der Weiden!) und ein jugendlich meisterhaftes Selbstkonterfei Dürers. Wir sahen, sahen, und ich meinte vor so viel, vor solcher Größe in Stunden wachsen zu müssen wie sonst in Jahren. Ich musste an eine andere Reise in das unermessliche Reich der teuren Kunst denken, an das Damals, da ich wie ein trunkener, immerzu trinkend durch den Louvre ging, auch ich – Dank dir Herrgott! – die Wallfahrt nach Chartres machen durfte. Heute vor zwei Jahren stand ich vor dem Bon Samaritain. Wie anders müsste die Welt aussehen, wenn sie die

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Macht dieses Bildes in sich könnte eindringen lassen! An der Tour de l’armistice war ich in Paris angekommen. Ja, – Genf, auch das war Wirklichkeit, die Heimfahrt unter dem Glanz der aufsteigenden Sonne über dem meerweiten See. Wir sahen noch ein sehr sauberes Museum in Bern und die erstaunlich stattliche Landesausstellung in Zürich, – am 1. September waren wir in Deutschland wieder und hatten einen letzten Schritt in die große Welt getan.

Als Ihr lieber Brief kam, hätte ich gleich gern zurückschreiben wollen. Viel, sehr viel Arbeit, auch Sorge lag damals auf uns, ich hätte es schneller überwunden geglaubt. Ich selbst lag recht danieder und alles zu Erstrebende erschien mir, wo nicht vernichtet, doch auf lange aufgehoben zu sein. Mein Jahrgang 04 gehört zu denen, die bisher nicht aufgerufen wurden, ich stellte mich Anfang September dem Roten Kreuz zur Verfügung und stehe seitdem in Sanitätsausbildung, zu der ich – reichlich anstrengend – dreimal wöchentlich nach Klagenfurt fahren muss. Etwas merkwürdig zwar dieser Entschluss, aber wir, meine Frau und ich, müssen ihn doch nach wie vor gutheißen. Bald ist die Ausbildung zu Ende, dann wird es sich zeigen, ob ich einstweilen hierbleibe oder abkommandiert werde. Die Feldarbeit ist noch nicht fertig, durch das Wetter sind wir heuer sehr zurück, und schon tanzen in der Luft die ersten Flocken. Die dann nimmer vergehen bis zum Frühjahr. Im Oktober hatten wir bereits einen sehr starken, störenden Schneefall, – doch brachte er zum Glück noch nicht das weiße Wintergewand. Wie schwer, wie unerquicklich ist doch das Wirtschaften hier geworden, nur hier zu leben ist nach wie vor hohen Preis wert, auch ist dieses so notwendige: la rupture avec la société hier Selbstverständlichkeit.

Mag‘s vermessen klingen, heute darf ich sagen, dass ich mich in und trotz der Zeit wiedergefunden habe. Fassen Sie es nicht als Ich-versessenen Hochmut auf: ich habe wieder den Willen zur Selbstbehauptung, ich will das Begonnene nicht zertreten, mich selbst nicht auslöschen lassen. Ich will noch ein Ding tun, ich will malen und brauche vor mir noch ein weites, langes Leben und –das will ich bittend nicht vergessen – Gnade. Noch etwas habe ich zu erzählen. Vorvorige Woche musste ich ein paar Tage ins „Altreich“ (wie es hier heißt) und konnte in Halle Walter Bauer besuchen. Leider musste ich bald und die gleiche Strecke zurück, wie gern hätte ich sonst noch den Weg nach Bielefeld gemacht! Aber auch so war ich stark mit Ihnen verbunden und dachte in Halle wiederholt daran, wie schön es doch wäre, wenn Sie Walter Bauer in Halle einmal aufsuchen könnten. Er ist ein ganzer Kerl und hat – kostbarste Gabe – die große innere Unbefangenheit der Nicht-Zerbrochenen, Nicht-Zerbrechlichen. Er ist voll trächtiger Zukunft, mit ihm ist gut gehen als Kameraden.

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In wenigen Stunden stehe ich im kalt-fegenden Wind vor der Staffelei an den Drau-Auen, gestern habe ich mich aufgemacht, nachdem ich zuvor einen ganzen Stapel Leinwände grundiert habe. Ich werde – wieder sehr anders –die dunkle Felsstirne malen. Den nun entblätterten, rostbraunen Waldabsturz darunter, in den die hohen Fichten hineinschneiden. Blassgrün, verloren ein Haus darunter und unter braunen Wiesen am Grund vor dem Tümpel soll sich – klein – die ewige Geschichte vom barmherzigen Samariter vollziehen. Keine Befürchtungen! – außer, dass der Schnee zu früh niedergeht, und davor halten Sie mir bitte die Daumen.

Grüßen Sie mir bitte herzlich Ihre Kinder von mir, Arnold draußen, Frau Séseé weit draußen und Fräulein Itta, die ich noch nicht kenne. Sie beide sehe ich jetzt und oft vor mir: Frau Becker mit dem reichen Herzen und lebendigen Geist, Herrn Becker, so voll Güte, Geist und sauberster Gesinnung. Und solcher Menschen Hände weiß ich uns allzeit freundschaftlich entgegengestreckt! Wir drücken sie in Herzlichkeit, Ihre getreuen Werner u. Mauki Berg

Heinrich Becker, Bielefeld 20. Dec. 39

Meine lieben Bergs,

Ihr letzter Brief hat uns durch diese Wochen geleitet, mit seiner Wärme und herzlichen Anteilnahme tief erfreut. Ihr lebendiges Wort gestattet uns Einblick in Ihr Leben und Schaffen, so dass wir dank Ihrem Vertrauen uns Ihnen beiden immer nahe wissen. Auch wenn wir nicht gleich antworten, können Sie dessen sicher sein. Nun kommt aber Weihnachten und das Ende des Jahres heran, da gehen unsere Gedanken gern und beschwingt ins Kärntner Land, das Ihre, Ihrer Kinder Heimat ist, sehen Sie dort an der Arbeit in Haus und Hof, malen uns Ihr Leben mit den Kindern, Ihre Freuden wie Ihre Sorgen und Erwartungen aus, suchen die kleinen und großen Dinge, die uns so viel Unruhe, so viel schmerzerfüllte Stunden bringen, auch mit Ihren Augen zu sehen, mit Ihrem Herzen zu fühlen. Dann spüren wir aber auch, wieviel ungesagt bleibt, ungesagt bleiben muss, und wir vertrauen, und Ihre Briefe zeigen uns so überzeugend, dass wir es dürfen – vertrauen auf Ihr inneres Ohr, das auch Verschwiegenes zu hören weiß. Geben Sie sich ja der Freude an Ihren Kindern hin, füllen Sie sich ganz mit diesem gemeinsamen Leben, das zwar auch seine Kümmernisse hat, aber doch beide, Eltern wie Kinder, beschenkt. Das Leben kennt keine schöneren Geschenke. Wir sind glücklich, unsere Itta bei uns zu haben, sie zu pflegen und zu erfreuen, was sie beides nach den schweren Madrider Jahren so nötig braucht. Aber sie erholt sich auch, trotz der man-

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cherlei Einschränkungen, die die Zeit uns wie allen auferlegt. Häufige und ausführliche Briefe, fotografische Aufnahmen von Sésée und den ihrigen in Japan helfen uns, an ihrem Familienleben, insbesondere an dem Wachstum der kleinen Christiane, unseres Enkelchens, an den vielfältigen Freuden, die uns sonst verschlossen wären, teilzunehmen. Und sind von Herzen dankbar. Arnold, der inzwischen Unteroffizier geworden ist, steht nach wie vor auf weit vorgeschobenem Posten am Westwall. Aber er ist zuversichtlich und findet sich in die Lage wohl besser, jung und elastisch, wie er ist, als wir es könnten und können. Wie wollte die Jugend es aushalten, ohne gläubiges Vertrauen! Nun zieht auch Sie diese Zeit in den Strudel, es kann ja nicht anders sein, und tun Sie ja, was Sie begonnen haben, mit vollem Herzen, es ist das Schönste und Notwendigste, was zu tun bleibt. Dass auch Ihnen der Dienst am Nächsten zum Segen wird, dessen bin ich ganz sicher, Ihrer Kunst nicht minder, wenn Sie erst wieder zur Ruhe und einsamer Arbeit kommen.

Gern hätten wir Ihren Kindern ein kleines Weihnachtspäckchen geschickt, um sie an die fernen Freunde ihrer Eltern zu erinnern. Aber guter Wille und menschliche Erfindung reichen nicht aus, den fehlenden Überfluss zu ersetzen, solange das Nötigste zugeteilt wird. – Ich lasse Ihnen in diesen Tagen 50 M. zugehen, darf ich damit eines der noch hier liegenden Aquarelle, das große Kreuz mit Blumen, abgelten? Die anderen an Sie abzuschicken, warten wir wohl besser ruhigere Zeiten ab. Die Holzschnitte liegen auch noch hier und sind in Sicherheit und Ihres Abrufs gewärtig. –

Ihnen beiden Kraft zu vollem Leben und Schaffen wünschend, unverrückbare Klarheit über Gut und Böse, wie und wo es immer geschieht, Herzenskraft das Gute zu lieben und das Verächtliche zu verachten, grüßen wir Sie mit dem Gruß der Engel in der Christnacht. In herzlicher Freundschaft Ihre Heinrich u. Martha Becker

28. XII. 39

Liebe und verehrte Beckers!

Möchten Sie nur wissen, ein wie kostbares, tief erfreuendes Geschenk uns Ihr schöner, guter Weihnachtsbrief war!

Heute kommen wir nur ein gutes neues Jahr wünschen. Dass doch das Ende des Jahres 1940 die frommen Wünsche, die es einleiten, nicht verhöhne!

Was auch komme: wir wollen das fraglos Würdige hochhalten über allem Fragwürdigen!

In herzlicher Verbundenheit Ihre treuergeben Werner u. Mauki Berg

137 1939

1940 wird Werner Berg zur Ausbildung als Sanitäter zum Roten Kreuz nach St. Johann in Tirol einberufen. Es gelingt ihm nach Ende der Sanitätsausbildung wieder auf den Rutarhof zurückzukehren. „Werner ist, seit er hier ist, kaum noch zur Besinnung gekommen über all dem lästigen zum Teil ziemlich wichtigen Kram, der erledigt sein will. An die Kunst ist derzeit kein Gedanke; wann, wann endlich wird der Wahnsinn aufhören und wann wird die Menschheit ihrem eigentlichen Ziele wieder nachgehen können", schreibt Mauki an Walter Bauer. Werner Bergs jüngste Tochter Annette wird geboren. Im November nimmt Werner Berg an der Kärntner Kunstausstellung teil.

138 URSI UND KLARA, 1940 ANNETTE, 1940

Martha Becker, Neujahr 40

Meine lieben guten Freunde Werner Berg, es gibt in unserem Haus eine neue Stelle, die uns, seit der entzückende Bauernkrug dasteht, wiederum an Sie oft erinnert, wie alles was von Ihnen hier spricht. – Es war so lieb von Ihnen beiden – und der Inhalt!! So Köstliches gibt es nicht in dieser Stadt! Wir danken Ihnen von Herzen und wünschen Ihnen wie allen Menschen den Frieden. – Von ihm hängt das Leben von vielen Menschen ab! Unser Arnold war noch nicht hier; er ist meistens im Vorfeld! –schreibt aber beglückt durch die herrliche Freundschaft, die er gefunden. Wir leben le cœur plein d’une eternelle attente. – Von Herzen wünschen wir, dass Sie lieber Herr Werner Berg bei ihrer Familie bleiben können. – Viele herzliche Grüße mit Dank Ihre H. u. M. Becker

In herzlicher Verbundenheit herzliche Grüße und gute Wünsche Ihr

Heinrich Becker

Rutarhof, 7. Jänner 40

Liebe, verehrte Beckers!

Für Ihre sehr lieben Zeilen will ich nur geschwind danken und für die Überweisung, die mir von der Völkermarkter Sparkasse angekündigt wurde. Sie hätten das nicht tun sollen und dürfen, sie Guten!

In der Wirtschaft hatten wir manche Schwierigkeiten. Nun klammere ich mich an die Arbeit, so lang und so gut es noch geht. Alles Gute Ihnen und den Ihren allen! Mit vielen herzlichen Grüßen Ihre getreuen Bergs

Rutarhof, den 28. Feber 40

Liebe verehrte Beckers!

Kein Brief, – ein Gruß nur, ein Zeichen, dass wir Sie keineswegs vergessen haben. Mit dem Februar-Ende, gerade recht, will sich auch der Winter verabschieden. Zwar liegt der Schnee noch in Massen und die Nächte durch friert es gehörig, doch über Tag hat die Sonne Kraft, wenn sie höher steigt über der Staffelei, zwitschernd, verheißend und lockend im Rücken ein paar Vogerln, und die Erde, auf den südlichen Hängen in schwingenden Streifen und Flecken, herausgebrannt, strömt ihren Duft aus. Wie herrlich seit je ist dieser erste Geruch der braunen Erde, stark und treibend, die Welt ist schön, die Welt wäre so schön!

139 1940

Doch müssen wir den Winter preisen, diesen gründlichen Winter, der sicher so vielen Menschen, mit denen wir fühlen, eine arge Plage war, uns bringt er allemal mehr Sammlung und Vertiefung als jede andere Zeit des Jahres. Gott sei Dank – es kommt von Herzen – ich habe gemalt. Nach manchen schweren Ereignissen – wer darf heute die eigenen wägen – habe ich wieder zu meiner Arbeit gefunden und zwei Monate ununterbrochenen Malens nun hinter mir.

Wie auch das Maß sei, das meine ist nicht leer, und ich bin glücklich, dass ich mich dem einzig erstrebenswerten Ziel einer unabhängigen Anschauung, eines wirklichen und persönlichen Verhältnisses zur Natur, nähern durfte. Nie hätte ich zuvor gedacht, dass mir das zu dieser Zeit vergönnt und möglich wäre, dass ich die Frist, die mir noch gegeben ist, so nutzen könnte.

Vom Sanitätsdienst bin ich derzeit beurlaubt, die endgültige Einberufung ist noch nicht an mich ergangen. Wenn ich mich auch nicht fürchte und kein Drückeberger bin, so ist es doch gut so, nicht nur wegen meiner Arbeit, auch und vor allem für meine Frau. Sie ist gesundheitlich leider nicht gut beisammen und hat üble Kreuz- und Venenbeschwerden diesmal, bevor wir unseren fünften Sprössling erwarten. Gebe Gott, dass in 1-2 Monaten alles gut vorbei ist, nicht leicht das jetzt und in unserer Situation. Aber wenn es überhaupt geht, wird es auch so gehen.

Herzlich hoffen und wünschen wir, dass Sie gute Nachrichten von Ihren Kindern haben, wir vermögen das Gewicht Ihrer Sorgen zu ermessen. Nehmen Sie es nur da bitte nicht übel, wenn ich Ihnen von den eigenen Dingen und Pinseleien vorschwafle, als ob es in dieser krachenden, bebenden Welt überhaupt noch darauf ankäme! Und doch kommt es für mich, will ich ehrlich sein, darauf an, und ich wäre auch meinen Freunden nicht Freund, wenn ich mich selbst verlöre. Ja, mit allen Kräften wünsche ich, dass noch lange nicht das Ende da sei, weil so verflucht viel noch zu tun ist und ich auch manches noch tun kann.

Seit Jahren suche ich in den Besitz des Buches mit den Feldpostbriefen von Franz Marc zu kommen, das ganz vergriffen ist. Gerade jetzt würde ich es überaus gern wieder einmal lesen, und hätte Herr Delius nicht ein so bibliophil kostbares Exemplar, dann würde ich ihn bitten, es mir für kurze Zeit zu leihen. Bitte grüßen Sie doch bei Gelegenheit ihn und die dortigen Freunde meiner Arbeit, die Sie mir gewonnen haben, und sagen Sie Ihnen, dass der W.B. für den sie einst so schneidig eingetreten sind, sie nicht zu enttäuschen hofft.

Leben Sie wohl, liebe verehrte Beckers, und seien Sie in herzlicher Verbundenheit gegrüßt von Ihren Werner u. Mauki Berg

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Feldpost, 3. 4. 1940

Liebe verehrte Beckers! Innerhalb 20 Stunden habe ich vor 2 Wochen einrücken müssen, – Zeit habe ich hier (St. Johann/Tirol) überhaupt keine. Leider habe ich so schlechte Nachricht von zu Hause, dass ich alles daransetzen muss, meiner Frau bald zur Seite zu stehen. Vom Hof aus schreibe ich Ihnen. In alter Herzlichkeit und Verbundenheit grüßt Sie mit vielen guten Osterwünschen Ihr Werner Berg

Martha Becker, Bielefeld 14. IV. 40

Liebe Freunde, in diesen für alle Welt bewegten Monaten haben wir recht mit Ihnen – wenn auch schweigsam – alles geteilt, was wir dank Ihrer Briefe und Karte über Sie erfuhren. Wenn diese Zeilen zu Ihnen kommen, hoffen wir sehr, dass Sie, lieber Herr Werner Berg, wieder zu Haus, auf dem Hof zurück sind, um Ihnen, liebe Frau Berg, zur Seite zu sein und Ihnen viel abzunehmen. – Alles, was Sie beide leisten, ist so viel! Aber es hilft Ihnen dazu die stärkende Natur, die Sie umgibt und so manches von Ihnen fernhält. Wir freuen uns, dass Menschen wie Sie eine fröhliche Kinderschar, bald noch vermehrt, um sich haben. Jedes Leben so teuer und kostbar, wenn man es noch nicht besitzt. Unsere Wünsche gehen täglich zu Ihnen und wie bedauern wir die Entfernung, die das große Hindernis ist, um seine Teilnahme zu zeigen – anders als mit Worten! – Von uns ist wenig zu sagen. Unser Leben ist ein langes Warten geworden und der Alltag macht viel zu schaffen, ohne wirklichen Inhalt. Das Denken schmerzt mich. – Unserem Jungen geht es gut und er ist froh in seiner Tätigkeit. Es ist ganz gut so! und seine Zuversicht lässt uns auf den Frieden hoffen. Schreiben Sie uns, lieber Herr Werner Berg, ob Sie freigekommen sind und wie alles bei Ihnen wird.

Für jeden von Ihnen, auch den Kindern, einen ganz besonders herzlichen Gruß von Martha Becker

Meine lieben Freunde, seit Wochen bin ich auf dem Sprung, Ihnen ein paar gute Worte zu sagen, durch Tagesarbeit und Beiläufigkeiten immer wieder aufgehalten. Zum Glück springt meine Frau, obwohl sie nicht weniger zu tun hat als ich, entschlossener – bis zu Ihnen hin. Nun stehe ich nur auf dem Rand, aber mit dem Herzen in Ihrer Mitte und helfe mit guten Wünschen und Zuspruch.

Herzlich grüßend Ihr H. B.

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Heinrich Becker, Bielefeld 18. Juli 1940 Liebe Freunde, wenn wir auch seit Wochen und Monaten in Unruhe und Sorge gewesen sind, haben wir doch nicht aufgehört, an Sie zu denken und von Ihnen beiden Nachricht zu erwarten.

Warum schweigen Sie so beharrlich? Ist etwas Besonderes geschehen? Je länger Ihr Schweigen dauert, umso unruhiger werden wir. Und es wäre doch so Wichtiges, für Sie beide Bedeutungsvolles zu schreiben. Was verbirgt sich hinter der Stille, mit der Sie sich umgeben? Wir bitten Sie herzlich, schütten Sie Ihr Herz aus. Sie wissen, dass Sie vor uns keine Scheu zu haben brauchen. Wir lesen Ihren letzten Brief immer wieder, um den Zeitraum zu durchdringen, der sich seitdem zwischen uns gebildet hat. Womit ist er angefüllt? Bei aller Besorgtheit klang doch auch Zuversicht durch Ihre Worte, neuer Glaube an Ihre Arbeit. Aber wie klingt das schon fern! Auch in dem Schwall der Ereignisse behält das Persönliche Sinn und Wert. Wir sind nicht der Tropfen im Meer. Wie wären Sie Künstler ohne diesen Glauben an die Geltung des Ich! Unfromm ist, sein Ich zu verleugnen, wider Gott und Natur, Natur, die unablässig und seit undenklicher Zeit Individuen schafft, ungeteilte und unteilbare Wesen, in so bestimmter und einmaliger Form, dass an der Gültigkeit des Ichs im Naturgeschehen nicht gezweifelt werden kann. Wie viel weniger in der geistigen Welt, aus der uns niemand herausnehmen kann, weil Gott es so will, weil der Geist sich auch nur in unteilbarer Form, im beseelten Wort, im festgefügten Werk kundgeben kann.

Darum dürfen wir immer wieder nach dem Ich und nach dem Du fragen. Aber freilich, solange wir Ihr Schicksal im Ungewissen fühlen, sollen wir da viel von uns sagen? Arnold hat die Gefahren des Kriegs in Frankreich überstanden und befindet sich, wenigstens bis zur letzten Nachricht vom 15. Juli, in der Nähe von Nancy. Unser Enkelkindchen Christiane wächst im fernen Japan unter der Obhut ihrer Eltern, die wie wir ihre Sommerferien haben, heran, und Itta bedarf nach den in Spanien erlittenen Jahren noch der Pflege, die ihr zuteil wird, soweit die allgemeine Lage es zulässt.

Wir selbst? Wir warten – auf was brauchen wir Ihnen nicht zu sagen; eingeschlossen aber darin der Wunsch, Sie wiederzusehen, einstweilen Sie wieder zu lesen. Hoffentlich bald.

Mit den herzlichsten Wünschen für Sie, Ihre liebe Frau und Ihre Kinder und vielen guten Grüßen von uns allen Ihr Heinrich Becker

Haben Sie Nachricht von Walter Bauer?

142 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

In Gedanken immer herzlich mit Ihnen und in Erwartung von der Nachricht, die Sie als Eltern bereichern wird. Hoffentlich geht es Ihnen gut! Liebe Frau Berg! – Unser Junge ist fürs erste gerettet. Was wird noch kommen?? So viel Schmerz! Ihre M. B.

Rutarhof, 25. Juli 40

Liebe verehrte Beckers!

Wie schön war das, wieder einmal von Ihnen zu hören, Ihr Zuruf hat uns tief bewegt. Übrigens ist nach allem Anscheine ein Brief nicht in Ihre Hände gelangt, in dem ich u.a. die Ankunft unserer kleinen Annette (3. Mai) meldete. Mittlerweile ist sie schon kräftig in ihr kleines Leben hineingediehen, und alle haben sie äußerst gern. Ich schreibe bald und will Ihnen heute nur herzlich danken und sagen, wie froh wir sind, Sie alle gesund zu wissen. In steter herzlicher Verbundenheit grüßen Sie Ihre Werner u. Mauki Berg

Rutarhof, den 4. Aug. 40

Liebe verehrte Beckers!

Zu viele Tage sind schon seit dem Eintreffen Ihres Briefes vergangen, so will ich lieber ein weniges als gar nicht schreiben. Das war eine so besondere Freude, nach langem wieder einmal von Ihnen zu hören, Ihren guten stärkenden Zuruf zu empfangen.

Kaum weiß ich, wo die Mitteilung abbrach, wo ich sie wieder aufnehmen muss. Im Mai hatte ich Ihnen des längeren berichtet, was sich in unserem kleinen Reich zugetragen hatte, jetzt weiß ich, dass es nie zu Ihnen gelangte. Bei den Ereignissen dieser Zeit hatte mich Ihr Schweigen nicht verwundert, ich selbst aber fand das Wort nicht zu Ihnen, in der Furcht, an Dinge zu rühren, von denen ich wusste, wie tief und schmerzlich sie Sie verwunden mussten. Ein Glück nur zu wissen, dass Sie alle gesund sind, dass vor allem Arnold, an den wir in den vergangenen Wochen oft dachten, heil herausgekommen ist. Ihnen aber, verehrte Frau Becker, – das haben wir oft und innig gewünscht – möchten Ihr starker hoher Sinn und ein guter Stern geben, diese Zeit ungebrochen zu überstehen.

Am 3. Mai also kam das kleine Menschenkind zur Welt, ein Mädchen zwar – unter Bauern fast eine bedauernswerte Tatsache – wir aber waren nur voll Freude, dass auch diesmal alles gut vorüberging. Ich muss es gleich sagen,

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wir haben die kleine Annette, wie sie getauft wurde, sehr, sehr gern, sooft wir sie anschauen, schwindet der furchtbare Druck der Zeit und immer ist uns, als erführen wir zum ersten Male das reiche Glück, den Hauch des atmenden Säuglings zu spüren, sein unendlich reines Auge zu sehen und sein Gedeihen zu verfolgen. Ja, sie gedeiht vortrefflich, und ihre Mutter darf, obschon sie es nicht wahrhaben will, etwas stolz darauf sein. Als ich im April vom Militär heimkam, hatte meine Frau eine schwere Zeit hinter sich. Mit einem jungen Mädchen war sie allein in Wirtschaft und Haus, Knecht und Magd lagen schwerkrank danieder. Damals nahm mich die vernachlässigte Feldbestellung äußerst in Anspruch. Ich wollte so gern, dass die Entbindung in der Klinik vor sich gehe, da es mit der Ruhe hier für sie nicht weit her gewesen wäre, und als sie sich dann auf den Weg nach Klagenfurt machte, war es schon eine etwas dramatische Angelegenheit: zehn Minuten, nachdem meine Frau die Klinik betreten hatte, tat das Kind schon seinen ersten Schrei, wir aber waren glücklich und dankbar. Dann wurden – leider unaufschiebbar – die Dächer von Haus und Scheune neu gedeckt, wir hatten das den ganzen Winter durch vorbereitet, und als diese erhebliche Turbulenz sich legte, der letzte Ziegel oben war, musste ich wieder einrücken, – Ende Mai. Gut war nur, dass ich auch diesmal nach kurzer Zeit – wie früher im normalen Turnus – heimkam, immerhin hatte ich bei der großen Heuarbeit gefehlt und musste nun an die Ernte. Doch – das ist noch leben, die Sonne auf der Haut brennen zu spüren, den heißen Mittag, von Dunkelheit bis Dunkelheit zu arbeiten, müde zu sein ohne viel fragen woher und wozu. Und doch konnte mich das alles nicht ausfüllen, zuweilen schoss stechend die Frage in den Schädel, ob denn all mein Bemühen – ich war ja einmal, kaum zu glauben, Maler – verpuffen müsste, nein, ich wollte das nicht zugeben und werde es nicht wahrhaben wollen. Ich begann auch wieder zu malen im Juli, seit dem Februar in Schnee und Frost hatte ich keinen Pinsel mehr gehalten.

Heute wollte ich nur ein wenig Ihnen berichten, die Brücke schlagen über Monate ohne Gespräch. Einmal, das nehme ich mir vor, und es wird nicht ganz leicht sein, werde ich vor Ihnen meine künstlerische Situation prüfen. Am Ende bin ich nicht und fürs nächste gilt es, diese Zeit zu überstehen. Wenn nur schon dieser infame Krieg vorüber wäre! „Man kommt nicht aus dem Provisorium heraus“, – schreibt Marées im Dezember 1870, es ist so. Walter Bauer ist zu den Kraftfahrern (er war nie einer) eingerückt und einstweilen noch bei der Lehrtruppe in Leipzig. Der wird nicht zu verbiegen sein und sein Leben ganz gewiss erfüllen. Seit ich das Datum schrieb über diesen Brief, ist fast eine Woche vergangen, in der ich oft abgerufen wurde aufs Feld, auf

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die Scheune und an die Staffelei, auf der ein kleines simples, mir liebes Bild steht: die Mutter mit ihrer Annette an der Brust. Das Leben wird weitergehen und zu ihm wollen wir uns – trotz allem – bekennen.

In herzlicher Verbundenheit grüßen Sie Ihre Werner u. Mauki Berg

5. August 40

Liebe verehrte Beckers!

Der Brief für Sie war schon begonnen, da wurde ich abgerufen und herausgerissen, wie das hier und im Hochdruck der Ernte erst recht leicht geschieht. Nun will ich durch diesen kurzen Gruß, bevor der Briefträger kommt, der die Post mitnimmt, mein Gewissen etwas erleichtern. Wären doch all die gedachten Gedanken schon Mitteilung, dann wüssten Sie längst, wie es steht, und dass Ihnen immer stark und herzlich zugetan sind Ihre getreuen Bergs

Martha Becker, Dienstag, 20. 8. 40

Liebe Freunde,

lassen Sie mich Ihnen beiden sagen, wie herzlich wir teilnehmen an Ihrem Elternglück, das wir leider erst nachträglich erfuhren. Jedes Glück ist eine Aufgabe, um es als Glück zu erhalten. Möge Ihre kleine Annette für Sie, für die vier Geschwister immer wieder die Milde und die Güte erwecken und Freude.

Je älter wir werden, je mehr wissen wir, was jeder neu geborene Mensch bedeutet und wie behutsam wir mit der unbekannten Seele umgehen müssen, um ihre Entfaltung nicht zu stören. Der Schutz Ihrer Kinder ist die große, wunderbare Natur, in der sie aufwachsen, die sie von den vielen Menschen trennt. – Hier geht unser Leben als „Wartezeit“ weiter. Unser Junge ist an der Küste und sieht sich gegenüber Englands Küste. Es gibt für uns so viel Schmerzliches, wovon wir nicht sprechen können. Ihr guter Brief hat uns so wohlgetan. Mögen Sie beide Kraft und Zuversicht behalten und Sie lieber Herr Werner Berg Ihre Aufgabe als Maler nie lassen. Mit Freude werden wir eines Tages Kinder und Werke uns ansehen – aber erst muss Friede auf Erden sein. – Von Herzen unsere Wünsche und Grüße, Ihre H. u. M. Becker

Für Annette ein Andenken als Willkommensgruß!

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Martha Becker, Bielefeld, 26. 9. 40 Meine lieben, jungen Freunde, Ihre guten Wünsche haben uns gutgetan. Jeder gute Gedanke, jede gute Herzensregung in dieser Zeit sind wertvoller als je! In ein paar Zeilen will ich Ihnen sagen, was uns in Wochen stark innerlich in Anspruch nahm. Unser guter Arnold war drei Wochen auf Urlaub – er kam, wie wir Ittas Abreise abgeschlossen hatten. Arnold und ich haben Sie nach Berlin begleitet, von wo sie nach Barcelona geflogen ist. Das Trennungsjahr war für Sie sehr schwer und es war für ihre Gesundheit sogar notwendig, dass sie Sonne und Wärme wiederfand. – Wir haben auch Montag aus Palma de Mallorca ein Telegramm bekommen, in dem stand, dass sie nun verheiratet ist. Es ist für uns eine sehr große Freude, denn diese Ehe schließt oder krönt eine 6jährige, feste und treue Freundschaft. Ihr Mann ist in Palma Marinearzt. Ich habe ihn in Madrid damals kennen gelernt; er ist ein vortrefflicher Mensch. Das ist ein Lichtblick! Aber keine Minute können wir die Sorge um Arnold vergessen, der an der Küste liegt bei Calais – was wird aus ihm?? Hier jede Nacht müssen wir heraus und nie weiß man, wo die Bomben fallen werden. Heute Nacht sind’s wieder vier Tote – vorige Woche in Bethel 12. – Sind Sie, liebe Freunde, nicht gut geborgen in Ihren Bergen? Trotz aller schweren Arbeiten! Entschuldigen Sie, dass ich nur von uns sprach, aber Sie werden dadurch alles verstehen. –Immer Ihre Martha Becker

Rutarhof, den 14. Oktober 40 Liebe verehrte Beckers!

Noch ist der Morgen dunkel. Der Wind fegt draußen das Laub, das nasse, vor sich her, die Wolken hängen tief über die Berge herab. Die Kartoffelernte steckt, da sollen diese frühen Morgenstunden Ihnen gehören, den Augenblick des Briefschreibens habe ich schon lange herbeigewünscht. Der Regen, der immer wieder einsetzt, erschwert die ganze Herbsternte aufs äußerste, zerreißt die Zeit, und wir müssen noch von Glück sagen, dass wir den Buchweizen knapp hereinbrachten, der ja in unserer Gegend eine besondere Rolle spielt. Ansonsten aber ist auch dieser Augenblick des Jahres ein ganz herrlicher, voller Erdengeruch und Farbigkeit, er geht so stark und weitend kräftig in die Lungen und die Augen.

Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihren lieben Brief, ganz besonders dafür, dass Sie uns an den Ereignissen Ihres Lebens, die diesmal so erfreulich

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waren, teilnehmen lassen. Es war nicht anders, als hätte ein Lichtstrahl den verhangenen Himmel durchstoßen und die von ihm Getroffenen erhellt und erwärmt, auch für uns war es so. Unseren herzlichsten Glückwunsch Ihnen und Ihrer Frau Tochter in Spanien, wie viel echter als die Ehen einer lediglich bürgerlichen Wohlgeordnetheit sind doch solche, die im Zeichen eines schweren Geschickes auf dem Grunde echter, gemeinsamer Menschlichkeit beginnen. In einem weiteren Sinn als den des Kreises um die Suppenschüssel betrachten auch wir uns als zu Ihrer Familie gehörig. Voll Herzlichkeit denken wir an Sie beide, die Sie nun wieder sehr allein sind, deren nächste Gedanken, Sorgen und Wünsche eine große Weltreise machen müssen. Über soviel Sorgen und Bangen hinweg wird Sie, wir wissen es, das ungewöhnliche Geschick Ihrer Kinder glücklich erfüllen, in ihm verwirklicht sich auf nicht alltägliche Weise der Eltern Sinn: Weltweite und ein tapferes, gütiges Herz. Mit Ihnen gelten unsere starken Wünsche Ihrem Arnold. Später, wenn dieser unselige Krieg Vergangenheit ist, würde es mir wohl viel bedeuten, ihm wieder zu begegnen, zu erfahren, wie der junge, gerade Mensch ihn bestanden hat. Walter Bauer ist auf einer Fahrt mit seiner Kolonne weit in Frankreich herumgekommen, zum bösen Schluss brachte ihn ein Ruhranfall ins Feldlazarett, von dem er erst kürzlich entlassen wurde. Er war kurz zu Hause und wird wohl in diesen Tagen, da man ihn schwerlich freigeben wird, der Truppe neu zugeteilt werden. So unerwünscht der Eingriff in sein Leben ist, hoffe ich zuweilen, er möchte seiner künstlerischen Entwicklung dennoch förderlich sein. Es tut dem Künstler mindest so not, vom Leben gestoßen, wie von der Kunst erhoben zu werden, da es nicht darum geht, Kunst von Kunst zu machen.

Von uns selbst ist nicht viel zu berichten, – das bedeutet heute etwas Gutes. Die Großmutter ist kürzlich wieder ins Rheinland gefahren, obwohl wir sie jetzt lieber nicht in diese Gefahrenzone gelassen hätten. Die Kinder sind lieb und gesund, mit der Erziehung melden sich bei den Größeren neue Sorgen. Ursi, die Älteste, unterrichten wir einstweilen selbst. Unsere kleine Annette ist ein äußerst liebes Wesen, ein wahrer Schatz. Bald wird der reizende Silberlöffel, ihr feines Angebinde, in seine Rechte treten, bis jetzt ließ sie sich noch an keinerlei künstliche Nahrung gewöhnen. Die Ernte war nicht schlecht, aber es verlöre das Wirtschaften, wollte man rechnen, jeden Sinn. Doch bin ich mir oft dankbar bewusst, dass der wahre Sinn dieses Lebens, der sich nicht in Zahlen darstellen lässt, außer Frage steht. Bei allem habe ich mich noch immer mit einiger Gewalt an meine Arbeit gehalten. Vielleicht ist sie nicht das geworden, was ich selbst einmal von mir erwartet hätte. Jedoch

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bin ich immer nur dem gefolgt, was mich im Inneren bewegte und erfüllte, und auf die Art, wie ich glaube, in ein immer unmittelbareres Verhältnis zu meinem Leben und zur Natur gekommen. Die Tage in Paris vor drei Jahren, die wunderbar echten und starken Bilder jener unvergessenen Ausstellung sind mir eine stetig fortwirkende Lehre. Ich meine nicht so sehr das spezifisch Französische, angesichts dessen so mancher brave Deutsche wie ehedem in Rom nicht nur seinen Schatten, sondern seinen Schwerpunkt außer sich verlor, ich denke auch nicht an jene vielbewunderte Einheit von Maß und Tradition, mir wurden nur die Augen geöffnet vor dieser einfachen, stetigen Gültigkeit der Anschauung. Ein weniges von dem auf meine Weise zu gewinnen, dazu möge mir dieses Leben hier nutzen.

Vor dem Kriege war Renoir in München. Voller Stolz zeigten ihm die Modernen, wie weit man es – aussi chez nous – gebracht habe. Nachträglich gab es von ihm einige bissige Äußerungen über tout ces petits Cézannes. Schwind, ja, das sei recht schön, das hätten sie zu Hause nicht. Es geht da nicht um Schwind, sondern eben um die Gültigkeit der Anschauung. Sie, nicht ihre Erkenntnis, ist der Wurzelboden der bildenden Kunst.

Bemühen wir uns! Bemühen ist gut und not, und doch klingt kein Vers und blüht kein Bild ohne des Himmels Segen. Ich begegnete einem herrlich geraden Ausspruch Kleists, dass drei Dinge eines Mannes Höchstes seien: ein Kind, ein Gedicht und eine große Tat.

Verzeihen Sie so viel Unzeitgemäßes. Endlich will ich nochmals eine bessere Zukunft beschwören, die Sie beide gesund und ungebrochen sehen soll. Dann werde ich eines Tages in Ihrer Türe wieder stehen und Sie, verehrte Beckers, werden einmal zum Rutarhof aufbrechen. Ja, das wird sein und schön soll‘s werden.

In Herzlichkeit grüßen Sie Ihre treuergebenen Werner u. Mauki Berg

Eine Einberufung erging auch wieder an mich, doch werden diesmal fürs erste alle Landwirte wieder heimgeschickt.

Rutarhof, den 30. XI. 40 Liebe, verehrte Beckers!

Seit Jahren habe ich zum ersten Male wieder ausgestellt, und – wer hätte das gedacht – die Sache lässt sich ganz gut an. Ich erzählte Ihnen wohl schon, dass sich ein Mann in gefürchteter Position, von westfälischer Herkunft übrigens und seltenem Anstand, der mich schon einmal vor Übelstem bewahrte, meiner angenommen hat, und nun erfahre ich mit einem Schlage der hohen

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Gunst zu viel. In der Tat: das könnte bedenklich stimmen, doch wird auch das mich nicht umbringen. So wenig tief das alles dringt, müssen wir doch in diesem Augenblick uns über eine Besserung unserer Lage freuen.

Heute wollte ich Ihnen nur das beiliegende Blatt und einen Gruß senden. Mit den besten, herzlichsten Wünschen Ihre getreuen Bergs Rutarhof, den 16. Dez. 40 Liebe verehrte Beckers!

Dieses kleine Buch soll der Begleiter unserer herzlichsten Weihnachtswünsche sein. Wie gerne würde ich sie Ihnen selbst sagen, zu Ihnen hineinschauen und Ihrer guten Hände Druck empfangen. Leider, – das kann noch nicht sein, aber bis es sein wird, wollen wir alle hoffen, aufrecht und in Gnade zu stehen.

Nach außen atmen wir ein wenig freier. Ich habe ein paar Bilder verkauft und sehe manches Wohlwollen, wo früher das böse Gegenteil herrschte. Zu Illusionen langt das nicht, das Gewicht der Pflicht bleibt ungemindert...

Weinheber, mit dem ich vor wenigen Tagen bis in die späte Nacht in Klagenfurt beisammen war, beim Wein und anderntags beim scharfen Licht des Dezembers, schenkte mir sein ganzes geschriebenes Werk in Handexemplaren mit den freundschaftlichsten Zueignungen. Er war von einer ungemein spontanen, herzlichen Kameradschaft. Ich musste mich drüber freuen und stehe noch unter dem Eindruck dieser Begegnung, bei der mich ungeachtet alles Problematischen, unübersehbar Problematischen, der Sternenhauch der großen Kunst anwehte. Ein Kerl wie dieser, mit seinen Höhen und Abgründen, mit Schöpferkraft vor allem, bedeutet so viel mehr als so manche gebügelte Esoterik unserer Zeit, die in Wirklichkeit nur Bildungsglasur ist. Nicht zu reden von der platten Öde der Gemeinen. In Herzlichkeit wollten Ihnen heute nur ein gutes Weihnachtsfest wünschen Ihre treuergebenen Werner u. Mauki Berg

Heinrich Becker, Bielefeld 20. Dec. 40

Mein lieber Werner Berg, Ihr letzter Brief, der mit seiner guten Nachricht und der Bildbeilage vom Rutarhof uns herzlich erfreut hat, wäre früher beantwortet, wenn wir nicht so lange auf das Buch hätten warten müssen, das wir Ihnen schon einige Zeit

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zugedacht hatten und erst heute in ihre Hände legen können. Die Briefe Franz Marcs sind vor 25 Jahren im Krieg geschrieben und können nun helfen das Dunkel, das der Krieg von neuem über die Welt verbreitet, zu erhellen. Keiner ist mehr Lichtbringer als der Künstler. Ihm vertrauen wir mehr als andern, wenn er selbstlos ist und seiner inneren Stimme folgt. Auch Sie horchen darauf, auch Sie vermögen Licht zu spenden und wir danken es Ihnen, dass von Zeit zu Zeit ein Schein davon auf unseren Weg fällt und wie gern hören wir den Mut machenden Zuruf Ihrer Briefe. Wie gut, dass auch dann, wenn nicht gesprochen wird, die Wege von Mensch zu Mensch offen sind und dass es mehr Gemeinsamkeit in der Welt gibt, als sie, in der Tiefe stummer und stummer werdend, ahnen lässt. Unverhalten sprechen aber die Toten zu uns, und so sei das beikommende Büchlein eine neue Brücke, die uns zueinander führt.

Wir wünschen Ihnen allen auf dem Rutarhof ein frohes Weihnachtsfest. Mit viel guten Gedanken sind wir bei Ihnen und grüßen Sie, Ihre liebe Frau und die heranwachsende Kinderschar von ganzem Herzen – Ihr Heinrich Becker

Martha Becker, Kriegsweihnachten 40 Liebe Freunde, Ihre schönen Briefe bringen uns Ihre Welt, die innere, ausgedrückt mit Ihren Kunstwerken, die äußere mit der Arbeit mit der Natur. Sie können so schön alles von oben, von weitem sehen und verstehen. So waren uns Ihre Wünsche zu Ittas Hochzeit wie eine frohe Botschaft und wir danken Ihnen sehr dafür.

In diesem Jahr freuen Sie sich sicher, dass die Kinder alle um Sie sind, und Sie können sie noch beglücken. – Wir haben Arnold auf Urlaub für die Weihnachtszeit, ehe er und seine Kameraden aufbrechen – für welches Ziel? Das weiß noch niemand. Und hier bangt man immer noch. – Von den fernen Mädels haben wir gute Nachrichten. – Nehmen Sie diese kurzen Zeilen mit vielen Wünschen zu Ihrem Glück, Ihrer Kunst, und dem ganzen Rutarhof Immer herzlichst Ihre Martha Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 27. Dec. 40 Meine lieben, lieben Freunde, in dieser Stunde ist eure Weihnachtsgabe eingetroffen, und nun liegt das schöne, gute Buch auf unserem Tisch, und der helle Schimmer eurer Freundschaft ist darüber, dass uns gar wohl zumute ist, schon ehe wir ans Lesen

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kommen. Wie gut, dass dieses Buch vom Rutarhof kommt und nicht nur Josef Weinheber, sondern auch Werner Berg darin ist. Vor einigen Jahren gaben Sie uns, lieber Herr Berg, das „Selbstbildnis“ in die Hand. Seitdem wussten wir, dass der Weinheber ein Kerl ist, ein ganzer, ein Echter. Nun sind Sie ihm in Person begegnet, und was für eine Person, man fühlt es noch in Ihren Briefzeilen nach. Dass auch da Ungelöstes lauert, Problematisches, wie Sie sagen, wie kann es anders sein. Ach, Ihnen brauche ich’s ja nicht zu sagen, Sie wissen besser als ich, dass ohne Spannungen, Widersprüche, ohne die Sehnsucht, das Quälende in uns aufzulösen, keine Kunst wird. Und Sie selbst, scheint mir, stehen dem Glühenden, Lodernden, Ungebändigten nahe genug, um die Nähe vulkanischer Ausbrüche nicht nur zu ertragen, sondern von solchem Anblick ergriffen, angezogen zu sein. Könnten Sie das Bild dieses Mannes malen? Dann müssten sie es!

Einer solchen Kraft standzuhalten, von einem Mann wie Weinheber ebenbürtig gesehen zu werden, das ist ein voller Erfolg Ihres Werkens und Schaffens, größer und wesentlicher als der Erfolg, der sich in Ankäufen und Anerkennungen anderer Art äußert. Auch das ist nicht gleichgültig, ich sage es auch nicht geringschätzig, aber das andere wiegt schwerer und muss Sie mehr als alles sonst in dem Glauben an Ihre eigene Kraft bestärken. Wie sehr wir uns, meine Frau nicht minder als ich selbst, an Ihren Erfolgen mitfreuen, können wir gar nicht ungesagt lassen, fast mehr, als wenn sie uns selbst beträfen. Und wir sind Ihnen dankbar, dass wir fühlend und schauend so in Ihrer Nähe sein können.

Weihnachten ist vorüber, aber die besondere Freude, Arnold bei uns zu haben, hält noch an bis Neujahr, dann muss er zu seiner Truppe zurückkehren, die augenblicklich in der bayrischen Oberpfalz am Böhmer Wald liegt, neue Aufgaben erwartend. Er hat seinen alten Frohsinn erhalten und reift auf eigene Weise, durch Krieg und die weite Welt in Zucht genommen, heran. Wir hoffen, dass die Lebensmächte des Friedens ihn zum ganzen Menschen machen. Nach Neujahr leben wir wieder zu zweit und versuchen das in Würde. Freuet euch, liebe Bergs, dass ihr alle beisammen seid, und auf dem schönen Stück Kärntner Bodens glücklich sein könnt. Euch allen, den Großen und Kleinen ein gesegnetes neues Jahr wünschend, grüßen wir euch herzlichst

Heinrich u. Martha Becker

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1941 Werner Berg bekommt einen Einrückungsbefehl. Als Sanitäter kann er den Waffendienst vermeiden. „Zu Beginn des Krieges betätigte ich mich bewusst, um in einer Zeit der Gewalt-Vermessenheit Menschlichkeit üben zu können, beim Roten Kreuz und kam späterhin auf eigenen Wunsch zum Sanitätsdienst.“

Kurz darauf wird Werner Berg, auf persönliche Intervention eines, von seiner Kunst beeindruckten, hohen Offiziers als Maler nach Norwegen abkommandiert. Er soll die Landschaft des ‚hohen Nordens’ in seinen Bildern festhalten. „Dazu hätte man, da ich nicht leichter Hand arbeite, keinen ungeeigneteren finden können. Doch dachte ich zugleich mit gespannter Erwartung an die einsame Größe der Landschaft im Norden, die sicher nicht für billige und gerissene Pinsel geschaffen sein mag”, schreibt er an Josef Weinheber.

Die Abkommandierung verzögert sich jedoch und Werner Berg wird für die Arbeit am Hof wieder freigestellt. Weinheber schreibt, bedrückt Berg nicht auf einer Ausstellung Kärntner Malerei in Wien vertreten zu sehen: „Man sagte mir, Du seiest zu revolutionär. Du kannst Dich also freuen. Denn eine Künstlerbemühung, die nicht dauernd experimentiert, muss schließlich im Gewöhnlichen, um nicht zu sagen im Ordinären, stecken bleiben.” Weinheber teilt Berg seine Absicht mit, ihm sein neuestes Buch „Zur Sprache” zu widmen.

Ein Schatten wirft sich auf die Beziehung zu Walter Bauer als Berg glaubt, sich einer Einberufung nicht mehr entziehen zu dürfen. Bauer redet dem Freund ins Gewissen: „Lieber Werner Berg, es kann sein, dass unsere Anschauungen über den Krieg und über diesen Krieg voneinander abweichen. ... In einem Briefe kann man jetzt sehr schwer über solche Dinge sprechen. Sie gebrauchen das Wort ‚Brüder’ und schreiben diesen Satz: ‚Was man auch für Bekenntnis trage, es tut nicht gut, zu Hause zu hocken und an die Brüder draußen zu denken.’ Ich empfinde in diesem Satz die Last, die auf Ihnen liegt – vertieft durch Ihr einsames Leben, Ihr Abgeschlossensein. Es ist wahr, dass wir nichts anderes wünschen sollten für uns als das, was unsere Freunde, die uns nahen Menschen draußen erfahren. Aber sollten wir uns deshalb willenlos in die Uferlosigkeit all der Begriffe verführen lassen, die jetzt wie in jedem Krieg gebraucht werden? Sollten wir uns nicht anstrengen, nicht zu verfallen, sondern uns den Kopf klar und freizuhalten? Ich würde gern mit Ihnen darüber lieber sprechen als in einem Briefe Andeutungen zu machen, die undeutlich bleiben müssen. Wir müssen uns klar machen, was hinter den Begriffen zu sehen gewünscht wird – und was in Wahrheit dahinter ist. Vielleicht kommt eine Zeit, in der der Rausch verflogen ist, der Nebel verfliegt – ich möchte mehr sagen, als ich sagen kann. Ich sehe Sie in Ihrer Einsamkeit auf dem Hofe, der Schnee umringt Sie immer höher, und immer weniger kommen Stimmen zu Ihnen, die Ihnen etwas von der Wirklichkeit dieser Tage sagen. Wir müssen den Dingen auf den Grund gehen – dürfen keine Schleier vor den Augen haben. ... Je wacher wir werden, je deutlicher wir sehen, welcher Egoismus, welche Brutalität hinter den Begriffen wirken, umso klarer werden wir – trotz allem – an unserer Arbeit hängen. ... Wir müssen die Augen auftun – siehe da, die Größe der Welt ist nicht vergangen – aber auch uns hüten, die Nebel, die wir durchlaufen, noch einmal für die Wirklichkeit zu nehmen.“

152 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1. 1. 41

Liebe verehrte Beckers! Dass Sie mir ein großes Geschenk machten jenseits aller Schenkerei, wussten Sie wohl. Zur gegebenen Stunde möchte ich Ihnen sagen können, was es mir bedeutet. Heute will ich nur Ihrer beider Hände nehmen und sie fest, fest drücken.

Unsere Verbindung kann – schönes Wissen – nicht abreißen, es sei denn ein Riss ginge durch einen von uns. Vor diesem einzig großen Unglück soll uns Gott auch heuer schützen. In Herzlichkeit grüßen Sie Ihre Bergs In dieses Buch wünsche ich mir Ihren Namen hineingeschrieben.

20. I. 41

Liebe verehrte Beckers!

Als Ihr Brief kam, hätte ich mich am liebsten gleich hingesetzt und Ihnen zurückgeschrieben. Dazu hätte ich einen Tag Zeit haben mögen, denn mit ein paar höflichen Zeilen ist es nicht getan. Ich will Ihnen jetzt nur sagen, dass Ihr Brief mir unsere schöne, überdauernde Verbundenheit – nicht das erste Mal – eindringlich bewusst machte. Ich werde schreiben, und Sie werden mir verzeihen, wenn es nicht sogleich sein kann. Ich klammere mich an die Arbeit, weil sonst nichts taugt. Ich werde das mir Mögliche tun, zuvorderst

153 BAUERNHOF IN SEELAND, 1941

aber: das Ehrliche. Besondere Freude machte uns ein Gruß aus Japan. Dazu Ansichten nach Hokusai, traumhaft schön und fern unserer massiven Vermantschtheit. In ganzer Herzlichkeit grüßen Sie Ihre Bergs

Rutarhof, den 9. März 41

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Fast begreife ich selbst nicht, dass ich erst heute auf die Nachricht vom Hinscheiden Ihres Herrn Vaters schreibe. Damals, als der Brief mit der uns immer noch beglückenden Handschrift und dem schwarzen Rand kam, wurde mir die Kehle eng. Dann aber, wie ich las, dass nach einem so langen guten Leben Ihr Herr Vater verschieden war, löste sich der Druck: die Nachricht selbst war wie ein Trost. Ich kannte ihn nicht, Ihren Vater, so gut aber seinen Sohn, –Grund genug, seiner dankbar, bittend zu gedenken.

Doch, ich weiß wohl, warum ich nicht schrieb. Ich wollte, dass wir erst über vieles Schwere dieses Winters hinüberwären, und dazu war ich immer wie versessen, dass mir die Arbeit nicht entglitt, – Sie verstehen das ohne Übelnehmen. Noch ist die Stunde zur Aussprache nicht da, bald wird sie da sein. Heute hat Weinheber Geburtstag. In dieser Woche sind wir 10 Jahre auf dem Hof. Können zehn Jahre so viel bergen? Kaum kann ich es mir in die Erinnerung rufen, wieviel Schönes uns erhob, wieviel zerbrach, – aber ein Leben war’s doch, und das Herz begehrt drängend wie je.

Einen Gruß heute nur Ihnen, den stetigsten, treuesten Freunden dieser und – gebe Gott! – aller kommenden Jahre. Die Hand drücken Ihnen beiden, ganz zugetan Ihre Bergs

Hatte ich Ihnen den beiliegenden Aufsatz geschickt? Das Bild ist scheußlich, das bin nicht ich. Hab auch schon längst wieder einen Schlag ins Genick bekommen, aber das alles ist ja gleichgültig.

Rutarhof, den 27. Mai 41 Liebe verehrte Beckers!

Die Zwischenräume zwischen den Briefen werden immer größer, durchaus aber nicht die Entfernungen zwischen den Menschen, die zusammengehören. Das Alles bedarf heute keines Wortes der Erklärung. Zeit und Möglichkeit sich mitzuteilen ist auch noch nicht da, ich möchte Ihnen nur ein wenig berichten, so wie ein versprengter Trupp Soldaten eine Leuchtkugel abschießt, um anzuzeigen: hier sind wir.

154 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Zu Beginn der Spannung mit Jugoslawien, auf den Tag vor zwei Monaten, musste ich sehr plötzlich – innerhalb einer Stunde – wieder einrücken, und zwar in einen Kärntner Grenzort. Dass die Sorgen diesmal besonders groß waren in Gedanken an Familie und Hof, der dicht an der Grenze lag, werden Sie verstehen, indes behielt meine Frau in den kritischen Tagen tapfere Beherrschung und Ruhe. In der Woche vor Ostern war ich in den ersten Gefechten über die Kärntner Grenze hinaus eingesetzt, kam heil zurück und durfte zu meiner großen Freude Ostern meine Frau und die Kinder bei uns sehen. Für uns hier war es ein Glück, dass die Kämpfe bald weit von der Grenze wegverlegt und mit solcher Schnelligkeit dann beendet wurden.

Hatte ich Ihnen geschrieben, dass um Weihnachten davon die Rede war, ich solle als „Kriegsmaler“ von General Dietl für Norwegen angefordert werden? Eine weitere Besprechung, die mir damals von der Gauleitung angekündigt wurde, unterblieb jedoch, und da die Anzeichen dafürsprachen, dass wieder gegen mich intrigiert wurde, musste ich mit Sicherheit annehmen, dass der Plan fallen gelassen wurde. Obwohl durch vielerlei Pech gehemmt und durch diese Zeit nicht begünstigt, kam ich im Winter auch ans Malen, – nicht einmal mit schlechtem Gelingen. Dann kam also die jähe Unterbrechung, vorher schon gingen die ersten dringlichen Arbeiten in der Wirtschaft los. In der zweiten Aprilhälfte wurde ich mit meiner Truppe in die Krain verlegt. Dorthin wurde dann eines Tages der Befehl übermittelt: „Berg ist sofort zum Gebirgskorps Norwegen in Marsch zu setzen“, ich war als Kriegsmaler abkommandiert. Der Befehl traf mich gänzlich unvorbereitet, etwas sonderbar war mir zumute. An einem der letzten Apriltage kam ich, nach durchweichender Fahrt über den Seebergpass, im Schneesturm zur Meldung nach Klagenfurt. Ein höchst grimmiger Major wollte mich augenblicklich via Sassnitz hinaufexpedieren, ich erreichte aber, dass ich über den Sonntag zunächst heimfahren durfte. Als ich mich dann beim Wehrbezirkskommando meldete und einem recht verständigen Manne meine Lage auseinandersetzte, wurde mir zum Herrichten meiner Sachen ein mehrtägiger, dringend notwendiger Urlaub zugebilligt. Zu Hause ging ein wildes Herrichten, Leinwandgrundieren usf. los, zwischendurch fuhr ich auch zur Ergänzung meines Materials, an das derzeit kaum zu kommen ist, nach München, und als mein Urlaub dem Ende zuging, kam ein Telegramm, dass meine Kommandierung „wegen geänderter Lage“ zu unterlassen sei. Ich musste wieder zur Truppe einrücken und betrieb nunmehr auf Anraten eines Vorgesetzten meine vorläufige UK-Stellung. Ich setzte mich selbst bei allen Stellen dahinter (wie angeraten) und konnte mit Erfolg die langwierigen Verzögerungen bei den vielen Amtsstellen

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ausschalten: am gleichen Tage, da meine aufgelöste und neu zusammengestellte Truppe vom hiesigen Sammellager aus wieder in Marsch gesetzt wurde, ging ich mit meinen Köfferchen auf den Rutarhof.

Meine Frau und die Kinder hatten große Freude, auch ich war froh. Doch bin ich noch längst nicht wieder chez moi. Die Wirtschaft braucht mich, dann hoffe ich auch wieder zu dem zu kommen, wozu ich da bin. Aber es ist so höllisch schwer, wenn nicht unmöglich, gegen das Grauen sein Lied zu singen, und wenn es kein Lied aus der innersten Brust ist, wozu dann das bisschen mehr oder minder gerissene Kunstfertigkeit?

In diesen Tagen gehen mir immer wieder zwei Verse durch den Sinn, der Rilkes von so schöner tröstlicher Wahrheit mit dem Ende: „Einzig das Lied überm Land heiligt und feiert“, und jener furchtbar wahre Weinhebers:

„Feindschaft habt ihr gesetzt zwischen den Götterflammen und dem Elenden hier, welcher die Heimat sucht.

Doch die Rächenden rauben uns, uns allen, das Ingesicht.“

Weinheber schreibt mir zuweilen, immer voll der unmittelbarsten Herzlichkeit, diese Zeilen bedeuten mir viel. Auch Walter Bauer schreibt. Einmal war unser Verhältnis ein wenig getrübt, weil ich ihm Vorhaltungen gemacht hatte in der Meinung, seine vielseitige zwar feinsinnige, aber zu allgemein bildungshafte Essayistik könne nicht seine hohe Begabung erfüllen. In dieser Stunde mag das nicht recht von mir gewesen sein, im Übrigen ist Walter Bauer von einer so wunderbaren Redlichkeit und menschlichen Haltung, dass man unmöglich kein Vertrauen in seine Zukunft setzen kann.

Wie geht es Ihnen, liebe Beckers, wie sind die Nachrichten von Ihren „Kindern“ aus der weiten Welt? Wo steckt Arnold? Jung sein mit starken Schultern, ungebrochen und elastisch, das ist noch etwas. Die Grüße Ihrer Frau Tochter aus Japan, die mir im Winter so viel Freude machten, habe ich noch nicht erwidert, ich habe mir mit Absicht Zeit damit gelassen. Als Gegengruß würde ich ihr so gerne ein Weinheber-Bändchen übersenden, glauben Sie, dass etwas (und was etwa?) bereits in ihrem Besitz ist? (Adel und Untergang?). Ihre Marc-Briefe gingen immer mit mir, ich bezweifle, ob je Zeugnisse von gleich lauterer Durchsichtigkeit und unbefangenem Darüberstehen die Menschen nach diesem Kriege überkommen werden. Wie es dann auch ausschauen mag, wir haben alle mit dem furchtbarsten Preise draufgezahlt.

Wenn es sein kann, gönnen sie uns ein paar wenige Zeilen. In Freundschaft und Herzlichkeit grüßen Sie Ihre stets getreuen Werner u. Mauki Berg

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Heinrich Becker, Bielefeld, 4. Juni 41 Lieber Herr Werner Berg, Haben Sie Dank für Ihren letzten Brief, der unsere besondere Freude in den wenigen freien Tagen der Pfingstzeit gewesen ist. Viel Arbeit ging vorher, und neue Aufgaben melden sich schon wieder – bei uns beiden; denn meine Frau ist seit einem Jahr ohne häusliche Hilfe, und die Schule verlangt stärkeren Einsatz aller Kräfte, seitdem immer mehr Lehrer ausfallen, durch Einberufung oder Krankheit. So sind wir beide kräftig eingespannt und genießen die seltener werdenden Musestunden doppelt. Wenn wir wenig schreiben, sehen Sie darin keine Lauheit. Die Sonne scheint, auch wenn sie hinter Wolken steht, und ist wirksam, auch wenn wir ihre Wärme nicht unmittelbar fühlen. Wie könnten wir Sie, Ihre Frau, Ihre Kinder, Ihr Haus, Ihre Welt, außen und innen, wie könnten wir das alles vergessen, was Sie uns in gesagten und geschriebenen Worten und ganz besonders in Ihren Bildern so oft nahegebracht haben. Schweigen heißt ja nicht Aussetzen des Herzgangs, ist nicht leerer Raum. Würden wir auch durch längere Zeit voneinander getrennt und hörten nicht voneinander, unser erstes Wiedersehen müsste zeigen, dass nichts Fremdes dazwischengewachsen ist. Vielleicht lässt sich die Probe machen. Meine Frau legt mir öfters nah, Sie auf dem Rutarhof zu besuchen. Vielleicht ist das in diesem Sommer möglich. Es wäre aber in der Zeit der Ernte, etwa Anfang August. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da gelegen käme. Und ob die kommenden Ereignisse Raum für solche Tage des Wiedersehens lassen, ist ja auch fraglich. Immerhin, es steht da ein Licht, dem nachzugehen wäre.

Mich bedrückt oft, dass noch immer Ihre Mappe mit einigen Aquarellen und den vielen Holzschnitten hier liegt. Ich hatte gehofft, der eine oder andere möchte Freude daran haben und ein Blatt begehren. Aber nun ist es still um die Kunst geworden, seitdem so viel Kräfte anders gebunden sind. Und ob das mit dem Kriegsende anders werden kann? Wer weiß das? Nun ist an Ihren Grenzen wieder Ruhe und Ordnung, und wir sehen aus Ihrem Brief zu großer Freude, dass Sie daheim nicht gelitten haben. Wir hoffen auch, dass Sie hinfort ungestört wieder Ihrer Arbeit leben können, und dass Sie in diesen Jahren, was Erfahrung und Eingebung Ihnen schenken, künstlerisch gesichert einbringen können. Achten Sie nicht auf das Grauen in der Welt draußen. Wenige Meter vom Gletscherrand beginnt schon der Pflanzenwuchs und blüht der herrlichste Enzian. Arbeiten Sie wie die Natur, die sich von Ihrem Müssen nicht ablenken lässt, in deren Wirken vieles in Trümmer geht und neues Leben und neue Form immer wieder ans Licht gelockt wird. Die Blumen an Abgründen und in tiefen Schluchten sind so oft die Schönsten. Auch in der

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Kunst ist aus Grauen und Verzweiflung Großes genug entstanden. Beispiele übergenug. Ist nicht Ähnliches von Weinheber zu hören? Schön, was Sie mir von ihm erzählen. Gut, dass Sie ihm begegnet sind. Ich liebe und ehre ihn, seit Sie ihn mir nahegebracht haben, aber kenne ihn noch viel zu wenig. Der Sésée in Japan würden Sie gewiss mit einem Bändchen seiner Gedichte große Freude machen. Sie besitzt persönlich nichts von ihm, da sie ja seit Jahren nun weg ist und voraussichtlich noch länger bleiben wird. Warten Sie aus besonderen Gründen, die meine Frau anschließend auseinandersetzen wird, bis wir Ihnen ihre genaue Adresse mitteilen können. Auch von dem Kind in Spanien und von Arnold wird meine Frau Ihnen am besten berichten. Mit großem Anteil habe ich Ihre Worte über Walter Bauer gelesen. Vor einigen Monaten fiel mir in der Buchhandlung sein Reisebuch über Italien in die Hand. Einige Seiten, die ich las, lockten mich nicht recht nach mehr. Und so sehe ich nicht, wohin es geht mit ihm, freue mich aber des Zutrauens, das ich in Ihrem Briefe spüre.

Zurückkommend auf die Holzschnittmappe, darf ich sie Ihnen jetzt zurückschicken und kann ich sie der Post unbedenklich anvertrauen? Vielleicht, dass ich das eine oder andere Blatt zu persönlichem Erwerb noch hierbehalte. Ich schließe, um meiner Frau die Feder in die Hand zu drücken, die Ihnen bezeugen wird, dass wir uns Ihnen nahe wissen und Ihnen und Ihrer Frau so freundlich gesinnt wie je.

Einen guten Sommer wünschend und Freude im Zusammensein mit Frau und Kindern, grüße ich Sie alle herzlichst Ihr Heinrich Becker

Meine lieben Werner Bergs, wie oft haben wir von Ihnen gesprochen in den Tagen, wo Sie plötzlich so dem Kriegsschauplatz nahe gerückt waren, und unser Wunsch, Sie von allem verschont zu wissen, ist in Erfüllung gegangen. Wir sind dankbar, dass Sie, lieber Herr Werner Berg, auf dem Hof bleiben können, wo Ihre doppelte Aufgabe wichtiger ist als alles andere. – Wie schön muss es bei Ihnen sein, jetzt, wo unser Garten in Kleinem zeigt die vielen Wunder, die der Sommer schafft. Hätten wir nicht die Sorgen um Arnold, der bis zum Frieden dabei sein muss und mit Begeisterung alles tut, er und seine Kameraden.

In Japan denkt man an Sie und neulich schrieb noch mein Schwiegersohn: „Es war wie ein Bild von Werner Berg!“ Die junge Familie dort wird nach Kyoto ziehen, wo mein Schwiegersohn an die Universität und ein Forschungsinstitut berufen ist. Da Sésée im Juli ihr zweites Kind erwartet, sind wir froh, dass die größere Stadt ihnen in dieser und anderer Hinsicht Vorteile bietet. –

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Auch in Spanien wird im Juli ein Kind erwartet; meine Tochter schreibt von Palma, es wäre ein Paradies, so ist da Blühen schon seit Monaten in herrlichster Pracht. Wenn es möglich ist, will ich zu ihr, um sie zu pflegen und würde mich riesig freuen, wenn mein Mann in der Zeit auf seiner Reise bis zum Rutarhof käme, um Sie alle an Ort und Stelle zu sehen. So hätte er mit seinen anderen Reiseabsichten auch die Freude zu Freunden zu kommen und könnte die Umgegend auch bereisen. … Aber es hängt von dem Resultat meiner Pläne ab.

Wie viel geben uns Ihre Bilder ständig! Von denen, die bei uns hängen, möchte ich keines mehr missen und wir wünschen, Sie könnten immer mehr malen, immer vollendeter, gelassener, um Ihre eigene, mögliche Größe neu zu verwirklichen.

Viele herzliche Grüße von Ihrer Martha Becker

Rutarhof, 2. Juli 41 Liebe verehrte Beckers!

Nun weiß ich wirklich nicht, wie ich es anfangen soll, mich wegen unseres Nichtschreibens zu entschuldigen. Es gab viel Durcheinander bei uns, sehr viel Arbeit in der Heuernte, gewiss – und doch hätten längst ein paar Zeilen des Dankes und der Freude zu Ihnen gehen sollen, von denen wir alle Tage sprechen. Haben Sie nun endlich herzlichen Dank für Ihre lieben Briefe und das so feine Päckchen, eine seltene Überraschung und liebe Aufmerksamkeit für meine Frau.

Gestern kam meine Mutter mit einem Neffen an, heuer kann sie leider nur einen Monat bei uns bleiben. Umso mehr freuen wir uns, heuer noch Sie, lieber Dr. Becker, vielleicht bei uns sehen zu dürfen. So leid es uns auch tut, dass auch diesmal Sie, verehrte Frau Dr. Becker, nicht mit dabei sein können, wollen wir uns doch auf den Besuch als auf ein oft herbeigewünschtes frohes Ereignis freuen.

Bitten möchte ich Sie nur, nach Möglichkeit uns Näheres über Ihre Reisepläne zu sagen, und die Tage für den Rutarhof nicht zu kurz zu bemessen. Ferner bitte ich Sie, uns die neue Anschrift von Frau Sésée mitzuteilen, wir hoffen und wünschen so sehr, dass Sie bald gute Nachrichten haben und sich mit Ihren Kindern des neuen lebendigen Glückes freuen zu dürfen. Ihnen, verehrte Frau Becker, wünschen wir von Herzen Glück auf die lange Reise! Auf Wiedersehen sagen und hoffen wir schon heute und sind mit herzlichsten Grüßen Ihre treuergeben Werner u. Mauki Berg

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Martha Becker, Bielefeld, 17. Juli 41 Liebe Frau und Herr Werner Berg, die Ferien sind da. Es hat sich viel Schweres ereignet in den letzten Wochen. Zwei tragische Nächte mit Bombenangriffen, Brände, Tote und Verletzte haben uns gezeigt, wie rasch das Schicksal uns treffen kann. – Seitdem sind die Nächte immer unruhig und man verlernt zu schlafen.

Mein Mann begleitet mich Freitag nach Berlin und Sonnabend werde ich zu Itta fliegen. Mein Mann geht dann zu Freunden nach Süddeutschland, wo er sich erst erholen und ausschlafen will. Von dort bekommen Sie Nachricht von ihm, wann er Sie besuchen wird. Jetzt wird alles, was einem lieb ist, in den Keller geschafft aber gegen Volltreffer ist nichts mehr gesichert. Der Keller ist nichts für Kunstblätter und so sollen die Ihrigen, die noch hier sind, zu Ihnen zurück, Sie sind dann da am besten. Wir haben die völlige Vernichtung gesehen und wissen, wie es kommen könnte. Die Kampfmittel werden täglich stärker und gefährlicher … es ist ganz traurig und nicht einmal der schöne Sommer kann einen erfreuen, da er die Angriffe begünstigt. Mein Mann erzählt Ihnen alles. Wie freuen wir uns, dass Sie alle geborgen sind vor diesem Furchtbaren. Mein Mann wird Ihnen keine Unruhe und keine Mühe machen. Er freut sich, Sie alle zusammen zu sehen und besonders Ihr Schaffen. Das letzte, was uns bleibt, ist das Verständnis füreinander und die Freundschaft.

Arnold ist in Russland, eine große Sorge von uns. Von Sésée sind wir mehr getrennt wegen der abgebrochenen Postverbindung. Wir müssen alles durch Fühlen und Glauben ersetzen.

Ich werde Ihnen schreiben von Palma, sobald ich Ihnen die frohe Nachricht von der Geburt des erwarteten Kindes berichten kann.

Ich weiß noch nicht genau, ob ich gleich hinkommen kann, versuche es. Hoffentlich sind bei Ihnen keine Sorgen und die Natur belohnt Ihre Mühe und Sie wissen alle, wie schön das Landleben ist, weit vom Krieg, weit von den Fliegerangriffen …

Ein anderes Mal werde ich Sie sehen, bis dahin wissen Sie, dass wir viel an Sie denken und Ihnen Kraft und Erfolg wünschen.

Viele Grüße an alle auf dem Rutarhof, besonders Ihnen beiden

Ihre Martha Becker

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Heinrich Becker, Gut Klinglbach, Post: Englmar über Straubing, 29. 7. 41

Lieber Herr Werner Berg, inzwischen bin ich Ihnen um vieles räumlich nähergekommen. Es bedarf nur noch eines neuen Entschlusses, um auch die zweite Hälfte des Weges nach Kärnten zu wagen.

Ich bin hier oben im Bayrischen Wald als Gast der uns befreundeten Familie van Suntum in Herford, die Eigentümerin eines schönen Wald- und Wiesengutes ist. Ich gedenke bis etwa 10. August hier zu bleiben und könnte, nachdem ich auf dem Wege in Passau und Salzburg mich verweilte, im Laufe der darauffolgenden Woche bei Ihnen eintreffen. Schreiben Sie mir bitte, ob Ihnen und Ihrer Frau diese Zeit recht wäre und Sie mich einige Tage bei Ihnen beherbergen oder in der Nachbarschaft unterbringen könnten. Dazu bitte ich um Weisung, auf welchem Wege ich zu Ihnen gelangen kann. Ich nehme an, dass ich über Klagenfurt fahre. Gibt es von da Bahn oder Autobusverbindung bis Gallizien? Und wie komme ich dann weiter zum Rutarhof? Sind Sie notfalls auch telefonisch zu erreichen? Würden Sie mir raten, auf dem Wege nach Klagenfurt oder von Klagenfurt zu Ihnen irgendwo zu verweilen, um etwas Besonderes zu sehen? – Könnten Sie mir bald auf diese Fragen antworten, ganz besonders die erste, so würde ich die nötigen Vorbereitungen treffen und mich der Freude auf ein nahes Wiedersehen mit Ihnen und allen Ihrigen ergeben. Dass dieses Wiedersehen ohne meine Frau geschehen muss, ist mir sehr unlieb, entspricht auch nicht ihren Wünschen. Aber wie Sie, glaube ich, aus einem eigenen Brief meiner Frau bereits wissen, ist sie augenblicklich bei Itta in Palma de Mallorca, um ihr bei der Geburt ihres ersten Kindes, das in diesen Tagen erwartet wird, beizustehen und sie in den folgenden Wochen zu pflegen. So gedenkt Sie erst in der zweiten Hälfte des Septembers nach Bielefeld zurückzukehren. Ich freue mich, dass meine Frau das südliche, sonnige Klima genießen kann, das sie so sehr liebt und für einige Zeit frei ist von den eingreifenden nächtlichen Störungen, denen wir seit Wochen ausgesetzt waren.

Hier in Klinglbach erreichte mich die Nachricht, radiotelegrafisch von Tokio übermittelt, dass Sésées zweites Kind, ein gesundes Mädchen, geboren ist. Sésée musste diesmal ganz allein fertig werden. Die Eltern, wie die Großeltern, sind über dieses Geschenk sehr glücklich.

Von Arnold wissen wir einstweilen gar nichts. Die letzte Nachricht war vom 3. Juli, vom russischen Kriegsschauplatz. Allgemein hört man, dass Briefe aus dem Felde ausbleiben, zum Teil schon seit noch früherer Zeit. Ich suche mich

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damit zu trösten und hoffe, dass es ihm trotz der ungeheuren Anstrengungen gut geht. Von Ihnen, Ihrer Frau und Ihren Kindern hoffe ich, gute, erfreuende Dinge zu hören, und wenn es sein kann, Sie alle in Fröhlichkeit und Gesundheit auf eigenem Grund zu sehen.

Bis dahin empfangen Sie und die Ihrigen die herzlichsten Grüße

Ihre Heinrich Beckers

Rutarhof, den 2. VIII. 41

Lieber Herr Doktor Becker!

Gestern brachte mir ein Kind Ihren lieben Brief aufs Feld, der für uns eine echte und große Freude enthielt. Sie wissen, verehrter Dr. Becker, wie sehr wir uns seit Jahren auf Ihr Kommen freuen und nun erst recht auf den Augenblick, da es Wirklichkeit werden soll. Die Unterbringung lässt sich gut bewerkstelligen, sofern Sie mit unseren einfachen Verhältnissen vorliebnehmen wollen, die sicher keinen geringen Unterschied gegen die größeren, wohlgeordneten des schönen Gutes bedeuten, auf dem Sie sich jetzt aufhalten. Hierher gelangt man von Klagenfurt entweder mit der Bahn bis TainachStein oder mit dem Autobus bis Gallizien. Im letzteren Fall ist der Weg kürzer, aber steiler (ca. 1 Std.). Natürlich möchte ich Sie abholen und wüsste darum gern zuvor Ihre Ankunft. Wir selbst haben kein Telefon, könnten aber im Notfall durch die telefonisch erreichbare Postmeisterin in Gallizien verständigt werden. Zuverlässiger ist allerdings die schriftliche Ankündigung, die Verbindungen schreibe ich Ihnen noch gesondert auf. Die Tauernbahn, die von Salzburg nach Kärnten führt, ist eine der landschaftlich schönsten Strecken, die ich kenne, eine Unterbrechung der Fahrt würde ich Ihnen dennoch schon im Hinblick auf die Überfüllung der Fremdenverkehrsorte nicht anraten. Klagenfurt bietet nicht gar viel des Besonderen, zudem könnten wir es immer leicht einmal von hier aus aufsuchen. Hingegen tun Sie nur recht daran, sich Passau und Salzburg anzusehen, die voll ehrwürdiger und besonderer Schönheit sind. In Salzburg zumal müssen Sie nur auf rechtzeitige Lösung der Quartierfrage bedacht sein. Dort ist übrigens während der eben laufenden Festspiele eine große Kärntner Kunstausstellung, von der ich aber ausgeschaltet wurde. Neben dem Gauleiter war ein gewisser Herr Welz, der angeblich gerade die neuere Kunst fördern will, spiritus rector der Veranstaltung, – vielleicht lernen Sie ihn zufällig kennen. Über allem, was sich tut, aber ist Salzburg wunderbares Bild von Stadt und Landschaft, von dem ich nur wünschte,

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dass es für Sie durch den Trubel und die Eingriffe der Zeit (allerdings auch durch das Wetter) nicht allzu schmerzlich beeinträchtigt würde.

Allzu spät komme ich dazu, Ihnen von Herzen zur Ankunft der fernen zweiten Enkelin Glück zu wünschen, hoffentlich wird Ihre Freude bald durch gute Post aus Spanien erhöht und verdoppelt. Ich schreibe jetzt in einer Arbeitspause, um Ihre Anfragen nicht lange unbeantwortet zu lassen – in einem Briefe freilich müsste vieles, vieles andere stehen, was wir uns sagen wollen, wenn wir uns erst einmal gegenübersitzen. Recht eigentlich bin ich, seit ich vom Militär zurückkam, noch nicht zur Besinnung gekommen, ein umso bedeutenderes und erfreulicheres Ereignis wird es in dieser Zeit sein, Sie, unseren verehrten Freund, hier zu haben, zu sehen und zu sprechen. Einmal wird es vielleicht auch Ihrer Gattin möglich sein, den Weg zum Rutarhof zu machen – in jedem Gruß und Wort und Händedruck aber wird sie auch jetzt mit dabei sein, die so weit ab, am anderen Eck Europas weilt.

Für die nächsten Tage wünschen wir Ihnen noch viel Schönes und Gutes, besonders auch für die Reise. Bitten möchten wir Sie noch, sich mit keinerlei Gedanken oder Sorgen um etw. Mitbringsel zu belasten, – im Grunde eine Selbstverständlichkeit heutzutage. Auf Sie, lieber Dr. Becker, freuen sich ganz gehörig Ihre Werner u. Mauki Berg

Heinrich Becker, Wien, am 13. Aug. 41

Lieber Herr Werner Berg, Sie sind gewiss erstaunt, mich hier in Wien zu wissen. Ich bin es selbst auch. Aber einem Impuls meines Gastgebers in Klinglbach folgend, gab ich den Plan Salzburg auf, in dem Gedanken auch, dass ich dort weniger leicht Unterkunft fände als in Wien. Den letzten Anstoß gab die brieflich ankommende Nachricht, die Kunstsammlungen in Wien seien alle geöffnet. Was lag also näher, als nach Wien zu gehen?

Und dennoch gab’s Enttäuschung. Wohnung fand ich schließlich nach zwei Stunden Suchens in einer großen Stadt, die ich nicht kannte, von der ich nicht einmal einen Straßenplan besaß; und das mir empfohlene Hotel, auf das ich in Seelenruhe hinsteuerte, war bis zum allerletzten Bett besetzt. Aber hier bin ich nun, sehe von meinem hoch gelegenen Hotelzimmer über die Dächer weg in einigen hundert Metern Entfernung die Spitze des Stephansturms, und gleich am ersten Abend hatte ich das Glück, ein schönes Orgelkonzert in St. Stephan zu hören. Aber die Kanzel und das Portal sind mit Sandsäcken wohl verwahrt leider nicht sichtbar. Und so überall. Was mich nach Wien gebracht

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hat, ist wohl da, aber allen sehnsüchtigen Augen entzogen. Auch die Museen sind leer und nur Teile mit Werken 3. und 4. Güte gefüllt. Ich bin immer noch zur Bewunderung geneigt, ganz ehrlich, aber es hätte mich nicht auf diesen Umweg gelockt. So habe ich vor, nach der Erfahrung der beiden ersten Tage, Freitag (15. Aug.) früh abzufahren nach Klagenfurt, in das Stück Natur, das intakt geblieben ist, dem man nicht seine Schönheit auszubrechen braucht, um sie vor den englischen Fliegeraugen zu verbergen.

Wenn es mir gelingt, wie ich hoffe, den Frühzug (8h35) zu erreichen, bin ich 15h04 in Klagenfurt. Den Nachmittag verwende ich zur Besichtigung der Stadt und steige Sonnabend zu Ihnen empor. Mir scheint nach Ihren Andeutungen die Eisenbahnfahrt bis Tainach-Stein günstiger zu sein. ½ 8 abfahrend wäre ich also gegen ½ 9 in Tainach-Stein. Können Sie dort am Bahnhof sein, sehr gut, wenn nicht, weiß ich mir gewiss zu helfen und komme zu Fuß, glücklich, sehr glücklich, Sie und Ihre Frau wiederzusehen und alle Ihre Kinder kennen zu lernen.

Nun will, was seit Jahren in märchenhafter Ferne lag, Wirklichkeit werden. Ich danke Ihnen für die freundlichen Zurufe Ihrer letzten Briefe, die so viel Herzerfreuendes sagten. Mein Einsiedlertum wird also eine herzliche Unterbrechung erfahren durch die einigen Tage, die ich im Schoße Ihrer Familie verleben werde.

Auf Wiedersehen denn! Herzlich grüßend, Sie, Ihre Frau und die Kinder Ihr Heinrich Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 2. Sept. 41

Lieber Frau, lieber Herr Berg, um Ihnen seit unserem schnellen Abschied zu schreiben, habe ich gewartet, bis ich nach Bielefeld zurückgekehrt bin. Ich hoffe, Sie sind nicht ungeduldig geworden und denken noch wie ich an die herrlichen Tage, die uns miteinander vergönnt waren, so schön, dass sie nicht zu vergessen sind. Ich habe in diesen Ferienwochen viel gesehen, aber nichts, das dem Stück Land gliche, in dem ich Sie beide fand. Die Natur, die Sie umschließt, ist groß und über alle Maßen schön. Schöner und meinem Herzen eng verbunden sind aber Sie beide und Ihre lieben Kinder, deren Namen ich seither nur zu nennen brauch, um sie lebendig vor mir zu sehen und mich an ihrem fröhlichen Wesen, ihrem kindlich ungebundenen Leben, ihrer Stetigkeit und Ausdauer in der Arbeit, ihrer Zutraulichkeit, die sie mir sogleich schenkten, zu erfreuen. Es waren ja nur wenige Tage, die uns füreinander blieben. Aber ich fühle sie, intensiv

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und mit Hingabe durchlebt, von unvergleichlicher Wirkung, so dass mir der Aufenthalt, so kurz an Tagen er war, lang und inhaltsvoll erscheint. Wenn ich an diese Wochen zurückdenke, bin ich zuerst immer bei Ihnen, die mir so viel Liebe und Güte erzeigten, dass Sie darüber Ihr tägliches Tun zurücksetzten und ich kann nur wünschen, dass Sie das in Ihrer Arbeit Versäumte langsam wieder einholen können.

Der Anblick Ihrer künstlerischen Arbeit, mein lieber Werner Berg, hat mir aufs Neue gezeigt, wie sie Ihrer Wesenheit, Ihrem Lebensraum, Ihrer inneren und äußeren Welt entspringt. Wenn Ihnen je Zweifel und Bedenken kommen, werfen Sie sie von sich. Tragen Sie die doppelte Last Ihres Daseins weiter. Hindert die Arbeit in Haus und Hof am künstlerischen Schaffen, so füllt sie Sie auch mit kräftigster Lebens- und Naturanschauung, nährt Ihre innere Welt, hält sie lebendig, wie es wenigen Malern vergönnt ist. Ich trage das Bild eines Werner Berg in mir, der auf seinem Weizenfeld mit hochgeschwungener Garbe dem Erntewagen zuschreitet, stark, fest und selbstgewiss. Suchen Sie mit der gleichen Gelassenheit Ihre künstlerische Ernte einzubringen. Sie lässt sich auch nicht treiben und drängen. Sie muss getan werden zur gegebenen Zeit, wenn die Herzwärme das Werk innerlich geschaut und entwickelt als reife Frucht herausstößt. Das Malen ist eine Art Geburtshilfe, in der sich zu üben gewiss nötig ist, die aber nur Sinn hat, wenn sie der schaffenden inneren Natur dient, wenn es da wirklich etwas zu gebären gibt. Und das ist Gnade. Sie wissen es, wie ich.

Folgen Sie auch ruhig dem stillen, aber instinktklaren Wesen Ihrer Frau. Die Natur hat nicht umsonst dem Mann die Frau zugeordnet. Beide zusammen erst dürfen Mensch genannt werden, jedes für sich ist Bruchstück der Natur, leiblich wie geistig. – Liebe Frau Berg, Sie in Haus und Atelier Ihres Mannes zu sehen, hat meinen Glauben an den hohen Beruf der Frau neu gestärkt. Lassen Sie es mich als eine Art Dank aussprechen dafür, dass ich so vertrauensvoll in den Kreis Ihres Lebens und Wirkens aufgenommen bin. Lassen Sie diese Verehrung gelten, die Ihnen aus der Nähe wie aus der Ferne darzubringen mich froh macht. –

Dieser Brief ist morgens zwischen 5 und 6 Uhr in der Schule begonnen, nachdem ich in der Nacht schlafend das Gebäude vor Gefahr bewahrt hatte. Durch Herrichtung meiner Wohnung, durch Selbstversorgung aller Art, komme ich erst heute, 4. Sept., dazu, das Gespräch mit Ihnen fortzusetzen.

Nach der unbeschreiblichen Fahrt auf der Tauernbahn und das Salzburger Land habe ich einige gute Tage in München gehabt, habe die Strapaze des Hauses der Kunst auf mich genommen und einige Kunsthändler in München

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und Leipzig besucht. Bei Gauss sah ich in den Mappen einen Holzschnitt von Werner Berg, den großen Kopf eines bärtigen Mannes darstellend, den ich nicht kannte. Gauss, verdrossen aber bieder und aufrichtig, hat mir gefallen. Er lässt Sie bestens grüßen. –

Die fehlende Marmeladekarte hab ich hier erhalten. Die auf der gelben Fettkarte für 1. - 7. 9. und 8. - 4. 9. befindlichen 250 gramm Butter kann ich leider nicht bekommen. Die hier zuständige Kartenverteilungsstelle sagt mir: die gestrichene Menge habe die Frau, von der die Karte stammt, für sich bereits verbraucht und nur von ihr könne ich das fehlende halbe Pfund fordern. Aber wie kann ich das? Vielleicht haben Sie Gelegenheit, den Fall zu klären und die Frau zu bewegen ½ Pfund Butter abzutreten. Mir würde notfalls auch mit Schmalz geholfen sein.

So sind wir zum Schluss wieder aufs leibliche Dasein verwiesen, das erstaunlich hartnäckig sein Recht verteidigt. Von meiner Frau habe ich inzwischen neue und beruhigende Nachricht erhalten. Sie ist beglückt über die kleine Maria Isabella, vor der sie jeden Tag neu bewundernd verweilt, und freut sich über die fortschreitende Genesung der jungen Mutter. Da auch von Sésée neue, günstige Nachricht vorliegt, könnten wir ruhig sein, wenn wir nicht Arnold in Gefahr wüssten. Immerhin ist ein Brief vom 25. 8. da.

Leben Sie wohl, meine lieben Freunde, sagen Sie ein gutes Wort von mir Ihren Kindern und empfangen Sie die herzlichsten Grüße Ihres Heinrich Becker Rutarhof, 17. Sept. 41

Lieber verehrter Herr Dr. Becker!

Gestern haben wir endlich – nach etlichem Hin und Her – die beiliegenden Marken auf der Gemeinde bekommen, die ich schleunigst weiterschicken will. Es tut uns sehr leid, dass Ihnen bei Ihrer Rückkehr noch solche Unannehmlichkeiten erwuchsen – diese Dinge haben nun einmal derzeit mehr Gewicht, als wir ihnen sonst beimessen möchten.

Ihr Brief, Ihr lieber, guter, langer Brief! Dazu kann man nicht Dankeschön sagen, nicht einmal drauf antworten, sonst wäre es längst geschehen. Dass Sie uns alle, meine Frau und mich vor allem, tief erfreut haben, dass ein Strom von Freude und Kraft aus Ihren Zeilen in unser Herz drang, das wissen Sie, lieber Freund, Sie haben das gewollt und vermocht. „Im Herzen bewahrt, aber nicht vergessen“ heißt eine Andersen-Überschrift, die mir immer selbst wie eine wunderschöne Geschichte erschien. Dass Sie über alles Ungute hinwegsehend unseres jeden Bild in Ihrem edlen Herzen bewahren, das muss

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uns glücklich machen und wird uns über vieles Schwere, das noch kommen mag, mithinweghelfen. Mich aber muss zutiefst bewegen, dass Sie meine Frau erkannten und wie Sie ihr Ihr herzliches Zutun bekunden, und dass Sie unsere Kinder liebhaben, die unser Glück sind. Quant à moi, so weiß ich nur zu gut, dass es nur aufs Tun und Bewähren ankommt. Wenn es aber wahr ist, dass jede Pflanze, um zu gedeihen, zu Zeiten begossen sein will, so ist das mit spürbarer Wirksamkeit geschehen. Die gefährliche Dürrezeit meines Lebens ist hinter mir, ich vegetiere nicht mehr, ich lebe und das, obschon manches in den äußeren Verhältnissen schwieriger geworden ist. Übrigens stehen zwei neue Bilder da, die nicht einmal schlecht sind.

Von Weinheber bekam ich Anfang September einen so herzlichen wie ergiebigen Brief, in dem er sich über seine Arbeit ausspricht. Zugleich schenkte er mir ein hochinteressantes Manuskript. Bald danach haben wir uns in Kärnten gesehen, doch ließ es sich diesmal leider nicht einrichten, dass er auf den Hof kam. Die Dichter (Weinheber war mit seiner Frau dabei) aus dem Alpenraum – Mell, Klöpfer, Britting, Alverdes u.s.f. – waren einige Tage Gäste des Gaues Kärnten, der sie, wie mir allgemein versichert wurde, in heute selten guter Form begastete und herumführte. Die Wiederbegegnung hat auf mich stärkste Wirkung ausgeübt. Weinheber ist mir außerordentlich freundschaftlich gesonnen, – kein geringer Gewinn. Ich kenne keinen Künstler, der sich so leicht und so gerne etwas „vergibt“ wie Weinheber, – und keinen, dem das Künstlertum in jedem Augenblick so aus der Fülle des Herzens strömt. Die menschliche Existenz dieses Künstlers, die künstlerische Gewalt und Zucht dieses Mannes, sind schon eine wunderbare Wirklichkeit.

Mehr hätte ich Ihnen zu erzählen, als ich Zeit zum Schreiben habe. Mich hat die Arbeit endlich wieder, ich muss mich über so vieles auch in der Wirtschaft nun hinwegsetzen. Ursi und Klärchen stiefeln nun brav alle Tage auf die Bahn nach Klagenfurt, Veit und Hilde zur Möchlinger Schule. Für meine Frau ist es noch schwerer derzeit, da sie niemanden bei Annette hat. Bald schreibe ich mehr. Für heute grüßen Sie mit vielen guten Wünschen für die Ihren alle Ihre getreuen Bergs

Rutarhof, den 24. Sept. 41

Lieber verehrter Herr Dr. Becker!

Wieder langt es nur zu einigen Zeilen, bevor ich an die Arbeit gehe. Und was möchte ich, was müsste ich alles sagen, um Ihnen an der Schwelle Ihres siebenten Jahrzehntes unsere Dankbarkeit zu bekunden und um unser aller innigste Wünsche Ihnen darzubringen!

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Da wir Sie, verehrter Dr. Becker, vor so kurzem noch bei uns hatten, ist es uns schlechterdings unmöglich, an Sie, den Sechziger, nun als einen „alten Herrn“ zu denken. Immer werden wir den jugendlichen Schwung Ihres Herzens vor uns sehen (rein äußerlich: vermöchten sich die jungen Leute hier nur zu bewegen wie Sie!) und die männliche Bestimmtheit eines weise geordneten Lebens, das viele und nicht immer leicht tragbare Erfahrungen nur zu festigen vermochten. Dass es Persönlichkeiten wie die Ihre noch gibt, die die Fülle abendländischer Gesittung in unermüdlichem Tun (wehe der allgemeinen Müdigkeit der Gebildeten!) ausstrahlen und das jeweilige bürgerliche Gehege, in das Sie gestellt sind, wesenlos machen, ist eine Wirklichkeit, die allein den Glauben an den Beruf des Menschen zu erhalten vermag.

Ich aber habe ganz besonderen Anlass, Ihrer nie sich versagenden Güte in tiefer Dankbarkeit zu gedenken. Gerade in diesen Jahren hier, da uns das Leben wie eine Flut oft gehoben und geworfen hat, war Ihre Freundschaft das Stete und Stärkende, und nicht selten war der Blick zu Ihnen hin die einzige Helle am Horizont um uns.

Es schmerzt mich, dass ich Sie heute nicht mit einer kleinen Gabe erfreuen kann, wie ich das überaus gern gewollt hätte. Die Arbeit, die mir selbst fast schon entglitt, will mit aller Zähigkeit behauptet werden, ich muss mich fast grausam über allzu vieles hinwegsetzen.

Grüßen Sie bitte Ihre liebe verehrte Frau, die mit so wunderbarer Selbstverständlichkeit – ganz anders, als wir es je erfuhren – die großen menschlichen Bezüge aufrechtzuerhalten weiß. In dieser Zeit der Prüfungen erbitten wir auf Sie beide, auf Ihre Familie und Ihr Haus des Himmels Segen. Bleiben Sie lange noch, der Sie sind, verehrter Freund zugleich, Ihrer Ihnen herzlich und treu ergebenen Werner u. Mauki Berg

Rutarhof, den 29. XII. 41

Liebe verehrte Dr. Beckers!

Ja, schön wäre es gewesen, Sie hätten selbst kommen und sich davon überzeugen können, dass zu jeder Zeit hier Türen und aller Herzen für Sie weit geöffnet stehen. Mich selbst hätten Sie freilich in einer wenig würdigen, auch mir recht fatalen Rolle angetroffen: ich liege seit gut 10 Tagen auf der Nase, habe vom Christbaum und Kinderjubel unterm Christbaum noch nichts gesehen und heuer auch keinerlei Weihnachtspost schreiben können.

Lassen Sie mich Ihre Hand ergreifen und sie fest drücken zum Dank für das schöne Geschenk, für Ihren Brief voll beglückender Herzlichkeit. Doch nicht

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nur seiner Seltenheit wegen wird mir dieses gute Buch kostbar sein – vielmehr noch, weil sein weiter Geist Ihrer eigenen lebendigen Haltung und Erkenntnis immanent ist. Die Briefe, auf die Sie mich übrigens schon in früheren Jahren des Öfteren verwiesen, habe ich bereits von den verschiedensten Seiten „angelesen“, um sie nun im Zuge eines sich ständig weitenden Lebens in mich aufzunehmen. Im vergangenen Herbste habe ich auch mit gutem Atem und ohne Stocken den Witiko gelesen. Dass Sie, verehrter Freund, in so unheiliger Zeit mir Stifter und Burckhardt in die Hände legten, wird mir immer bewusst bleiben als Zeichen einer tiefen persönlichen Beziehung und unerschütterbaren Ordnung. Doch so gut, wahr und erhellend die großen Zeugnisse sind, –das lebendige Freundeswort vermögen sie nicht zu ersetzen, und wir können Sie nur von Herzen bitten, uns auch in Zukunft zuweilen Ihrer Mitteilung wert zu finden. So vieles, das mich jetzt bewegt, muss ich heute ungeschrieben lassen. Ich möchte Ihnen nur mit ganzer Herzlichkeit danken und für das neue Jahr unsere innigsten Wünsche sagen, der Himmel behüte Sie und die fernen Kinder und Kindeskinder!

Treuverbunden bleiben Ihnen immer Ihre Werner u. Mauki Berg

1942 Im Mai kommt Werner Berg als Sanitätssoldat und Kriegsmaler nach Finnland. „Wenn ich dann als Soldat zum Malen herangezogen wurde, blieb ich in allen Situationen meiner Überzeugung treu, die es mir versagte, die Kunst zu einer Propaganda-Phrase herabzuwürdigen. Vier Jahre war ich meist an der Nordfront in Militärdienst und zuletzt Obergefreiter. Meine Frau aber hat in den Kriegsjahren Hof und Familie unter Bedingungen erhalten, deren Schwierigkeiten alles Erdenkliche übersteigen.“ Walter Bauer, der Dichterfreund, schreibt: „Vielleicht wird das die Gabe dieses Landes an Sie sein, dass Sie deutlicher denn je wissen, was freies Atmen ist. Aber Sie wussten es ja schon immer; bei Ihnen, in der Landschaft des Rutarhofes war Freiheit. … Eines Tages werden wir vor Ihren Bildern stehen und sie schweigend betrachten – die Beute dieser Monate und jener künftigen Monate, die Sie einst wieder zu Hause verbringen werden. Wir werden sie ansehen und finden, dass wir mit verschiedenen Mitteln auf dem gleichen Wege gingen, die einfache, ungebrochene Wirklichkeit der Welt auszusprechen, fern ab von allem Betrieb, der Lüge und Übertreibung ist. ... Wir werden älter geworden sein. Wir werden manches verloren, doch auch manches gewonnen haben. Bis dahin wollen wir den Druck von oben in Druck von unten verwandelt haben. Druck von unten bedeutet Erhebung. ... Es ist ganz still in meinem Zimmer. Ich habe manchmal den merkwürdigen Gedanken, dies sei eine Keimzelle Europas – des Europas, das wir meinen; das nicht auf Kongressen geboren wird, sondern in den Herzen derer, für die Europa eine geistige Wirklichkeit ist. Wir gehörten Europa lange an, ehe die anderen davon wussten und es ausschrien.“ Zu Weihnachten erhält Werner Berg Urlaub. Drei Monate kann er am Rutarhof bleiben.

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170 HÄUSER AM MEER, 1942

O. U., den 7. III. 42, Fp. 00611

Liebe verehrte Becker-Freunde!

Seit Wochen will ich Ihnen schreiben, kam aber nicht zu der Besinnung, die ich mir wünsche, wenn wir miteinander reden. Heute will ich Ihnen doch endlich ein Lebenszeichen geben, aus den so gründlich veränderten Verhältnissen.

Kurz nach Mitte Jänner kam der Stellungsbefehl, es blieb kaum noch Zeit, den Koffer zu packen. In Graz wurde ich eingekleidet und mit der umfangreichen Ausrüstung für Gebirgs-Division Nordost gleich weiter in Marsch gesetzt. Bei meiner Meldung erfuhr ich, dass ich einer marschbereiten Division als Kriegsmaler zugeteilt sei und konnte zum Glück – was hätte ich sonst angefangen – zur Materialbeschaffung noch einmal fortfahren. Das ist nun eine äußerst heikle Angelegenheit heutzutage, zum Schluss blieb mir nichts, als meine letzten guten Vorräte zusammenzupacken, statt des besonderen Erlebnisses, auf das ich mich gefasst hatte, blieb ich jedoch noch liegen – beim Kommiss ist nun einmal alles ungewiss – und eine Weile noch wird die Post nicht allzu lange unterwegs bleiben. Inzwischen habe ich auch meine Arbeit aufgenommen und meine Situation in mancher Hinsicht wesentlich gebessert. Es gilt leider von den Ellenbogen Gebrauch zu machen, um gegen so viel Knotentum aufzukommen, zum Trost entdeckt man hin und wieder auch Menschen. Insbesondere ist der Ordonanzoffizier meiner Ic und des auch umgänglichen Chefs, ein Mann von wirklicher Bildung, wenn auch nicht eben in Dingen der bildenden Kunst. Er ist echt kameradschaftlich, ohne Herablassung und erleichtert mir vieles. Der Anfang freilich war kaum zu überwinden. Die Rolle eines Malsoldaten ist vielleicht grotesk, manch Demütigendes war zu schlucken. Doch mag die Kur, wenn ich sie bestehe, auch ihr Gutes haben. Noch hoffe ich, dass sich einmal auch die inneren Kräfte lösen werden. Die künstlerische Fragwürdigkeit versteht sich, aber da ich inzwischen einige Freiheit genieße, verzweifle ich nicht, diesen Weg mit Anstand zu begehen. Und wenn man nur einige Beweglichkeit gewönne, wäre das kein schlechter Gewinn für die Zeit, in der man – Gott lass sie mich erleben! – sein Selbst wieder leben und gestalten darf. Der Druck dieser Zeit macht sich ja auch zu Hause immer stärker fühlbar und gestattet kein ungehemmt freies Schaffen. Wenn der Schlaf in langen Stunden nicht kommen will, gehen die Gedanken zum Hof, zu meiner so tapferen Frau, die nun übergroße Last auf ihren Schultern trägt und zu den lieben Kindern. Kaum noch im Leben hat mich etwas so gewürgt, wie der Abschied von Ihnen. Meine Frau und ich, wir hängen mit allen Fasern unseres Seins zusammen. Leicht ist das alles nicht.

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Oft und gern denke ich an die Tage Ihres Besuches, lieber Doktor Becker. Hätten wir sie Ihnen nur etwas behaglicher einrichten können, aber wir hoffen fest, das noch einmal besser machen zu können. So tiefen Eindruck hat es meiner Frau gemacht, mit wieviel Güte und Anspruchslosigkeit Sie sich in unsere Verhältnisse eingefügt haben. An mein Kranksein um Weihnachten-Neujahr denke ich nicht gern, wohl aber an das Buch, das ich damals in Händen hielt, die Burckhardt-Briefe. Es gab nichts an Doktrin, doch umso unverlierbarer das Bild eines bis zur letzten Stunde aufgeschlossenen Mannes, der jung blieb und begeistert ohne Illusion. Kein Zufall, dass mir das und der Witiko von Ihnen zukam, Teil Ihres reifen und jungen Herzens.

Von ganzem Herzen wünsche ich, dass Sie beide, soweit es die Zeit erlaubt, sich wohl befinden. Möchten Sie doch jetzt und in Zukunft immer nur gute Nachricht von Ihren Frau Töchtern aus Japan und Spanien und von Arno im Felde erhalten! So sehr würde ich mich freuen, etwas von Ihnen hören zu dürfen, und eine noch größere Freude wäre es nur, wenn Sie einmal meiner Frau eine Zeile senden würden. Nichts stärkt und hält mehr als der Zuruf der Freundschaft, kostbarster Gewinn des Lebens in seinem Dunkel.

Übermorgen wird Josef Weinheber 50 Jahre. Ein neues Buch von ihm („Zur Sprache“, Langen-Verlag) wird demnächst erscheinen und auch Ihnen eine kleine Überraschung bedeuten. Hier strömt noch Schöpferkraft wie je, mögen wir Mühenden auch draufgehen. So schmerzlich war es nur, dass ich gerade, als ich den Geburtstagsbrief schreiben wollte, im widerlichsten Trubel und Geschrei meine karge Leere nicht zu überwinden vermochte.

Die kann auch Ihnen nicht verborgen bleiben, doch bin ich Ihrer Nachsicht gewiss. Leben Sie wohl und seien Sie in aller Herzlichkeit gegrüßt von Ihrem Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 15. März 1942

Liebe Frau Berg, erst durch einen Brief, den mir Ihr Mann vor wenigen Tagen schrieb, erfahre ich, welche Veränderung auf dem Rutarhof vor sich gegangen ist. Kaum hat er die Erkrankung dieses Winters überwunden, da muss er Sie und die Kinder und den Hof verlassen. Und Sie nun ganz allein inmitten so viel Arbeit! Wie zwingen Sie es nur? Aber ich habe vorigen Sommer Ihre unendliche Geduld und Ausdauer gesehen, habe Sie oft bewundert, wie Sie mit Umsicht alle Schwierigkeiten meistern und dabei Liebe und Milde walten lassen mit Kindern, wie Ihrer ganzen Umgebung, zu der auch ich eine Reihe von schönen

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Tagen zählen durfte. Auch ich habe mich Ihrer Güte und Ihres Vertrauens erfreuen dürfen, dass ich die Tage auf dem Rutarhof seither nicht vergessen kann. Und die Wanderung hoch über der Drau und die lustige Rast an der Brücke dünkt mich noch heute wie ein Fest. So sind wir durch gemeinsam gelebte und genossene Tage aufs Schönste miteinander verbunden. –Verbunden sind wir auch in den Gedanken an Werner Bergs Kunst, in dem Glauben an seine gestaltenden Kräfte, in der sicheren Aussicht auf das hohe Ziel, das vor ihm steht. Diese gemeinsame Zuversicht hilft uns, auch bei der neuen Schicksalswendung Ihres Daseins Mut zu behalten und die aufgezwungene Trennung gutzuheißen. Das Beste, Lebensfähigste, Wirksamste unseres Daseins wird in Schmerzen gewonnen. Schmerzlich muss diese Zeit für Sie wie für Werner Berg sein. Aber welche Nahrung wird sein inneres Weltbild unter den ganz anders gearteten Lebensbedingungen, durch die ungewohnten Natureindrücke finden! Wie lästig er auch die äußere Dienstverpflichtung empfinden muss, was er dabei an Bildvorrat in sich zusammenschaut, kann von entscheidender Bedeutung für seine künstlerische Leistung werden und vielleicht das Glück häuslicher Gemeinschaft aufwiegen, das ihm und Ihnen allen für einige Zeit verloren geht. Ich kenne Sie mit so viel Tapferkeit begabt, so ungewöhnlicher Entsagung fähig, dass ich das Vertrauen habe, Ihnen dies alles so offen sagen zu dürfen, ohne Ihnen Schmerz zu bereiten. Das Opfer, das sie zu bringen haben, wird dadurch nicht geringer. Aber dadurch allein wird es fruchtbar. Wer will das lohnen? Wer kann es überhaupt? Uns andern bleibt nur vermehrtes Gedenken, Ihnen Mut, Zuversicht und Kraft zu stärken. Auch meine, wie meiner Frau Gedanken und Wünsche gelten Ihnen und Ihren Kindern auf dem fernen Rutarhofe. Sie wissen ja, wir sind es gewöhnt, unser Denken und Hoffen auf weite Reisen zu schicken, und glauben doch, dass es sein Ziel erreicht. Bald kommt der Frühling, auch zu Ihnen, zu Ihnen wohl früher als zu uns. Dann werden sich Ihre Kinder freuen und doppelt gern in Haus und Hof behilflich sein. Sagen Sie jedem von ihnen meine guten Grüße. Manchmal frage ich mich, wie werden sie aussehen, wenn ich wieder einmal auf dem Rutarhof sein werde? –

Vieles wird bis dahin geschehen sein, was in dieser Zeit uns große Unruhe und Besorgnis macht. Ihnen, Ihrem Mann, dem ich selbst bald schreiben werde, und den Kindern tausend gute Wünsche.

In herzlicher Zuneigung Ihr Heinrich Becker

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Heinrich Becker, Bielefeld, 18. März 1942 Mein lieber Werner Berg, Ihr erster Feldpostbrief, so sehr wir an Ihre Wiedereinberufung hätten denken müssen, war uns doch eine Überraschung. Mit Rücksicht auf die besonderen Schwierigkeiten auf Ihrem einsamen Rutarhof, hatten wir immer gehofft, würde man Sie in Ihrer Arbeit belassen. Nun haben Sie den ersten Schmerz des Abschieds hinter sich und stehen vor neuen, und trotz aller bisherigen Kunstübung ungewohnten Aufgaben. Dass Sie sie meistern werden, auf Ihre Weise meistern, mit Gewinn für Ihre innere Welt, ist kein Zweifel. Ich sehe Ihre Lage nicht obenhin an, so als wäre ich daran unbeteiligt und könnte mich vermessen, Ihnen billigen Trost oder leichtfertige Ratschläge zu geben. Aber Sie sind noch jung und bei allem Eigenwuchs biegsam, und dass Sie in Kunst und Leben nie der Routine verfallen sind, dass Sie Ihrem Dasein wie Ihrer Arbeit persönliche Gestalt gegeben haben, muss Ihnen nun zugutekommen. Sie werden, denke ich, die Sache, ganz auf Ihre Weise, positiv nehmen. Und wenn daneben Forderungen an Sie gestellt werden, die Ihrer Seh- und Schaffensweise fremd, ja vielleicht zuwider sind, so wundern Sie sich nicht. Sowie Sie den Rutarhof verlassen und in irgendwelche weiterführende Weltbeziehung geraten, ist dergleichen Widerpersönliches die Regel.

(Durch gehäufte, unabwendbare Arbeit abgedrängt, fahre ich erst heute, 21. März, fort und suche den Faden wieder aufzunehmen.) Ich habe die Hoffnung, dass Sie, den Umständen sich fügend, viel zum Zeichnen kommen, auch im kleineren Format, damit Sie auf Ihren Fahrten nicht so viel Malgepäck herumschleppen müssen. Aus solcher Nötigung ergibt sich zuweilen überraschend Gewinn, wie Entbehrungen, willig hingenommen, oft ihr Gutes haben. Das kleine Selbstbildnis, dass ich in Ihrem Briefe fand und das ich seitdem oft und teilnehmend betrachte, gibt mir einen Vorgeschmack des Kommenden. Mehr gemalt als gezeichnet, finde ich viel von Ihnen darin wieder und wittere, was hinter diesen Augen verborgen liegt und was dieser Mund kummervoll verschweigt. Anders wie Walter Bauer, dem das lyrische Ich, nach innen schauend, überallhin folgt, so dass man aus seinen Tagebuchblättern aus Frankreich viel mehr von ihm selbst, als von Dingen, zwischen die er gestellt ist, erkennt – anders, schätze ich, weil Sie Maler sind, werden Sie mit Augen auf der Lauer liegen und sich am Bild der Natur und ihrer unerschöpflichen Vielfalt stärken. Ob ich recht tue, es so zu sagen, ob ich es überhaupt darf? Mir scheint, ich selbst würde in gleicher Lage so vorgehen; ob auch Sie müssen? Keiner ergreift ja die Welt nach Wahl, es geht jeder seinen Weg. Sie werden Ihrem Instinkt folgend wissen, wohin Sie ziehen, besser als es Ihnen

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Freunde sagen können. – Weinheber selbst ist vortrefflich, in jeder Zeile groß und echt. Aber wer zwischen Göttern und Dämonen steht – ich habe noch zu danken für das Buch, das ich Ihrer Güte schulde – hüte sich vor Freunden, die ein Buch zusammenfotografieren über Weinheber in allen Lebenslagen und tun als wäre er Film-, Theatergröße oder sonst vom Format des Alltags. Ich finde dieses Buch zum 50. Geburtstag fatal und gehe ihm aus dem Weg. Der richtige Weinheber zeigt keine Fotografien, aber in seinen eigenen Büchern ist er ganz und groß. Ob Sie es verlangt, gegenwärtig dergleichen zu hören? Wenn Sie mögen, schreiben Sie bald aus Ihrer neuen Welt und was Sie darin bewegt. Wir folgen Ihnen gern. Von uns einstweilen nur, dass es unverändert geht und alle, auch Arnold, sich wohl befinden. Ihnen und den Ihren gleiches wünschend grüßen wir Sie in alter Freundschaft Ihre H. u. M. Becker

Martha Becker, Bielefeld, 15 Juli 1942

Liebe Frau Berg, oft muss ich an Sie denken, an die vielseitige Arbeit, die auf Ihnen ruht und wünsche Ihnen Kraft und Ausdauer bis zur Rückkehr Ihres Mannes. … Ein Jahr ist herum und was für ein schweres Jahr!! Unser Sohn, der die ganze Zeit in Russland, lebt noch – und wir sind so dankbar und können nichts anderes tun „innerlich“, als an ihn denken und beten und man schließt hinein die vielen, die man kennt. – Alles Söhne von Müttern, auch die Millionen Unbekannten. – Was ist verloren gegangen? Das können wir nicht ermessen. Hoffentlich hat Ihr Mann weiter Nachricht von Walter Bauer und es geht ihm auch gut. Sein Büchlein über seine Kriegseindrücke in Frankreich ist so menschlich zart und warm. – Ich denke, auf Ihrem Hof ist nichts, was an Krieg erinnert – (natürlich die Abwesenheit Ihres Mannes!) und Sie haben die aufbauende Arbeit für das Leben der Menschen zu tun. –Ein Segen ruht in jeder Ihrer Handlung, Ihrer Mühen. – Die Kinder sind noch klein und alle um Sie. Säen Sie täglich Güte und Liebe in deren Herz und Geist – daran haben alle Menschen so nötig und die Jugend ist unser Trost, unsere Hoffnung. Sie wird aufbauen und Brücken bauen und die Menschen kommen friedlich zueinander. Das ist unser ganzes Wünschen. …

Ihnen, Ihrem Mann unsere besten und freundschaftlichsten Grüße Ihre Heinrich und Martha Becker

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Martha Becker, Donnerstag, 16. Juli 1942

Lieber Herr Werner Berg, als wir zum letzten Mal von Ihnen hörten, waren Sie in den Anfängen der Kriegsmalerei. … Seit März sind viele Wochen vergangen und wir fragen uns oft, ob Sie noch dabei sind oder ob der Rutarhof seine Rechte behauptet hat?? Welche Erlebnisse mögen Sie in dieser neuen Umgebung gehabt haben?

Hoffentlich bricht Ihr starkes, klares Menschentum alles, was ihm ungleich ist und es gelingt Ihnen, die anderen um sich emporzureißen. Ich weiß, wie schwer es ist für die Soldaten, Gefühle walten zu lassen, überhaupt für den Kämpfenden, umso schöner ist mir das Buch von Walter Bauer über seine Eindrücke in Frankreich als Soldat vorgekommen. Alles, was Sie uns schreiben, von sich, von Ihrer Frau, ist uns wertvoll und lieb, nehmen wir doch dadurch Teil an Ihrem gemeinsamen Leben in diesen Jahren, die Ihnen so viel auf einmal als Aufgabe auferlegen. Fassen Sie alles an mit Zuversicht und Feuer – den Blick auf Ihr höchstes Ziel. So wird Ihnen viel gelingen. Es ist bald ein Jahr, dass mein Mann die große Freude hatte, Sie und Ihre Familie auf dem Rutarhof zu sehen und die vielen Bilder, die dort entstanden sind. Er ist ganz erfüllt davon heute noch – und es hilft ihm manchmal über das Schwere, das er als Mensch und Vater trägt. – Man grübelt leicht, wenn man an der Schwelle des Alters ist und das Innere noch voll ist von Hoffnungen und Zukunftsbildern für eine Zeit, in der wir nicht mehr dabei sein werden. – Aber die ganz Kleinen, die heranwachsen und für die man die Menschheit gut und edel gestalten möchte, diese kleinen Kinderaugen – die sogar in vielen Städten in ihrer Existenz bedroht sind – sind für mich das, was ich auch mit Ehrfurcht und Liebe ansehe, vor dem man bestehen möchte. – Einzelne Erwachsene haben noch solchen Blick (z. B. Carossa) – auch dann weiß man, dass diese Menschen anders sehen, mehr sehen von den Dingen als die vielen, vielen, deren Augen allmählich ohne Glanz, ohne Strahlendes sind.

Ich sehe täglich vor mir alles Tragische, was täglich geschieht zwischen Menschen, Brüdern, Christen! Unser Arnold ist immer noch in Russland, hat den Winter überstanden und schreibt uns, wie seine Kameraden – mit dieser selbstlosen Hingebung zu seiner Aufgabe und einer rührenden Freude über alles, was ihnen das Leben erträglich macht. – Mitten im Kampf wird alles auf eine andere Weise gesehen. Welcher Unterschied, nicht wahr!

Wir haben uns eigentlich gefreut, lieber Maler, dass man Sie die Feder oder den Pinsel führen lässt – die Ihnen so lieb sind und vielleicht können Sie viel zeichnen – nebenbei für sich – Schreiben Sie uns kurz, ob wir etwas für Sie

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tun können, was Ihnen fehlt oder erwünscht wäre. Wenn es uns möglich ist, würden wir so gern dann helfen. – In diesen Tagen habe ich Ihrer Frau geschrieben. Hoffentlich hält sie es aus, Sie ganz zu ersetzen und die Trennung zu tragen. – Die Kinder sind da und Sie müssen sich beide noch ganz bewusst täglich darüber freuen. Es sind kurze Jahre! Ihre Bilder sind uns ständig eine Verbindung mit Ihnen.

Leben Sie wohl, lieber Herr Werner Berg. Führt Sie Ihr Weg in unsere Nähe, vergessen Sie nicht, dass wir Sie so gern wiedersehen würden.

Mit vielen guten Wünschen und Grüßen Ihre Heinrich und Martha Becker

26. Juli 42, Fp. 00611

Meine lieben verehrten Beckers!

Eine Stunde vor Mitternacht ist’s, eine Zeit, zu der ich meistens hinaus malen gehe. Doch heute will ich mich lieber zu ein paar Zeilen hinsetzen, eben sind die beiden Kriegspfarrer aus den getrennten Lagern, die sich nun so viel näher gerückt sind, fort, ich habe ihnen Arbeiten gezeigt, sie waren sehr nett – aber im Reden, dem so ungewohnten, wurde mir doch etwas leer, es war doch zu eng und ohne die Kraft der Sinne, die uns nun einmal notwendiges Gewürz zum Leben ist. Wieder nehme ich Ihren Brief zur Hand, aus dem es so voll vom Herzen strömt, Ihren lieben schönen Brief, der mir heute Mittag eine rechte feierliche Sonntagsstimmung brachte. Wie oft habe ich nicht an Sie gedacht und in der letzten Zeit besonders intensiv, man wird so stumm und möchte doch so gerne sich mitteilen, hören von den Freunden. Doch immer nah und wieder warm sind Sie dann da, gerade Sie und reichten mir Ihre Hand.

Vor zwei Monaten, zu Pfingsten, wurden wir nach glimpflicher Überfahrt ausgeschifft. Licht und Weite des Nordens, diese unerhörte Helligkeit ohne Ende waren mir ein gewaltiges Erlebnis, das mich die Unbequemlichkeiten vergessen ließ. Nach ein paar Rasttagen in einer lichten großzügigen Hafenstadt, nach mehreren Zwischenlagern und Fahrt durch unermessliche Waldgebiete – ein sehr viel anderer Wald freilich als der Eichendorffs – und an Seen vorbei, kamen wir in den Urwald, zu dem einzig der Knüppeldamm Füßen und Rädern Grund und Zugang gibt, dort hausten wir in Zelten auf dem Boden (freilich blühte auch, nicht zu übersehen, ein ungeahnt großes Leben der „Herren“), zurzeit noch stagniert die Front, die sich vor zwei Monaten nach heftigen Kämpfen und Zurückerobern bildete, es ist wie ein gegen-

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seitiges Bespüren nach Waldläuferart. Sonst Wald und auf seinem moosigen Grund Heerlager weithin, kleinere Seen inmitten, an denen zumeist eine Sauna, das heimische und auch uns schon vertraute Schwitzbad, liegt (eine feine Einrichtung übrigens, die ich gerne später auf dem Hofe einführen möchte), und vor allem Sümpfe, weitgedehnte Sümpfe, aus denen Baumkrüppel ragen wie Gespensterbein. Dort habe ich einiges unter nicht sehr günstigen Bedingungen gearbeitet, es ist schon eine kuriose Sache mit meiner „Kriegsmalerei“, unter welcher man gewiss sich etwas recht anderes erwartet, aber das Gute ist, dass ich in der Arbeit meine Freiheit und mit der Zeit einige Achtung errungen habe, wenngleich musischer Sinn und wirkliches Verständnis nirgends anzutreffen sind. Nicht selten hatte ich unter der Quälerei kleinster Geister zu leiden, kam aber noch allemal über das anfangs Würgende hinweg und verlebe jetzt eine unverhältnismäßig gute Zeit, zu gut, wenn sie nicht durch die stete Anspannung der Arbeit mehr als ausgefüllt wäre. Seit gut zwei Wochen hocke ich nicht mehr im Urwald, sondern – kein größerer Gegensatz zu denken – am Ufer eines riesigen Sees, wo ich mir nicht ohne Gebrauch der Ellbogen eine regelrechte Malbude aufgetan habe. Fern, kaum sichtbar an klarsten Tagen, der Saum des jenseitigen Waldes hinter der gleißenden Seefläche, die von vielen einsamen Inseln bestanden ist, die Farben oft leuchtend und rein, als sei man nicht unterm Polarkreis, sondern an der Adria oder in den farbigen Lichtfluten van Goghs. Schön ist es auch jetzt, da Wolken geballt und getürmt daherziehen, zum ersten Male wieder ist etwas blaues Dämmern um Mitternacht und der Mond – noch habe ich keinen Stern hier gesehen –beginnt wieder mild zu leuchten. Während der Glutstreifen der untertauchenden Sonne nie noch ganz verschwindet. Unendlich schön ist es, dann einsam draußen zu stehen, die feuchte Brise vom See her zu atmen, zu arbeiten und so nah des Unendlichen Anhauch verspüren zu dürfen, vor dem noch keine menschliche Wüstheit und Vermessenheit bestand.

Bei der Arbeit bedaure ich es zuweilen, durch den Druck der Jahre und die Grenzen meiner Anlagen, nicht über jene Beweglichkeit zu verfügen, die ich brauchen könnte. Aber es entsteht doch einiges und es täte mir leid, wenn ich meine Arbeit nicht zusammenhalten könnte – einiges wurde mir schon unter fatalen Umständen ausgespannt.

Ich habe eine Reihe Ölbilder gemalt, meist Landschaften, Aquarelle und dann zeichne, besser gesagt: male ich meistens gern mit der Tusche, Sepia oder chinesischen Schabtusche, die in freiem Fluss oft bewegte Stufungen ermöglicht. Meist sind es große Blätter. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, fahre ich so gern auch zu einer der vielen Inseln hinaus, auf deren auslaufenden

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Spitzen sich die großartige Einsamkeit dieser Landschaft so rauschend wie schweigend offenbart. Ein paar Felsblöcke mit einem Binsenwulst drüber, in den die Möwen ihr Nest gesessen, ein Sandstreifen oder geschliffene schrundige Steinplatten, ein Baumstumpf oder ausgebleichtes Schwemmgeäst inmitten und nur der kleine schöne Strandläufer stakt flink herum mit ängstlichem Ruf, um sein Gelege zu behüten – oh ist das alles herrlich schön in dieser unermesslich leuchtenden Weite, die noch durch die geschlossenen Lider wie eine Eröffnung dringt.

Da ich Ihnen wie von einer Sommerreise plaudernd vorsimple, werden Sie fragen: und der Krieg? Etwas skurril, aber gerade hier denke ich oft weniger dran als in diesen Unheilsjahren sonst, wenn nicht gerade unmittelbar mich Einschläge mahnen. Natürlich kann sich diese Situation über Nacht ändern. Und Walter Bauer, der wieder Kraftfahrer ist, hat schon recht, dass unser Einsatz in allen Lagen ein anderer ist, dass das Blatt, auf dem wir schreiben oder zeichnen, unser Schlachtfeld bedeutet. Dabei will ich nie von den ungeheuren Strapazen und Opfern der Kameraden gering denken, so dunkel die Frage nach dem Sinngrund des Geschehens ist.

Wenn mir ein guter Stern die Meinen auf dem Rutarhof stets schützen möchte, wo meine Frau ein so schweres Leben durchzustehen hat jetzt! So lieb, so stet, so tapfer ist jede ihrer vielen Zeilen und nicht eine des Verzagens, der Klage drunter. Ich vermag gar nicht zu begreifen, was sie alles leistet und mit welcher Selbstverständlichkeit. Wie sehr wir eines waren miteinander in allen Tagen, das haben wir immer gewusst, doch nicht noch mit stärkstem Sehnen so gespürt wie jetzt. Es wäre schon sehr notwendig, dass man mich im Winter heimschickt, die Aussicht besteht, aber? So lieb und lustig, oft voll der frischen Anschaulichkeit, schreiben die Kinder, die alle gut versetzt worden sind und nun Ferien haben, die haben Ursi und Klärchen sich wacker verdient. Das liebe Annetterl plappert nun munter drauf los und ich darf es nicht mit anhören.

So vieles möchte ich noch mit Ihnen reden, aber der Brief soll weg, es gab so manche Störung noch unterm Schreiben. Habe ich Ihnen, Dr. Becker, je für die Briefe gedankt, die Sie meiner Frau und mir schrieben, noch selten sind uns so kostbare zugekommen. Ich wollte sie als Talisman, als Unterpfand der Menschenwürde mitnehmen, dann war ich doch froh, sie daheim verwahrt zu wissen, denn als ich einmal mit der Uniform aus dem Wasser stieg, wären sie mit allem anderen durchweicht und verloren gewesen. Denken Sie Freunde nicht allzu gut von mir, nur zu sehr wirft es mich hin und her und es sind die wenigen Tage nicht, an denen mir die Unzulänglichkeit beschlossen,

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das „Aufwärts oder Hinab“ entschieden erscheint. Eine Bitte noch: lassen Sie mich auch in Zukunft nicht „Herr“ W. B. sein, sondern wie je und immer in aller herzlichen Anhänglichkeit

Ihr treuergebener Werner Berg

N.B. beim Wiederdurchlesen Ihres Briefes bemerke ich erst die Zigaretten-Ankündigung. Sehr, sehr lieb von Ihnen, aber die dürfen Sie unmöglich Arno abziehen. Grüßen Sie ihn bitte herzlich von mir. Kürzlich hörte ich doch tatsächlich von einem Lt. Becker einer B-Abteilung und stellte es mir schon vor, vor Arno strammzustehen – doch es war eine Enttäuschung, ein kleines schwarzes Mandl, statt Ihres aufrechten Arno.

Martha Becker, zum Weihnachtsfest 42

Liebe Frau Werner Berg,

wie oft fragen wir uns, ob Ihr Mann zum Fest mit Ihnen sein wird? Er hat uns einen so wunderbaren Brief geschrieben, den wir noch nicht beantwortet haben. – Mein Mann wird Ihnen während seiner Ferien schreiben. Heute kommen Grüße und Wünsche zu Ihnen mit diesem Buch, das Ihnen beim Durchblättern einige Freude und Ausspannung geben soll und Sie in diese Welt, die auch die Ihres lieben Mannes ist, versetzen soll, aber eigentlich bewegen Sie sich ständig in ihr, weil Sie von dieser wunderbaren Natur umgeben sind, wovon mein Mann oft schwärmt. Der Krieg dauert noch. Das Jahr hat vielen Familien schwere Wunden geschlagen. – Wir haben noch unsern Sohn, er wird das Fest mit uns verleben – unsere schönste Freude. Hoffentlich sind die 5 Kinder gesund und singen Ihnen fröhliche Lieder und Sie sind nicht allzu überlastet. – Oft denken wir an alles, was Sie leisten und wünschen Ihnen Kraft und Ausdauer.

Heute dieser rasche Gruß mit aller Herzlichkeit für Sie alle zusammen Ihre Beckers

180 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1943 Freunde versuchen Bilder Werner Bergs in Weimar auszustellen. „Man sagte damals, dass diese Art von Malerei nicht nur diese Ausstellung sprengen würde, sondern auch einen heftigen Protest verursachen würde. Ich hoffe, dass Sie sich durch diesen Brief nicht entmutigen lassen“. schreibt der befreundete Erwin Bauer. Eine eigens von Berlin bestellte „Sittenkommission" bestimmt die Entfernung von Werner Bergs Zeichnungen „Kinder” und „Mutter”. Im Feber zeigt Werner Berg seine in Skandinavien entstandenen Bilder in einer Ausstellung im Kunstverein für Kärnten. Die Albertina kauft durch Dr. Reichel ein Aquarell und eine Zeichnung an. Josef Weinheber besucht Berg während dessen Heimurlaubs auf dem Rutarhof und porträtiert den Freund in einer berauschten Stunde. Im November schreibt Walter Bauer: „Ihr Brief brachte mir frische, freie Luft. Er zeigte mir das Gesicht eines Menschen, der sich anstrengt, sein inneres Leben zu verwirklichen. Er zeigte mir den Gefährten. ... Der Norden wird für Sie nicht nur ein Bilderlebnis gewesen sein. Wir sind ergriffen und verwandelt worden. Vielleicht können wir es nie aussprechen, müssen es wortlos mit uns tragen, was uns zuteilgeworden ist. Aber wir sind Andere geworden. ... Eines Tages wird unser Leben wiederkommen. Vielleicht wird es wenig Ähnlichkeit mit dem alten haben, das wir einmal führten und für beständig hielten. Wer weiß auch, ob ihm nicht alles zerscherbt und zerschlagen wird.

181 TARNET AM JARFJORD, 1943

Und doch habe ich die Hoffnung, dass es uns mit Anstrengungen erlaubt sein wird, wieder menschlich zu arbeiten – Sie mit Ihren Bildern, ich mit Versen, Erzählungen. ... Nein, wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, sie nicht in den Wäldern Lapplands, ich nicht in der Kaserne und dann wieder irgendwo im Niemandsland. ... Sie sind für mich einer der wenigen, an denen ich den Dreck der Welt abprallen sehe." Josef Weinheber, der Berg länger nicht geschrieben hatte, bemerkt: „Ich darf doch wohl annehmen, dass ich von Dir auch gefühlt werde, wenn ich schweige, so wie ich Dich immer fühle, mit Deiner ganzen Existenz, wie das Schöne in einer mozartischen Musik. ... Bleib mein Freund! Ich bitte Dich!”

Zu Weihnachten kann Werner Berg beurlaubt heim auf den Rutarhof: „Ist mir doch das alles jeden Tag neu und ein Gnadengeschenk, der Bestand dieser kleineren Welt, die für mich, wenn nicht die größere, so doch die wirklichere ist und mich aufnimmt wie eh und je. Bei allem Schweren ist das hier wie ein kleines Reich, in dem es noch so etwas wie Unabhängigkeit gibt und meine Frau hat es treu und kraftvoll behütet.“

Bei einem Bombenangriff wird das Elternhaus in Elberfeld zerstört. Werner Bergs Schwester Clara kommt dabei ums Leben. Bergs Mutter, welche gerade auf Besuch am Rutarhof ist, entgeht so dem Tode und verbleibt in Kärnten.

182 NORDKAP, 1943

Heinrich Becker, Bielefeld, 4. Jan. 43

Mein lieber Werner Berg, wenn ich das Datum Ihres letzten unbeantwortet gebliebenen Briefes vom 26. Juli lese, fange ich an, mich zu schämen und mir ernste Vorwürfe zu machen. Was bedeutet es auch, wenn ich sagen kann, dass ich Sie im kalten Norden und Ihre liebe Frau und die Kinder auf dem Rutarhof in all dieser Zeit nicht vergessen habe, dass wir oft von Ihnen gesprochen, Ihr hartes Geschick beklagt haben. Sie müssen doch die trennende Kluft gesehen und auf ermunternden Zuruf von uns gewartet haben. Nun will ich rasch die Jahreswende als Anlass benützen, um Sie unserer alten Zuneigung zu versichern und Ihnen herzliche Wünsche für das neue Jahr widmen. Möchten es die Ereignisse erlauben, dass Sie bald zu Frau und Kindern, zu Ihrer Arbeit auf dem heimatlichen Boden und zur Malerei auf eigene Faust ohne kunstfremden Auftrag zurückkehren können. Sie werden aus der Welt des Nordens neue Bildkraft mit heimbringen, gesättigt von großer, erhabener Naturgewalt. Ihr Brief ist voll des erlebten Zaubers, dem Sie sich als Augenmensch ja gar nicht entziehen können. Ein unerhörter Schatz neuer Anschauung, der sich in Ihnen sammelt und Sie zum Malen drängt. Teuer erkauft, ganz gewiss. Aber wer darf dem Schicksal nachrechnen, was es versagt und was es fordert. Wir müssen schon zufrieden sein, wenn wir innerlich nicht leer ausgehen. Halten Sie nur auch fest, was Ihnen in dieser Zeit zu malen gelingt. Wie gern würde ich es sehen, mit Ihnen zusammen sehen, was in Ihnen seit meinem Besuch auf dem Rutarhof vor sich gegangen ist. Wie oft denke ich an jene Tage zurück, die mir mehr und mehr entrücken wie ein allzu schöner Traum. Und die Bilder, die wir miteinander betrachtet haben, kann ich so wenig vergessen wie die Freundschaft, die Sie und Ihre tapfere, liebe Frau mir gezeigt haben. Denken Sie auch noch mal an die heitere Stunde, die wir nach beendigter Bergwanderung in dem Gasthaus an der Draubrücke miteinander hatten? Und wir drei so lustig und übermütig wurden? – Ist das nicht traumhaft in dem Weltzustand, in dem wir uns befinden?

Gern wüssten wir, wie es Ihnen und den Ihren geht. Aber wie dürften wir auf derlei Nachrichten hoffen, wenn wir selbst so säumig sind. So wollen wir wenigstens von uns das Nötigste erzählen. Regelmäßige und gute Kunde haben wir von Itta und ihrer Familie aus Palma, während für unsere Japaner nur selten Gelegenheit ist, ein Lebenszeichen zu geben. Immerhin wurden wir zu Weihnachten durch ein kurzes, für uns dennoch inhaltsreiches Telegramm aus Kyoto erfreut, zum ersten Mal wieder seit August. Arnold haben wir das Glück drei Wochen lang bei uns zu sehen, nachdem er einen achtwöchigen

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Schiesslehrgang in Jüterbog beendet hatte. In den nächsten Tagen muss er wieder zurück an die Front bei Rschew. Was uns dabei bewegt, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Auch dieses Jahr wird wieder ein Jahr harter Kämpfe. Gebe Gott, dass es uns dem Ende des Krieges fühlbar näherbringt und den Sinn alles Geschehens deutlich macht. Wir wollen unterdessen viel an alle lieben Freunde denken, an alle, die es gut mit Leidenden und Gequälten meinen und uns stärken und aufrichten an den mutig und selbstlos Schaffenden, die den Schmerz bezwungen haben. Halten auch Sie fest an den großen Zielen Ihrer Arbeit und glauben Sie unentwegt an den Ihnen gewordenen Auftrag. Leben Sie wohl, mein lieber Freund, und empfangen Sie unsere herzlichsten Grüße. Immer Ihre Heinrich und Martha Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 4. Jan. 43

Meine liebe Frau Berg,

Eben habe ich einen Brief an Ihren Mann beendet, unterbrochen durch eine Stunde Luftalarm. Es ist aber gnädig vorübergegangen und so kann ich hoffen, dass ich heute Abend noch ungestört zu Ende schreiben kann. – Zu Weihnachten hätten wir auch den Kindern auf dem Rutarhof gern eine Freude gemacht. Aber alle Versuche, etwas für sie aufzutreiben, schlugen fehl. Es ist traurig, dass die Kinder so deutlich erkennen müssen, was die Zeit für Opfer verlangt. Dabei sind diese ja geringfügig gegenüber der Entsagung, die Sie selbst und die Kinder üben müssen, seit der Vater Sie hat allein lassen müssen. Wie oft denken wir an die übergroße Arbeitslast, die auf Ihren Schultern ruht, die Verantwortungs- und die Entschlusskraft, die Sie für den fernen Werner Berg aufbringen müssen. Und es war schon so viel, als er noch da war und mit allen Kräften mitarbeitete. Wie Sie es nur schaffen können? Ich denke oft an die glücklichen Tage, die Sie mir vor 1 ½ Jahren auf dem Rutarhof bereitet haben und nehme so an Ihrem Leben und Schaffen umso entschiedener Anteil. Ich sehe alles, was Sie umgibt, ich sehe Sie im Kreise Ihrer Kinder, die nun alle schon größer geworden sind, auch die kleine Annette. Und der Bub kann gewiss schon besser lesen und schreiben und alle, erst recht die großen Mädel müssen gewiss mithelfen, den Ausfall der väterlichen Arbeit zu ersetzen. Ich sehe Sie alle leibhaft vor mir und hege meine guten Wünsche für Sie und die Kinder, und besonders auch für den Vater, weit häufiger, als ich es Ihnen sage. Diese Zeit macht auch mich und meine Frau müde, nicht allein durch das große Maß täglicher Arbeit – meine Frau ist ohne häusliche Hilfe, ich selbst werde in der Schule und an anderen Stellen stärker beansprucht als in jungen

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Jahren – sondern durch die innere Bedrängnis, die Unruhe und Besorgnis, den Anteil an so viel Leid und Elend, die über die Menschen kommen. Jeder trägt sein Teil mit und Sie selbst, liebe Frau Berg Ihr volles Maß. Zum Zeichen unserer alten, unverminderten Zuneigung hat Ihnen meine Frau ein Buch mit Bildern von Pacher geschickt, an denen Sie selbst in kurzen Minuten innigen Anteil nehmen können, vielleicht dass auch die Kinder schon Freude an der Betrachtung mancher Bilder haben werden.

Lassen Sie mich auch von unseren Kindern erzählen, von denen wir so weit getrennt sind. Nur Arnold haben wir über Weihnacht und Neujahr bei uns gehabt. Er hatte seit 2 Jahren seinen ersten größeren Urlaub, den er schon im Oktober haben sollte, damals aber zu einem Lehrgang nach Jüterborg abkommandiert wurde! In den nächsten Tagen muss er nun wieder an die Ostfront zurückkehren. Von den Kindern aus Palma und aus Japan haben wir beruhigende Nachrichten, aus Spanien regelmäßig und ausführlich, von Sésée in Kyoto aber nur selten und kurz. Weihnachten traf ein kurzes Telegramm ein, das uns tief erfreute. Möchte dieses Jahr 1943 das Ende des Krieges bringen und Sie alle auf dem Rutarhof glücklich wieder vereinen. In herzlichem Gedenken mit den schönsten Grüßen an Sie und die lieben Kinder Ihre Heinrich und Martha Becker Rutarhof, den 04. I. 43 Liebe, verehrte Beckers!

Wollte ich Ihnen schreiben, was alles mich Ihnen mitzuteilen bewegt, dann könnte allzuviel Zeit bis dahin vergehen. So will ich Ihnen wenigstens auch im Namen meiner Frau für den überaus lieben Weihnachtsgruß und das wunderschöne Buch danken, das als ein Zeichen der Getreuesten bei meiner Heimkehr dalag.

Knapp zu Hl. Abend kam ich nach umständlicher Fahrt quer durch Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark heim, groß war die Freude auf dem Rutarhof. War das ein Wiedersehen mit meiner Frau, der einzig guten, tapferen, mit den Kindern, von denen jedes so lieb und echt ist, und – ja auch – mit den Bildern, die trotz allem standhalten! Der Droste „Carpe diem“ fiel mir ein, diese Stunden vor einer dunkel verhangenen Zukunft gilt es zu ergreifen. Bis Ende März bin ich auf „Dienstreise“, die eine Art Arbeitsurlaub darstellt. Ich muss wohl auch ausstellen, was ich mir lieber erspart hätte – eine Ausstellung der Arbeiten in einem Soldatenheim knapp hinter der Front (Anfang Dezember) machte sich übrigens gar nicht schlecht und hatte schönen Erfolg.

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Zuweilen stieß ich auf Bielefelder, die mich dann allemal besonders stark an Sie denken ließen. Ein etwas deftiger, aber sehr hilfsbereiter Drucker namens Fullert war bei meinem Divisionsstab als Kartenzeichner, in Kirkenes traf ich einen recht sympathischen Oberlt. Gieseking und in Rovaniemi einen Maler, der in Bielefeld gebürtig war, Kurt Kranz. Kennen Sie ihn? Er kommt merklich vom Gebrauchsgraphischen, Geschmacklichen her, kann aber handwerklich erstaunlich viel und ist ein feiner disziplinierter Mensch. Ein heute vergriffenes Norwegen-Büchlein sende ich Ihnen, das freilich durch die kleinen Wiedergaben nur schwach die Qualität der Blätter bezeugt.

Ein gutes neues Jahr wünschen wir Ihnen allen. Nehmen Sie für heute mit diesem Gruß vorlieb, der Ihnen nur sagen soll, dass Ihnen allzeit in alter Herzlichkeit und Freundschaft ergeben sind Ihre Werner und Mauki Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 9. Jan. 43

Mein lieber Werner Berg, gestern kam das Norwegenbuch, heute Ihr Brief, beides vom Rutarhof, beides von Ihrer eigenen Hand. Ich war nicht wenig überrascht, Sie plötzlich daheim zu wissen, nachdem ich noch vor wenigen Tagen einen Brief für Sie nach Norden unter Feldpost-Nr. 00691 geschickt hatte. Bei der weiten Hinund Rückreise wird er wohl erst spät vor Ihre Augen kommen und längst überholt sein. Dafür haben Sie aber den am gleichen Tag an Ihre Frau gerichteten Brief in Händen, der nun auch an Sie gerichtet gelten kann. Wie freue ich mich, und meine Frau auch, dass Sie wieder einmal zu Haus sind und lange bleiben können, zu Ihrer aller Freude. Wie werden alle auf dem Rutarhof glücklich sein, wie werden sie auf Schritt und Stimme des lieben Vaters horchen, wie werden Sie ihm alle Wünsche von den Augen ablesen! Und Sie, liebe Frau Berg, wie werden Sie beglückt und beruhigt sein, den Mann endlich wieder bei sich zu haben! Nun wird auch Ihnen einmal wieder Erleichterung, nun brauchen Sie nicht mehr allein über alles in Haus und Hof zu wachen. Nun dürfen Sie einmal, wenn auch vorübergehend, die Hände ruhen lassen und dem guten Werner Berg zuhören, wenn er von seinen Erlebnissen im fernen Norden erzählt. Wie gut, dass ich einmal bei Ihnen war. Seitdem sehe ich Sie und alles, was Sie umgibt, wie mit leiblichem Auge, sehe die Kinder, die großen und kleinen, am Vater hängen, mit ihm spielen und jagen, sehe sie glücklich, wie in den schönen Sommertagen damals.

Wunderbar, mein lieber Freund, dass Sie lange dieses Glück genießen können, drei Monate! In diesen Zeiten kaum auszudenken, jetzt wo wir gewöhnt

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sind, den nächsten Tag ins Auge zu fassen, allenfalls die nächsten Tage, während die fernere Zukunft in vollkommenem Dunkel entschwindet. Ganz besonders erfreut mich, und meine Frau nicht minder, dass Sie auch an Bielefeld denken und wir auf Ihren Besuch rechnen können. Ihre Frau mit? Das wäre fein! Und dann bringen Sie auch was zu sehen mit?! Altes und Neues, wollen Sie gern etwas verkaufen? Jetzt geht das leichter als sonst. Könnten Sie das Bild hier einmal zeigen, das ich seit meinem Besuch im Sinne habe; jene Landschaft an der Drau, wenige rote Dächer vorn am Ufer, dahinter aufragendes, steiles Gebirge, oben nackt und unten bewaldet. Hochformat, von märchenhafter Stimmung. Das sähe ich gern einmal wieder. Und dann natürlich das Neue. Aquarelle, Zeichnungen und dergleichen lassen sich doch leicht schicken oder im Koffer mitführen. Oder muss alles auf Ausstellung? Was Sie selbst machen, ist mir mehr wert als so vieles andere. Dennoch haben Sie auch Dank für das kleine Aquarellbuch eines anderen, nun gar eines Bielefelders, den ich nicht einmal kenne. Es gab einen jungen, feinsinnigen Maler Kranz, der vor wenigen Jahren voreilig gestorben ist. Ob es wohl ein Bruder desselben ist?

Ihr Brief war mir noch mehr als sonst. Ich fühle mich durch ihn Ihnen wieder ganz nahe. Und was gibt es Schöneres in dieser an Liebe so armen Welt! Dank für jedes gute Wort, das von Ihnen kommt. – Meine Frau will fortfahren. Ich höre drum auf und grüße Sie, die liebe Frau Berg und alle Kinder von Herzen,

Ihr Heinrich Becker

Martha Becker

Ja, liebe junge Freunde, das ist eine große Freude, Sie zusammen zu wissen, und dass von jetzt ab Sie es leichter haben, liebe Frau Berg, nachdem Sie so tapfer waren. Und wie werden Sie es genießen, Ihr eigener Herr zu sein, ohne Vorgesetzten zu walten und zu arbeiten, wie und was Sie wollen. Sie waren lange ohne Brief von uns, die Gedanken gingen aber oft zu Ihnen. – Durch unsere Sorgen und Bedrängnis bleibt so vieles unausgesprochen, ungetan. Dieses große Sterben, die Not so vieler Menschen lassen mir keine Ruhe und alles ist mir ein Rätsel. – Warum muss es geschehen?? Aber nein, Sie haben am Rutarhof die Kinder um sich, die Natur, die Sie von allem trennt – genießen Sie es voll und leben Sie dieses schöne Leben, wenn es auch voll Arbeit ist. – Unser Junge war hier und ist leider wieder unterwegs nach Rschew zu seinen Kameraden. Es war eine schwere Trennung. – Und das leere Haus wartet auf Gäste. Kommen Sie, wir werden uns mächtig freuen, nur etwas vorher

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anmelden, dass wir uns nicht verpassen. Es wäre zu schade. Vielleicht wissen Sie Antworten auf die quälenden Fragen, die vom Herzen steigen, unaufhörlich. – Haben Sie Dank für Ihre Grüße, es ist alles so klar und groß, was Sie uns sagen und das ist für uns schon Trost und wir haben Zuversicht für Ihr Leben und Schaffen und Ihre Zukunft.

Groß und Klein sage ich herzliche Grüße, Ihnen beiden aber ganz besonders

Ihre M. B.

Martha Becker, 3. März 43

Liebe Freunde, die Anzeige von Ihrer Ausstellung in Klagenfurt macht uns große Freude. Wir wünschen Ihnen, lieber Herr Werner Berg, schöne Erfolge und dass alle Menschen von Ihrem Werk erfreut oder ergriffen werden. Das letzte am besten! Nur ist schade, dass wir sie nicht sehen können, was wir so gern täten. Aber vielleicht hören wir davon oder bekommen auch den Katalog. Wie lange sind Sie am Rutarhof? Werden Sie zu uns kommen? Es wäre herrlich! 1000 schöne Grüße und Wünsche von Ihren Beckers

Rutarhof, 7. März 43

Liebe, verehrte Beckers!

Von Herzen Dank für Ihren Gruß. Sie sind uns nah, wir Ihnen treu wie nur je, aber zum Schreiben komme ich jetzt nicht und überlege sehr, wie ich mit der Zeit zurechtkomme.

Wirklich leid tut mir, dass Sie die Klagenfurter Ausstellung, die das ganze, recht gut umgebaute Künstlerhaus füllt, nicht sehen können, die Arbeiten bieten sich schöner dar, als man es je sich hätte wünschen können. Kaum begreife ich selbst, dass es so kam – dabei ohne jede Konzession.

Weil ich weiß, in wie schöner Weise Sie stets Anteil nehmen an unserem Ergehen, lege ich eine Besprechung bei. Der Meinen wegen freue ich mich wohl einen Augenblick über die gebesserte Lage (meine Frau hat freilich ihre liebe Plage wie nur je), denke aber im Ernst nur daran, wie unendlich viel noch zu tun ist und welcher Gnade es bedürfte, das Leben nicht vertan zu haben. Abends fahre ich auf Stunden zu Josef Weinheber. Er ist zu mir von wunderbarer und rückhaltloser Herzlichkeit. Hoffentlich sehen auch wir uns noch.

Leben Sie wohl und seien Sie in aller und alter Herzlichkeit gegrüßt von Ihren Bergs

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Rutarhof, den 2. Mai 43 Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Mai – und noch auf dem Rutarhof, das wird Ihnen merkwürdig vorkommen, ist es mir selbst doch kaum begreiflich. Nachdem zuletzt mein Arbeitsurlaub bis zum letzten Apriltag verlängert wurde, bekam ich nun noch ein Telegramm, dass ich bis zum 15.5. bleiben könne. Noch ist es mir rätselhaft, wieso mir das geschah, – aber gefreut haben wir uns gehörig darüber. Denn so kurios es klingt: bisher sind wir noch nicht zur Besinnung gekommen.

Die ganze Zeit über hatte ich auch geglaubt, eines Tages vor Ihrer Türe zu stehen. Daraus wurde und wird nun leider nichts. Doch bitte ich Sie inständig zu glauben, dass meine Gefühle für Sie die alten, ungemindert herzlichen sind – aber das ist wohl selbstverständlich, auch wenn ein allzulanges Schweigen und dürftiges Schreiben dagegenspricht.

Die Klagenfurter Ausstellung, die bis Mitte April verlängert wurde, ist nun auch abgehängt, es gab damit mancherlei Arbeit und Aufregung, auch Neid und Missgunst schossen steil empor – aber im Ganzen war’s doch ein merkwürdig starker Erfolg, dabei ohne jede Konventionalität oder gar Liebedienerei. Die Gauleitung kaufte 12 Arbeiten, die Albertina in Wien kaufte auch, und an Private hätte ich mit einem Schlag den ganzen Laden loswerden können. Das heißt heute nicht viel – aber es tut doch ganz gut.

Mit der Frühjahrsbestellung sind wir noch ganz gut zurechtgekommen, obschon alles so unglaublich erschwert heute ist, am meisten durch die Hypertrophie des Bürokratismus. Pacher und Andreas sind noch da, Nani ging zu Neujahr (ihr einziger Bruder fiel), dann haben wir statt ihr und des Gefangenen zwei Russinnen, die recht brav sind. Die Oma ist auch wieder bei uns, und obschon nun gealtert und an einer starken Bronchitis augenblicklich leidend, doch noch eine liebe und beachtliche Hilfe. Die Kinder sind alle gesund und unsere stete Freude. Die Ursi, kindlich und bescheiden wie je, ist schon ein rechtes Längsel und Annette, die morgen 3 Jahre alt wird, ist ein überaus lustiger und rotwangiger Strick. Nach schier endloser Trockenheit ging der ersehnte Regen nieder, und im saftigen Grün und vollen Blühen ist die Welt hier unendlich schön, sodass man der Menschen Wahnwitz oft und gern drüber vergisst. Was hülfe auch das Denken, es sei denn, ohne Furcht dem Furchtbaren entgegenzusehen. Ein großes Lebensereignis brachten uns diese Wochen, das war der Besuch Josef Weinhebers und seiner Frau, die sich auf dem Rutarhof sehr wohl fühlten. „Ça fut une fête perpétuelle“, wirklich es war ein unaufhörliches Fest der Kunst im Zeichen eines königlichen Geistes und leidenschaftlicher Schöpfer -

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kraft. Für mich bedeutet es Gewinn und Verantwortung zugleich, dass er in absoluter Freundschaft zu mir steht, im Leben wie in der Kunst. Er will sich nicht davon abbringen lassen, mir sein großes neues Werk über die Sprache, das voll meisterhafter Lyrik und zugleich eine Art Poetik ist, zu widmen. Das freilich habe ich nie verdient.

Dem Briefe lege ich einige Fotos – nicht besonders gute und auch zu wenige bei, die Ihnen doch ein wenig Vorstellung von der Arbeit des vergangenen Jahres geben mögen. Vor ein paar Tagen erfuhr ich von einem Feuilleton des Münchner Völkischen Beobachters vom 11.4., in dem sich Dr. Bauer mit Macht für mich ins Zeug legte, auch das erfreulicherweise ohne die üblichen Konzessionen. Leider bekam ich selbst keine Belegexemplare. Auch die Fotos sind nicht mein Eigentum, ich bat sie nur einige Tage aus und muss Sie – leider und recht unhöflich – um baldige Zurücksendung bitten.

Unsere innigsten Wünsche für Ihr Wohlergehen gelten gleicherweise Herrn Arnold und Ihren Frau Töchtern in weiter Welt. In herzlicher und treuer Ergebenheit grüßen Sie Ihre Werner u. Mauki Berg u. Kinder

Brief Mauki Berg, 6. Dez. 43 Liebe, verehrte Frau Dr. Becker!

Ihren lieben Brief, für den ich Ihnen von ganzen Herzen danke, muss ich Ihnen nun doch ganz kurz beantworten, ich wollte Ihnen so gerne einmal ausführlich schreiben, aber ich habe so wenig Zeit. Die Wirtschaft ist grausam in ihren Anforderungen und wir sind so zurück mit der Arbeit. Es war in diesem Jahr sehr schwierig. Sie wissen also nicht, dass mein Mann seit Anfang Mai wieder in Nordkarrelien ist – er hat noch dieselbe Feldpostnummer – 00611. Dann wissen Sie auch nicht, dass sein Vaterhaus total zerstört ist und dass seine Schwester bei dem schrecklichen Angriff ums Leben gekommen ist. Wie oft denke ich an Sie und Ihren lieben Mann voll Sorge, der Himmel möge Sie vor einem solchen Schicksal bewahren!

Ich habe mich jetzt aus mehreren Gründen, von denen jeder eine genügen müsste, um die Freistellung meines Mannes bemüht, aber es ist derzeit gänzlich ausgeschlossen, jemand freizubekommen. Nun hoffe ich, dass es mir gelingt, wenigstens einen längeren Urlaub zu erwirken. Dann schreibe ich aber ganz bestimmt einmal ausführlicher. – Wie lange wollte ich das schon tun! Es wäre schön gewesen, wenn Sie im Sommer gekommen wären!

Ihnen und Ihrem lieben Mann viele, herzliche Grüße und ganz von Herzen gute Wünsche von Ihrer Mauki Berg

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Auf der Fahrt, 13. XII. 43

Liebe, verehrte Beckers!

Über den rollenden Rädern schreibt’s sich nicht gut, aber so innig gern denkt man der Lieben und Freunde, denen Sie näher führen. Vor Stunden stieg ich in den Zug, der die längste Nord-Süd-Strecke des Landes befährt. Wenn es gut geht, bin ich noch zu Weihnachten auf dem Rutarhof, woran ich vor wenigen Tagen noch nicht denken konnte. Post kam seit Wochen wieder keine, nur ein vereinzelter Brief erreichte mich nach einiger Irrfahrt und in ihm war von Ihnen die Rede, von der Freude über Zeilen von Ihnen. Das treue Wort der Freunde, noch so selten, scheint wie ein Leuchtfeuer her, das kündet: hier ist noch festes Land, das du einst wieder betreten kannst, wenn diese wilde Fahrt vorüber ist.

Unbegreiflich bleibt mir, dass ich Ihnen so lange nicht schrieb. Seien Sie versichert, dass Sie nie aus meinem Bewusstsein ausgelöscht waren, nur verlernt man das Reden, wo man doch alles darum gäbe, den Freunden nah zu bleiben. Sicher hat Ihnen meine Frau einiges erzählt von den 7 Monaten, die ich wieder draußen bin ...

Martha Becker, Bielefeld, 19. Dez. 43

Lieber Herr Werner Berg, durch Ihre Frau haben wir endlich Nachricht von Ihnen und wir wollen gleich zu Ihnen nach dem hohen Norden, um Ihnen unsere Grüße zu sagen und noch mehr. Wir sind recht betroffen, dass während Sie fort sind von Ihrer Familie, in Ihrer Vaterstadt das grausame Schicksal Ihnen so viel geraubt hat und Ihre Schwester das Opfer dieser Zeit geworden ist. – Wir leiden sehr stark unter dem täglichen grausamen Geschehen, dass solche Taten erlaubt, vollbringt und nicht halt macht vor der Unschuld unserer Kleinsten. Ist es überhaupt erdenklich, dass Menschen das tun können? Keine Minute habe ich Ruhe, keine Minute kann ich den Wahnsinn der Menschheit begreifen. – Der Gegensatz dazu ist Weihnachten – Christus – Gott! – Die Hirten wanderten zum Wunder hin! Wir wünschen, in den einsamen, stillen Nächten des Nordens möchten Sie auch etwas vom Wunder erleben, Ihr Künstlerherz, Ihr gutes Herz sich füllen mit Eindrücken und Sie können den Menschen etwas davon wiedergeben. Wie arm sind alle Menschen, die nicht nach innen schauen, die nicht Musik lauschen und mit der Ewigkeit verbunden sind. – Schreiben Sie uns bitte bald, kurz, nur dass wir von Ihnen hören.

– Sobald die Päckchensperre aufhört, schicke ich Ihnen etwas. – Hier geht

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das Leben gefährlich, bedrohlich weiter. Arnold lebt noch, Gott sei Dank, ist in dem gefährlichen Pripjetsumpfgebiet und macht Schweres mit. Es war ein Jahr, das ungeheuer viele Opfer forderte. Was kommt nun in 44? Noch mehr? Oder kommt endlich ein Besinnen??

Ihnen aber wünschen wir Kraft, Gesundheit, Vertrauen um zu Schaffen für die Kunst und auf dem Rutarhof, der so wohlgeborgen in den Händen Ihrer Frau auf Sie hofft und wacht. Mögen Sie bald wieder dort sein und mögen wir bald Antwort von Ihnen erhalten. Wir denken viel an Sie, die Zeit macht uns oft verstummen, wir sprechen ja lieber eine andere Sprache nicht nur wörtlich genommen.

Sincères et fortes amitiés vos vieux amis Henri et Martha Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 30. Dez. 43

Lieber Herr Werner Berg, da wir seit dem Frühjahr von Ihrem weiteren Schicksal nichts wussten und erst vor kurzem durch Ihre Frau erfuhren, dass Sie wieder an die alte Stelle in der eisigen Nordwelt zurückgekehrt sind und noch unter der gleichen Feldpostnummer zu erreichen sind, wollten wir gerade das kleine Inselbuch mit Briefen Hölderlins an Sie abschicken, da kam die Nachricht, dass Sie auf dem Rutarhof erwartet würden. Nehmen Sie es denn zu Haus für eine Stunde in die Hände, falls Ihnen Zeit zum Lesen bleibt. Denn ich sehe wohl, Sie werden viel Arbeit vorfinden und Ihrer Frau, die so lange für zwei und vielleicht mehr hat arbeiten müssen, die Last erleichtern wollen. Die Kinder, die in der Zwischenzeit schnell gewachsen sind, und die kleinen am allermeisten, wollen den heimkehrenden Vater auch für sich haben. Das Zusammensein mit Ihnen allen wird Sie nun für einige Zeit glücklich machen, hoffentlich für lange. Auch Ihre Mutter vermute ich bei Ihnen, nachdem sie, wie wir erst vor kurzem durch den Brief Ihrer Frau hörten, in Elberfeld alles verloren hat. Mit Trauer denken wir auch an Ihre Schwester, die bei dem schweren Fliegerangriff umgekommen ist. Der Krieg führt harte Schläge, nun auch gegen die Zivilbevölkerung, und unser Schicksal beginnt immer mehr dem der Frontsoldaten ähnlich zu werden. Immerhin bleiben wir wenigstens zu Haus, solange wir es noch haben und führen zuweilen ein Leben, als wenn kein Krieg wäre, gehen ins Theater, hören Musik, verrichten unsere tägliche Arbeit und warten und hoffen. Aber man sieht kaum noch über den nächsten Tag hinaus,

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steht immer vor einer unübersteiglich hohen Wand, in der es kein Tor gibt, das sich auftun könnte. Von Kindern und Enkeln sind wir weit entfernt, leben aber in Gedanken fest verbunden mit Ihnen. Selbst aus Japan kommen, wenn auch spärlich, beruhigende Nachrichten an. Itta lebt jetzt in Madrid und freut sich ihres heranwachsenden Kindes. Arnold, nun bald 7 Jahre lang Soldat, ist immer an der Front im mittleren Abschnitt. So haben wir Weihnachten völlig zurückgezogen verbracht, ich selbst habe durch mehrfache Tag- und Nachtbrandwachen in der Schule die Tage gekürzt.

Gern hörten wir nun, was Sie inzwischen unter den Soldaten erlebt haben. Sind Sie in Ihren Arbeiten gut vorangekommen? Und bringen wieder viele schöne Dinge mit heim? Wie scheint es mir fern, dass ich Sie sah und mich an Ihren Bildern erfreute! Wie gern denke ich an die guten Tage bei Ihnen, zwischen Ihren Kindern, mit so viel Freundlichem umgeben von Ihrer lieben Frau. Kann das je wiederkommen? – Schreiben Sie auch, wie Sie die Verhältnisse daheim wiedergefunden haben. Der Obir steht gewiss noch und die Drau und die Vellach singen noch ihr ewiges Lied. Aber die Menschen! Was haben sie aus sich gemacht!

Aber Sie, seien Sie froh, genießen einen langen Urlaub, glücklich mit Frau und Kindern vereint, mit guten Menschen an einem Tisch zu sitzen ist schön und tröstet über vieles hinweg.

Grüßen Sie die Ihrigen, unsere besten Wünsche geleiten Sie alle ins neue Jahr. In alter Herzlichkeit Ihr Heinrich Becker

Liebe junge Freunde, glücklich mit Ihnen über die Rückkehr auf den Rutarhof. Schöne Tage als Vorboten des neuen Jahres, das nun endlich Frieden auf Erden werde. Einen Brief hatte ich nach Karelien zu Weihnachten geschickt. Herzliche Grüße Ihnen allen von Ihrer M. B.

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1944 „Tief berührte mich die Nachricht vom Tode Edvard Munchs, der vor kurzem 80 Jahre alt wurde. Wo wäre weitum in meiner Disziplin ein Souverän wie er, kühn und bewegend durch sechs Jahrzehnte!”, schreibt Berg an Weinheber. Ausstellung der Bilder Werner Bergs aus Norwegen und Finnland in der Galerie Welz in Wien. „Es sind Bilder, die, fern vom menschlichen Waffenlärm, den tiefen Frieden der ewigen Natur atmen”, schreibt eine Wiener Zeitung Werner Berg arbeitet im letzten Kriegsjahr vorwiegend mit Ölfarben auf Papier.

Jahre nach dem Krieg, als er diese Werke verschollen glaubte, schreibt er darüber: „Hier handelte es sich außer ein paar Aquarellen und Zeichnungen insbesondere um ‚Öl auf Papier’ Arbeiten, die unter dramatischen Umständen oft auf dem Rückzug durch Nordnorwegen entstanden waren und an künstlerischer Kraft und in einer hochinteressanten Thematik alles andere weit hinter sich ließen. Sooft ich in diesen Jahren mit Sehnsucht an diese, ganz und gar außergewöhnlichen Arbeiten dachte, handelte es sich stets um diese Blätter, die ich für spätere Zeit so gern einmal zur Grundlage neuer, größerer Arbeit machen wollte.”

KJELBERTINDEN,
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1944

Rutarhof, den 1. Jänner 44 Liebe, verehrte Beckers!

Wieder blieb ein angefangenes Blatt in der Meldetasche und nun ist schon das neue Jahr da. Aus seiner Morgenfrühe grüße ich Sie mit den stärksten Wünschen.

Ja, es war schön heimzukommen, kaum vermag ich zu fassen, dass ich nun (voraussichtlich bis 25. II.) mit den Lieben allen für eine Zeit wieder vereint sein soll, die trotz aller Schinderei gesund sind. Die Echtheit dieser kleinen Welt rührt mich tief, das wäre schon noch in Ordnung, und über die andere lassen Sie mich schweigen. In der Wirtschaft schaut es nicht zum Besten aus, und der hiesige Zustand der öffentlichen Sicherheit verdient nur eine Bezeichnung: Wildwest. Doch wer wäre heute noch geborgen über der Erde?

Sie immer gleich verehrte Freunde möchte ich nicht noch länger auf ein Zeichen warten lassen und bitte Sie, mit dem allzu kurzen einstweilen vorliebzunehmen. Ich stehe vor der Fahrt nach Wien (bzw. Kirchstetten), da mich Weinheber telegrafisch zu kommen bat. Danach werden Sie mehr hören.

In alter, herzlicher Ergebenheit bleiben wir Ihre getreuen Werner und Mauki Berg und Kinder

Rutarhof, den 1. Feber 44

Liebe, verehrte Beckers!

So ein schlechtes Gewissen habe ich über meine allzu dürftige Schreiberei, – da kommen schon wieder herzwarme Zeilen von Ihnen. Wie muss es mich, muss es uns stärken zu erfahren, dass inmitten aller Vernichtung Liebe und Freundschaft unzerstörbar sind. Haben Sie von Herzen Dank für Ihren Zuruf, für die treue Stetigkeit und Größe Ihrer Gesinnung.

Tief berührte mich die Nachricht vom Tode Edvard Munchs. Ich dachte an Sie. Wo weitum wäre noch ein Souverän gewesen wie er, frei, kühn und selbst! Es ist, als versänke, einmal noch aufragend, nun endgültig ein ganzes Zeitalter. Es war sehr still geworden um Munch, wie es um wahre Größe in dieser Zeit einfach still werden muss, aber auch ohne Nachrichten wussten wir, dass kein Junger jung war wie dieser Achtzigjährige. Ich weiß noch gut, wie vor Jahren ein nicht dummer Besucher der Biennale meinte: Unmöglich sei es zu denken, dass je ein Gauguin, van Gogh oder Munch gelebt habe. Aber die Saat wird hervorbrechen nach dem großen europäischen Katzenjammer und alles, was groß getan, wird groß fortwirken, weit über Mode, Doktrin und Mache hinaus.

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Sehr schön waren die Tage bei Josef Weinheber, der auf seine einmalige, wirklich rätselhafte Weise noch Künstler voll Urkraft ist: breit im breiten Volk und einsam unter den Einsamsten, ein Herz, das überströmt von Musik, und ein nicht nur geheimes Wissen um die Grundtiefe mathematischen Gesetzes. Für Weinheber war es ein schwerer Schlag, dass ihm in Leipzig 80000 Exemplare seiner Gedichtbände verbrannten. Sein neues, inzwischen sehr ausgewachsenes Werk („Hier ist das Wort“), dem er unbegreiflicherweise die Widmung an mich vorangestellt hat, ist abgeschlossen. Es waren Verhandlungen über die Drucklegung in Schweden im Gange, doch erscheint mir deren Erfolg bei der Art der derzeitigen Beziehungen sehr fraglich. Zur Zeit bin ich sehr angehängt durch die Vorbereitung einer Wiener Ausstellung, die ich lediglich im Hinblick auf meine Kriegsmaler-Rolle organisiere, – für später habe ich keinerlei Ambitionen nach außen mehr und möchte, sofern es nur eben geht, nur für mich und ohne jede Konzession arbeiten. Darauf richte ich meinen Sinn, gefasst natürlich wie ein jeder von uns, dass alles sehr plötzlich ausgelöscht sein kann. Nächste Woche muss ich wieder nach Wien, am 25. II. müsste ich normalerweise wieder nach Lappland fahren, hoffe aber – nicht zuletzt auch wegen der Frühjahrsbestellung – auf Verlängerung. Oben wird Lage und Verbindung durch die jüngsten Operationen äußerst kritisch.

Die Menschen sind jetzt auch hier sehr verstört. Der Angriff am 16. Jänner kann sich wohl mit den dortigen kaum vergleichen, aber die Opfer waren unverhältnismäßig große. Zum Glück waren die Kinder mit der Großmutter an diesem Sonntag nicht in Klagenfurt, wo diese nun auch ihren provisorischen Unterschlupf verlor. Gestern, kurz vor Mittag, an einem leuchtend schönen Wintertag, rauschten silberschimmernd wieder Wellen auf Wellen von Bombern über den Hof weg, bald hörte man die schweren Detonationen von Klagenfurt her und Rauchwolken verdeckten die weißen Berge. In der Stadt selbst sollen diesmal die Schäden geringer gewesen sein. Kein Flakschuss, kein Jäger. Auch kein Wort im Wehrmachtsbericht. „Bomben und Banditen“, – das klingt wie die Überschrift eines billigen Schmökers und ist doch nur die Tatsache des hiesigen Lebens. Trotz allem genießen wir diese Frist, noch einmal miteinander zu leben, wie ein einziges Fest.

Heiß fällt mir auf die Seele: habe ich mich schon für das Bändchen mit den Hölderlin-Briefen bedankt? Es macht mir große Freude und soll mit wenigen anderen Dingen mir ein teurer Begleiter auf der weiteren Kriegsfahrt sein. Ich las übrigens eben das Gedenkbuch der Hölderlin-Gesellschaft. Es stehen so gescheite Dinge drin, und doch vermag ich mich für diese Art versessener Buchstaben-exegese nicht zu erwärmen. Die exerzierte zwar auch ein Norbert

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Hellingrath – dennoch trennt die Universitätsprofessoren von diesem eine astronomische Distanz.

Endlich danken wir Ihnen für das Anerbieten Ihrer Freundeshilfe. Wir wissen, wie es gemeint ist, und nehmen es so, nähmen es auch ganz und ohne Bedenken in Anspruch, sofern es die Not geböte. Sie aber müssen Ihrerseits wissen, dass wir dann auch für Sie uneingeschränkt und mit Freuden da sind.

Gesundheit Ihnen und Ihren Lieben allen! Für heute nur viele Grüße der Freundschaft und Anhänglichkeit

Ihrer getreuen Werner u. Mauki Berg

12. April 44

Liebe verehrte Beckers!

Ihre schönen Zeilen durfte ich noch zu Hause erhalten. Ich hatte mich aufs äußerste bemüht, in dem so wichtigen Bestellungsmonat April noch meiner so überlasteten Frau zur Seite stehen zu können, es ist mir nicht gelungen. Zu der Zeit war meine Frau noch nie allein und überdies ist das Leben auf dem Hof in einem Maße bedroht und gefährdet, das wir nie für möglich gehalten hätten. Schutzlos ist man den Banden preisgegeben, und mancher hat schon dran glauben müssen. Meine alte Mutter ist jetzt ganz bei uns, da ihre Klagenfurter Zuflucht nach den dortigen Bombenangriffen auch unbewohnbar wurde.

Am tiefsten und teuflischsten hat in unser Leben aber der Überfall auf Ursi und Klärchen eingeschnitten, dem sie zum Glück noch heil entkamen. Diesmal waren nicht die Banditen im Spiel, aber wir konnten und durften die Mädchen nicht mehr ihren altgewohnten weiten Schulweg machen lassen. Inzwischen sind sie in KLV-Lagern untergebracht und, wie ich glaube, gut untergebracht. Auch sie hätte ich so gern noch einmal besucht.

Aber auch Ihrer Einladung hätte ich allzu gern Folge geleistet, doch der Weg von Kärnten nach Danzig ließ sich beim besten Willen nicht über Bielefeld nehmen. Hier vergehen nun – die Verschiffung steckt aus Gründen, die sich nicht schreiben lassen – die Tage vor, zu und nach Ostern in der ödesten Kasernenstickluft einer 50-Mann-Bude zwischen dauerndem Antreten, Dienst und Warten ohne Bewegungsfreiheit. Ich wollte, ich könnte die Gedanken an meine Lieben abstellen, zu denen es mich mit unheimlicher Gewalt zieht, und bei denen ich jetzt allzu notwendig wäre. Die Maschine Barras wurde mir nur fremder immer.

Da wird Ihr Arnold einen anderen Soldaten darstellen, ich wünsche ihm und Ihnen allen recht schöne Urlaubstage. Zu erzählen habe ich noch, dass in

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Wien eine Ausstellung ausgewählter Arbeiten aus dem Norden hing und diese Woche noch hängt, die gut wirkte und aufgenommen wurde. Immerhin hatte sie mit den üblichen Klischees der Kriegsmalerei nicht das Mindeste zu tun. Im Zusammenhang mit einer großen Heeresausstellung gab es Aufregungen, von denen ich später einmal zu erzählen habe.

Die Kunst, die uns allen heilige! Ich habe nie vergessen, dass sie dieses Leben erhöhen, seine Grenzen einreißen sollte. Noch ist es nicht zu spät, aber ohne Gnade ist die Flut der wahnsinnigen Zerstörung bald nimmer einzudämmen. Die Zeit höhnt der Auferstehung, in Wirklichkeit ist es umgekehrt. „Bezwing die Zeit, um Mensch zu sein!“

Aus dem Trubel der Kaserne, die mich zu keiner Besinnung kommen lässt, wollte ich Ihnen nur einen Gruß schreiben. Wohl weiß ich, dass auch Ihnen Zeit und Denken zerrissen ist. Aber wenn es hin und wieder zu einem noch so kurzen Gruß langt, dann machen Sie mich damit glücklich, die Freundeszeichen werden die einzig lichten Augenblicke nun wieder für lange Zeit sein.

Gesundheit Ihnen und allen Ihren Lieben!

In aller alten Herzlichkeit grüßt Sie

Ihr treuergebener Werner Berg

Martha Becker, Sonnabend 25. May 44

Liebe junge Freunde,

Ihr so schöner, lieber Brief ist noch unbeantwortet. Seien Sie nicht böse. –Wir kommen zu keiner Sammlung bei dem jetzigen Leben. … Die kostbare Zeit wird uns durch den Krieg entzogen, man kann so schwer das eigene Leben führen – was auch so wichtig ist. – Unser Arnold kommt bald auf Urlaub, so sind wir ein paar Wochen die Sorge der letzten Monate los. –

Wir sprechen so oft von Ihnen, denken oft an Sie alle. Das sollen Sie sicher sein und diese raschen Zeilen bringen Ihnen Grüße – Ostergrüße auch! Heute morgen scheint die Sonne so dunkel. – Die Natur bescheint den Menschen mit seiner ungeheuren Grausamkeit. So viel Böses, Teuflisches hat die Welt auf einmal nicht erlebt! Man möchte das Gegengewicht an Liebe, Güte usw. – Im Christentum – dem wahren – liegt’s schon!

Immer herzliche Grüße so und in Gedanken

Ihre H. u. M. Becker

198 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

7. Sept. 44

Hölderlin: „Man hat sich selbst und wenige Einzelne, und es ist auch schön, in sich selbst und wenigen Einzelnen eine Welt zu finden. Und was das Allgemeine betrifft, so habe ich einen Trost, dass nämlich jede Störung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder neuer Organisation führen muss. Aber Vernichtung gibt’s nicht, also muss die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wiederkehren.“

Van Gogh: „Weißt du, was den Käfig verschwinden lässt? – Jede ernste, tiefe Neigung, Freundschaft, Brüderlichkeit, Liebe. Das öffnet den Käfig mit übermächtigem Zauber.“

Meine lieben, verehrten Beckers!

Zufall war das nicht, dass ich nun, unmittelbar vorm Aufbruch ins Ungewisse, auch noch Ihr kostbares Freundeszeichen empfangen durfte. Von ganzem Herzen Dank für Ihr treues Gedenken und das hochwillkommene Bändchen, das zur rechten Zeit an die Stelle der ältesten, von Kurt Sachsse übernommenen Ausgabe, die mir gestohlen wurde, tritt.

Habe ich zu lange geschwiegen? Sie verzeihen es. Immer waren Sie mir da als eines der Elemente des Daseins. Nun sind sie alle um mich, die guten Geister: die geplagten, doch gottlob gefunden Lieben daheim, Weinheber in alter Herzlichkeit, doch bös zerschunden und Walter Bauer, der als Leutnant (!) in Italien steht, die edle Semmelrock und wahrhaft zuletzt nicht Sie, die ich nie vergaß und deren lauterste Treue ich einmal nur erwidern zu können mir wünschte.

Auf geht’s! Nun hat es auch uns heroben erwischt und der Schein eines trügerischen Beharrungszustandes muss, längst geahnt, bezahlt werden. Jenseits von Feigheit, wie Rausch, bitte ich den Himmel, Sie zu beschützen und uns ein Wiedersehen bei besseren Planeten zu gönnen.

In alter, treuer Freundesergebenheit Ihr Werner Berg

12. Dezember 44

Liebe, verehrte Freunde!

Kein Wort, das sich nicht von selber sagte, kein Wunsch, der sich nicht von selbst formte – Sie sollen nur wissen, dass am Weihnachtsfest meine Gedanken auch zu Ihnen gehen, in denen sie immer da sind als ein Stück verlässlichster Treue, die das Leben schenken konnte.

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Bei unstetem Herumziehen und großer Ungewissheit geht es mir gut, ich lebe und glaube an das Leben, am äußersten Rande mehr denn je. Alles das Furchtbarste, ist Prüfung, dass wir, unzulänglich, nicht zu bestehen vermöchten, der Schmerzen ärgster.

Das Land ist fremd, fremder der Rock, bei Tag und Nacht sucht das Herz die Heimat – Gott schütze sie und die bedrängten Lieben! In das Stoßgebet aller Stunden sind auch Sie eingeschlossen, und zur guten Stunde des Christfestes erfülle Sie der Frieden, der nur in des Menschen Brust geboren wird.

In herzlichem, dankbarem und treuem Gedenken grüßt Sie, liebe, verehrte Freunde Ihr Werner Berg

1945 Im April besucht Werner Berg Edvard Munchs Schwester Inger in Ekely. „In den letzten Tagen des unseligen Krieges, im April 1945, kam ich durch Oslo. Sobald ich mich freimachen konnte, fuhr ich nach Sköyen hinaus, um Ekely zu sehen, die Stätte an der Edvard Munch im Alter gelebt und gearbeitet hatte ... Ich erfuhr nur, dass Inger Munch noch lebte, die Schwester und Vertraute des Künstlers, und ich besuchte sie, deren Gestalt mir gleich aus manchem Bilde in Erinnerung trat. Nie werde ich diese Begegnung vergessen, über der in einer brüchigen Welt und jenseits apokalyptischer Tage etwas vom Zauber eines würdigen Europas lag, fern wie Beschwörung und Verheißung zugleich.”

Josef Weinheber, der Freund, wählt vor den heranmarschierenden russischen Truppen den Freitod. Der Bruder Walter, der letzte Lebende der Geschwister, wird in der Kriegsgefangenschaft bei einem Fluchtversuch erschossen.

Nach Kriegsende kommt Werner Berg in ein Internierungslager in Hamar in Norwegen. Im Herbst kehrt er wieder auf den Rutarhof zurück: „Bei meiner Heimkehr durfte ich meine Frau auf dem Rutarhof wiederfinden, die mit unerhörter Beharrlichkeit unsere fünf Kinder und den Hof über die Notzeiten hinweggebracht hatte. Wir standen vor dem Nichts”

Werner Berg bekommt, da deutscher Staatsbürger, vorerst das Heimatrecht in der Gemeinde Gallizien verliehen. Im November 1945 schreibt er sein Einbürgerungsansuchen. Der junge Dichter Michael Guttenbrunner setzt sich zusammen mit Johannes Linder, Kulturreferent der Landesregierung, unermüdlich für Werner Bergs Belange, vor allem für seine Einbürgerung, ein und schreibt: „Unter den Malern Kärntens, die zu seiner künstlerischen Repräsentation zählen und berufen sind, im Ausland für das Wesen Kärntens Zeugenschaft abzulegen, nimmt Dr. Werner Berg eine besondere Stellung ein. Er hat, obwohl von auswärts gekommen, doch begabt mit einer feinen Witterung für die Hintergründigkeit der Landschaft, innerhalb derer er sich sowohl lebenswirklich als Bauer als auch geistig als Künstler angesiedelt hat, Bereiche aufzuspüren gewusst, wie vor ihm kein anderer Kärntner Maler. Er hat dem slowenischen Kärnten eine völlig neue und dennoch absolut wahre Deutung gegeben; er vermehrt die Kärntner Künstlerschaft durch eine starke, ehrliche Persönlichkeit, durch eine hohe Auffassung vom Ethos des Künstlers und Menschen.”

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Mein lieber Werner Berg,

Heinrich Becker, Bielefeld, 19. Jan. 45

Ihr Weihnachtsbrief mit seinen guten Wünschen kam zur rechten Zeit, um uns in dem Dunkel dieser Tage an Treue und Güte zu erinnern, die sonst mehr und mehr aus dem Leben der Menschen zu schwinden scheinen. Ihre Festigkeit, Ihren unverminderten Lebens- und Schaffenswillen zu sehen, hat uns sehr erfreut, wenn auch nicht arbeitsfreudiger gemacht. Der Glaube an den Sinn des Lebens, das wir zu führen gezwungen sind, erleidet jeden Tag neue Stöße. Ob wir nun schon zu alt werden, um innwendig stand zu halten? Wir blicken mit heißer Sehnsucht nach dem festen Land, das uns nach der Qual der letzten Jahre noch bestimmt sein mag, nicht uns in Person allein, sondern allen, denen wir brudergleich verwandt sind. Noch wagt sich nicht alles, was wir denken, was wir erwarten in die Bestimmtheit des geschriebenen Worts; nicht nur unser äußeres Leben ist in Unordnung geraten, da drinnen rumort es noch weit mehr, und es bedarf aller Kraft und aller Besonnenheit, um die Zügel nicht aus der Hand zu verlieren. Kopf und Herz sind in dauerndem Alarmzustand, und können sich nicht mehr genügend entspannen. Ich selbst

201 ANNETTE, 1945

bin deshalb seit Dezember für einige Monate vom Schuldienst beurlaubt, meine Frau aber, nicht minder ruhe- und erholungsbedürftig, kommt nicht aus dem Geschirr. Nach den ungeheuren Zerstörungen und Beschädigungen, von denen auch wir nicht verschont geblieben sind, - eine schwere Bombe ist 3-4 Meter von unserem Hause niedergegangen, zahlreiche andere im nahen Umkreise – ist unser häusliches Dasein höchst beschwerlich geworden und mutet meiner Frau ganz besonders viel zu. Aber wir wollen standhaft bleiben; in den Gedanken an unsere Kinder fangen wir jeden Tag neu an und räumen auf, außen und innen. Da sind so tapfere Freundesworte wie Ihre fühlbar wohltätig. Jeder ruhig-starke Mensch schafft unter Erregten Halt und Ordnung, wie jeder Tapfer-gute Mensch Liebe und Güte und Milde um sich vor ruft. Haben Sie daher auch Dank für Ihre auffrischenden Worte.

Aber nun zu Ihnen. Wo mögen Sie sein? Was ist aus Ihrer künstlerischen Arbeit geworden? Verträgt sie sich noch mit Ihren soldatischen Aufgaben? O, dass uns Ihre Kraft des Willens und des Könnens über alle Gefahren hin erhalten bliebe! Wie werden wir nach überstandenem Krieg nach solchen Händen greifen! Und wie mags jetzt daheim aussehen, auf dem Rutarhof, wo Ihre tapfere Frau so viel auf ihren Schultern trägt? Wie geht es ihr und den heranwachsenden Kindern? Das sind Fragen, die oftmals in uns aufsteigen, und glücklich wären wir, wenn auf alle gute Antworten gegeben werden könnten. Von uns und unseren Kindern fügt wohl meine Frau noch einige Nachricht hinzu. Hoffentlich erreicht Sie dieser Brief, mit guten Wünschen für Sie und die Ihrigen voll beladen, schnell und sicher und erinnert Sie aufs Neue an Ihren ergeben Heinrich Becker

Martha Becker, 20. 1. 45 Lieber Freund Werner Berg, wenn wir uns vor den Bomben schützen wollen, gehen wir fort zu Fuß aus dem Haus, hinauf in den Wald. Auf dem Weg gerade jetzt in Schnee und Eis denke ich oft an Sie, an Ihre Familie und die Augen, die zum Himmel schauen möchten, oft bis zu Ihnen und dem Ihrigen Reich. – Sie, und noch alle, sind so weit von uns. –Wir haben so lange geschwiegen und diese Zeilen sollen Ihnen wirklich etwas bringen, wo Sie so viel Ernstes durchgemacht haben und vielleicht noch machen, wo Sie auch wachen müssen, um zum Rutarhof zurückzukehren und Pinsel und Palette in die Hand zu nehmen und nach dem Rechten schauen. Ihr Leben hatten Sie ja mit Ihrer Frau wirklich so gestaltet, dass Sie ganz persönlich leben und gestalten konnten. Wie muss es Ihnen fehlen! – Sie würden

202 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

hier die halb zerstörte Stadt nicht erkennen, das Leben darin ist wie erloschen und die Schwierigkeit des Alltags trennt uns von allem, was wir sonst gern tun. Immer wieder ist die Not, sich zu retten vor den fallenden Bomben, die so vielen Opfern schon das Leben raubten. Herr Thermann (Besitzer Ihres Winterbildes) wurde unter seinem Haus begraben und Schwester und Mädchen, seine Frau durch Wunder gerettet; er hatte Ihr Bild in Sicherheit gebracht, (ich sah’s neulich mit Freude wieder), sonst wurde alles vernichtet. – Es kommen furchtbare Schicksalsunglücke vor, man ist selber oft seelisch so verwundet, so deprimiert, dass man sich nicht mehr erkennt. – Nun sorge ich mich, dass in Japan ähnliches passieren kann – es ist ja in Tokio schon damit begonnen. Und jetzt ist Arnold in dem Kampf um den Weichselbogen, wo er längere Zeit schon lag. … Meine Reise nach Spanien war ein Traum und die Wirklichkeit ist so hässlich jetzt um uns.

Sagen Sie uns bald, wo Sie sind! Und wie’s zu Hause ist, wie es Ihrer Mutter geht. – Mögen Sie den Rutarhof behalten vor allem und dort in Ruhe und Frieden arbeiten können eines Tages. Und vielleicht sehen wir uns wieder? Das wünschen wir herzlich und dass Sie gesund bleiben und für Ihre Kunst, Ihre Familie Ihre Seele stark und rein behalten mögen. Auch ich danke Ihnen für den lieben Gruß, der so wohltat und grüße Sie noch avec toute amitie M. B.

Martha Becker, Mittwoch, 29. Mai 45

Liebe Frau Werner Berg, seit Monaten denken wir mit bangem Herzen an Sie, an Ihren lieben Mann, an den schönen Rutarhof. Wie sehr wünschen wir, Sie haben dort bleiben können.– Ob diese Zeilen Sie dort erreichen oder wo anders, Sie sollen wissen, wie herzlich wir an Sie alle denken, wie sehr wir auf ein Lebenszeichen warten. Bitte schreiben Sie uns doch wie alles wurde und vor allem, ob Ihr Mann zurück ist, was wir Ihnen und Ihm so sehr wünschen. –

Wir sind sehr besorgt um Sie alle

Unser Sohn lebt. – Von den Töchtern noch getrennt. – Ist Weinheber wirklich tot?

Welche Zeilen! Welche Verkrampfungen, statt Liebe walten zu lassen. Gott möge Sie schützen und Ihnen auf Ihrem Wege helfen. Wir bleiben immer wie bis jetzt Freunde für Sie als Menschen und Künstler Ihre Beckers

203 1945

1946 Kontakt zu Anton Kolig, mit dem Werner Berg ein reger Briefwechsel verbindet. Werner Berg tritt dem Kärntner Kunstverein bei. Michael Guttenbrunner schreibt: „Wenn Sie Stille, Ruhe und Frieden haben, und sei es nur für kurze Zeit, so sind es ungebrochene Wesenheiten, die Ihnen gestatten, einen tiefen Blick in die Natur der Dinge zu tun. Was man im Lichte Ihrer Bilder sofort erkennt und was so tief ergreift, das ist der Atem, die Aura der Dinge.” Karl Newole, der Landesamtsdirektor, wird Freund und wichtigster Förderer Bergs.

„Wäre ich mit meiner Arbeit auf die vox populi oder, ärger, die Gunst des besitzenden Bürgertums angewiesen, so ginge ich ohne Verzug vor die Hunde. An der Grenze (und nur wer sich wirklich an den Rand begibt, weiß von dieser Grenze) aber begibt sich dann zuweilen das Außergewöhnliche”, schreibt Werner Berg.

FRAU Ž ARK, 1946 204

Rutarhof, den 21. Juli 1946 Liebe, verehrte Beckers!

Eine selten tiefe Freude war uns Ihr Lebenszeichen. Wir danken Ihnen von ganzem Herzen dafür und dem Herrgott, dass Sie noch da und in unserer Welt sind. Wiederholt habe ich versucht, Ihnen Post zukommen zu lassen, die Sie aber nicht erreicht haben dürfte.

Wie ein Wunder war es, dass ich auf den Rutarhof zurückkommen und die Meinen nach allem was sie durchgemacht, heil wiederfinden durfte. Auch meine Mutter, die alt geworden ist, ist noch bei uns, nur habe ich es noch nicht übers Herz gebracht, sie davon zu unterrichten, dass auch mein Bruder Walter, der letzte meiner Geschwister, ein schlimmes Ende fand. Ich erfuhr es erst kürzlich.

Tief erschütterte hat mich auch die Nachricht vom Tode Josef Weinhebers, der sich beim Heranrücken der Russen das Leben nahm und nun in seinem Garten zu Kirchstetten ruht. Ich bitte Sie, trotz allem, was einem sehr trügerischen Schein nach dagegensteht, das Andenken dieses großen Künstlers von unerhörter Kraft des Herzens hochzuhalten. Als Vermächtnis fand ich hier sein letztes Werk vor, das noch in zwei Exemplaren ausgedruckt und mir gewidmet war. Ich kann und darf den Freund keinen Tag vergessen.

Walter Bauer sah ich wieder, er war hier vorübergehend in Gefangenschaft und ging vor vier Monaten nach Deutschland, wo er die erste Zeit bei Wiechert blieb. Er schrieb mir auch von dort in alter Freundesgesinnung, seine Haltung ist groß und frei wie nur je, nur mag ich kaum an das Dunkle rühren, dass er nicht zu seiner Frau und nach Halle zurückkehren will.

Nun walten Ihre treuen, sauberen Hände wieder über den Geschicken der Kunst. Wie gerne wüsste ich mehr davon! Ich durfte auch wieder arbeiten, genug, um dankbar zu ahnen, dass ich nicht verworfen bin und zu hoffen, dass ich einmal noch das Leben erfüllen könnte. Es fehlt nicht an Menschen, die mir wohlwollen und uns den Aufenthalt hier ermöglichen. Ich wünsche mir nur, in aller Stille weiterarbeiten zu dürfen und wohl auch, dass nicht neuerlich Ereignisse dieses schöne Land gefährden. In diesen Monaten frisst mich und uns alle freilich Arbeit anderer Art, aber ich will härteste Plage auf dem Acker greifen, wenn ich daran denke, was alles hätte geschehen können. Und welches arme Menschenhirn begriffe den Sinn des Großen! Es ist übrigens rührend und kaum vorstellbar, wie sich die Kinder schinden, um uns zu helfen. In ihrer Mutter aber schlägt das stärkste, beste Herz der Erde, so sind wir sehr glücklich miteinander unter dunklem Himmel.

Unsere innig starken Wünsche gehen zu Ihnen und Ihren Kindern.

205 1946

Lassen Sie uns über alle Schrecken und Wirren der Zeit und die nun so groß gewordene Entfernung hinweg Ihnen in Freundschaft und Herzlichkeit noch bleiben Ihre stets getreuen Werner und Mauki Berg

Martha Becker, 15. Aug. 46

Ihnen allen, liebe Familie Werner Berg, unsere Freude, endlich zu wissen, dass alles für Sie gut geworden ist. Möge es so weitergehen und die Felder um den Rutarhof fruchtbar sein, Sie alle ernähren und die freien Hände in Stunden der Inspiration weiter schaffen. Unsere Gedanken gehen froher zu Ihnen jetzt. Wir danken für Brief und alles, was er bringt! Wir finden Sie, lieber Werner Berg, so wie Sie in uns leben. … Herzlichst als stete Freunde H. u. M. Becker

Martha Becker, Bielefeld, 30. Aug. 46

Liebe Freunde Werner Berg, immer im Unterbewusstsein herrscht die Melodie, dass Sie leben, dass Sie alle zusammen sind. Es ist eine Quelle für das neu zu gewinnende Vertrauen an der Welt. Die Stimmung ist noch meistens so schlecht. Heute will ich Ihnen nur die zwei Kataloge schicken, die Ihnen die Tätigkeit meines Mannes zeigen werden. Jetzt bereitet er „40 Jahre Bielefelder Kunstleben“ und will zeigen, „was“ in den Jahren und „wer“ hier etwas geleistet hat. Es ist viel Vorbereitung nötig. … Er hat außerdem noch Schule und Ausschüsse. Wir hatten endlich aus Japan ein Lebenszeichen über Genf, dort ist im Mai ein Sohn geboren und es geht ihnen gut. – Aus Spanien auch gute Briefe über neutrale Länder, leider nicht direkt. Arnold zurzeit hier mit seiner noch ziellosen Arbeit an juristischem Wissen. Ich denke es ist auch ein Übergang. Wie geht es bei Ihnen? Malen Sie, lieber Werner Berg, was Sie schauen und was den Menschen die Herzen öffnen kann. Wir müssen mehr Liebe, mehr Verständnis füreinander finden.

Wir haben, zu unserem großen Schmerz, den Komponisten Heinrich Kaminski verloren. Er war für mich maßgebend in der Haltung in den ganzen Jahren. Einzig in seiner Art, seine Musik mitzuteilen. – Aber er lebt weiter, die Seele frei von allen Fesseln des Körpers.

Wissen noch Ihre Kinder, wer wir sind? Dann sollen sie wissen, dass wir viel an sie denken.

Nur kurz allen herzlichst von Ihren H. u. M. Becker

206 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Lieber Herr Werner Berg, damit Sie erfahren, warum so wenig geschrieben wird, dieser Katalog, der als Gruß zu Ihnen geht. Leider verstümmelt wegen des Gewichts.

… Es ist weiter alles schwierig, aber mein Mann ist weiter der begeisterte „Kunstfreund“ und ich weiter Freund von allen guten, friedvollen Menschen, die eine neue Welt aufbauen mögen. –

Herzlichst Ihre Beckers

Rutarhof, den 29. Oktober 46 Liebe, verehrte Frau Becker!

In einer Pause zwischen nie abreißender Knechtsarbeit will ich nur Ihren Zuruf erwidern, der, wie jedes Zeichen von ihnen, auf eine unmittelbare Weise alles Schwingende und den Klang Ihres Wesens enthält. Ein Jahr bin ich nun wieder daheim, kein leichtes, aber auch kein leeres. Wie gern würde ich Ihnen zeigen, was entstand. Ihre Stimme wiederhören, Sie wiedersehen. … Nach Tod, Verschollen- oder Entferntsein der Freunde entbehre ich oft schmerzlich den lebendigen Zusammenschlag, und die Vereinsamung wäre eine absolute, hätte mir das Schicksal nicht vor Kurzem eine so seltsame, wie mächtig nachwirkende Begegnung beschert.

Vielmals danke ich auch für die kleinen Kataloge, die mich als Zeichen neuen Auflebens (?) sehr interessieren, recht bitte ich Sie, mich auch künftig nicht ganz abgeschnitten sein zu lassen. Mit Bewegung dachte ich bei dem Verzeichnis der Käthe Kollwitz-Gedächtnisausstellung an mein erstes Betreten des Bielefelder Kunsthauses, in dem damals auch ihre schönen Blätter auflagen. Auch diese eine Predigt der großen Liebe, auf die alleine es ankommt, in welchem Gewande sie auch auftrete. Wir wollen nicht karg werden und versagen.

Ihrem geschlagenen Gatten, Ihnen beiden, einen Herzensgruß von Ihrem treuergeben Werner Berg

Rutarhof, den 17. Dez. 46, Post Gallizien / Kärnten Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Die Weihnachtszeit ist wieder da, in der Wünsche und Gedanken mehr denn je hin- und hergehen. Schwerer immer fällt es, den Stern zu beschwören, dessen Licht fast in der Wirrnis der Menschen, diesem Spiel der Verlogenheit,

207 1946

erstickt. Doch unverrückbar bleibt der Pol über und der in uns, im Werden des Menschensohnes, dem Mysterium der Heiligen Nacht, liegt unausschöpfbare Offenbarung. Das ewige Licht leuchte auch uns!

Kürzlich lasen wir zusammen das Vorwort zu „40 Jahre Bielefelder Kunst“. Es gibt nicht nur Zeugnis von hingebungsvollem Wirken und weltgeöffneter Kunstpflege, die der Örtlichkeit zugutekommen, es ist auch durchtränkt mit einer Treue der Gesinnung, die mich zu einer Art unpersönlicher Dankbarkeit bewegt. Dankbarkeit dafür, dass nicht nur Verständnis noch ist, dass Herzen noch schlagen, die den Künstler nicht vor die Hunde gehen lassen in seinem heißen Mühen, diesem ewigen Wiederanrennen gegen die Vergeblichkeit.

Becker, Bielefeld – mein eigenes Herz wird immer höher schlagen, sooft die Erinnerung daran aufleuchtet. Wo in der Welt wüsste ich mir noch ähnliche Bewährung des Menschlichen, einen durch die immer trüberen Jahre gleich lauteren Quell! Die Bitternis des Verlassenseins soll mich nicht auffressen, wider das Eismeer der Verachtung setze ich alle Kraft der Ehrfurcht, der Liebe und der Begeisterung, die mir blieb. Ich lasse nicht ab, oft wallt es heiß auf in mir, kühn bei aller Bescheidenheit: ich werde nicht unterliegen. …

Zum Weihnachtsfest kommen meine Grüße, die herzlichsten vom ganzen Rutarhof, zu spät, kaum rechtzeitig noch zum Beginn des neuen Jahres. Der Himmel bewahre und segne Sie und das Ihre! Sie Freunde, die mich reicher machen in der Armut und stärker in der Anfechtung, grüßt in allzeit treuer Ergebenheit

Ihr Werner Berg

In einem gesonderten Umschlag schreibe ich einige Verse aus „Hier ist das Wort“ ab, dessen einziges ausgedrucktes Exemplar, mir zugeeignet, ich als Vermächtnis bewahre.

208 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1947 Im Jänner bekommt Werner Berg die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Er schreibt: „Jetzt ist für mich eine Senke zwischen angespanntester Tätigkeit, die mich, hoffe ich, meinen Zielen näherführte und der schon drängenden Landarbeit, die meine Zeit zerreißen wird." Lindner, der Landeskulturreferent, schreibt an den Bürgermeister von Bergs Heimatgemeinde Gallizien: „Es ist uns herzliches Bedürfnis und amtliche Verpflichtung, Ihnen einen Mann zu empfehlen, der in Ihrer Gemeinde ansässig ist und mit dessen durchaus erdgerechtem Bauerndasein ein Künstlertum sich verbindet, das durch eine außerordentliche Tiefe des Gefühls und durch seltsam rein empfundene und streng geübte sittliche Verpflichtung ausgezeichnet ist. Wir sprechen von Werner Berg, dessen Kunst schon in frühen Jahren in Deutschland Aufsehen erregte, später aber, als dem nationalsozialistischen Kunstdogma nicht entsprechend, aus dem öffentlichen Kunstleben verbannt wurde. ... Nun bitten wir Sie, sehr verehrter Herr Bürgermeister, als die Herrn Berg zunächst stehende Obrigkeit, als Vertreter der Instanz, mit der sein reales Leben am unmittelbarsten in Berührung steht, ihm in allen Anliegen und Geschäften, die in Ihre Kompetenz fallen, jenes Entgegenkommen zu beweisen, dessen er in seiner wirtschaftlichen Lage und geistigen Verfassung so dringend bedarf; wir bitten Sie alle seine realen Belange auf das Wohlwollendste zu behandeln.”

An den Bezirkshauptmann in Völkermarkt richtet Berg das Ansuchen um notwendige Entregistrierung nach dem Verbotsgesetz: „Mit dem Anbruch des NS-Regimes in Deutschland war meine künstlerische Situation aufs ärgste gefährdet und führte schließlich zu völliger Erdrosselung des Hervortretens. Eine große Kollektivausstellung wurde endlich, nachdem sie in anderen Städten mit wachsender Begeiferung durch die NS-Presse gezeigt worden war, im Mai 1935 (siehe Beilage) in Köln polizeilich gesperrt, die Angelegenheit selbst zu einem großen Kunstskandal aufgebauscht, in dessen Verlauf meine Bilder in deutschen Museen und Sammlungen beschlagnahmt und zwangsweise durch den berüchtigten Prof. Hofmann entfernt wurden. (In der Alten Pinakothek zu München machte er dem Generaldirektor Buchner, der meine Arbeit lebhaft förderte, im Hinblick auf diese Tatsache den heftigsten Auftritt.) Der unmittelbare Schaden belief sich für mich auf etwa M 10000,-. Der wirkliche (und nicht nur ideele) Schaden war aber ungleich höher, da mir zum Aufstieg auf einer verheißungsvollen und von hervorragenden Fachleuten aufs Beste beurteilten Laufbahn jede Wirkungsmöglichkeit, aber auch jeder Verdienst genommen wurde. Ein Teil der beschlagnahmten Arbeiten wurde auf der Ausstellung ‚Entartete Kunst’ gezeigt und angeprangert, die nach Absicht der Veranstalter eine völlige Diffamierung bedeutete…Ich muss hier kurz bemerken, ... dass ich mich 1930 auf einer einschichtigen Berghube in Unterkärnten ansiedelte, um in einem naturverbundenen Leben fern der ‚Gesellschaft’ die Grundlage meiner künstlerischen Entwicklung zu finden. Nach 1933 widersetzte ich mich grundsätzlich der oftmaligen Aufforderung, als ‚Auslandsdeutscher’ der Partei beizutreten. Im Dezember des Jahres 1936 aber, in der oben angeführten Bedrängnis, gelang mir das nicht mehr und ich wurde, ohne jedes Dazutun von mir aus, zur Parteimitgliedschaft in der A.O. (Auslandsorganisation) der NSDAP bestimmt. Es bedurfte dazu keinerlei Dokumente, ich wurde niemals vereidigt und leistete auch keine Beiträge, zu deren strafweiser Nachzahlung ich einige Monate nach dem ‚Anschluss’ auf das Gauschatzamt zitiert wurde. Eine Weigerung hätte die schwerste Gefährdung meiner Familie bedeutet. Erwähnen muss ich noch, dass ich nach fünfjährigem Frontdienst bis zum ‚Obergefreiten’ aufrückte – für einen Akademiker in Augen von Barraskennern kein geringes, entlas-

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tendes Moment. ... Die Kunst, die Erarbeitung einer Malerei voll Kraft, Herbheit und Innerlichkeit, ist mir heilige Lebensaufgabe, die innere Freiheit des Menschen erste Voraussetzung hierzu. Nur diese wollte ich mir einst inmitten eines Zwangssystems bewahren, und es ist mein Wunsch, mich nach anhaltender Quälerei und Ängstigung, ihrer in einem freien Österreich erfreuen zu dürfen.”

Michael Guttenbrunner schreibt für den Kulturreferenten: „Das Kulturamt der Landesregierung befürwortet Dr. Werner Bergs Ansuchen um Entnazifizierung auf das Wärmste. Hierbei stützt es sich auf das, was ihm von dem Menschen und Künstler Werner Berg aus eigener Erfahrung und Anschauung, aus den Urteilen und der Beleumundung anderer vertrauenswürdiger Personen bekannt geworden ist und auf die einwandfrei dokumentierte Tatsache, dass Berg als ‚entarteter’ Maler gebrandmarkt und verfolgt worden ist. Einige seiner Ausstellungen sind auf Befehl der ehemaligen Reichskulturkammer geschlossen worden, aus anderen wurden seine Werke auf erniedrigende Weise entfernt und einige derselben sind in der Ausstellung ‚Entartete Kunst’ angeprangert gewesen. Solcherart wurde Werner Berg im 4. Lebensjahrzehnt, in der entscheidendsten Entwicklungs- und Schaffensperiode schwer gehemmt und geschädigt. Er ist unter den Malern des Landes der Einzige, dem solche Verfolgung widerfuhr. Diese Tatsache scheint uns – mit Hinweis auf seine feststehende, über jeden Verdacht erhabene Menschlichkeit und auf sein höchst eigentümliches

WERNER BERG BEI DER GETREIDEMAHD, 1947 210

künstlerisches Werk – geeignet, sein Gesuch, um Entnazifizierung einer wohlwollenden und positiven Erledigung zuzuführen, um ihn auf diese Weise von den belastenden Folgen einer Parteizugehörigkeit zu befreien, die er unter dem Druck der Verhältnisse einging, ohne sich auch nur im Geringsten in Wort und Tat im Geiste dieser Partei kundzugeben.” Vom Amt der Kärntner Landesregierung wird Berg bescheinigt: „Auf Grund der Beobachtungen des gefertigten Referenten ist die politische Einstellung Dr. Bergs einwandfrei und ausgesprochen antifaschistisch, was ja aus dem künstlerischen Schaffen des Gesuchstellers klar hervorgeht.” Berg wird von der Landesregierung beauftragt, die Belange der Malerei für ein geplantes Kulturgesetz auszuarbeiten und zu vertreten und verfasst dazu ein Exposé. Er wird Mitglied des Art Clubs und sendet Holzschnitte zu dessen erster Ausstellung in der Neuen Galerie in Wien.

Anlässlich der Ausstellung seiner Bilder in der Galerie Kleinmayr in Klagenfurt hält Berg einen Radiovortrag mit dem Titel „Wahlheimat Unterkärnten”: „Nach einem Jahr Hiersein hätte ich leichter und mehr aussagen können, als jetzt nach zwanzig Jahren, denn alles was sich hier vollzieht, ist nicht leicht benennbar oder durchsichtig. Eben dieses Geheimere müsste aber für den Künstler unserer Zeit, der ja dem Vordergrund der Dinge misstraut und die Erschütterung der Welt in den Eingeweiden spürt, ein großer Anreiz sein. ... Der Bauer im Dunkel der Stube oder die Bäurin in der Kirche: wer empfände da nicht eine unaussprechbare Gewalt, die zum Bilde als dem gemäßen Gleichnis drängt? Man gehe in eine der unberührten Dorfkirchen, Allerheiligen auf dem Friedhof zu Eberndorf oder an einem der bestimmten Feiertage zum Hemma- oder Liesnaberg, wo das Volk zusammenströmt und eine Fülle von Bildern stellt, in denen man mühelos hinter Anekdote und Folklore große Form und zeitlose Begebenheit entdecken kann. Immer wieder fesselt mich, Sinnbild der menschlichen Urangst überhaupt, das Bild der betenden Bäurin: steil, ernst und voll Hingegebenheit. Nicht selten reiße ich die Augen auf vor Staunen, dass die archaisch große Form und mythenhafte Versunkenheit wirklich sind, Wirklichkeit unserer Tage und nichts fern Beschworenes oder museal Konserviertes. Bald sind es zwanzig Jahre, dass ich mit meiner allmählich größer gewordenen Familie auf dem Rutarhof sitze, ein jeder durchdrungen von der Einmaligkeit einer Aufgabe, die mich ein gütiges Geschick erfüllen lasse. Hier ist der innere Bezirk des Hauses, der oft den Gegenpol der malerischen Themen abgibt. Jedes Wort wäre zu viel und zu wenig über die unermüdliche Herrin des Hofes, und die Kinder alle helfen und leisten in einem Maße, das einem Außenstehenden kaum begreiflich erscheinen mag. Auf drei Terrassen liegen die Felder, einst vom Gletscher geschliffen, die Moränenhänge mit karger Grasnarbe dazwischen, deren Bearbeitung saure Mühe kostet, und der Wald ringsum schließt das kleine Reich ab, wahrhaft ein Reich für sich. ... In immer neuen Bildern versuche ich, dass sich ein Gleichnis löst und hinter allen Bildern strebe ich dem Bilde zu, das ungreifbar bleibt. Und dann die ewig-großen Augenblicke des Jahres: das durchscheinende Grün vor dem Blau und Grau des Maigewitters, – der Himmel mittagheiß zitternd über dem eben geschnittenen Getreidefeld, – die auffliegenden Morgennebel des Oktobers voll Glanz und Wehmut – und, feierlichster Augenblick vielleicht: Klarheit, Weiße und Stille der Winternacht. Im Tale unten rauscht die Vellach, und in den Himmel zeichnet bis in die Träume der Obir Aufschwung, Gipfel und Verwellen. Vor den Sternen bebt im Nachthauch ein Ast und seine Sprache überhörte ich noch zu keiner Stunde: ‚Das Ungeheure begreift nie der Sichre’.”

211 1947
212 BETENDE, 1947

Heinrich Becker, Bielefeld, 3. Jan. 47

Mein lieber Werner Berg, wenn ich auch lange geschwiegen habe, werden Sie doch nicht an mir irre, wie mir Ihre letzten Briefe aufs Neue gezeigt haben. Ich brauche mich deshalb auch kaum zu entschuldigen. Sie wissen auch ungesagt, wie der Alltag uns verzehrt, wissen auch, wie wir, schweigend, Ihnen dennoch immer nahe verbunden bleiben, hören auch wohl aus der Ferne die Zurufe des Herzens, die Ihnen und den Ihrigen, Ihrer Arbeit, Ihrem Schaffen gelten. Wie Antwort auf das vielfach innwendig Gesprochene kommen Ihre Briefe zu uns. Für alle hab ich Ihnen zu danken, besonders den letzten, der in den Weihnachtstagen eintraf, zusammen mit den erschütternden Versen. Ich habe seitdem wiederholt in den gedruckten Gedichten gelesen und wurde ergriffen von der inneren Übereinstimmung zwischen Schicksal und Werk. Sterben war für ihn nichts Fernes, sein Leben nicht Flucht vor dem Tode. Furchtlos hat er wieder und wieder an den Abgründen des Daseins gestanden, bis er hineingesprungen ist, sein Sagen und Dichten auf heroische Weise besiegelnd. Dass Sagen und Sein, Denken und Tun aus einer Quelle, aus einer Kraft, aus einem Willen hervorgehe, das ist auch unser Anliegen. Lassen Sie uns, diese Sehnsucht nach Übereinstimmung mit uns selbst im Herzen, das Leben zu meistern trachten, das Widerspruchsvolle im eigenen Wesen unbarmherzig sehen und ins Reine bringen. Nur so können wir uns in die Nähe der großen Namen wagen und hoffen, von ihrem Licht erleuchtet, von ihrer Kraft gespeist zu werden. Das Entscheidende in der Kunst, auch in der Kunst der Malerei, liegt ja nicht in den Händen, sondern in der unsichtbar wirkenden Kraft, die zum Machen zwingt. Mit Ihnen, mein lieber Werner Berg, bin ich, und meine Frau nicht weniger, nicht nur durch Brief und gesprochenes Wort verbunden, wir leben mit Ihnen auch in Ihren Bildern, wie wir sie vor uns jeden Tag an der Wand sehen, wie sie als Erinnerung des Gesehenen in uns sind und weiterwirken, wie wir sie sehend erwarten, wenn dereinst Grenzen aufhören, uns zu trennen. Diese Trennung des Zusammengehörigen ist hart und schmerzlich. Mit Augen und Herz verlangen wir nach der Nähe Ihrer neuen Bildwerke und freuen uns auf den Tag, da sie wenigstens die grausam gesetzten Grenzen passieren können, wenn es den Menschen noch länger verwehrt sein soll. Einmal wenigstens bin ich bei Ihnen gewesen und ich wünsche, es wäre auch meiner Frau einmal vergönnt, Sie in Ihrer natürlichen Umwelt zu sehen. Wie viel hat sich gewiss verändert, seitdem ich Sie im Kreise von Frau und Kindern vor Jahren sah. Keine Einzelheit aus jenen Tagen ist aus meinem Gedächtnis geschwunden. Sagen Sie auch Ihrer Frau und Ihren Kindern, wie

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gern ich ihrer gedenke und immer noch hoffe, sie einmal wiederzusehen, trotz des nahenden Alters, das unmissverständlich an unsere Tür klopft. Wir versuchen, uns nicht überraschen zu lassen und dem Blick in die Ewigkeit nicht auszuweichen. Gute Freunde zu haben, ist bei solchem Bemühen nichts Geringes. Glücklich sind wir, Sie uns nahe und verbunden zu wissen, dankbar auch, wie Sie uns an dem ausklingenden Leben und Schaffen Ihres großen Freundes Teil haben lassen. Behalten Sie die Gewissheit, dass alles in Ehrfurcht und gültigem Vertrauen aufgenommen wird und jedes gute Wort, jedes Bild, jede edle Tat, wie ein ersehnter Gast willkommen geheißen, Wohnung bei uns findet.

So sind auch Sie in unserem Inneren wohl verwahrt und werden es bleiben wie bisher auch im neuen Jahr. Unsere guten Wünsche begleiten Sie ungesehen, ungehört und Ihnen doch immer gegenwärtig und hoffentlich wirksam. Sie gelten Ihnen und den großen und kleinen Insassen des fernen Rutarhofs. Bleiben Sie alle gesund und dem Leben mit ganzer Herzenskraft zugewandt, und denken Sie zuweilen in alter Freundschaft und gutem Vertrauen an Ihre Bielefelder Freunde, die Sie heute von Herzen grüßen.

Ihre Heinrich u. Martha Becker

Martha Becker

Es war wirklich ein großes Geschenk, dass Sie so uns geschrieben haben, lieber, guter Werner Berg. Diese Antwort soll auch Ihnen die Gewissheit geben, dass wir mit Ihnen leben, an allem teilnehmen und Ihnen als Künstler ein reiches Schaffen wünschen; es ist doch das Ziel Ihres Lebens, Ihrer gemeinsamen Arbeit auf dem Hof. Sie schrieben neulich von einer wunderbaren Begegnung – möge auch daraus neue Anregung, neues Vertrauen in den „Mensch“ geben. Man hat so viel Erbärmlichkeit gesehen, der Mangel am Notwendigen treibt die Menschen zu neuem Materialismus, so dass das Gegengewicht bei einer kleinen Schar liegt. Und denken wir an sie alle dort, wissen wir, dass Sie Gutes säen und ernten werden. … Die Kälte, der kleine störrische Ofen macht viel Plage, und das Tägliche raubt mir viele kostbare Stunden, die nie wieder zu haben sein werden. Unsere Zeit ist gemessen, aber ich freue mich jedes Mal, wenn ich mit Zeilen zu Ihnen komme. Ihnen allen, liebe Familie Werner Berg, gute Wünsche und viel Herzliches M. B.

214 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Heinrich Becker, Bielefeld, 18. Mai 1947

Mein Lieber Herr Werner Berg, mit dem Gefühl schmerzlicher Trennung denke ich immerfort und immer wieder an Sie und die Ihrigen, dass ich schließlich, obwohl von Arbeit überhäuft, schreibe und frage und erzähle, in der stillen Hoffnung, von Ihnen zu hören. Diese Stille in dem weiten Raum der uns trennt, hat etwas Quälendes und zuweilen Beunruhigendes und selbst wenn Sie schreiben, ist da ein Klang wie aus einer anderen Welt. Ob sie schöner ist als die uns hier umgebende, ob Sie dort die geistige Atmosphäre atmen, die zur Kunst wie zu aller edlen Menschlichkeit nötig ist, ist mir immer noch unwahrscheinlich. Die Welt um uns ist krank und keiner weiß, wie sie gesunden soll. Es ist leicht gesagt: fange jeder in sich selbst an. Keiner lebt nur in sich selbst, unser Einzelschicksal lässt sich nicht isolieren, wir brauchen den anderen, zur Hilfe, zur Ermutigung, zur Linderung unserer Existenz im Körperlichen und Seelischen. Es ist noch ein weiter Weg, bis es in der Welt wieder gut wird, bis das Vertrauen wieder gewonnen ist, es lohne sich in ihr zu leben und zu wirken. Unser tägliches Dasein hat sich fühlbar verändert, seitdem Sésée mit ihrem Mann und drei Kindern, aus Japan zurückgeschickt, mit uns hausen. Man muss es schon so nennen, was in dem uns verbliebenen Wohnraum, nach Einzug anderer, fremder Untermieter, noch möglich ist. Wir sind dennoch glücklich, wieder vereint zu sein und drei Enkelkinder von einem, fünf und neun Jahren, alle munter heranwachsend, um uns zu haben, mit denen gespielt, gearbeitet, musiziert wird, dass wir darüber uns selbst, zuweilen wenigstens, vergessen. Christiane und Sybille, die beiden ältesten, fangen mit mir Klavierspielen an und kommen, in diesen wenigen Wochen, die sie bei uns sind, schön voran. Ich freue mich auch immer, sie eifrig beim Zeichnen zu sehen, Sybille ist darin unermüdlich und innerlich lebhaft beteiligt. Ist es nicht auch schön zu denken, dass Ihre Bilder, die bei uns hängen, sich in jungen, aufnahmebereiten Augen widerspiegeln! Überhaupt, hier ist Hoffnung, dass es wieder bergan angeht, bis wieder ein Blick über die Welt möglich ist und die Sonne über glücklichen Menschen auf- und niedergeht.

Meine Arbeit für die Kunst ist noch gelähmt, weil noch keine Ausstellungsräume zu dauerndem Gebrauch gefunden sind. Ich hoffe aber, dass es im Herbst soweit ist. Nicht nur unsere Häuser liegen in Trümmern, auch unsere gesamte Kultur muss wieder aufgebaut werden. Was für Mut und Hingabe dazu gehört, wissen die Wenigsten.

Wie gern wüsste ich, was Sie schaffen, wohin Sie ziehen, wie weit Sie sind. Werde ich je etwas von Ihren neuen Arbeiten sehen? Sind die letzten Gedichte

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von Weinheber gedruckt? Kann ich davon ein Exemplar von Ihnen erhoffen? Gibt es anderes Wichtiges, was bei Ihnen erschienen ist? Macht Schroll in Wien noch Kunstbücher? Sind Sie für uns hier erreichbar? Ist Ihnen von unserer jetzigen Produktion etwas erwünscht?

Geben Sie bald Nachricht und erzählen uns viel von sich, Ihrer Familie, Ihrem Tun und Hoffen und erfreuen Sie uns, wie so oft in vergangener Zeit durch Ihren freundschaftlichen Zuruf. Sie alle herzlich grüßend, meine Frau und Sésée eingeschlossen,

Ihr Heinrich Becker

Rutarhof, den 8. Juni 47, Post 3 Gallizien / Kärnten Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Zwei Dinge waren mir kostbares Unterpfand in allen Anfechtungen dieser Zeit: Ihr schöner, guter Brief und das Bild Edvard Munchs auf dem Totenbett. Wie aber kommt es, dass ich Ihnen nicht längs, längst wieder geschrieben habe, da Sie mir, uns doch alle Tage so nah sind! Ich entschuldige mich nicht. Wohl aber muss ich sagen, dass Erschütterungen und Ungewissheit unser Leben immer noch und wieder gefährden, dass wir wie mit angehaltenem Atem oft nur den Tag erwarten, an dem das Leben ausgetreten werde oder sich erneuere, an dem der Boden ohne Arg vor Minen sich betreten ließe. Die Frage nach dem Schicksal der Ecke Landes, die uns Heimat wurde, ist noch immer ungelöst, wie auch der Staatsvertrag erst über unser persönliches entscheiden wird.

Nun kommt Ihr neuer Brief und bewegt mich tief. Wieviel Freundschaftstreue birgt dieses Zeichen!

Von der guten Rückkehr Ihrer Tochterfamilie höre ich mit Freude und bitte Sie, meine besten Empfehlungen zu übermitteln. Nur schmerzt mich der Gedanke an die Beengtheit Ihres Wohnens, ich kann mir das gar nicht vorstellen, so stark und gegenwärtig ist in mir noch immer die Erinnerung an die schönen Räume, die Sie umgaben und von Ihnen beseelt wurden. Da müssen wir freilich von vielem Glück bisher reden, und auch das Land ringsum ist weit und unversehrt wie eh und je. Auch fehlt es, die Wahrheit zu sagen, bei allem Schweren nie an Zeiten der Besinnung, jenes tieferen Atmens, ohne das keine Sinnerfüllung möglich ist. Ja, im vergangenen tiefen Winter wurde mir die Gnade, stark und stetig arbeiten zu dürfen. Wie gern würde ich Ihnen, den treuesten Freunden, die Ergebnisse zeigen können, wissen, ob sie vor Ih-

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ren Augen bestehen können! Ich glaube nichts vertan zu haben und möchte zuweilen, wie die geliebte Paula Becker ausrufen: „Ich kriege es doch!“ Es ist mir, der ich von den Programmen und großen Worten nicht viel halte, dem Vordergrund und der Benennung der Dinge misstraue, nicht leicht möglich, von der Arbeit zu sprechen, aber einmal will ich auch das versuchen. Nun bin ich seit über zwei Monaten wieder Knecht auf dem Acker, hart eingespannt.

Wahrscheinlich muss ich, so schlecht es zur Heumahd auch angeht, in der nächsten Woche nach Wien fahren, das erste Mal seit der Heimkehr. In der zweiten Junihälfte werden dort Wochen der zeitgenössischen Musik abgehalten bei gleichzeitiger Eröffnung einer großen Ausstellung, bei der ich voraussichtlich auch beteiligt bin. Doch kann und will ich mir von außen nichts erhoffen, möchte lange nur, immer, bei mir bleiben. Die Gedichte Weinhebers werden nun im Salzburger Müller Verlag erscheinen, nur geht das jetzt bei neuerdings vermehrter Papierknappheit langsam und schleppend vorwärts. Nach langem Schweigen ist neuestens eine starke Diskussion um Weinheber im Gange. Kubin, der kürzlich 70 Jahre alt wurde, wurde gründlich gefeiert, eine große Ausstellung seines Werkes in Linz eröffnet. Ansonsten: neu ist nichts, es sei denn das Nichtige.

Eine Bitte habe ich, von der ich nicht weiß, ob sie sich angesichts der schwierigen Verbindungen und der knappen Zeit erfüllen lässt. Emil Nolde wird oder würde Anfang August 80 Jahre alt. Lebt er noch? Wo? Ich würde ihm doch sehr gern schreiben, und wenn auch eine alte Wunde nie ganz verheilte, so sehe ich im Abstand doch nur das Große ragend. Bitte teilen Sie mir mit, ob Sie über Anschrift und Lebensverhältnisse Noldes etwas wissen oder zu erfahren vermochten.

Vor mir hängt das Bild Edvard Munchs auf dem Totenbett, kein Antlitz kenne ich, das frei und männlich wäre wie dieses, wahrhaft königlich. Die nun auch 80jährige Inger Munch schickte es mir zu Weihnachten, oft denke ich an den wahrhaft rührenden Besuch bei der gütigen alten Dame in Oslo im April 45. Nun schreibt sie regelmäßig, mir ist das allemal wie die Beschwörung eines fernen Mythos und zugleich wie eine Hand, die sich aus größerer Welt versöhnend darreicht. Sie erzählte auch von einer großen Munch-Ausstellung in Stockholm und von den Erinnerungen an ihren Bruder, die sie veröffentlicht. Eben erst schickte sie einen Auszug daraus voll kleiner Züge, die dartun, mit wieviel Zärtlichkeit der große Bruder seiner Familie anhing.

Nehmen Sie viele innige Grüße von uns allen. Ich schreibe bald.

Ich bleibe immer der Ihre! Ihr W. B.

217 1947

Heinrich Becker, Bielefeld, 25. Juni 47 Mein lieber Werner Berg,

Ihr letzter Brief hat uns fürs erste beruhigt, gibt aber noch Anlass genug, um Ihr und Ihrer Familie Schicksal besorgt zu sein. Denken Sie nicht daran, einen Teil Ihrer Arbeiten sicherzustellen, etwa bei den Verwandten Ihrer Frau oder bei Freunden außerhalb der Gefahrenzone? … Wir denken mit heißem Herzen an Sie alle und wünschen so sehr, dass Ihnen Ihre schöne Hofstatt erhalten bleibt. Seitdem ich vor 6 Jahren einige unvergessliche Tage bei Ihnen verlebt habe, weiß ich, wie schön es auf dem Rutarhof und ringsum ist. Auf Stunden, auf Minuten drängen sich Eindrücke zusammen, die mir geblieben sind, als wären sie gestern erlebt, Atmosphärisches, Menschliches, Wald, Wiese, fließendes Wasser, weite Ausblicke, Nahbilder von Gebautem und Gewachsenem. Ich bedaure, dass ich Gurk nicht gesehen habe, aber ich kenne es von fotografischen Aufnahmen. Und alles kann man ja nicht kennen, braucht man auch nicht zu kennen. Weniges ganz innig in sich aufgenommen, hat im Grunde mehr zu bedeuten als die Fülle, nur obenhin gesehen. Einiges recht lieben, verbürgt so viel inneren Reichtum, wie der Mensch wirklich fassen kann. So geht es mir mit den Dingen wie mit den Menschen. Von wenigen recht geliebt zu werden, sie mit ungeteilter Kraft wiederzulieben, ist das Rechte, alles andere Zutat. –

Was Sie mir von Ihrer Arbeit erzählen, hat meiner Hoffnung neue Nahrung gegeben, dass ich davon noch einmal zu sehen bekomme. Ich zweifle nicht, dass Sie ein gutes Stück vorangekommen sind. Ihre Natur ist zum genießenden Verweilen, zum bequemen Geschehenlassen nicht geschaffen. Was Sie mir von Munch erzählen, habe ich mit größtem Anteil gelesen. Seinem Schaffen fühle ich mich nah verbunden. Dem alt werdenden Munch habe ich bis zum Krieg jedes Jahr zum Geburtstag geschrieben. Die Scham über das, was seitdem geschah, hat mich dann zum Schweigen gebracht. Kann man an Munchs Schwester deutsch schreiben? Oder allenfalls Französisch? Wenn ja, geben Sie mir ihre Adresse. Ich würde es wagen, in verehrendem Andenken an Edvard Munch ein Wort an die Schwester zu richten. Ein freundlich empfehlendes Wort von Ihnen hilft vielleicht, den Weg dahin zu ebnen.

Munch bedeutet mir mehr als Nolde, ohne dass ich von einem gering dächte. Wenn Sie ihm zum 7. August schreiben wollen, schicken Sie Ihren Brief wie früher nach Seebüll bei Neukirchen, Schleswig (24). Wie ich von ihm Befreundeten hier höre, lebt er seit dem Tode seiner Frau, die im Frühjahr 47 starb, einsam und in großer Stille weiter schaffend auf seinem alten Wohnsitz. Ich denke, dass ich ihm zum 80. Geburtstag gleichfalls schreibe.

218 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Stellen Sie sich vor, Sie würden 80 Jahre. Was könnte ich Ihnen dann sagen aus der anderen Welt, der ich dann längst angehöre! Aber das wird dann nicht mehr in menschlicher Sprache gesagt. Aber gesagt wird es doch!

Ihrer und der Ihrigen in Herzlichkeit gedenkend Ihr Heinrich Becker

219 IM FENSTER, 1948

1948 Werner Berg besucht die Biennale in Venedig: „Die kurze Fahrt nach Venedig, der Besuch der Biennale, die diesmal einen Überblick bot wie noch nie, wahrhaft die Bilanz dieser Jahrhunderthälfte, war für mich ein Ereignis sondergleichen und wird sich in meiner Entwicklung gewiss noch auswirken. In keinem Gebiet der Kultur unseres Jahrhunderts kommen die Spannungen und Kräfte auf eine so tiefe und wahrhaft irrationale Art zum Ausdruck – zum Aufbruch möchte man sagen – wie in der Malerei. Auch durfte ich – fast mit Erschütterung bekräftigt – sehen, dass mein eigenes Bemühen durchaus im Kraftfeld der Zeit und der Welt liegt. In diesem Augenblick der Rückkehr von der Biennale, der einer der Erhellung ist, erkenne ich – verzeihen Sie das scheinbare Paradoxon – meine subjektive Situation geradezu als ein Objektives und erblicke es bei aller Bescheidenheit als ein Notwendiges, das meine Arbeit zu voller Entfaltung und Entschiedenheit kommt." Werner Berg lehnt die Beteiligung an einer vom Kärntner Kunstverein veranstalteten Ausstellung ab und schreibt an dessen Leiter, Dr. Feldner: „In Wahrheit befinde ich mich in einem Leben voller Härte und Gefährdung, in einem ständigen Kampf auf Tod und Leben, dem nämlich, meine Arbeit mit Kraft und Innerlichkeit weiterzuführen und nicht als Niete einst zu enden. Alles was mich hierbei stärkt und zu tieferer Besinnung führt, ist mir willkommen, und ich muss auch von mir fernhalten, was mich versehrt und verunreinigt. Die Kleinheit der Maßstäbe und Intriganz von Cliquen darf ich schon aus hygienischen Gründen nicht in mich hineinlassen. In letzter Zeit wollte ich Ihnen schon wiederholt schreiben, dass ich in erbärmlichen Schwierigkeiten stecke.”

Meine lieben, verehrten Beckers!

Rutarhof, den 10. Juni 48

Mitten in der heftigsten Arbeitszeit des Heuens und Hackens hat mich eine Angina auf kurze Zeit lahmgelegt und bevor die Heudare morgen wieder eingehängt wird, muss ich ihnen endlich schreiben, um dieses Schweigen zu durchbrechen, das so unbegreiflich wie unentschuldbar ist. Und doch – es muss Ihnen sehr schwerfallen, das zu glauben – suchen Sie meine Gedanken täglich und wissen sich in Ihrer lauteren Freundschaft geborgen als einem der wenigen unversehrten Orte der Welt.

Ich schreibe liegend in ein Skizzenbüchl, mille fois pardon!

Vor einigen Tagen erst kam über Elberfeld Ihr lieber Brief, der uns recht von Herzen froh machte. So ist denn diese kleine Sendung doch in Ihre Hände gelangt und gut aufgenommen worden, – ach, ich bin ja glücklich, wenn Sie mich nicht als einen Treulosen verwerfen. All die Güte und Mühe und Liebe, mit der Sie mir in Jahren – oft als die einzigen Zuverlässigen – zur Seite standen, sind nicht vergessen, sondern in meiner Erinnerung immer in ihrem ganzen Gewicht gegenwärtig. Mitzuteilen wäre genug, aber was uns – ich schrieb es auch kürzlich an Walter Bauer – meist davon abhält, ist nicht so sehr die

220 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Scheu als das Wissen, dass die Ereignisse zuletzt immer jenseits der Ereignisse liegen. Jenes sehr reale meiner Heimkehr und unseres Zusammenseins, die Tatsache, dass mich dieses Leben hier wieder aufnahm und weiterführte, gilt mir freilich nach wie vor als unerhörte Gnade. An Beschwer und Sorgen fehlt es jedoch auch hier nicht, und der Kampf mit dem Engel mag noch jeden, der ihn aufnahm und wo immer er stand, bis an den Rand seiner Kräfte gedrängt haben. Es ist noch nicht lange, da glaubte ich, der Vers Hiobs „Nun aber macht er mich müde und zerstört alles, was ich bin“, sei nun die letzte Zeile meines Lebensbuches.

Auf dem Hofe werkeln wir uns so durch, und aufs erste Hinsehen würden Sie gegen damals kaum eine Veränderung bemerken, es sei denn, dass auch in Kärnten – mehr nolens denn volens – aus Kindern Leute werden. Ursi, die älteste, steht nun schon im 20. Lebensjahr und ist unsere starke Stütze, die nächsten drei, darunter Veit, mit dem Sie einst mit wahrer Aufopferung das ABC exerziert haben, gehen unter großen Schwierigkeiten nach Klagenfurt in die Schule, müssen jeden Morgen knapp nach fünf aufbrechen und helfen nebenher noch fest auf dem Felde mit, da der Mangel an Landarbeitskräften ärger denn je ist. Endlich kommt Annette, die kürzlich acht wurde, und von allen wegen ihres munteren und hellen Wesens sehr geliebt wird. Ich wollte nicht selten, die Kinder wären noch alle klein und stellten uns nicht, groß geworden, in dieser Zeit vor kaum lösbare Probleme. Meine Mutter ist alt geworden und gekränkt über die unerquicklichen Elberfelder Angelegenheiten – meine Schwägerin dort hat wieder geheiratet und ist im Elternhaus, das ich kaum betreten könnte, wenn ich einmal wieder nach Deutschland käme. Ich war seit dem Kriege noch nicht über die Grenzen, und mir würden wohl die Augen übergehen, wenn ich die Wirklichkeit draußen sähe. Doch glaube ich an eine größere Kraft der Impulse und an eine tiefere Selbstbesinnung, -reinigung und -verantwortung bei den Besten als hier. Wohl aber ist hierzulande noch unter dem tauben Gestein des Tages die so selten gewordene, rätselhaft tröstende Goldader des Gesanges aufspürbar. Und meine unglaublich überbürdete Frau nur ein Beispiel sondergleichen dafür.

Meine Arbeit ist inzwischen – diesmal meine ich die mit dem Pinsel und nicht die mit der Mistgabel – zu größerer Geschlossenheit, Strenge, doch auch Innerlichkeit gediehen und ich hoffe, dass Sie nicht ganz unzufrieden mit mir sein möchten. Seine Aussage mit dem ganzen „drängenden Begehren des Herzens“ (Claudel) zu machen, erscheint mir aber nach wie vor als das Anliegen des Künstlers und erübrigt all das verkrampfte Fragen und Suchen nach „dem Neuen“.

221 1948

Doch darüber ein andermal, ebenso über Weinheber, dessen nachgelassenen Versband ich so gern in Ihren Händen weiß. Wahrscheinlich kommt sein übriges Werk entgegen ursprünglich anderem Vorhaben nun doch in Deutschland heraus. Von Walter Bauer, der jetzt, von seiner Frau getrennt, in Bayern lebt, höre ich seit einiger Zeit auch wieder, er ist voll und übervoll der alten Freundschaftlichkeit. Er ist immens fleißig, und zuweilen fürchte ich für ihn so etwas wie eine Fron des Schreibens. Mir wird er stets ein teurer Gefährte sein.

Ja, ich vergaß bald zu erwähnen, dass meine Ausstellung im Herbst ein rechter Erfolg war, doch bleibe ich durchaus ein Abseitiger und betrachte das auch mit den fataleren Folgen nur als Segen. Einmal aber möchte ich meine Arbeiten doch wieder in Deutschland zeigen, wozu ich übrigens schon Aufforderungen von Elberfeld und Köln bekam. Im Augenblick ist es zwar noch nicht aktuell, doch könnte das in nicht zu ferner Zeit geschehen, und dann möchte ich gern, dass sie auch nach Bielefeld kämen, das für meine Ohren nun einmal besonderen Klang hat und haben muss. Haben Sie oder hat wer übrigens etwas von oder über Nolde gehört? Sicher haben doch auch Sie ihm zum achtzigsten Geburtstag geschrieben ...

Es wird mich glücklich machen, wieder von Ihnen hören zu dürfen, und nie sollen die Intervalle unseres Signalwechsels, solange mir der Atem bleibt, wieder von solch abnormer Länge sein. Meine Frau und die Kinder alle auf dem Hof grüßen Sie in Herzlichkeit. In Freundschaft und Ergebenheit bin ich allzeit

Ihr alter und getreuer Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 19. Juni 48

Lieber Werner Berg, wie ein Ruf aus einer anderen Welt kommt Ihr Brief vom 10. Juni zu uns und erinnert uns an Ihre alte, unverwelkte Freundschaft, für die wir Ihnen, je älter wir werden, doppelt dankbar sind. Wir denken viel an Sie, Ihre Frau und Kinder und hätten längst auf Ihre letzte Sendung, die beides – Materielles und Geistiges enthielt, schreiben müssen. Wir sind bei ihnen in Schuld, nicht Sie bei uns, wie Ihr Brief meint. …

Das wahre Leben, wie wir es gern lebten, ist täglich in Gefahr zu verkümmern und zu verdorren. So werden wir alle von Forderungen des Alltags aufgezehrt. Meine Frau noch mehr als ich. Auf engem Raum – von unserer

222 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

einstigen Wohnung stehen uns nur noch drei Zimmer und Küche zur Verfügung – leben wir, seit der Rückkehr Sésées und ihrer fünfköpfigen Familie aus Japan vor mehr als einem Jahr, mit aufreibender Anstrengung. Kein Wunder, dass die Kräfte sichtlich nachlassen und meiner Frau, die diese ganze Zeit nur ein schmales Sofa für die Nachtruhe hatte, vor einigen Wochen ein Unglück zustieß, das ihr Tod hätte sein können, vor dem der Himmel sie gnädig bewahrt hat. Beim Reinigen der Verandafenster ist sie infolge eines augenblicklichen Schwindelanfalls bewusstlos rücklings in den Garten gestürzt, aus einer Höhe von über drei Metern. Mit einer Gehirnerschütterung, gebrochenem rechtem Arm, inneren Quetschungen und großen Blutergüssen haben wir sie mit qualvollen Schmerzen ins Krankenhaus bringen müssen, wo sie sich anfängt, langsam zu erholen. Sie ist immer klar im Denken geblieben und wir hoffen, dass wir sie in einigen Wochen, geheilt, wieder bei uns haben können. Wer so vor den Pforten der Ewigkeit gestanden hat, macht sich seine eignen Gedanken über Menschen und Weltlauf. Und vieles wird klein, was einem zuvor wichtig vorkam. Ich selbst lebe seit einem Jahr, wie man es reichlich euphemistisch nennt, im Ruhestand, empfinde ihn selbst aber eher als Unruhestand. Rastlos gehen meine Tage dahin. Das Kunsthaus, Januar 1944 zerstört, ist mir wieder anvertraut, ohne dass es bisher gelungen wäre, Ausstellungs- und Sammlungsräume zu schaffen. Dennoch, wenn Ihre Ausstellungen in Köln und Elberfeld zustande kommen – Dirksen aus Elberfeld (Museum) war vor einigen Wochen hier, ich habe ihm dabei auch Ihre Sachen gezeigt – sind wir, hoffe ich, in der Lage, Ihnen neue Räume in Bielefeld zur Verfügung zu stellen.

Von Nolde, dem ich zum 80. Geburtstage geschrieben habe, weiß ich nicht viel. Es läuft hier das Gerücht, er werde demnächst eine Tochter des Pianisten Erdmann heiraten oder habe es bereits getan. Zu Ausstellungen und Ankäufen war er in den letzten Jahren nicht zu bewegen. Angesichts der finanziellen Unsicherheit ist das ja immerhin begreiflich. Hoffentlich gelingt es den heutigen Bemühungen, dauernde Ordnung in unsere Geldzustände zu bringen. Oh, mein lieber Berg, in welch eine Welt sind wir geraten! Sie entfernt sich immer weiter von dem, was sie sein könnte und sollte.

Über den Weinheber bin ich sehr glücklich. Was für eine menschliche Haltung! Und unerhörte sprachliche Formkraft! Tausend Dank und noch mehr Grüße an das ganze „Gebirge“, Männlein und Weiblein, die großen wie die kleinen Berge.

Immer Ihrer in alter Freundschaft gedenkend

Ihr Heinrich Becker

223 1948

Rutarhof, den 22. August 48 Lieber, verehrter Dr. Becker!

Kaum ist es mir zum Bewusstsein gekommen, dass schon zwei Monate seit dem Datum Ihres schönen Briefes vergangen sind, nein, verflogen unter der heuer so erschwerten Erntearbeit. Jedes Ihrer Freundschaftszeichen war und ist nur kostbar als Unterpfand des tiefer Beharrenden auf dieser taumelnden Welt.

Mit Bestürzung aber hörten wir von dem Unfall Ihrer verehrten Gattin, auf der in dieser Zeit eine so furchtbare Sorge- und Arbeitslast liegt. Mit heißen Wünschen hoffen wir, dass sie inzwischen wieder genesen ist und nicht unter ernsthaften Folgen des Sturzes zu leiden hat, der so bös hätte ausgehen können. Ach, könnten wir sie jetzt nur hier haben und ihr ein wenig Gutes tun! Immer hat sie mir so viel bedeutet, und noch in ihrem knappsten Gruß war sie mir stets gegenwärtig mit der ganzen Wärme und Kühnheit ihres Herzens und mit all ihrem federnd feinen Empfinden. Möge es uns das Schicksal noch einmal vergönnen und fügen, dass wir Sie beide auf dem Rutarhof wiedersehen dürfen.

Nein, in Deutschland bin ich noch nicht wieder gewesen und kann auch so bald nicht daran denken hinzukommen, wenn es auch keine äußeren Hindernisse gibt. Zwar sind wir nun seit geraumer Zeit Österreicher, aber das Denken, Hoffen, Fürchten und Wünschen geht doch immer wieder über die Grenzen und auch meine Arbeit bedürfte, soll sie nicht ins Leere fallen, letztlich wieder des lebendigen Kontaktes mit den Menschen dort. Mehr noch aber als sonst bedarf es bei mir wohl eines ganzen, durchgestandenen Lebens, damit sich das Werk erweise. Ich muss und will gern abseits bleiben, wenn mir nur die Herzkraft nicht erlahmt, und die haben Sie mein verehrter Freund mir gestärkt, wie nur wenig sonst im Leben.

Dass Sie sich der Dichtung Weinhebers über so viel schnelles und – glauben Sie mir! – falsches Urteilen hinweg unmittelbar zu öffnen vermögen, erfüllt mich mit großer Freude. Er war bis in die Fasern ein Künstler rätselhaften Ursprungs, der in einer ständigen und viel zu großen Erschütterung des Herzens lebte, als sie die Selbstgerechtigkeit vieler korrekter Gebildeter wahrhaben vermöchte. Es ist mir ein tiefes Anliegen, ihm einmal noch ein Zeugnis zu setzen.

Von Walter Bauer höre ich nun regelmäßig und bin sehr glücklich, dass mir dieser Gefährte blieb. Ich ahne mehr als ich es weiß, dass ihn Verwicklungen und Verwirrungen quälen, und mehr noch als die (zu) zahlreichen Veröffentlichungen beweisen seine Briefe den Reichtum und die Lauterkeit seiner Per-

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son. Jedoch gibt es viel Schönes unter dem Neuerschienenen und ich fürchte einzig, dass ihm das Schreiben zur Fron werden könnte. Beschäftigt man sich dort mit ihm? Gibt es Neues von Carossa, von Ernst Jünger?

Unlängst wurde ich zur Teilnahme an einer Ausstellung christlicher Kunst in Köln aufgefordert, konnte mich aber aus verschiedenen Gründen nicht dazu entschließen. Theodor Haecker, den ich sehr schätze, war, gewiss ein unverdächtiger Christ, der Firma „Christliche Kunst“ gegenüber – mit Recht – sehr skeptisch.

Bitte grüßen Sie mit unseren innigsten Wünschen Ihre liebe, verehrte Gattin und empfehlen mich Frau Sésée samt Familie. In aller und alter Herzlichkeit bleibe ich Ihr treuergebener Werner Berg

Rutarhof, den 20. Dez. 48

Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Schweigen breitet sich über weitere Strecken dieser Zeit, als wir wohl auf beiden Seiten wahrhaben möchten. Der Grund mag wohl nur der sein, dass wir uns über der Tage Last und Sorgendruck nichts vorjammern wollen. Ein eisiges Schweigen ist es aber auf keinen Fall, vielmehr glaube und hoffe ich, dass Sie auf seinem Grunde die ganze Wärme wissen und spüren, mit der ich Ihnen heute wie je zugetan bin.

Wir denken oft an Sie, oft, und mit großer Sorge an Ihr Ergehen, vorm Schreiben aber fürchte ich mich oft wie vor einer Beschwörung des Unguten. …

Noch aus einem anderen Grunde ist viel Unruhe bei mir in diese Wochen gekommen, die sonst im besonderen Maße der Sammlung und Besinnung dienen. Ich bereite für den Anfang des nächsten Jahres eine größere Kollektiv ausstellung für Wien vor, zu der es sehr plötzlich auf Betreiben von Kärntens gewichtigstem Mann gekommen ist. Wien ist kein ungefährlicher Boden für meine herbe Arbeit, doch wappne ich mich wiederum mit dem alten Wahlspruch: Persêvérer sans espérance.

Ich schreibe dann. Ich wünsche heiß, diese Zeilen möchten Sie bei Wohlergehen antreffen. Ich bitte Sie, unser aller herzangelegentliche Segenswünsche in alter Freundschaft entgegenzunehmen und nicht zu den Verlorenen zu zählen

Ihren allzeit getreuen Werner Berg

225 1948

1949 Werner Bergs Mutter stirbt am Rutarhof, wo sie nach dem Krieg gelebt hatte. Werner Berg schreibt programmatisch an Jörg Lampe: „In der Disziplin der bildenden Künste – das Wort Disziplin hat hier merkwürdigen Doppelsinn – gehe es meine ich, nicht so sehr um die grandiose noch so bestechende Liberalität der ‚rein-malerischen’ usw. Kunstausübung als um die Wiedergewinnung der menschlichen Bildsubstanz, um die Wiedergewinnung des Bildes als einem Gleichnis der Welt aus der Anschauung. ...Auch weiß ich, mit wie viel Recht Sie die Selbstherrlichkeit der Kunst gegenüber allem Nur-und-zu-direkt-Gewollten, ihre absichtliche Unmittelbarkeit, betonen. Dennoch muss ich zuletzt mein Eingespanntsein, die ‚Dringlichkeit des Lebensanliegens’ als ein Positives in dieser Zeit empfinden und erkennen.”

Im Jänner zeigt die Galerie Welz (Würthle) in Wien eine Werner Berg Ausstellung.

226 NOTSCHLACHTUNG, 1949

Heinrich Becker, Bielefeld, 5. Januar 49

Goethe an Zelter (4.8.05): Es gehört zu den traurigsten Bedingungen, unter denen wir leiden, uns nicht allein durch den Tod, sondern auch durch das Leben von denen getrennt zu sehen, die wir am meisten schätzen und lieben und deren Mitwirkung uns am besten fördern könnte.

Mein lieber Werner Berg, unser Schweigen ist sündhaft dauernd, aber bleiben Sie versichert, ohne mindernde Folgen für unsere Freundschaft. Wie die Ursache ja auch nicht in Gleichgültigkeit und Lauheit der Empfindung für Sie und Ihre ganze liebe Familie, wie für den Fortgang Ihrer künstlerischen Arbeit, ist. So lese ich mit größtem Anteil von Ihren Ausstellungsvorbereitungen für Wien und bedaure lebhaft, nicht dabei sein zu können, der ich mit ganzem Herzen zu Ihrer Sache stehe. Lassen Sie mich doch wenigstens Einzelheiten wissen, vielleicht Zeitungsbesprechungen lesen, vielleicht gibt’s einen Katalog, womöglich mit Illustrationen. Dann schicken Sie ihn mir gewiss. Für den Künstler ist es immer wichtig, sein Werk außerhalb der häuslichen, der Ateliersphäre zu sehen, das Werk sozusagen sich selbst zu überlassen, wie es ja für sich stehen, für sich selbst einstehen muss, wenn ihr Schöpfer diese Welt verlassen hat. Jedes Kunstwerk hat seine eigene Art sich zur Schau zu stellen oder sich zu verbergen, bis es von liebenden Augen entdeckt und ins Licht der Bewunderung gezogen wird, ganz wie es den jungen Menschen geht, wenn sie in die Flut des Lebens geraten oder sich mit Willen hineinwerfen. Bildwerke sind Organismen, zu langem Leben oder zu frühem Sterben bestimmt. Niemand kann voraussagen, ob für das eine oder das andere.

Ihre Arbeiten aus früherer Zeit, sie sind ja in kleiner Zahl seit 15 Jahren uns nahe, leben noch und helfen mit, unseres Lebens Sinn zu erhöhen, andere habe ich bei meinem Besuch bei Ihnen 1941 wenigstens vorübergehend angeschaut und bewahre sie im Herzen, die wie gute Freundesworte wärmen. Machen Sie auch noch Holzschnitte? Oder andere graphische Sachen? So etwas ließe sich wohl jetzt schon oder in hoffentlich naher Zukunft auf den Weg zu uns bringen und würde helfen, Ihr Dasein uns allen näher, fasslicher zu machen. Überhaupt, wann werden wir uns wiedersehen? Auge in Auge, Hand in Hand. O, Sie würden uns gealtert finden. Aber hinter Runzeln und anderer verfallender Körperlichkeit fänden Sie, freundschaftlich sehend, gewiss auch noch die Wärme des Fühlens, das uns vor nun schon an die 20 Jahre zu Ihnen zog. Meiner Frau geht es weniger gut als mir, sie kann sich noch immer nicht von den Folgen des unheilvollen Sturzes erholen. Die häusliche Enge

227 1949

und die Bedrängnis unseres ganzen Lebens halten die Convaleszenz zu unser aller Kummer auf. Wir hoffen auf Erleichterung, wenn es gelingt einen eingezwungenen Untermieter, der nebenbei von niedriger Gesinnung und Haltung ist, loszuwerden, wozu gegenwärtig gerichtliche Klage nötig ist, die ihrerseits wieder Unruhe, Ärger und Aufregung schafft.

Trotz dieser meine Frau und uns alle bedrängenden Enge, wachsen unsere 3 Enkel, Christiane und Sibylle von 11 und 7 Jahren, Vincent mit seinen 2 ½ Jahren munter heran, vermehren unsere Freude, komplizieren aber auch unser Leben und stellen der Erziehung zuweilen Anforderungen, denen Alte und Junge nicht immer gewachsen sind. Arnold denkt an das Ende seiner juristischen Studien und kehrt nach Beendigung seiner Weihnachtsferien morgen nach Göttingen zurück. Von Itta aus Madrid, ihrem Mann und der kleinen Marisabel haben wir gute Nachrichten, seit einigen Monaten wieder auf direktem Wege. Wie gern hörten und sehen wir, was aus der Schar Ihrer Kinder geworden ist. Und wie geht’s Ihrer lieben, guten Frau, von der wir so lange nichts gelesen haben. Was wird aus Ihrem Land? Wir denken oft mit Bangen daran und wünschen aus tiefstem Herzen, dass Ihnen und den Ihren die Heimat erhalten bleibe.

Mit vielen übrigen Wünschen für ein gesegnetes neues Jahr, grüßen wir Sie und Ihre liebe Familie aufs herzlichste in alter Treue

Ihre Heinrich u. Martha Becker

Parte Clara Berg

Montag, den 7. Februar 1949, haben wir unsere Mutter und Großmutter, die liebe, gute immersorgende Oma, Frau Wwe. Clara Berg, geb. an der Heiden, im Friedhofe der Pfarrkirche von Möchling, fern ihrer nie vergessenen Heimat Elberfeld, zu Grabe getragen. Sie starb im 79. Lebensjahre unerwartet plötzlich, aber sanft, friedlich und fromm, nach einem Lebensabend voll unermesslicher Heimsuchungen.

Wir bitten, das Andenken der teuren Toten zu bewahren und zu ehren.

Werner und Mauki Berg

Ursula, Klara, Veit Hilde und Annette Berg

228 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Martha Becker, Bielefeld, 22. 2. 49

Liebe Freunde, heute kam die Nachricht vom Tode Ihrer lieben Mutter, die jahrelang Ihr Leben geteilt hat, die jahrelang alle Ereignisse in Ihrer Familie mit Liebe und Hilfe miterlebte.

In Gedanken übersehe ich diese letzten Jahre eines langen Lebens, aber finde einen Trost in den Wörtern „sanft“ und „friedlich“ und „fromm“ mit denen Sie diesen Abschied bezeichnen. Wir denken an Sie beide, an Ihre Kinder, die zum ersten Male dem Tod ins Angesicht schauten und wissen, dass beide Ereignisse – Geburt und Tod – den Menschen viel zu denken geben und Ihr Haus nun auch diese Erinnerung in seinen Wänden bergen wird.

Schon lange wollte ich Ihnen schreiben, da Sie so warmherzige Briefe schreiben und wir nie dazu kommen, richtig darauf zu antworten, was uns drückt. Aber unser Leben hat sich verändert, wir haben keinen Platz, keine Ruhe und um es zu erlangen, müssen wir an das Recht appellieren und die Handlung brachte uns bittere Enttäuschungen. – Seit Monaten dauert diese Auseinandersetzung, die, bei günstigem Ergebnis, uns ein normales Leben zurückermöglichen soll, ganz besonders wünschen wir es für unsere Tochter, die nun Heimweh nach Japan hat, wo sie’s besser hatte als hier bei uns! -Das Leben um uns ist auch so verändert, die Menschen wollen alle etwas vortäuschen, etwas erreichen und die Unruhe sogar im Geschäftsleben macht uns bedenklich. Es kann eigentlich nicht so weitergehen, weil alles schwankt und eine Drohung dabei auf die Menschen wirkt. Wie erklären Sie die Entwicklung Ihren Kindern? Oder empfinden Sie nicht den Zwiespalt, in dem wir alle leben? Ich wünsche Ihnen, lieber Herr Werner Berg, dass Sie schöne Bilder malen. Nach meiner Rückkehr aus dem Krankenhaus fand ich auf meines Mannes Schreibtisch die Einladung zu Ihrer Ausstellung. Haben Sie gute Besprechungen gehabt? Freunde dabei gefunden? Ich wünsche so sehr, es findet sich ein Kreis von Menschen, die dort zu Ihnen halten und zu Ihrer Kunst. Wie stellen sich die Österreicher zur abstrakten Kunst? Kann man da nicht schwindeln? Ich meine noch mehr als bei Impressionismus oder Expressionismus?

Ich war dem Leben sehr fern gerückt, durch einen neuen Arzt fand ich den Weg zurück trotz aller Schwierigkeiten im Alltagsleben. Wo drei Kinder sind, ist ja stets Arbeit, die auf jemanden wartet. Froh sind wir sehr, dass der Rutarhof Ihnen bleibt oder Sie ihm. Es ist wohl die beste Lösung für alle. Wir sind umgeben in dieser Zone von Flüchtlingen, von Menschen, die ein neues Leben aufbauen wollen. Die drei Kinder sind noch jung und klein und wir brauchen noch nicht an ihre Zukunft zu denken. Aber unser Arnold ist noch

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Student und kennt jetzt auch den Kampf, um durchzukommen, um sich zu behaupten. Seine Zukunft ist noch unklar, es wird von Umständen abhängen, die noch auch unklar sind.

Entschuldigen Sie, wenn ich nicht nur unsere Teilnahme ausdrücke, aber ich glaube, Sie wissen schon lange nichts von uns. Mein Mann ist noch sehr aktiv und leistet viel. Ihnen reiche ich die Hände und versichere Ihnen unser stetes Mitempfinden an Ihrem Leben und Ihrem Schaffen

Ihre Martha Becker

Lieber Werner Berg, von mir heute nur wenige Worte, um Sie und die Ihrigen meiner herzlichen Mittrauer zu versichern. Vom Sterben kann niemand überrascht sein, der die Zeichen und Hinweise Gottes, die täglich gegeben werden, wahrnimmt. Jeder Tote hinterlässt eine Botschaft an uns Lebende und eine Mahnung dazu. Ach, dass wir sie recht verstünden! Ich denke viel an Sie und bin gerade in diesen Tagen innerlich in Ihrer Nähe, mit dem Wunsch, dass Sie stark im Wollen und Schaffen bleiben mögen.

In alter Freundschaft Ihnen verbunden

Ihr Heinrich Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 4. Sept. 49

Mein lieber Werner Berg, haben Sie mir zuletzt geschrieben, oder ich Ihnen? Ich weiß es nicht. Gleichviel, im einen wie im anderen Falle ist es Zeit, das Schweigen zu brechen. Ich hätte es schon längst getan, wäre ich durch die bis jetzt noch immer nicht abgeschlossene Mietstreitsache, von der ich Ihnen schon früher schrieb und die mich seit über einem Jahr beschäftigt, nicht allmählich verdrossen und erbittert worden. Ich lern das zum ersten Mal in meinem langen Leben kennen und erfahre, wie das Nervenkraft kostet. Die Folge ist denn auch, dass ich müde wegen Herzbeschwerden und Schlaflosigkeit in ärztliche Behandlung gehen musste. Es fängt aber schon an, etwas besser zu gehen, und ich hoffe, alles abzuschütteln, wenn ich von der leidigen Sache befreit bin. Wie viel besser haben Sie es in der Einsamkeit Ihres Rutarhofs, wo Sie, hoffe ich, weiter unbehelligt wohnen und wirtschaften können. Die helfenden Hände und den liebenden Zuspruch Ihrer verewigten Mutter, werden Sie sehr entbehren. Dafür wachsen nun aber Ihre Kinder heran, die ich alle kannte

230 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

und noch vor mir sehe, aber wie ich sie damals sah, vor 8 Jahren. Zuweilen bemühe ich mich, was seitdem geschah, hinzuzudenken. Aber es gelingt nur schwer. Wären andere Zeiten, könnte ich auf den Gedanken kommen, Sie wieder einmal zu besuchen. Aber der Weltzustand ist noch immer so hoffnungslos verfahren, dass es noch vieler Geduld bedarf. Und ob wir Alten Besserung noch erleben, wird mehr und mehr zweifelhaft. Auch meiner Frau geht es nicht, wie wir wünschen. Sie hat daher die Gelegenheit benutzt, um nach mehrwöchigem Aufenthalt am Bodensee, wo sie Gast entfernter Verwandter war, in ihre alte Heimat zu gelangen und sitzt nun mit ihrer Schwester und Schwägerin in Nîmes, der alten Römerstadt, wohin sich die Frau ihres älteren Bruders, der proviseur de lycée in Paris war, zurückgezogen hat. Sie begeistert sich an den unsterblichen Werken der antiken Welt, wie sie sich bis heute erhalten haben, genießt die herrliche Natur des Landes, liest fleißig französische Bücher, wozu sie hier nur selten gelangt. So hoffe ich sie, trotz aller noch vorkommenden Störungen ihres Gesundheitszustands (durch übermäßigen Blutdruck und Herzkranzarterienerkrankung hervorgerufen), gestärkt wiederzusehen. Da sie noch hofft, die Ausreiseerlaubnis nach Spanien zu erreichen, um nach achtjähriger Trennung unsere älteste Tochter Itta wiederzusehen, werden noch einige Wochen bis zu ihrer Rückkehr vergehen. Da ich mit Sésée und ihrer Familie zusammenlebe, ist für die Bedürfnisse des täglichen Daseins hinreichend gesorgt. Dass mir ihre Güte, ihre Liebe, ihr moralischer und geistiger Zuspruch, ihre Freude an allem Herzlichen dieser Welt, ihr Tiefblick in die andere Welt in dieser Zeit der Trennung fehlt, brauche ich Ihnen, die Sie sie doch auch ein wenig kennen, nicht zu verschweigen. Zum Glück habe ich noch die Leitung des Kunsthauses, die Sorge für die städtische Sammlung und demnächst für die in Aussicht stehenden wechselnden Kunstausstellungen, die wegen der nicht überwundenen Raumnot noch immer nicht möglich waren.

Und nun lassen Sie mich bald wissen, wie Ihre Lage ist, wie es Ihrer Familie geht, was Sie arbeiten, wie der Erfolg Ihrer Ausstellung war, was für das Andenken Weinhebers zu tun bleibt. Ich nehme an, dass Sie weiterhin an der Ordnung und Herausgabe seines dichterischen Nachlasses mitzuwirken berufen sind. Taucht die Frage auf, ob es gar keine Prosa von ihm gibt. Oder hat er Wesentliches auch seinen Briefen anvertraut, auf deren Veröffentlichung dann zu rechnen wäre. Nach der Zeit der Erntearbeit finden Sie gewiss eine Stunde, um den so lange liegen gebliebenen Faden weiterzuspinnen.

Inzwischen Ihnen, Ihrer Gattin und den Kindern herzliche Grüße Ihres alten Heinrich Becker

231 1949

Rutarhof, den 28. Sept. 49

Lieber, verehrter Herr Dr. Becker!

Eine der ganz großen und seltenen Freuden war es, einmal wieder von Ihnen hören zu dürfen. Zugleich hätte ich allen Anlass gehabt, diesen gütig-schönen Brief als Vorwurf zu empfinden, und doch rechne ich bei Ihnen wie kaum sonst bei einem Menschen auf verzeihendes Verständnis. Nie aber wird Schweigen bei der steten Innigkeit unserer Verbindung Entfremdung oder Erkalten bedeuten.

Besondere Ereignisse ließen Sie obendrein auf diesen Brief noch länger warten, als es sich gehört. Ich war fort, ich war – seit wieviel Jahren? – zum ersten Mal wieder in Deutschland, auf knapp drei Tage zwar, nur mit dem kleinen Grenzpassagierschein und ausschließlich in München, doch hätte mich keine Weltreise heftiger bewegen können. Das auslösende und erfüllende Ereignis war der Besuch der Ausstellung des Blauen Reiters, das München mehr Ehre macht als so ziemlich alles, worauf es sich als Kunststadt gern viel zugutetat. Es war schon unheimlich genug, diesem Deutschland zum ersten Mal wieder gegenüberzutreten. In München sind ja die Trümmer wohl lange nicht so furchtbar wie anderswo und die Menschen leben und setzen sich darüber hinweg, als wäre nichts geschehen. Die Spannungen des geistigen und künstlerischen Lebens sind unvergleichlich stärker und schärfer als hier, das Tempo des täglichen Lebens – sichtbar von Tüchtigkeit geladen – ist erstaunlich. Und doch wollte mir nicht alles gefallen, und neben krasser Not schien sie mir schon wieder zu wuchern – „die Geschwulst der Überdeutschheit auf gnadelosen Stirnen“. Doch will und muss ich mich hüten, ungerecht zu sein. „Noch leben Kinder und Blumen“, heißt es im Gedicht, und ich weiß tröstlich: „Noch leben Beckers in Deutschland“.

Über die Ausstellung des Blauen Reiters haben Sie gewiss mancherlei erfahren. … Die Bemerkung Günther Frankes, man hätte besser zugleich das Fazit gezogen = gezeigt, erschien mir reichlich fragwürdig. Übrigens habe ich mit inniger Freude die Mackes angeschaut, anmutig wie kaum etwas deutscher Herkunft, das unergründliche Ingenium Klees konnte man, wie nie sonst, aus und in seinen Anfängen schon bestaunen. Viel wäre zu sagen noch, doch über eines darf ich nicht hinwegschweigen. Obschon durchaus nicht verständnislos für die Bildmittel einer neuen Zeit, für Reinheit und Disziplin rein farbig-formaler Organisation, war ich doch ein wenig perplex über die Radikalität, mit der eine junge Generation die Abstraktion vorträgt. Ob diese Deutschen dabei aus dem Eigensten und Innersten ihrer Seele die Impulse empfangen, erschien mir sehr fraglich.

232 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Ach, könnte ich nur mit Ihnen jetzt reden und auch zeigen, wie meine Arbeit, an deren Sinn ich nach unerbittlicher Prüfung noch glauben muss, weitergedieh. Nach dem Tode meiner Mutter, zu dem Ihre Gattin Ende Februar so angreifend schön schrieb, war mir das Leben öd und leer. Nach kaum überstandener, schwerer Krankheit war ich, da mein Wirtschafter operiert wurde, bei der Frühjahrsbestellung angehängt, ohne zur Besinnung zu kommen und das war nur gut. Im Mai rührte ich nach langer Zeit wieder die Pinsel, dann kam die große Mahd und anschließend hatte ich eine selten gute Arbeitszeit, dank der fleißigen Hilfe der Kinder in den Ferien.

Um die Weinheber-Angelegenheiten steht es nicht allzu gut. Frau Weinheber hat übrigens unlängst Deutschland bereist und eine Reihe von Abmachungen mit deutschen Verlegern getroffen, die sich bald auswirken dürften. Äußerlich sind meine Beziehungen zu ihr nicht schlecht, doch muss ich sagen, dass sie der Sache Ihres Mannes in keiner Weise gewachsen ist und sich nur allzu gern von fragwürdigen Literaten bestimmen lässt. So ist kürzlich ein reichlich fatales, weil geistig und sprachlich unzulängliches, Weinheber-Buch von Fr. Sacher erschienen und ein zweites ist im Druck, dessen Urheber, Finke, kein Vertrauen zu erwecken vermag. Doch treten neben sturen Feinden und billigen Freunderln auch andere Geister auf den Plan, deren einer, Edwin Hartl, Präsident der Karl-Kraus-Gesellschaft, kürzlich einen ausgezeichneten Vortrag über Weinheber hielt. Mit ihm stehe ich in guter Verbindung.

Die Wiener Ausstellung, nach der Sie fragen, hatte guten Erfolg und brachte uns auch fürs erste über die wirtschaftliche Not, die groß ist, hinüber. Ansonsten ist Wien kein guter Boden für die bildende Kunst, der keine der großen Bewegungen unserer Zeit zu rezipieren vermochte und jetzt – verdächtig genug – lediglich die Spielformen des Surrealismus gedeihen lässt. Von einer Freude besonderer Art muss ich noch berichten. Während seines Wiener Aufenthalts schrieb mir Oskar Kokoschka, dessen spätere Arbeiten mir nicht sonderlich nah sind, impulsiv einen begeistert zustimmenden Brief. Das war gut und groß getan.

Ob Ihre Gattin inzwischen zurückgekehrt ist? Ein oft unerträglich schweres Leben müsste ich allein der Begegnung mit Ihnen beiden wegen preisen.

Eine schwere Wolke beschattet in diesem Augenblick unser Leben. Wie immer das ausgeht, sollten Sie wissen, wie mich Ihre dargereichte Hand ehrte, rührte und verpflichtete. Wissen auch, dass ich als Künstler nach dem Maß meiner Kräfte keiner Entscheidung ausweiche. Immer bleibe ich in Dankbarkeit und Herzensergebenheit Ihr getreuer Werner Berg

233 1949

1950 Auf einer Tagung zeitgenössischer Autoren und Komponisten in St. Veit a.d. Glan lernt Werner Berg die Dichterin Christine Lavant kennen. Sofort ist er sowohl von der Erscheinung der zerbrechlichen Frau als auch von ihrer sprachgewaltigen Lyrik begeistert. Eine schicksalhafte, intensive Liebesbeziehung verbindet bald die beiden.

Werner Berg ist mit Holzschnitten auf der Biennale in Venedig vertreten, die Holzschnittblätter werden jedoch entstellend beschnitten.

234 SONNTAGSWAGGERL, 1950

Rutarhof, den 1. Jänner 1950 Liebe, verehrte Beckers!

Noch immer habe ich nicht für den wunderschönen Brief aus Madrid gedankt und da ich Sie, liebe, verehrte Frau Becker, nun wieder in Bielefeld vermute, wo man Sie gewiss sehnlich erwartet hat, will ich es endlich tun. Mit diesem Briefe waren Sie wieder ganz da, mit der schwingenden Kraft und Freiheit Ihrer Seele, die über Druck und Not der Zeit noch immer triumphierte, mit Ihrem starken Sinn für die Größe und Schönheit der Welt und ihr innerstes Gehäuse: die Kunst. Und gleich musste ich an die nie vergessenen Stunden denken, die letzten vor dem Kriege, da wir, meine Frau und ich, mit angehaltenem Atem vor den in Genf ausgestellten Herrlichkeiten des Prado standen. Auch die Bilder haben ihre Schicksale, und kaum sind mir welche schicksalsträchtiger erschienen als diese in jenem schicksalsgeladenen Augenblick. Über zehn kostbare Lebensjahre sind seitdem dahin, nicht auszudenken, was in Ihnen geschehen, – doch wann werden wir wieder atmen können, wann je wieder atmen dürfen?

Vor Weihnachten war ich in Wien und bin dadurch zu keinerlei Schreiberei gekommen. Das war der äußere Grund, ein anderer, der stumm macht, liegt in dem Umstand, dass die Sorgen einfach übermächtig werden. Doch lassen Sie mich schweigen von dem Unheil des verabschiedeten Jahres, über diesem Augenblick liegt etwas vom Glanz eines ersten Morgens und neuen Beginnens, den ich für immer festhalten möchte. … Oft schmerzt es mich, dass ich in keinem lebendigen Kontakt mit Ihnen stehen kann, mich nicht Ihres Zu- und Widerspruches erfreuen und Ihnen meine Arbeit zeigen darf. Es nutzen da auch die Weisheiten, deren allzu viele im Umlauf sind, wenig, um die Position zu bestimmen, damit es sich erweise, ob das Holz dürr ist oder im Safte steht. Und doch muss ich Sie bitten zu glauben, dass ich den Zuruf und den Händedruck, dessen Sie den jüngeren W. B. einst würdigten, nun älter und beladener, dennoch nie vertan habe. Es war mir – helas! – nicht vergönnt, zu einer der großen Zusammenkünfte aufgerufen zu werden, wie deren eine eben noch unerhört eindrucksvoll in der Retrospektive des Blauen Reiters vergegenwärtigt wurde, aber auch in der kargeren Zeit habe ich nie das große Rauschen des Windes vergessen und will abtreten, bevor die Not mich zur Dürftigkeit zwingt. Viel bin ich Ihnen, den geliebten und verehrten Freunden, schuldig geblieben, doch nicht vor die Hunde gegangen. …

Meine Frau und die Kinder – die Ursi ist inzwischen großjährig geworden und lernt neben der schweren Magdarbeit eifrig Französisch – lassen sehr herzlich grüßen. Ich bleibe immer Ihr treuergebener Werner Berg

235 1950

Martha Becker, Bielefeld – 20. 12. 50

Lieber Werner Berg und liebe Frau W. B., Sie sind unvergessen – seien Sie beruhigt. – Am 2. 12. war Prof. Hans Sedlmayr hier. Seit Jahren hatten wir nicht etwas gehört, dass so schön gestaltet, von hoher Warte – mit umfassender Schau – der Mensch so sympathisch – wir waren alle froh und ihn zu sehen, zu hören. Das führte die Gedanken zu Ihnen, lieber Maler, zu Ihrer Kunst. Was macht sie, Ihre „Muse“ – à quels tableaux vous inspire – t – elle?? … La lutte pour la vie est-elle aussi dure qu’il l’humeur joue un vilain rôle. … Wir leiden sehr unter den Kontrasten, Widersprüchen. Das ist, was uns schweigsam macht. Aber wir hören gern über Sie alle – schreiben Sie bitte!

Herzlichst M.B.

236 WERNER BERG UND CHRISTINE LAVANT, 1951

1951 Werner Berg zeigt eine umfassende Ausstellung im Künstlerhaus Klagenfurt. Er lernt Adele Kaindl, Ministerialrätin im Bundesministerium für Unterricht und Kunst kennen, die seiner Arbeit sehr zugetan ist und diese in den folgenden Jahren durch wiederholte Ankäufe für das Ministerium fördert. Christine Lavant ist häufig auf dem Rutarhof zu Gast, wo die Bildnisse Christine Lavant entstehen. Die älteste Tochter Ursula heiratet nach Werner Bergs anfänglichem Widerstand Heimo Kuchling. Das Loslösen vom Hofe geschieht hier und auch später bei Bergs anderen Kindern unter großen Spannungen. Zu Weihnachten schreibt Werner Berg an Maria Schuler: „Ich bedenke vieles und prüfe die eigene Situation dann allemal streng bis an die Grenze meines Bewusstseins. Machen, Konvention, Betrieb und so viel nachgerade zum Landläufigen umgestülptes Hintergründige wollen sich mir nicht recht mit der schicksalshaften, inneren Figürlichkeit eines Künstlers, die sich erst in einem ganzen Leben erweisen kann, in Einklang bringen lassen. Das Andersgeartete meiner Aufgabe und Lage erscheint mir nach oft schmerzlicher Selbstkritik zuletzt dennoch bedeutsam und notwendig, und das nicht nur als ein Fall privater Rückständigkeit. Könnte ich nur endlich in den Mannesjahren, in denen man doch den Boden unter den Füßen schon etwas fester getreten haben sollte, mit ungehemmter Kraft ansetzen und arbeiten, arbeiten! Aufgeben tu ich aber nicht, und das härteste Leben bleibt eine große Sache, die man nicht für ein Sechserl veräußern sollte. So habe ich Hoffnung und eine Spur echter Gelassenheit, ob ich auch vor Ausweglosigkeit oft tobe oder, schlimmer, müde werden will.”

237
1951
CHRISTINE LAVANT,

Rutarhof, den 15. Jänner 51 Liebe, beste Frau Becker, lieber, verehrtester Dr. Becker!

Ganz unbegreiflich erscheint es mir selbst, dass ich Ihnen heuer das erste Mal seit manchen Jahren nicht zur Weihnachtszeit geschrieben hätte. Aber leider: es ist so, es kam überhaupt keine Zeile aus mir heraus, denn das Schicksal hatte tief in mein Inneres gegriffen und im Äußeren gab es Sorgen über Sorgen.

Ja, „la lutte pour la vie“ ist furchtbar genug in dieser Zeit eines morschen Friedens, die zu keiner Erneuerung aus dem Geiste fähig ist und allen Wahn wieder unheilvoll häuft, – aber ich will jetzt nicht in dieses Jammerlied einstimmen. Wie es aber in mir innen aussieht, davon werde ich schon noch einmal berichten, wenn es erst in meiner Seele etwas aufgeräumter aussieht. Ganz gewiss sind auch Sie unvergessen in meinem und unser aller Herzen. Es ist mir nur immer schmerzlich bitter, wieviel Entfernung sich zunehmend zwischen dort und hier, unsere lebendig-schöne Verbindung legt. Doch ob es auch nur theoretisch gesagt ist, wollen Sie doch wissen und spüren, dass und wie meine Gefühle Ihnen ungemindert zustreben, dass ich aber auch nicht unter die Flauen und Lahmen geraten bin. Warum nur durften wir nicht in lebendigem Kontakt miteinander bleiben!

Nehmen Sie dieses vorläufige Zeichen bitte als Unterpfand meiner immerwährenden Herzensergebenheit auf! Der ganze Rutarhof gedenkt Ihrer in Treue. Gott behüte Sie und die Ihren! Ich bleibe wie je in verehrender Freundschaft

Ihr alter Werner Berg

PS. Sedlmayr versteht, ich begreife es, sehr wohl zu imponieren. Ein guter Mann ist er dennoch nicht.

Martha Becker, Bielefeld, 23. 1. 51

Mein lieber Maler W. Berg und Freund, hier ist Ihr Brief vom 15. und gibt uns ein Rätsel auf – das wir geahnt haben, ohne klar zu wissen, was Sie leiden macht. Es ist ein Durchgang – auf einer gleichmäßigen Ebene oder Höhe spielt sich unser Leben nicht ab, auch nicht das Familienleben. Täglich stellen wir fest, wie das jetzige Leben die Menschen vor innere wie äußere Schwierigkeiten stellt, die man in der Weise früher nicht gekannt hat. Leider sprechen Sie nicht über Ihre Malerei – Ihr eigenes Schaffen – es ist auch ein Schweigen darüber, das uns fragend lässt. –

238 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Der Schlusssatz Ihres Briefes über Sedlmayr hat mich tief betroffen – er kam uns so in sich, sicher, abgerundet vor, so klar in Kunstfragen und vielleicht im Leben auch. Wie sollen wir den Tadel auslegen? Aber ich weiß zu gut, wie dieses nach außen gezeigte Bild oft ein Trugbild ist. Wie das Leben ganz andere Eigenschaften fordert. …

Morgen Abend haben wir unsere erste Versammlung der Deutsch-Französischen Gesellschaft und ein junger Dozent aus Göttingen, ein Franzose, wird uns einen Vortrag halten. – Hoffentlich verstehen die Menschen, was wir suchen: gegenseitiges Vertrauen, um endlich ein lebendiges Europa zu bilden – und Europäer zu werden. – Es ist wohl das letzte Mal, dass wir handeln für den Frieden. – Mein Mann hat eine sehr schöne Corinth-Ausstellung gemacht, die die Menschen begeistert. Wann werden Sie, lieber Werner Berg, einmal zu uns kommen – viel was uns bewegen kann, zu erzählen? Für uns ist manches nicht leicht und die allgemeine Nervosität unserer Zeit lähmt uns und wir fragen uns manchmal: hat alles noch einen Zweck?? Aber ich weiß, so darf man nicht denken. – Wir fühlen auch oft diese Neige des Lebens, den Sonnenuntergang! … Die Probleme der Kunst sind auf derselben Ebene wie die des Lebens. Wie wird es aussehen in 200 oder 300 Jahren?? Wir grüßen Sie – alle dort – aber im Geiste sehen wir Sie, der doppeltes Leben führen will – mögen Sie Kraft finden. Von Rilke ein schönes Wort: Der Weg von Innigkeit zur Größe geht durch das Opfer.

Herzliches Gedenken – es gibt keine Raumtrennung – die Nähe ist oft eine Trennung, weil die Menschen im Zusammenleben unvollkommen sind. Hoffen Sie! Amicalement Martha Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 23. 1. 51

Liebster Werner Berg,

Ihr letzter Brief, den ich mit herzlichstem Anteil gelesen, bestätigt mir, was ich in früheren gefühlt habe, dass Sie viel Schweres durchzumachen haben. Es ist leichter davon zu sprechen, als darüber zu schreiben. … Auch wenn wir seltener schreiben, unsere Gedanken und Wünsche gehen öfter zu Ihnen und Ihrem ganzen Lebenskreis, als Sie ahnen. In unseren Herzen haben Sie einen unverrückbaren Platz. Da könnten Sie nicht heraus, ohne eine schmerzliche Leere zu lassen. Was wahr ist: wir werden beide älter und das heißt, weniger sprungbereit, weniger impulsiv und mitteilsam. Aber drinnen ist nichts anders geworden, sind Sie unser alter bester Freund, dessen Leben und Schaffen uns innigst angeht und zu dem wir stehen, wie wir können.

239 1951

Vor den Schatten, die keinem alternden Leben erspart bleiben, weiche ich aus in die Arbeit. Ist es Flucht? Ist es Erfüllung des Lebenssinnes? Seit vier Jahren lebe ich als Lehrer im Ruhestand, durch meine Arbeit für das Bielefelder Kunsthaus im Zustand beständiger Unruhe und Tätigkeit. Wären nicht die trennenden Ländergrenzen, hätte ich Sie längst mit dem Ertrag Ihrer Arbeit herbeigerufen. Wann können Sie wieder kommen? Für Spätherbst plane ich eine Ausstellung moderner Graphik. Können Sie dabei sein? Schreiben Sie mir bitte bald, wie es um Ihr Schaffen steht? …

Wenn Sie von den Vorgängen des eigenen Inneren nicht sprechen können, berichten Sie uns von Ihrem äußeren Leben, in dem sich gewiss manches Unsagbare andeutend widerspiegelt. Wir warten mit Geduld, aber es herzlich herbeiwünschend, auf Ihr nächstes Wort. Grüßen Sie die Ihren und den Rutarhof und Ihr ganzes schönes Land von Ihrem getreuen H. Becker

Liebe, verehrte, allzu ferne Becker-Freunde!

Eberndorf, Karfreitag, 7. 4. 51

Wie alljährlich, zeichne ich auch heuer wieder an den dunkelgroßen Kar-Tagen in Eberndorf. Längst will ich Ihnen wieder ausführlicher schreiben, heute wünscht Ihnen nur im Namen aller Rutarhöfler ein schönes, frohes Fest, an dem kein Regen- noch Sorgenwölkchen den Osterhimmel über Ihnen trüben möge, Ihr allzeit treuergebener W. B. Rutarhof, den 29. Mai 51

Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Heute schreibe ich Ihnen nur wegen zweier konkreter Dinge und einer kuriosen Neuigkeit. Diese will ich vorwegnehmen: zu Pfingsten hat sich unsere älteste Tochter Ursi verheiratet. Hart genug ist uns das angekommen, aber es soll der Lauf der Welt sein. Vorerst komme ich überhaupt nicht mehr aus dem Geschirr und durch die Arbeit.

Vielleicht haben Sie in diesen Tagen eine Reihe Bilderfotos erhalten und wissen nicht, wieso das geschah. Von einem Studienrat in Bonn, der bei der Herausgabe neuer deutscher Lehrbücher mitwirkt (Diesterweg-Verlag), war ich aufgefordert worden, Reproduktionen einzusenden, von denen einige für den Druck ausgewählt wurden. … Die Fotos gingen von dort an den Piper-Verlag. Reinhart Piper hatte vor einem Jahr den Holzschnitt „Der Taubstumme“

240 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

erworben und rechten Gefallen daran gefunden, jetzt wollte er etwas für seinen nächstjährigen Kunstkalender haben. Als seine Sekretärin, Fräulein Schuler, die wir sehr schätzen gelernt haben, wegen der Rücksendung anfragte, kam mir der Gedanke, Ihnen vorher die Reihe noch zusenden zu lassen. Es ist ein rechtes Durcheinander, von dem Sie bereits manches kennen, manche Aufnahmen neuerer Arbeiten missraten sind und noch mehr fehlt. Dennoch war mir der Gedanke lieb, dass Sie es anschauen möchten. Hielten sie es für geraten, die Aufnahmen dann Dr. Dirksen zu zeigen? Er ist gewiss ein tüchtiger Mann, nur kam er mir immer reichlich beamtenhaft und als die eigentliche Ursache vor, dass keine Spur meines Namens in meiner Heimatstadt aufbewahrt blieb. Andernfalls würde ich Sie herzlich bitten, die Fotos an Walter Bauer weiterzusenden, der auch seit Jahren nichts von meiner Arbeit gesehen hat. Seine Anschrift lautet: Stuttgart-W., Hasenbergsteige 63 Alsdann bekam ich einen Brief von Mme Laureillard. Natürlich freut mich das Lebenszeichen ungemein, nur bringt mich die Anfrage ein wenig in Verlegenheit, da ich so gut wie nichts über die hiesigen Fremdenverkehrsverhältnisse weiß und wir ja in einer zivilisationsfernen Wildnis wohnen. Aus diesem Grunde und dem recht beengter und einfacher Verhältnisse, kann ich auch kaum dran denken, Mme Laureillard zu uns einzuladen. … Auch habe ich stets einige Angst vor der Verantwortung, falls es nicht zur Zufriedenheit ausgeht. … Ich werde jedenfalls bald antworten und mein Möglichstes tun. Die Zustände im schönen Österreich sind nicht rosig und wir leben überdies in der windischen (slowenischen) Ecke.

Sehr wohl weiß ich, dass Sie einen ganz anderen Brief von mir erwarten und erwarten müssen. Er wird gewiss kommen, wenn auch nicht so bald, noch bin ich längst nicht wieder bei mir. Die Erlebnisse der letzten Zeit waren von ungeheurer Merkwürdigkeit.

Leben Sie wohl mit Ihrer ganzen Familie! In aller und alter Herzlichkeit bleibe ich Ihr getreuer Werner Berg

Martha Becker, 6. 7. 51

Lieber Herr Werner Berg, Ihre letzte Karte erinnert uns, dass wir noch nicht auf Ihren Brief geantwortet haben. … Mein Mann macht eine Ausstellung nach der anderen – mit Erfolg (Geld weniger!). Ich bin in mehreren Arbeiten für den Frieden und die friedliche Auseinandersetzung der Staaten, wenn’s nötig wird. Es wird hier viel gehetzt, viel Angst gemacht, sie ist ein Geschäftstrick geworden. Ich bin

241 1951

über alles empört! … Wir machen Reisepläne – noch nicht zu Ihnen – wir wollen Frankreich und Spanien bereisen. Mein Mann kennt den Prado nicht und es ist alles dort so einzig schön und wertvoll. Und den Paco kennt er auch nicht – unseren Schwiegersohn.

Ihre Tochter verheiratet! Wie eigentümlich ist mir zumute – ich weiß, wie eins nach dem anderen ankam und wie Ihre Familie so kinderreich wurde.

Eine neue Erfahrung des Lebens ist, dass die Frau immer mehr Kraft und Geduld aufbringen muss – bis zuletzt! Und welche Schicksale haben wir seit Kriegsschluss erlebt! Wie leicht leben sich Menschen auseinander. Aber es muss gehen – es muss jeder dem anderen genug Freiheit gönnen und auf Rücksicht beruht das gemeinsame Leben. Das wünschen wir alle dem jungen Brautpaar. Später hören wir mehr darüber – wo leben sie? Doch nicht mit Ihnen – es ist besser getrennt. Jeder muss sich sein Leben gestalten nach den Anlagen. …

Könnte ich Ihnen nur mehr schreiben über die Kunst – diese bezaubernde Insel für Menschen, die sie lieben und um sie schaffen. … Ich hoffe, mein armer Mann kommt auch dazu, einmal zu schreiben. Er hat keine Sekretärin und zu viel zu tun – (dank seiner Gewissenhaftigkeit) und zu wenig Geld von der Stadt für Ankäufe. Einmal möchte ich den Rutarhof sehen und dort ausruhen! Ihre Freunde Heinrich und Martha Becker

Klagenfurt, den 21. Dez. 51 Liebe verehrte Beckers!

Ihr Kartengruß aus Spanien war eine große, seltene Freude. … Der Brief, den ich Ihnen schon allzulange schulde, kann noch nicht geschrieben werden. Ich bin noch nicht so weit und die realen Verhältnisse sind überdies unsicherer denn je. Zurzeit liegt unsere Hilde sehr krank danieder und hat arge Schmerzen auszustehen. Ich konnte erst jetzt das erste Mal von daheim fort, um etliche Weihnachtsbesorgungen zu erledigen, im Augenblick sitze ich in Klagenfurt an einem fremden Tisch, um Ihnen einen Weihnachtsgruß zu schreiben. Aus ihm möchten Sie beide doch nur eine Spur jener Herzlichkeit erkennen, mit der ich stets an Sie, an eine der schönsten, reinsten und stärksten Begegnungen meines Lebens, denke. Immer ist in mir gegenwärtig, wie arg ich auch das Fluidum Ihrer Nähe und Ihres Anblicks entbehren muss. … Ach, dass sie doch je wieder menschlich würde, la „Terre des hommes“!

In Freundschaft, Verehrung und Dankbarkeit bleibe ich allzeit

Ihr treuergebener Werner Berg

242 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1952 „Eine Woche waren wir ohne jede Postverbindung; wollten sie einen unausgepflügten Steig gehen, so blieben Sie gleich bis zum Bauchnabel stecken. Aber herrlich ist das, für uns der schönst denkbare Lebenszustand, besonders dann, wenn ich die Pinsel halten und das Werk wieder unter den Händen darf wachsen fühlen. Im gleichen Augenblick pfeif ich auf alle Doktrinen und zeitzugespitzten Reflexionen, sondern atme voller und tiefer, weil sich die Segel wieder mit Wind füllen und das Boot gleitet. ... Dann preist man das Leben und möchte flehen, dass es nicht einstürzt. Ich muss nur immer weniger auf das Getriebe und Geschiebe draußen schaun, um den Innenraum vor Versehrung und Verstörung zu bewahren. Aber wenn mir die Hände taugen, will ich mich nicht über die unfähigen Ellbogen beklagen. … Wenn ich mir auch keinen Generalnenner für Zeit und Auftrieb weiß, wie er einstmals Generationen emporgehoben hat, so lebe ich doch in und von dem Bewusstsein, dass mein Tun nicht nur eines für Hausgebrauch und Gefühlsamkeit ist”, schreibt Werner Berg an Maria Schuler und an Dr. Feldner, den ehemaligen Direktor des Kärntner Kunstvereins: „Sagen muss ich noch, was Sie wohl oft schwer einsehen mochten, dass mir keinerlei Vereinswesen liegt und dass, so unerlässlich manches Organisatorische ist, die Dinge des notwendig einsamen künstlerischen Bemühens mit dem Gemein-Machen schwer zusammengehen wollen."

243 PFERDE IN DER NACHT, 1952

Rutarhof, den 7. Febr. 52

Liebe, verehrte Beckers!

Verzeihen Sie tausendmal, wenn ich mir gestatte, außer allem Zusammenhang eine Anfrage an Sie zu richten.

Vom Bundesministerium für Unterricht wurde mir soeben eine kleine Subvention für eine Reise nach Paris in Aussicht gestellt. Sicher ist das noch nicht, aber doch wahrscheinlich, und möglich ist, dass es überraschend schnell auf die Reise geht. Für den Fall möchte ich Sie fragen, ob das kleine Hotel an der Place de l’Odéon, in dem ich damals so großartig dank Ihrer Fürsorge untergebracht war, noch existiert und in etwa auch erschwinglich ist. Oder wissen Sie vielleicht ein anderes Quartier für einen bescheidenen, kleinen Mann?

Der Gedanke an die Reise erscheint mir zunächst noch ungeheuerlich, auch komme ich eben jetzt im tiefen Winter zum ersten Mal wieder zu etwas Atem und Sammlung. Meine Frau aber setzt mir trotz aller Miseren heftig zu, und zuletzt mag sie mit ihrer Meinung nicht unrecht haben, dass ein solches „Ausbrechen“ heilsam und notwendig sein kann. Ich aber möchte dann sehen, sehen und wieder sehen! Auch hoffe ich sehr, auf einer Tour in Deutschland Station machen zu können.

244 HÄNDLER, 1952

Für diesen oder jenen Tipp wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich weiß ja gar nichts von den Verhältnissen drüben. Wahrscheinlich fährt ein junger Kunstschriftsteller mit mir, der aber überhaupt noch nicht in Frankreich war. Wie reich waren die Tage im Herbst 37 in Paris!

Bitte seien Sie nicht ungehalten, dass ich so dreist frage, aber ein Fingerzeig von Ihnen wäre mir wie ein Segen, und schreiben Sie, falls es Ihnen überhaupt jetzt ausgeht, allenfalls nur ganz kurz, im Telegrammstil.

In herzlicher Dankbarkeit und Anhänglichkeit stets Ihr getreuer Werner Berg

Martha Becker, Bielefeld, 9. Febr. 52

Lieber Herr Werner Berg, mein Mann ist mit dem Kunstverein in Hannover, um eine Barlachausstellung zu besuchen. Ich blieb zu Hause, da ich mich weiterhin schonen muss: es war gut, denn gerade kam Ihr Brief vom 7. – ich antworte sofort: L’hôtel de la Place de l’Odéon, 6. Place de l’Odéon, Paris 6em, empfehle ich Ihnen wieder, wir waren selber wieder da, ein paar Tage auf der Rückreise, Mlle Vigny ist da so angenehm. Ich werde Ihr morgen schreiben und Sie empfehlen, denn es ist stets ein großer Fremdenverkehr. – Sehr empfehlen wir Ihnen: Le musée de l’art moderne (das modernste – von heute!), avenue Wilson – sehr junger Direktor Dorival, sehr angenehm und tüchtig.

Le musée de la salle du Jeu de Paumes – ständig Impressionistes Français, Ausstellungen, die wechseln, alle gut. – Le musée de la salle de l’Orangerie. Sie werden Ihre Freude haben.

Paris ist aber sehr teuer. Im Hotel nehmen Sie ein Zimmer im 3. oder 4. Stock, morgens Frühstück im Hotel. Die Preise sind der Teuerung angemessen aber noch mäßig gegen andere. Mittagessen oder Abendessen (eine warme Mahlzeit müssen Sie einnehmen, es ist in der rue Racine ein Restaurant Dural). … Ich schicke Ihnen diese erste Auskunft, überlege morgen mit Henri und wir schreiben noch einmal, wenn ihm etwas Besonderes einfällt. – Die beste Zeitung in Paris: Le Monde. Viele Zeitschriften, Bücher in Unmenge!

Wie lieb, dass Ihre Frau Sie unterstützt. Ich halte die Reise auch für unbedingt wichtig. Mein Mann war wie verwandelt – arbeitet jetzt zu viel. Hat eine sehr schöne Ausstellung – Katalog folgt. Alles Gute!

Mit Mlle Vigny können Sie offen sprechen und sie wird Sie gut beraten.

245 1952

München, den 11. III. 52 Liebe, verehrte Beckers!

Bevor es nun gleich wieder über die Grenze geht, möchte ich Ihnen noch einen kurzen, aber sehr herzlichen Gruß senden. Schmerzlich leid hat es mir getan, Sie diesmal nicht aufsuchen zu können, in Deutschland ist es für uns überaus teuer. Sie mögen sich denken, wie ich vollgepfropft mit Eindrücken heimreise, ein solches In-die-Welt-Geworfenwerden ist zurzeit vielleicht auch notwendig, gewiss aber fruchtbar. … Mit dem Näherkommen wächst die Sorge um den Rutarhof. Zum Glück habe ich beruhigende Post, der auch ein paar Sonderdrucke beilagen, von denen ich einen diesen Zeilen beifüge. Im tiefsten Grunde habe ich den Glauben an das mir Aufgegebene nicht verloren und halte den Rutarhof mit seinen steinigen Äckern für einen fruchtbaren Ort auf Erden in dieser Zeit. Wie erschreckend viel falsche und laute Tonart herrscht schon wieder in Deutschland! Auch in der Kunst.

Seien Sie so herzlich wie dankbar gegrüßt von Ihrem getreuen Werner Berg

Martha Becker, Paris, 7. Sept.

Liebe Werner Bergs, wir waren heute in der Abtei von Royaumont, wo Menschen aus allen Ländern Europas sich treffen und ihren Willen zur Einheit bekunden. Wir werden erst Ende Oktober wieder nach Bielefeld zurückfahren und bis dahin schreiben Sie uns dorthin. Mein Mann hat schöne Ausstellungen gemacht, intensive Arbeit. Wir brauchen beide Ruhe, Ruhe und Frieden.

Mit vielen Wünschen und Grüßen M. Becker

Poststempel, 20. 12. 1952

Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Unendlich habe ich mich über das Lebenszeichen gefreut und wünschte mir so oft ein Wiedersehn. Auf dem Foto sehen Sie den Obir vom Atelier aus; ob Sie ihn nicht einmal anschauen kommen könnten? 1952 war ein rechtes Flegeljahr, 53 möge es besser machen.

Seien Sie in alter Herzlichkeit zu den Feiertagen gegrüßt von Ihrem getreuen

W. B. und Familie

246 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1953 Werner Berg nimmt am 2. österreichischen Graphikwettbewerb in Innsbruck teil, für den Holzschnitt „Christine Lavant” erhält er den Preis der Tiroler Industrie. In Wien beteiligt er sich an einer Ausstellung Kärntner Maler in der Secession und schreibt dazu an Fritz Novotny: „Gern hätte ich Sie gebeten, einige Bilder anzuschaun, die ich zurzeit in der Secession ausgestellt habe. Der Gesellschaft und des Brimboriums drumherum war ich jedoch wenig froh, musste nur aus purer Existenznot mittun. Existenz? Ja, ich bin noch da und im Saft. Ich habe mit Stetigkeit und großer Anspannung weitergearbeitet, doch fast nie wusste ich den nächsten Tag gesichert. In solcher Lage schweigt man.” Die neuerbaute Dr. Karl Rennerschule in Kapfenberg zeigt eine Auswahl von 30 Ölbildern und 60 Holzschnitten: „Ausstellerei gab es auch inzwischen wieder, damit hat es auch allemal eine eigene Bewandtnis bei mir, außer dem damit verbundenen Umstandskram entsteht fast immer eine Leere innen als habe einem wer die Seele aus dem Leib gezogen.“

Den an ihn herangetragenen Wunsch, in Köln ein Wandbild zu gestalten, lehnt Werner Berg, wie immer wenn eine Auftragsarbeit von ihm gewünscht wird, ab: „In den langen Jahren meiner hiesigen Abseitigkeit habe ich zwar nie den Kontakt mit dem Geist und der Wirklichkeit unserer Zeit verloren, aber der ‚Auftrag’ ist nie an mich herangetreten, so dass ich nachgerade ausschließlich daran gewöhnt bin, aus den Gegebenheiten meines Lebens, aus innerer Bindung und einem seelisch stark auslösenden Moment die Form zu erarbeiten.”

247 LÄCHELNDE ALTE, 1953

Rutarhof, den 11. März 53 Liebe, verehrte Beckers!

Immer noch nicht habe ich Ihnen für Sterl-Büchlein und -Katalog gedankt und tue es doppelt herzlich als Zeichen Ihres mir immer kostbaren Gedenkens. Das alles – ich meine Sterl und bei Gott nicht Ihr Gedenken – liegt so rätselhaft weit aus der Zeit, die Erinnerung ist aber auf so gründlich wie noble Art aufgefrischt, dass man die Treue des Bewahrens gerührt bewundern muss.

„Weit aus der Zeit“ müssen Sie wohl als gemäßes Stichwort für mich selbst betrachten, ich lebe in Wahrheit aber mit der äußersten und innersten Anspannung darin und bin nur für die menschliche Gesellschaft so gut wie tot erklärt. Könnte, dürfte ich Sie doch noch einmal hier begrüßen und Ihnen die Ergebnisse alles Mühens zeigen! Ein Wiedersehen aber gibt es vielleicht doch, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass ich im Mai der verhaderten Erbschaftsgeschichte wegen nach Elberfeld fahren muss. …

Ach, was wäre nicht alles zu bereden, mitzuteilen, auszutauschen! Und gewiss wäre statt der furchtbaren Fremdheit sonst von Anfang die warme, gute Nähe da. Nicht selten denke ich daran, wie ich einst in der Detmolder Straße aufkreuzte. Das war wie ein lösender Abend voll Himmelsröte und Verheißung, nur kam danach ein Hundewetter über unseren Lebenstag. Die großen, wahren Gefühle hat es aber nie auszulöschen vermocht.

Eine Anfrage habe ich noch. In Elberfeld soll ein neuer Museumsdirektor eingezogen sein. Kennen Sie den Herrn oder seinen Namen? Ich wäre Ihnen wohl auch dankbar für ein Wort der Empfehlung in dieser Richtung, da ich in der alten Heimat nicht gern ganz vergessen wäre. Ich kenne keine Menschenseele mehr dort.

Von ganzem Herzen wünsche ich mit den Meinen, dass Sie wohlauf sind, und bleibe in herzlichster Freundesergebenheit

Ihr dankbarer Werner Berg

Martha Becker, Donnerstag, 19. März

Lieber Freund Werner Berg, es klingt so schön aus Ihrem Brief und tut wohl in einer Zeit der Unruhe, der Unrast und des Misstrauens. Mein Mann las ihn noch schnell vor der Abreise nach Kunststädten. Wenn er zurückkommt, wartet dringliche Arbeit. Er nimmt es so genau mit dem Kunsthaus und seinen Ausstellungen! Den Museumsdirektor von Wuppertal-Barmen kennt mein

248 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Mann sehr gut und viele andere, er wird schon Sie bekannt machen. … Meinen Mann hält seine Liebe zur Kunst jung; er leistet noch sehr viel, jeden Tag von morgens bis spät in die Nacht und begeistert!! Er hat keine Sekretärin, keine Hilfe – aber alles macht er vorbildlich. – Ganz so frisch wie er bin ich nicht mehr. Es lastet sehr die Unklarheit in der Welt und dass zwei Kriege weitergehen, die die einen vernichten und die anderen bereichern! Es stimmt etwas nicht – das Gefühl ist bedrückend, aber hier in Europa leben sie sorglos in den Tag hinein, als ob keine Gefahr droht! Und wer weiß, was kommen kann? Für heute viele Grüße an alle auf dem Rutarhof - und machen Sie wirklich diese Reisen – es ist nötig für Sie, alles zu sehen und über das Kunstleben zu erfahren. Leben Sie alle wohl und seien Sie, lieber Werner Berg, unserer Freundschaft sicher! M. Becker

Martha Becker, Sonntag, 5. Juli 53

Lieber Freund Werner Berg, Mai – Juni – sind verstrichen – und wo waren Sie?? Wir hatten so sehr gehofft, Sie wiederzusehen – hier!! … Wie gern hätte mein Mann seine Arbeit am Kunsthaus gezeigt, wo auch Sie wieder Gast sein sollen – möglichst bald! –Gleich wird eine neue Ausstellung eröffnet – ein Maler (Wiethüchter aus Barmen) und eine Ausstellung von Miniatur zu Fotografie mit köstlichen, kostbaren Sachen aus dem 19. Jahrhundert. Wir sind noch hier bis September – dann lockt Frankreich und Spanien. – Kärnten kommt auch einmal dran, sobald mein Mann freier ist. Die Frage des Direktors und ein neues Kunsthaus schwebt noch und Henri kann noch walten und tut viel Gutes und Anregendes. …

Mein Mann gibt sich ungeheuer viel Mühe, aber schwer ist das Publikum ins Kunsthaus zu locken; alles andere lockt es mehr. Es ist eine bittere Tatsache, nicht zu ändern! Trotzdem muss es weitergehen und die Möglichkeiten für eine kleine Schar gegeben werden. …

Rutarhof, den 10. Juli 53

Sehr liebe und verehrte Frau Becker!

Noch jede Zeile von Ihnen hat die ganze schwingende Kraft Ihres Wesens unmittelbar ausgeströmt und war wie eine stets zuverlässig über den Abgrund der Zeit hinweg beschreitbare Brücke. So auch diesmal (gestern) zu meiner Frau und meiner tiefen Freude. Nun will ich gleich antworten, – glauben sie

249 1953

mir, das Schreiben hätte Tag für Tag geschehen sollen, aber von jedem erhoffte ich mir immer noch eine günstige Wendung für eine bessere Mitteilung. Nein, ich bin keineswegs bei Ihnen vorbeigefahren, das wäre auch ebensowenig möglich gewesen, wie wenn eine Stecknadel dem Magneten hätte davonlaufen wollen. Aber es fehlte nicht viel, dann wäre ich damals, wie langher geplant, wirklich vor Ihrer Türe gestanden; die Enttäuschung, dass dann doch nichts draus wurde, habe ich nicht verwinden können. Mit unserer Klara, von der noch zu reden ist, war ich zwei Tage in München und wollte dann weiter zu Ihnen fahren. Da wurde mir ein kleines Sperrkonto, das man mir eben erst eröffnet hatte, vom Finanzamt für Lastenausgleich und Einkommensteuer (de facto habe ich nicht das Mindeste erhalten) beschlagnahmt und ich saß auf dem Trockenen. Das elende Lied der das fünfte Jahr nun sich hinziehenden Erbschaftsgeschichte will ich Ihnen aber nicht vorsingen, den Erbschein habe ich endlich bekommen und nun soll es doch noch zum Prozess kommen.

Vor gut einer Woche war ein alter Bekannter von Walter Bauer, ein Ministerialrat bei der niedersächsischen Regierung, den ich seit Jahren kenne, hier und wollte sich wenigstens wegen Freigabe des Kontos für mich verwenden. Ob das klappt, weiß ich nicht, aber sicher wird es sich in die Länge ziehen, sodass ich vor Ihrer Abreise im September kaum werde fahren können. Wie lange wohl etwa werden Sie ausbleiben? Unheimlich viel wäre zu bereden und alles läge mir mehr am Herzen als das misstönende Blech, mit dem ich notgedrungen diesen Brief eröffnen musste.

Fortsetzung Montag früh, – es gab doch eine Unterbrechung und kleinen Verzug, diesmal hätte die Antwort aufs schnellste weggehen sollen. Gestern kam überdies unsere Ursi mit Kind und Kegel zu ihrem allemal sehnlich erwarteten Jahresbesuch. Dass unsere Älteste in Wien verheiratet ist und einen Buben und ein Mäderl hat, wissen Sie wohl. Dann kommt Klara, die nun schon vier Jahre nach der Matura als Magd den Hof aufrecht hält, unglaublich fleißig und im Geistigen von einer nicht alltäglichen Spannkraft und Witterung. Doch jetzt ist es hoch an der Zeit und unsere größte Sorge, dass sie einmal in die Welt hinauskommt. Veit hat eben die Matura (Abitur) glücklich hinter sich gebracht und ist in diesen Tagen auf Schul-Maturareise nach –Marseille. Er ist ein sehr lieber und heiterer Kerl, will zunächst angesichts unserer Lage (ohne Zureden) auf dem Hof arbeiten, doch dahinter steht auch wieder das große Fragezeichen. Hilde besucht die Lehrerbildungsanstalt und wird nächstes Jahr fertig, es wird das letzte sein, in dem die quicklebendige Annette noch Begleitung auf der weiten Schulfahrt nach Klagenfurt hat.

250 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Sicher haben Sie nicht selten gefürchtet und geglaubt, ich sei nun doch zum flügellahmen Hinterwäldler geworden. Ich kann es aufrichtig und fest verneinen. Nur will es mir immer schwerer fallen, die „Währungen“ in eins zu setzen und die neue deutsche zu akzeptieren. Weder das fürchterlich Reaktionäre im öffentlichen Leben noch das Re-Reaktionäre der alleinseligmachenden abstrakten Kunst, das mit so viel penetranter Intoleranz vorgetragen wird, wollen mir eingehen. …

Im nächsten Jahr überschreite ich – Gott sei’s geklagt! – die Hundertjahrmitte, da soll ich ausstellen. Sehr gern hätte ich, wenn Ihr Gatte, sofern er das tun kann und mag, dem neuen Elberfelder Museumsdirektor mich empfehlen würde. Ich möchte ihm dann schreiben und so ein Heftchen schicken.

Das Tuttifrutti-Briefkompott meines Briefes ist inzwischen abermals abgestanden. Jetzt ist bei uns die hitzigste Arbeitszeit des Jahres: Roggenschnitt und Buchweizensaat gleichzeitig. Dann wird wieder die Sense mit den Pinseln ausgetauscht.

Der Briefträger ist da, der Hund bellt. Der Brief soll nicht wieder liegenbleiben. Allerherzlichst stets und getreu, Ihr Werner Berg

Martha Becker, Madrid, 7. Oct. 53

Lieber Werner Berg und Familie, wir sind hier – Ziel unserer Reise, zur Freude unserer Tochter. Mein Mann stundenlang im Prado, ein wunderbares Museum. – Der blaue Himmel, die milde Luft, sind köstlich. Sehr viel Leben in der Stadt. …

Ein herzliches Gedenken von M. Becker

Zu den unvergleichlichen Kunsteindrücken dieser Wochen kommt die gastliche Zuneigung und die Liebe unserer Kinder, die uns das schöne Land unvergesslich machen.

Herzlich grüßend Ihr H. Becker

Rutarhof, den 30. Oktober 53

Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Das war so schön und lieb von Ihnen, von Madrid aus an uns zu denken. Stark und warm, wie das Leben in Ihnen und das Land um sie dort war, ging der Gruß mir ins Innerste, und für einen Augenblick Kopfaufhebens unter der Herbsternte ging der Blick tief in die Augen dessen, der sich und das Mensch-

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sein so phrasenlos dargestellt hatte. Eine großartige Aufnahme übrigens eines großartigen Bildes. Die Wiedersehensfreude mit den Ihren möge Ihnen Grau und Enge erträglich machen, die Fülle der starken Eindrücke wird Sie für eine gute Weile über alles Widerwärtige erheben. Im Kunsthaus aber wird eine Menge Arbeit auf den Meister warten, der sie allein bewältigen kann. Früher schon hatte ich sie einmal gebeten, den neuen Direktor des Elberfelder Museums auf mich zu verweisen. Nun kommt ein Anlass hinzu, der mir das besonders angelegentlich erscheinen lässt. Ein Kärntner Maler, der gewiss Qualitäten besitzt, von dem mich aber eine Kluft des Anschauens und der Anschauung trennt, stellt in diesen Tagen dort aus. Mein Name aber ist in meiner engsten Heimat so gut wie vergessen, seit meine Bilder beschlagnahmt wurden und anschließend in Köln meine Kollektivausstellung durch die Reichskammer in die Luft flog. Nun habe ich mir streng vorgenommen, nur zu arbeiten und mich an keinerlei Umtrieben zu beteiligen. Dass ich nicht versagt habe und nicht versiegt bin, müssen Sie mir glauben, – wie viel lieber würde ich Ihnen meine Arbeit vorführen als Worte machen.

Ursprünglich bestand für das nächste Jahr, in dem ich fünfzig werde, die Absicht zu einer Reihe von Ausstellungen in Deutschland, besonders der bayrische Generaldirektor (Buchner) ist sehr für meine Sache. Nun aber will ich doch für etliche Jahre den Plan aufschieben, einfach weil das Leben für mich und die Meinen ohnehin von Tag zu Tag viel zu belastet ist. Auch ist im Kunstbetrieb ein Commisvoyageurtum und Türklinkendrücken en vogue, das mir in der Seele zuwider ist. Der Glaube an die Fruchtbarkeit und Besonderheit meiner Aufgabe hat mich nie verlassen, aber meine Stunde ist noch nicht gekommen.

Würden sie die Güte haben, das beiliegende Heftchen samt der Besprechung gleich mit einer kurzen Begleitzeile an Dr. Seiler zu schicken? Ich hätte ihn und ganz besonders Sie schon längst aufgesucht, wenn mir nicht mein bisschen Guthaben vom Finanzamt weggeschnappt worden wäre. Auch müsste man den Elberfelder Direktor darauf aufmerksam machen, dass keinerlei persönliches Band mehr zur alten Heimat besteht, – die wiederverheiratete Schwägerin hat mich bös betrogen. Einst sah ich von meinem Kinderzimmer tatsächlich direkt (von der Rückseite) ins Museum hinein, es war mir dann durch Jahre vertrauter als wohl irgendeinem Bürger.

Verzeihen Sie die Belästigung. Nehmen Sie die besten Wünsche und schönsten Empfehlungen aller Rutarhöfler und einen Herzensgruß

Ihres allzeit getreuen Werner Berg

252 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Martha Becker, Bielefeld, 11. Nov. 53

Lieber Freund Werner Berg und Familie, am 1. November sind wir zurückgekommen und wir sind nur halb noch hier, da so viel Gutes und Schönes uns lange umgeben hat und wir etwas von uns selber gelöst waren – oder denkt man’s?

Ihr lieber Brief, die gute Broschüre mit Ihren Werken haben uns sehr beschäftigt. – Diese Bilder erzählen viel, lassen sehen, was aus manchem früheren Briefe nur geahnt wurde. – Mein Mann hat vorige Woche an Dr. Seiler geschrieben und die Broschüre abgeschickt gleichfalls; Antwort ist noch nicht da: wenn etwas darüber kommt, sagen wir es weiter. Mein Mann fand, dass beide Städte: Bielefeld – Elberfeld – hintereinander ausstellen können und es ergeben sich auch andere Museen. Ich hoffe, es macht Ihnen Freude, ich weiß, wie leicht die jetzige Zeit Enttäuschungen gibt. … Es sind jetzt für Sie wichtige Jahre, die kommen, wo alle Erfahrungen in der Technik Ihnen von Nutzen sein müssen. In Paris hatten wir so Wertvolles gesehen. …

Hier wartet sehr viel Arbeit auf meinen Mann und er wird erst später dazu kommen, Ihnen zu schreiben – aber was ich Ihnen sage, ist auch in seinem Sinn. – Wir haben gemerkt, dass überall dieselben Gefühle sind, dieselben Fragen gestellt werden und jeder will hoffen, wir behalten in Europa den Frieden und eine Einigkeit der Wirtschaft.

Ihnen beiden, liebe Freunde, unsere Grüße im herzlichen Gedenken, H. und M. Becker

Rutarhof, den 18. Dezember 53

Liebe und verehrte Frau Becker, lieber, verehrter Herr Dr. Becker!

Gleich hätte ich Ihre Zeilen, die mich in die Herzmitte trafen, beantworten wollen und nun, da es geschieht, soll es unbegreiflicherweise schon ein Weihnachtsbrieflein werden. Nie war es um diese Zeit weniger weihnachtlich draußen und drinnen.

… Ich habe wirklich stetig weitergearbeitet, persévéré und hoffe, hoffe selbst sans espérance. Ein bisschen seltsam ist das, aber die Logik war ja nie unsere Sache.

Von Elberfeld hörte ich nichts, aber das macht nichts, ich gewöhne mich daran, die Heimat abzuschreiben. Kennen sie von Georg Glaser das Buch: „Geheimnis und Gewalt“? Es müsste Sie besonders interessieren, mich hat in diesen Jahren nichts annähernd so gepackt und erschüttert. Falls Sie das

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Buch nicht kennen, möchte ich es Ihnen schicken. Es geht ein bisschen wüst oft zu drin, aber es ist voller Wahrhaftigkeit und zuletzt auch sauber, ja zart.

Da Schrift und Tonart Ihrer Zeilen so unverändert, ungemindert schwingend waren, fiel es mir sehr schwer zu glauben, dass Sie älter geworden sein könnten. Aber bei Gott, es sind einige Jährchen vergangen, seit wir uns sahen und es bleibt meine große Hoffnung, mit Ihnen über ach so vieles zu reden, Sie wiederzusehen. Leider besteht einstweilen keine Aussicht dazu, da meine Angelegenheiten drüben recht verdorben sind. Dieses „Einstweilen“ bedeutet aber auch, wie innig ich wünsche, dass Sie bei Gesundheit und Kräften bleiben in vielen Zukunftsjahren. Zwar wurde es uns in diesen ungeheuerlichen Jahren einigermaßen abgewöhnt, an einen besseren Zustand der Menschheit zu glauben, nichts aber konnte und könnte uns davon abbringen, an den Menschen zu glauben. Sache des Menschenherzens war es noch immer, wie eine Fahne aufrecht zu flattern und – zerschossen zu werden. Mon Dieu – jetzt schmettere ich wie eine Kriegsfanfare und habe doch nur eines im Sinn: Frieden, Frieden.

Ihnen und den Ihren allen wünsche ich ein schönes Weihnachtsfest und ein neues Jahr voll Morgenluft. Ich werde Zeit meines Lebens nie aufhören, Ihnen in Dankbarkeit und Liebe anzuhängen als Ihr treuergebener Werner Berg samt Frau und Kindern

1954 In Wien ist eine größere Berg Ausstellung geplant, die letztlich jedoch nicht zustande kommt. Jörg Lampe schreibt an Werner Berg: „Allen Anschein nach hat es sich jetzt herausgestellt, dass Wotruba wegen Boeckls Widerstand Deine Ausstellung nicht machen wird. Es ist überflüssig hierzu ein Wort zu verlieren. Das Wort Schweinerei genügt, aber es ändert nichts am Tatbestand. ... Die Akademie kommt aus dem gleichen Grunde nicht in Frage.“ Werner Berg erwidert: „Was mir aber immer wieder an die Nieren geht, ist die dauernd schwärende Feindschaft des (gewiss nicht zu unterschätzenden) Böckl, der sich mir gegenüber, dem er vor 20 Jahren mit aller Emphase Freundschaft bekundete, einfach in einen Wahn hineingeritten hat, der mit dem Menschen, als der ich nun lebe und mich plage, nicht das Geringste zu tun hat. Ich unterschätze Böckl nicht als künstlerischen Ausnahmefall, und schon gar nicht seine Machtposition. Ohne die sähe mein Leben, glauben Sie mir, heute anders aus, hier aber ist meine Situation nur unvorstellbar schwer. … Ich will nicht jammern, aber unsere Lage war nie weniger rosig, und wir kommen uns zurzeit wie hinter den Anfang aller Mühen zurückgeworfen vor.” Letztlich zeigt einzig das Klagenfurter Künstlerhaus eine repräsentative Auswahl von Bergs Werken. Werner Berg reist zur Munch Ausstellung nach München. Die Beziehung zwischen Werner Berg und Christine Lavant führt zu schweren Konflikten für alle Beteiligten und letztlich zur Trennung.

254 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS
255 DER NACHBAR, 1954

Martha Becker, Bielefeld, 23. 3. 54

Lieber Freund Werner Berg,

bald werden Sie den Katalog der jetzigen Ausstellung bekommen; der Kunstverein feiert sein 25. Jahr Bestehen und es ist eine Ausstellung aus dem Bereich der Mitglieder. – So sind Sie vertreten mit zwei Bildern und zwei Holzschnitten. Natürlich war nicht genug Raum um von jedem noch mehr zu bringen. Aber wie gewählt wurde, was ausgestellt ist, macht ein sympathisches Ganzes – wo es schwer wird, zu sagen, was man am liebsten hat. – Ihre zwei großen Bilder machen sich sehr gut. … Das sagte mir ein Arzt: „Mir gefällt am besten Werner Berg. Wer ist er? Wo ist er?!“, das freute mich sehr. Mein Mann hat viel, viel zu tun gehabt und die Menschen machen’s ihm in der Vorbereitungszeit nicht leichter. Viele Wochen nächtlicher Arbeit! Sie müssten jetzt kommen!! Sehen und Sprechen mit denen, die Freude an Ihrer Kunst haben und wie gern sehen wir Sie wieder.

Die Welt macht mir viel Kopfzerbrechen in dieser Zeit, wo ich hoffte, es würde wieder menschlicher alles, freier … nun Knecht bleiben wir (äußerlich natürlich!) von Formalitäten, Papieren, Konferenzen usw. Man möchte zu Ihnen fliehen und mit der Natur sich trösten. Wir hoffen, es geht allen und alles gut. Diese so kurzen Zeilen als Freudezeichen, dass wir Sie im Kunsthaus sehen.

Mein Mann ist sehr beansprucht. Donnerstag Vortrag, dann nächste Ausstellung vorbereiten. – So geht’s bis Oktober, wo ein Direktor kommt! Aber wie wird’s ???????

DIE GRAPHIK UNSERER ZEIT - Lichtbildvortrag. Donnerstag 25. März 1954, 20 Uhr im Städt. Kunsthaus Werther Straße 3, von DR. HORST KELLER, Kunsthalle Bremen

In Verbindung mit der Ausstellung „Kunst des XX. Jahrhunderts“, die der Kunstverein anlässlich seines 25jährigen Bestehens soeben im Kunsthaus eröffnet hat, behandelt dieser Vortrag zu ihrer Ergänzung und vertiefter Betrachtung den Anteil der großen Maler an der Neubelebung der graphischen Künste seit Edvard Munch. Die Graphik ist für die Kunst dieses Jahrhunderts von wesentlicher Bedeutung und zu ihrem Verständnis unentbehrlich. Der Vortragende, der uns als bester Kenner und ausgezeichneter Interpret der modernen Kunst seit unserem Besuch der Bremer Kunsthalle im vorigen Jahr wohlbekannt ist, wird uns einen sehr nützlichen und zugleich genussreichen Abend verschaffen.

256 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Lieber W. B., hier sehen Sie die Einladung zum Vortrag – ein sehr feiner Sprecher – voriges Jahr führte er uns in der Kunsthalle in Bremen. Lange Gespräche mit Ihnen wären nötig, damit Sie im Bilde sind mit allem. Briefe genügen nicht dazu. Wenn bloß alles später weitergeht im selben Sinn, wie mein Mann sein ganzes Leben es gemacht hat. – Aber wir hoffen, es kann nicht vergessen werden.

Wann haben Sie Geburtstag? Wann kommen Sie? Wir bezahlen Ihnen die Reisekosten als Geburtstagsgeschenk, wenigstens von München nach hier und zurück. Geht das?? Ich schreibe, aber mein Mann denkt mit mir.

Immer Ihre Beckers

Liebe, verehrte Becker-Freunde!

Rutarhof, den 28. März 54

Was für eine große, große Freude mit Ihren lieben Zeilen und dem Katalog ins Haus kam und wie uns die in vielem Sorgendruck innen erhellte und befreite, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich will Ihnen heut nur gleich mit aller nur möglichen Herzlichkeit danken und sagen, dass wir – meine Frau freut sich so tief mit – das kostbare Zeichen in seinem ganzen Gewicht zu würdigen wissen. So bin ich doch nicht ganz vergessen und wie abgestorben draußen.

Dann danke ich noch wahrhaft gerührt für Ihre überaus liebe, großzügige Einladung. Mit Ihnen noch einmal reden, richtig reden zu können ist einer der größten Wünsche meines Lebens. Nur kann es leider jetzt noch nicht sein. In Elberfeld stehen meine Dinge nicht gut (vom Museum hörte ich übrigens auch nichts), und hier hat es uns einen rechten Schlag versetzt, dass unser Wirtschafter, der an die zwanzig Jahre bei uns ist, ganz plötzlich und kurios aufs Heiraten verfiel. Er ist zwar zurzeit noch da, aber unregelmäßig und dadurch bin ich mehr angehängt denn je. Auf einen grünen Zweig, was man so nennt, werden wir wohl nie kommen, aber ich glaube wie im Anfang und nach allen Prüfungen viel fester noch an das mir und uns Aufgegebene. Zuletzt noch ist mir alle „Fretterei“ – eine kaum übersetzbare österreichische Vokabel mit dem Beigeschmack von Gewurschtel, Not und Wurschtigkeit –doch weit lieber als der Gedanke an „das deutsche Wunder“. Bald wird es wohl auch wieder Generäle und Unteroffiziere geben, – oh Gott!

Aber noch sind zum tiefen Trost und Glauben Sie da, von denen mir jetzt dieses wunderschöne Geschenk zukommt. Ich Büffel darf nun aber nicht

257 1954

versäumen, zum Bestandsjubiläum Ihres Kunstvereins zu gratulieren, dessen Herz, Hirn, Blutkreislauf und Seele Dr. Heinrich Becker war. Trotz aller Enttäuschungen, Rückschläge und Plagen wird er gewiss nicht skeptisch resignieren, sondern wissen innen, dass erst in solchen seltenen Zellen, wo die Kunst von Herz zu Herzen getragen wird, sich die Neugeburt der edelsten menschlichen Anliegen vollzieht, für die „Kultur“ nur eine sehr vage Umschreibung ist. Von dorther auch löst sich der sonst unaufhebbare Fluch der Verlassenheit des Gestaltenden – ich hab’s am eigenen Leibe erfahren dürfen. Nun sage ich doch „Auf Wiedersehen“, wenn es bis dahin auch noch eine Weile dauern mag. In tiefer Dankbarkeit drücke ich Ihnen, lieber, verehrter Herr Doktor, und küsse ich Ihnen, liebe, verehrte Frau Doktor, die Hände und bleibe mit den schönsten Grüßen von Frau und Kindern Ihr alter und getreuer Werner Berg

PS: Falls Exemplare des Kataloges übrigbleiben, würde ich gern welche erwerben. Bitte haben Sie die Güte, einen an Prof. Dr. Ernst Buchner, Generaldirektor der bayerischen Staatsgemäldesammlungen zu senden.

Heinrich Becker, Städtisches Kunsthaus Bielefeld, 20. 4. 54 Lieber und verehrter Herr Werner Berg, auf Ihren gütigen, freundschaftlichen Brief, der uns eine große Freude gewesen ist, komme ich nun heute mit einer sozusagen amtlichen Antwort, um Ihnen zu sagen, dass ich den Juli bisher noch freigehalten habe im Kunsthaus, in dem Gedanken an eine Ausstellung Ihrer Arbeiten! Die Sache müsste jetzt bald entschieden werden, da ich mich sonst um anderes für Juli bemühen müsste. Es erhebt sich also die Frage, ob Sie mögen und in dieser Zeit alle Vorbereitungen treffen können. Zur Verfügung stünde die Zeit vom 11. 7. bis 8. 8. Bis Ende Juni müsste also das Ausstellungsgut hier eintreffen. Glauben Sie, dass die Zollschwierigkeiten sich bis dahin überwinden lassen? Ist die Sendung erst einmal in München, kann alles glatt verlaufen. Die Versandkosten von München bis Bielefeld werden nicht gering sein, für Gemälde wenigstens, aber ich glaube, es lässt sich schaffen. Sind sie hier, kann sie auch Herr Seiler, der neue Direktor in Wuppertal, sehen und sich entscheiden, ob er sie von uns übernehmen will. Als ich ihm schon vor Monaten schrieb, antwortete er etwas ausweichend, da er Ihre Arbeiten nicht kenne, ließ aber doch die Aussicht, sie in Wuppertal zu zeigen.

Ich weiß nicht, ob es ratsam ist und Ihrer Arbeitsweise entspräche, sich auf Aquarelle, Zeichnungen und Holzschnitte zu beschränken. Die Durch-

258 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

führung der Ausstellung wäre dann leichter, aber auch weniger ergiebig. Das Wichtigste ist nun zunächst, fest zu entscheiden, ob wir die Ausstellung jetzt machen wollen. Dann ist keine Zeit mehr zu verlieren, um mit den Vorbereitungen (Rahmen, Kisten, Zollregelung etc.) fertig zu werden. Ich bitte Sie daher schnell zu überlegen, zu entscheiden und zu antworten, damit ich bald einen Plan für Juli festlegen kann.

Sie sind hier keineswegs vergessen. In Bielefeld stehen Sie noch in bester Erinnerung. Kunstwerke, in den richtigen Händen, haben eine wunderbare Lebens- und Ausstrahlungskraft, wie ich es jetzt wieder an den wenigen Bildern sehe, die in der gegenwärtigen Ausstellung hängen. Besonders erfreut hat es mich, was Herr Dr. Dross in Bremen, der Leiter der Barlach-Gesellschaft, schrieb, nachdem er auf seine Bitte den Katalog erhalten hatte. Er legte mir nahe, auch Ihnen den Katalog zu schicken, „da Herr Berg“, wie er schreibt, „in seiner Abgeschiedenheit in Kärnten jeden solchen Beweis der Verbundenheit ganz besonders freudig begrüßt“. Er weiß natürlich nicht, wie nahe wir Ihrem Werk und Ihrer Person nun schon seit 25 Jahren stehen. Ihrem Wunsch entsprechend, schicke ich Ihnen noch einige Exemplare des Kataloges zur weiteren Verwendung.

Und nun danke ich Ihnen herzlich für Ihren letzten schönen Brief und erwarte sobald wie möglich Ihre Antwort. Mit den herzlichsten Grüßen auch an Ihre ganze Familie von meiner Frau wie von Ihrem alten Heinrich Becker

Katalog an Buchner ist gleichfalls abgeschickt

Martha Becker

Lieber Herr W. Berg, hoffentlich gelingt es … und dann kommen Sie selber auch! – wir leiden an Mangel an Zeit – ich hoffe, Sie merken, wie unvergessen Sie und die Ihrigen sind. Tous mes voeux et sincères amities M. B.

Lieber, hochverehrter Herr Dr. Becker!

Rutarhof, den 26. April 1954

Über Ihren schönen Brief habe ich mich ungemein gefreut, über das persönliche wie über das „amtliche“ Zeichen. Leider geht es mir unter den gegenwärtigen Umständen nicht aus, in so kurzer Zeit die Ausstellung dort zu veranstalten, so verlockend mir auch Einladung und Aussicht erscheinen müssen. Es bleibt mir also nur die inständige Hoffnung, dass in ferner Zu-

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kunft noch einmal etwas draus wird. Bis dahin müsste ich auch etwas von meinen Mitteln draußen zur Verfügung haben. Vielmals danke ich noch für die Zusendung der Kataloge und stehe tief in Ihrer Schuld. Ich schreibe heute nur kurz, mitten unter der Feldarbeit, um die Leitung des Kunsthauses nicht ungebührlich lange auf Antwort warten zu lassen.

Haben Sie, sehr verehrter Herr Dr. Becker, sehr, sehr herzlichen Dank für Ihr lebendig tätiges Gedenken, Dank auch immerfort Ihrer lieben, verehrten Gattin, deren beigefügte Zeilen mich sehr bewegt haben.

Mit den herzlichen Grüßen und besten Empfehlungen vom ganzen Rutarhof Ihr alter und getreuer Werner Berg

Martha Becker, 17. Juli – Im Hause Delius

Sehr lieber Herr Werner Berg, wir haben die Freude einen Abend hier zu sein und ein Bild von Ihnen (Ihre Frau vor grünem Grund und Blumen auf der Brust angesteckt) wiederzusehen, das Frau Delius in Ihrem von den Engländern besetzten Haus im Keller nach Jahren wiedergefunden.

Frau Delius sagt: Warum kommt Werner Berg nicht nach Bielefeld oder schickt Arbeiten?? Das ist auch unser stetes Empfinden. Sie sollen es erfahren, denn ich weiß es für Sie von Wert, zu wissen, dass ein treues Gedenken Ihnen und Ihrer Familie und Ihrer Arbeit bleibt und dass ein Wiedersehen unser aller Wunsch ist. Dieses in Kürze, bei ständigem Regenwetter, aber in einem Haus voll Kunst und lebendiger Beziehung zu ihr. Allen viele Grüße von H. u. M. Becker

Es wäre uns eine große Freude, Ihre Bilder zu sehen!

Ihre H. Delius, Ihr W. Delius

Heinrich Becker

Liebster Werner Berg, ein altes, herrliches Bild von Ihnen, längst verloren geglaubt, ist wiedergefunden. Und damit treten Sie neu in unseren Kreis, wir reichen Ihnen über trennende Räume hinaus die Hände, in Erwartung alter, greifbarer Nähe. Tun auch Sie ein Gleiches und warten auf ein baldiges Wiedersehen.

Herzlichst Ihr Heinrich Becker

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Martha Becker, Clermont-Ferrand-Chamelières, 23. Sept. 54

Lieber Freund W. Berg,

seit dem 11. September sind wir in Frankreich, erst in Paris, sechs sehr erfüllte Tage, dank eines jungen Freundes, der uns sehr geholfen hat. Jetzt in der alten Auvergne, Vulkan-Gebiet, sehr, sehr schön im Kreise von Verwandten und Freunden. Am 25. September nach Nimes, wo wir hoffen, Sonne zu finden und Wärme. Hat Ihnen der Katalog gefallen „Theater und Kunst“? Es ist der letzte, den Henri macht, da mit Oktober der neue Direktor des Museums sein Amt antritt. Wie wird es? Wir hoffen, noch etwas wirken zu können, damit Sie einmal ausstellen und dann auch kommen. Wir werden uns dann sehr freuen, vor dem Tod – der oft so rasch ist – Sie bei uns wiederzusehen, denn unsere Reisen sind durch die Liebe zu Frankreich immer bestimmt, auch zu meiner Schwester.

Also unsere besten, herzlichen Grüße d’amitié H. u. M. Becker

Herzlichst Grüße von Ihrem Heinrich Becker, der Sie gern wiedersähe!

Rutarhof, den 24. September 54 Liebste, stets verehrte Becker Freunde!

Wieder haben Sie mich durch ein Zeichen erfreut, durch zwei überaus gut gemachte Kataloge; Sie mögen wissen, wie viel es für mich bedeutet, mich solcherart immer wieder in Ihre Gegenwart einbezogen und nicht vergessen zu wissen. Tief bewegt haben mich die herzwarmen Zeilen, mit denen Sie meiner beim Wiederauftauchen des Delius-Bildes gedachten, ich hätte längst und innigst dafür danken wollen. …

Dass ich wenig schreibe, wollen Sie in alter Freundschaft verzeihen, die Sorgen wollen uns oft erdrücken. Lahm sind wir dennoch nicht geworden, und immer wieder halte ich mich mit äußerster Kraft an meine Arbeit, die jenseits der Parolen steht, die das Leben vereisen oder töten. Unbeschreiblich herrlich und jung sind die Munch Bilder, die jetzt in Venedig hängen, ein Sturmwind wieder tausend Fürzlein! Später soll Munch in München gezeigt werden, – da müssten wir uns treffen.

In der zweiten Oktoberhälfte soll ich hier eine große Ausstellung machen, später in Wien. Die Ausstellerei schlägt mir allemal auf Magen und Gedärm, und die Maske des Kollektivs „Gesellschaft“ flößt mir Grauen ein. …

Jetzt ist unsere Ursi da mit den sehr lieben Enkelkindern, und wohl zum letzten Mal sitzen alle Rutarhöfler um einen Tisch. Es wäre sicher günstiger,

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den Hof aufzugeben, aber das bringt man nach 25 Jahren nicht über sich. Auch stehe ich, wie ich wohl weiß, durch diese nur zu oft verfluchte Bindung in einer geistigen Position, die sonst kaum wer gestalten kann. Der Intellektualismus allein tut es so wenig wie die Dummheit. Ich komme ins Predigen und wollte doch nur Ihre Hände drücken, die lieben, guten Freundeshände. Meine Frau und die Kinder lassen sehr herzlich grüßen. Ich bleibe in Dankbarkeit und Treue

Ihr alter Werner Berg

Martha Becker, Bielefeld, 19. Nov. 54

Lieber Freund Werner Berg, seit dem 31. 10. sind wir wieder hier – eine große Veränderung, denken viel an Sie und Ihre Ausstellung. Wo? Wann? Ist ein Katalog da? Ist es eine Kollektive oder einzeln? Geben Sie uns Einzelheiten darüber. Mein Mann hat noch im Kunsthaus zu tun aber übergibt bald alles dem neuen Direktor – uns bleibt nur der Kunstverein. Es lichtet sich um uns, bald sind wir am Ziel! – so sagen wir Ihnen und allen dort viel Herzliches Ihre Beckers

Martha Becker, Bielefeld, 25. Januar 55

Ehe der Monat verstreicht, schnell, lieber Freund Werner Berg, einen kurzen aber sehr frohen Dank für das sehr wertvolle Büchlein, das uns eine große Freude war. Mein Mann las daraus und es stieg, stieg und drang in uns. Dazu Ihre Holzschnitte, die so passen zur Dichtung. Wir kennen Kießling noch nicht, aber wir begehren sehr nach seinem Denken und treffenden Worten. Sagen Sie es ihm von uns. Mein Mann schreibt selber noch. – Sonntag wird die erste Ausstellung eröffnet, die er nicht selber gemacht hatte, sondern Dr. Wrisen. … Es bleibt ihm, Henri, der Kunstverein – seine Sammlung – unsere Gesellschaft (Deutsch-Französisch), das ist noch viel.

Die Zeit fehlt uns ständig! Ich weiß nicht, ob es Ihnen gelingt auf dem Hof, das Tempo des Lebens zurückzuhalten? Wir wünschen es Ihnen. …

Wir wollen bald nach Köln, wo eine Munch-Ausstellung uns besucht.

Viele herzliche Grüße de vos vieux amis fideles H. u. M. Becker

262 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1955

Im Jänner versucht Werner Berg seinem Leben ein Ende zu setzen. Seine Frau Mauki schreibt: „Er hatte in der letzten Zeit an schweren seelischen Depressionen gelitten, unlösbare Konflikte, Verfolgung und Anfeindung hatten seinen Lebenswillen so zugesetzt, dass er dem seelischen Überdruck nicht mehr standhalten konnte und in einem Anfall von Sinnesverwirrung eine Überdosis Schlafmittel eingenommen hat. ... Nur dem unablässigen Bemühen der Ärzte ist es zu danken, dass er gerettet werden konnte. Er war fünf Tage lang bewusstlos und hat nun im Anschluss an die Bewusstlosigkeit noch eine Lungenentzündung zu überstehen.”

Ende Februar schreibt Werner Berg an Maria Schuler: „Ich glaubte (und glaube es noch), dass es den geliebten Meinen ohne meine Last besser ginge, aber inzwischen bin ich hart genug belehrt worden, dass ich nicht aufgeben darf. Damals war ich nicht Herr meines Willens und meiner Vernunft. Die Lungenentzündung ist so weit gut abgeklungen, wenn auch noch nicht ganz. Ich wollte, ich wäre schon wieder auf unserem Berg, dürfte arbeiten und alles Ungute vergessen. Alles Geschehene war doch von tieferer Notwendigkeit (unausweichlicher), als man meinen möchte. Jenseits der tiefen Zäsur beginnt das Leben neu und unanfechtbarer; leben, atmen, arbeiten aber kann ich nur hier, wo ich dennoch nicht aus Zeit und Welt falle. ... Ein bisschen schweigsam bin ich schon geworden, spüre die Schattenschwere noch, aber alles in kaum zuvor gekannter Gelassenheit.” Kurz darauf erkrankt Berg an einer im Spital akquirierten Hepatitis für Monate. Er verarbeitet sein Erleben in der Serie der „Krankenbilder”.

Auf der 1. Internationalen Graphik Biennale in Ljubljana ist er mit Holzschnitten vertreten.

263 DAS OPFER, 1955

Heinrich Becker, Bielefeld, 27. 1. 55

Mein lieber Werner Berg, ich lebe, wie man sagt, im Ruhestand und werde doch noch immer von einem Begehr zum anderen getrieben. Noch gehöre ich nicht mir selbst, wie ich es wünsche. Nehmen Sie daher mit diesen wenigen Zeilen vorlieb, die Ihnen meine herzlichsten Wünsche bringen sollen, Ihnen und dem ganzen Rutarhof. Die wenigen Tage, die ich vor anderthalb Jahrzehnt mit Ihnen dort verlebt habe, gehören zu den wirklich kostbaren Erinnerungen meines nun schon weit fortgeschrittenen Lebens. Und Sie werden verstehen, wie sehr ich daran hänge. Darum war mir Ihre schöne Gabe, die Sie mir und meiner Frau zu Weihnachten zudachten, so herzlich lieb, dass ich dafür gar nicht genug danken kann. Die Wiedergabe Ihrer Holzschnitte ist ausgezeichnet. Sie wirkten, als ob ich den Druck Ihrer Hand wieder verspürte. Denken Sie nie, wir vergäßen Sie! Keine Ferne kann das Band zerreißen, das uns zusammen-

264 DER ARME SPITALSNACHBAR, 1955

hält. Und die Worte Ihres Dichters sind tief in uns eingegangen. Wir fühlen uns unmittelbar angesprochen und sagen Sie ihm, dass sie nicht ins Leere verklungen sind, sondern uns wieder und wieder durch Tage und Abende begleiten. …

Seien Sie herzlich umarmt und mit ihrer ganzen Familie gegrüßt von Ihrem alten Heinrich Becker

Brief Mauki Berg, 8. II. 1955

Sehr verehrte Beckers! Liebe, verehrte Freunde!

Tage voller Angst und Unruhe haben wir durchgemacht. Dem Künstler war die Last des Lebens zu schwer geworden – er hatte aufgegeben. Schwere Vergiftung durch Schlafmittel, fünf Tage bewusstlos im Krankenhaus, die Ärzte schweigsam und unzugänglich; endlich langsame Rückkehr ins Leben – und dann Ihr Brief. Die Freundeshand hat starke Kraft, der warme Herzenston gibt neuen Mut; noch ist es nicht ganz so weit, aber Freude und Dankbarkeit sind die ersten Anzeichen von Lebenswillen. Sehr schwach und anfällig ist mein Mann noch, weil er eine Lungenentzündung dazu bekommen hat, von der die Ärzte nicht sagen können, wie lange sie dauern wird.

Gerne würde ich Ihnen erzählen, wie alles gekommen ist, aber da müsste ich zu weit ausholen. Schwere Kränkungen und Anfeindungen in der letzten Zeit gaben ihm den Rest. Letzten Endes ist der tragische Lebensentwurf fest in allen seinen Bildern auszumachen.

Verzeihen Sie liebe, verehrte Freunde, dass ich heute nicht mehr schreibe! Vielleicht wird mein Mann selbst bald schreiben können, er hat sich sehr gefreut über Ihren schönen Brief und es geht ihm jetzt jeden Tag etwas besser. In herzlicher Verbundenheit und Dankbarkeit grüßt Sie Ihre M. Berg

Martha Becker, Sonnabend 12. Februar 55

Sehr liebe Frau Werner Berg, heute erhalten wir Ihren Brief – kaum können wir es glauben, es fassen, dass Ihr guter Mann so fern vom Leben gestanden hat – dass er sich davon trennen wollte. – Aber wir sehen es als einen Krankheitszustand, es gibt darin so viele Nuancen, die von dem Arzt nicht sofort erkannt werden. Ich schreibe für ihn nur kurze Zeilen, damit er nicht ermüdet. Möge die Lunge auch die Erkrankung abschütteln. Sobald er wieder zu Kräften kommt, schicken Sie ihn hierher zu mir, wir wollen auch durch Freundschaft, Verständnis und Liebe

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zur Kunst ihn zurückgewinnen, dass alles ihm wieder lieb wird, vor allem das Leben mit uns allen. Oft, sehr oft, denke ich auch an Sie, weiß, was die ganzen Jahre auf Ihren Schultern lag, wie Sie es geschafft haben und den Kindern halfen, selbstständig zu werden. Wir sind mit Ihnen und wissen, dass die Gedanken helfen, kommen Sie wie jetzt aus dem Innersten der Gefühle Ihre Beckers

Liebe Frau Berg, wir sind in Sorge und Hoffnung mit Ihnen eng verbunden und warten auf neue, beruhigende Nachricht. Ihnen und den Kindern herzlichste Grüße Ihr Heinrich Becker

Martha Becker, am 12 Februar 55 Lieber Freund Werner Berg, seit heute Morgen wissen wir wohin mit unseren Gedanken, welche Kraft sie verbreiten sollen, um Ihnen, Sie guter, edler Mensch, zu helfen Mut zu haben, um gesund zu werden und einen neuen Frühling, den des Herzens, zu erleben. … Ihr Werk ist noch nicht fertig, noch müssen Sie mit Ihrer Frau die Jahre erleben, wo die Kinder ihre eigenen Wege gehen und Sie vielleicht als Künstler freier sind!

Heinrich Becker

Mein lieber Werner Berg, tun Sie alles, um schnell wieder gesund zu werden. Wir erwarten Sie hier, sobald Sie reisen können. Ein Tag bringt Sie nach München und ein anderer nach Bielefeld. Es wird für uns eine schöne Zeit werden, Sie wird unserer alten Freundschaft neue Nahrung geben. Auch nur wenigen Menschen mit seiner Arbeit Beistand, Tröstung und stille Freude zu bringen, lohnt den Einsatz unserer besten Kräfte. Wir sind Ihnen ganz nahe, immer ungetrennt! Von Herzen grüßt Sie Ihr alter H. Becker

Martha Becker, Donnerstag 17. 2. 55

Meine liebe Frau Werner Berg, wie entbehren wir es, nicht zu ihm zu können, bloß ihm die Hand zu reichen, etwas bei ihm zu sitzen. Können Sie wenigstens öfter hin? Haben Sie genug Hilfe auf dem Hof? – Mein Mann ist nach Köln gefahren, um die große Munch Ausstellung dort zu sehen, die Sonntag geschlossen wird. Es wird ihm gut tun – nach dem Abschluss seiner Tätigkeit im Kunsthaus. Geben Sie uns nur kurz Nachricht über das Befinden, auch Ih-

266 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

res! Und Mut und Hoffnung. Jeder Sonnenstrahl scheint mir zu helfen (trotz des vielen Schnees!) Mit Ihnen allen, mit ihm, sagen Sie es ihm, sehr herzlich Ihre Beckers

Martha Becker, Bielefeld, 19. Februar 1955

Lieber Freund, kommen Sie, wir werden Sie wie einen Sohn empfangen – mit großer Freude! Mein Mann ist begeistert von Köln zurück über den großen Munch (er wird Ihnen erzählen). Die Reisekosten müssen Ihnen keine Sorge machen, wir helfen nach! Freuen Sie sich zu leben!! Einmal ist’s nur und das Werk muss vollendet werden – Bonnes pensées amicales M. Becker

Klagenfurt, den 21. Febr. 55

Meine lieben, guten Becker-Freunde!

Von ganzem Herzen danke ich für Ihre gütigen, treuen Zeichen. … Bei Licht besehen, blieben mir nur Schande und Schmach, und doch ist es nicht so, –ich war einfach am Ende und wusste, dass es die geliebten Meinen leichter haben würden, wenn meine Last nicht mehr auf Ihnen läge. Das glaube ich auch heute noch, bin aber inzwischen hart genug belehrt worden, dass ich weitergehen und -arbeiten muss. Zuletzt war ich damals nicht mehr Herr meines Willens und meiner Vernunft.

Sie sehen: Ich bin „über den Berg“, d.h. aus dem tiefen Schattental heraus, in das mich Hunde gehetzt hatten. Ich liege noch in einem sogenannten „feuchten Zelt“, aber ich hoffe, dass es nicht mehr lange dauern wird. Die sehr schwere Lungenentzündung habe ich gut überstanden, nun muss lediglich noch etliches resorbiert und ein Arm (der linke) behandelt werden.

Immer wieder denke ich an Sie und wünsche mir ein Wiedersehen. Leider ist die Entfernung so groß und Deutschland, das heutige, saturierte, mir zur fremdesten Fremde geworden. Vielleicht sehe ich es verzerrt, aber es wäre für mich eine Eiswüste, wenn Ihre Herzen dort nicht schlügen.

Seien Sie recht, recht herzlich gegrüßt, auch von meiner Frau, die mich gestern besuchte und den lieben Kartengruß brachte. Der machte den Sonntag sehr sonntäglich. Ein Spital ist ansonsten ein schlimmes Ding, am ärgsten drin sind die endlosen, schwarzen Nächte.

In Treue und tiefer Dankbarkeit grüßt Sie Ihr Werner Berg

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Heinrich Becker, Bielefeld, 11. 4. 55

Mein lieber Werner Berg,

Sie sind nun unsern Ostergrüßen zuvorgekommen. Und in der generösesten Weise. Gleich zwei Ihrer großen, bedeutungsvollen Holzschnitte kamen zu uns ins Haus; fast war es, als ob Sie in Person eingetroffen seien, wie wir es uns lebhaft gewünscht hatten, ganz besonders, seit wir Sie leidend und mit sich selbst uneins wussten. Das weitschauende Auge am Fenster, das sind Sie selbst. All das Eindringende, abwartend Suchende, das Ahnungsvolle, an den Grenzen des Dämonischen Verweilende Ihrer Natur ist hier ganz gegenwärtig und findet den Weg zum menschlichen Herzen. Wer sich so zu sehen vermag, muss auch die Kraft haben, der Dämonen, die uns bedrängen und hart anfassen, mit der gleichen Härte Herr zu werden. Und dann ist da der andere, dem das Leben es auch nicht leicht gemacht hat, mit dem verstummten Mund, dem schmerzlich blickenden Auge, das nicht Genüge findet am Sichtbaren und dem einen Ohr vertrauend, das ins Jenseitige horcht, woher wir alle kommen, wohin wir alle gehen, durch keine Lust, durch keine Begierde, durch keinen Erdentaumel aufgehalten. Das haben Sie alles liebend und verstehend, ohne lauten künstlerischen Aufwand, wie selbstverständlich und unverkennbar aufgezeichnet. Ist das nicht Meisterschaft? Sie können an Ihrem Auftrag nicht zweifeln und künstlerisch Ihren Weg, wie Sie ihn vor langer Zeit begonnen, fortsetzen, ohne Furcht zu straucheln oder die Richtung zu verfehlen. Ihre Art ist nicht, an der Dekoration und Lustbarkeit des Lebens mitzuwirken, beides ein einträglicheres Tun, als wie Sie es betreiben. Deshalb sind Sie uns um so viel lieber und unverlierbar.

Das geht nicht ohne Enttäuschung, nicht ohne Verzicht ab. Man kann den Ausgleich nur im eigenen Inneren finden, das Vergängliche, Verkommende, sich selbst Auflösende der bloß im Gemeinen Lebenden um uns durchschauend, und wird so das Gleichgewicht der Kräfte behalten über alle Anfechtung hinaus. Was hätte es für einen Sinn, alt und älter zu werden, wenn man dahin nicht gelangte! Freilich dürfen wir nicht schwanken in der Wahl dessen, was wir wollen, gutheißen und zu verwirklichen trachten.

Was ich da sage, gleicht vielleicht einem Sermon, ist es aber nicht, ist nichts andres als der Ertrag meines langen Lebens und eher eine Art von Bekenntnis. Vielleicht hat’s aber auch Gültigkeit für den anderen. Wozu es aufschreiben, wenn dazu keine Hoffnung ist.

Ohne solches Vertrauen entsteht ja auch keine Kunst. Das schöne Gedichtbuch von Kießling bezeugt es so handgreiflich. Sie haben mir damit eine große und nicht nachlassende Freude gemacht. Ich teile sie mit vielen, denen

268 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

ich zu guter Stunde daraus vorlese. Bei jedem neuen Lesen, bleibt alles gleich stark, deutend und aufweckend. …

Das andere, was noch zu sagen ist, will ich nun meiner Frau überlassen. Aber das sollen Sie noch wissen: immer, wenn ich mein Leben überblicke und kurze Bilanz ziehe, was es wert war, gehören Sie und Ihre Kunst zum Besten und Erfreuendsten, das es mir geschenkt hat. Das macht mich immer dankbar der großen Fügung, aber auch Ihnen persönlich gegenüber. Und versichern Sie Ihre Frau und Ihre Kinder meiner unveränderten, herzlichen Zuneigung. Ihnen allen die freundlichsten Grüße Ihr Heinrich Becker

Martha Becker, Ostersonntag 55

Liebe Freunde Werner Berg, nun ist alles wieder gut, wie wir aus Briefen und Bildern empfinden. Henris Brief gibt Ihnen mehr als ich Ihnen sagen kann.

Am 16., 17., 18. sind wir (Kunstverein) in Holland (wir zum ersten Mal) und werden Ihnen dazu schreiben. Bis dahin immer viel zu bedenken und zu denken und der Weg ist nicht mehr lang. Amitié fidèle M. B.

Martha Becker, 2. August 55

Lieber Herr Werner Berg, wir waren vor kurzem in Kassel, wo eine große Ausstellung die Kunstfreunde anzieht. – Mein Mann musste darüber schreiben. Welche Zeit erleben wir?

Eine vielseitige Möglichkeit das Leben, sein Leben, trotz dieser Versuchungen zu gestalten.

Rutarhof, den 9. August 55

Geliebte Beckers!

Ich pinsle um mein Leben. Da hat es mich so froh und dankbar gemacht, Ihr Blinkzeichen zu empfangen, Ihre Stimme zu hören, die beste und treueste über die Jahre hinweg.

Unlängst hatten wir auch Besuch aus Paris, den des Schriftstellers und Silberschmieds G. K. Glaser und seines Sohnes René.

Sie haben recht wie immer: Das eine eigene Leben bleibt immer noch zu gestalten und zu erfüllen jenseits aller Doktrinen und Programme. Das Dilemma, die Verabsolutierung der Alternativen erkenne ich nicht an.

Terrible simplification.

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Ob ich es Ihnen berichtete, dass ich noch einmal 10 Wochen auf der Nase lag? Im Krankenhaus erwischte ich damals eine infektiöse Gelbsucht übelster Art. Ich muss noch sehr vorsichtig sein, aber es geht aufwärts. Ich bin glücklich, gute Arbeit leisten zu dürfen. Die Ernte ist heuer sehr erschwert, froh sind wir nur, dass Hilde, die Lehrerin, und Ursi samt Enkeln zur Hilfe da sind.

In Treue und Herzlichkeit stets Ihre Werner u. Mauki Berg

Martha Becker, Sonntag 21. Aug. 55 – bei Sonnenschein und Wärme

Ihr lieben Werner Bergs, es war so schön, Ihren Brief zu lesen, nur wie schade, dass Sie krank waren – aber es war eine Ruhepause, eine erzwungene, eher hört ihr nicht auf, sie Tätige – Henri de meme! … So ist die Zeit das Kostbare geworden. …

Heinrich Becker, Madrid, 21. 10. 55

Lieber Werner Berg, wir sind in diesen Wochen weit von Ihnen, denken aber oft an Sie und bleiben Ihnen dauernd nahe, immer wünschend, dass Sie wieder völlig gesund sind und wieder arbeiten können in Hof und Atelier. Ich denke so gern an meinen Besuch bei Ihnen. Bin seitdem alt geworden, aber noch nicht wunschlos. Vielleicht gelingt es noch einmal einige Tage in Ihrer häuslichen Gemeinschaft zu verbringen. Arbeiten Sie ja weiter! Es bleibt Ihnen noch viel zu tun und wir möchten noch manches sehen von Ihnen! Gruß und Händedruck Ihnen und den Ihrigen Ihr H. Becker

Rutarhof, den 15. Dez. 55

Liebe, teure Becker-Freunde!

Für drei schöne, schöne Zeichen habe ich Ihnen von Herzen zu danken: Der Gruß aus Paris und der aus Spanien kamen mir auf dem Krankenlager zu wie Lazarustropfen, der letzte aus Bielefeld blies wie ein Segenswind ins neu gehisste Segel.

Nun hätte ich Elender früher schon geschrieben, wenn ich Sie nicht unterwegs gewusst hätte, und dann nach allem Krank- und Brachliegen (8 Monate! Zuletzt Operation) hatte ich überviel zu tun. Ich bin dem Schicksal so tief dankbar, dass Ihre Freundschaft mir blieb und unversehrt blieb, eine wie kostbar anwachsende Lebenskraft ist doch die Treue!

270 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Auf Reisen war ich auch ein wenig in der letzten Zeit, in Wien und München, und außerdem habe ich nach Jahren einmal wieder etliche Wege in eigener Sache gemacht und das erwies sich als gut. …

Nach Wien hatte mich Kokoschka eingeladen, dessen Ausstellung dort recht interessant war und mehr als das, wenn auch das ganze Gewicht auf den Bildern der frühen Jahre lag. Die waren ungemindert erregend, voll Vorgesicht in fiebrigem Spüren mehr als formbildend vorwärtsweisend. In München dann sah ich Picasso, das war natürlich erst recht interessant, aber das wortwörtlich und ausschließlich. Trotz aller Vorbereitung und zustimmungsbereiten Erwartung blieb die Überwältigung aus, nicht aber zuletzt der horror vacui angesichts der radikalen Hemmungslosigkeit. Verzeihen Sie bitte die Götzenlästerung und halten mich dennoch nicht für einen hoffnungslosen Hinterwäldler.

Ausgerechnet jetzt, da ich mir nichts mehr von außen erwarte, wollen sich meiner Sache etliche Chancen bieten. Die Österreichische Galerie im Belvedere und das Ministerium haben gekauft, die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen wollen sich auch ein neues Bild zulegen, in der „Kunst“ soll wieder etwas erscheinen, und die Österreichische Galerie im Belvedere plant eine größere Ausstellung. Ja, nicht zu vergessen: im Centre culturel d‘Autriche in Paris soll im Juni auch eine kleinere, aber geschlossene Ausstellung meiner Arbeiten steigen. Darüber hätte ich sehr gern mit Ihnen gesprochen, aber nicht nur in diesem Zusammenhang denke ich leise – will’s nicht verschreien – daran, Sie gegen Winterausgang aufzusuchen und nach Paris zu fahren. Vorher freilich müsste ich ein gehöriges Stück guter Arbeit hinter mich gebracht haben. Der tiefe Winter ist die beste Zeit dazu ...

Bleiben Sie gesund im alten und im neuen Jahr, und seien Sie an jedem All- und Feiertag des anhänglichsten Gedenkens gewiss Ihres alten, getreuen Werner Berg

PS. Kennen Sie Simone Weil? „La Pesanteur et la Grace“ hat mir nach den bitterschweren Monaten nicht wenig geholfen. Ich glaube nun sagen zu dürfen: ich bin über „den Berg“.

Annette, Papa, Mama, Klara, Ursi, Hilde und Veit wünschen der ganzen lieben und verehrten Familie Dr. Becker ein schönes Weihnachtsfest und gesegnetes neues Jahr.

L’un ou l’autre

Je reste le vôtre

W. B.

271 1955

1956 „Die Malerei lässt nichts übrig. Auch die muss, wenn sie taugen soll, wie Gebet, restlose Hingabe sein. Nach zwanzig neuen Bildern habe ich mich nun nach langer Zeit wieder der Holzschneiderei zugewandt. Ich arbeite wie besessen, frage mich zwischendurch oft bang nach der Berechtigung und kann zuletzt doch nicht anders“, schreibt Werner Berg. Alfred Kubin besucht im Sommer den Rutarhof. Die Österreichische Galerie im Belvedere in Wien zeigt eine Werkschau der neuesten Arbeiten Werner Bergs. Wieland Schmied schreibt: „Werner Bergs Kunst ist, wie jede Kunst, unliterarisch. ... Seine Kunst ist Wirklichkeitskunst, ist verdichtete Wirklichkeit. Er ist ein großer Vereinfacher in der Malerei, wie Ernest Hemingway ein Vereinfacher in der Literatur ist.”

272 MANN IM COUP É, 1956

Rutarhof, den 16. Febr. 56

Geliebte Beckers!

Mitten unterm Malen (heftigem!) fällt es mir auf die Seele: habe ich Rind mich überhaupt schon für das O.K. Buch und das wunderschöne Foto bedankt, das alle Tage vor mir liegt und so viel warme, helle Herzensfreude spendet? Das war eine einzigartige Überraschung, Vous voilà wiederzusehen, ein äußerst appetitanregendes Hors d’œuvre vorm realen Wiedersehn, das ich mir oft und lebhaft so après Ostern vorstelle. Aber bis dahin muss noch viel getan sein.

Walter Bauer war hier von Canada, ein beträchtlicher Buchpreis eines wohl nicht allzu beträchtlichen Verlages hat ihm wieder auf die Beine geholfen. –Die Bayerische Staatsgalerie hat ein Bild gekauft, worüber auch wir froh sind, in der „Kunst“ wird so Mai, Juni etwas erscheinen. – Sicher haben auch Sie diese Saukälte jetzt, wir sind schon eine Woche ohne Postzustellung. In steter herzlichster und dankbarster Verbundenheit grüßt Sie im Namen aller Rutarhöfler, Ihr alter W. B.

Heinrich Becker, Bielefeld, 26. 3. 56

Mein lieber Werner Berg, vieles lässt sich gut schreiben, anderes ist besser zu sagen, das Beste bleibt fast immer verschwiegen, es sei denn, dass ein guter Augenblick im Gespräch den Verschluss in unserem Innersten löst, und uns den Mund öffnet, dass wir selbst überrascht sind. Das, meine ich, geschähe am ehesten im Künstler; und wenn das Seelenhafte in ihm nicht im Wort Gestalt gewinnt, so kann es, fast noch ungehinderter, im Klang oder im Bild feste und lebendig wirkende Form werden und uns hörend oder sehend Empfangende erfüllen und ergänzen. Und wie Schönes wir seit einem Menschenalter in Ihren Briefen lesen und oft ungewollt wahrnehmen, in Ihren Bildern, Zeichnungen und Holzschnitten teilt sich noch mehr vom Geheimen Ihres Seins mit. Wir lesen sie daher mit dem gleichen innersten Anteil wie das, was Sie uns schreiben.

Einiges davon haben wir immer vor Augen, wie es uns täglich umgibt, anderes lebt in unserer Erinnerung und das heißt in unserem Inneren weiter, wie wir es in guten Zeiten früher sahen. Selbst in Abbildungen lebt wenigstens ein Stück davon weiter; deswegen freue ich mich auf die Aussicht, im Laufe der nächsten Monate etwas von Ihnen in der Bruckmannschen „Kunst“ zu finden. …

273 1956

Und nun habe ich noch den guten Gedanken, zu fragen, ob Sie nicht bei der nächsten Gelegenheit einer Reise, wie früher, eine Rolle mit Holzschnitten nach Deutschland bringen möchten und hier ließen zu gelegentlicher Verwendung. Von München aus z.B. ließe sich die Sache leicht machen; direkter Postversand von Österreich hierher macht unliebsame Schwierigkeiten auf dem Zollamt.

Überlegen Sie also vor Ihrer nächsten Reise, in deren Verlauf wir uns Hoffnung machen, Sie sogar leibhaft wiederzusehen. Solange uns noch vergönnt ist, auf dieser Erde zu weilen, tun wir es gern im Bewusstsein Ihrer alten Freundschaft. Selbst ans Reisen zu denken, ist vorderhand noch nicht möglich. Also senden wir, auf die Wirksamkeit des Worts vertrauend, herzlichste Grüße in alter Freundschaft

Ihr Heinrich Becker

Martha Becker, 11. April 56

Lieber Freund Werner Berg, heute Morgen früh ist der Kunstverein mit Herrn Delius und Becker als Leiter der Reise nach Belgien mit dem Autobus abgefahren. Brüssel, Gent, Brügge, Antwerpen und ihre Museen werden besichtigt. – Eher hat Henri noch mit Freude den Artikel und die Bilder in der „Kunst“ betrachtet und seine Freude ausgesprochen, die ich Ihnen mitteilen soll, da ich zu Hause geblieben, um ruhige Tage zu haben, wenn es möglich ist, wir Frauen haben unsere Pflicht der kleinen, unscheinbaren Dinge. – Hier ist’s jetzt – endlich!! – warm und singfreudig, wie muss es da erst bei Ihnen sein, wo es so nachhaltig Eindruck auf Henri gemacht. – Bald mehr, wenn die Reise vorbei ist. – An beide Seelen des Hauses viele herzliche Grüße – lebendige noch!!

Martha Becker, 7. Sept. 56

Lieber Freund Werner Berg und Familie, den ganzen Sommer – der keiner war, hier wenigstens – haben wir geschwiegen, aber wie oft an Sie gedacht. Täglich der Blick auf Ihre Werke ist auch ein Blick, der weiter geht, bis zu Ihnen und den Ihrigen. …

Gestern fing hier die Schule wieder an und wie froh waren ich und mein Mann, nichts mehr tun zu müssen. Er liegt, ist krank geworden von der Kälte, die wir haben und die er in seinen langen Sitzungen am Schreibtisch täglich

274 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

aushielt, um einen Artikel fertig zu schreiben. Es war eine Lungensache, aber Penicillin wirkt fabelhaft, aus der Gefahr muss er noch im Bett das Letzte überwinden. – Ist er wiederhergestellt wollen wir nach Südfrankreich um Wärme, absolute Ruhe zu genießen – hoffentlich wird’s wahr. Aber vorher erreichen uns noch Nachrichten hier, damit wir in Ruhe weiter von Ihnen ziehen. … Mein Mann hat Anfang August die Rembrandtausstellung in Holland gesehen und war beglückt. Wenn es ihm besser geht, schreibt er dann aus Frankreich. In Gedanken gibt’s keine Entfernung – Ihrer Frau und Ihnen les meilleurs de tout coeur! Les Beckers

Sehr liebe, sehr verehrte Beckers!

Rutarhof den 14. Sept. 56

Die erste Hälfte des Jahres durfte ich pausenlos bei intensivster Arbeit sein: 20 neue Ölbilder, 30 neue Holzschnitte und eine Menge Skizzen. Feldarbeit, Mähen dann und später noch vielfältiger Zerriss, doch auch noch etwas Pinselwerk zwischendurch. Der August ist ein damischer Besuchsmonat, zum Glück aber gibt es neben Reisespießern noch erstaunlich unverbrühte Menschen, die mich und uns ahnen lassen, dass die Mühe des Lebens nicht ins Leere geht. Vorige Woche aber geschah ein kleines Wunder: die (sonst gar so unnahbaren) Direktoren der Österreichischen Galerie rollten hier an und nahmen gleich 45 Bilder mit für eine W.B.-Ausstellung, die im Oktober im Belvedere in Wien steigen soll, voraussichtlich am 12. Wie das zugegangen ist, weiß ich nicht, hoffe auch längst nicht mehr jäh, aber ein bisschen Freude haben wir doch. In diesem Jahr hat sich überhaupt einiges zum Guten gewandt, nur der lange kranken Ursi wegen waren wir sehr besorgt. Die lieben Enkelkinder haben wir hier. Ach, könnten Sie doch am 12. Oktober in Wien mit dabei sein!

Nein, auf Reisen war ich nicht, obschon das seit Monaten geplant war. Nur in Laibach waren wir einen Sonntag, wo meine Bilder sehr gut aufgenommen und angeschaut wurden. Und einen anderen war ich auf der Biennale. Es ist so wichtig, die Maße zu erkennen und zu wissen, dass der Rutarhof kein Ort hinter dem Mond und außer der Zeit ist. Was gäbe es nicht alles zu erzählen und im Gespräch zu beschwören! Als ich von des alten Noldes Tod hörte, suchten die sehr besinnlichen Gedanken zuerst Sie, treue Freunde. Finden, verlieren – finden, bewahren: älter geworden, beugt man sich wissender unter die Notwendigkeit alles Geschehens.

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Jetzt hab ich von mir dahergeredet recht wie ein unmanierlicher Wichtigmann. Und Monsieur Henri liegt vielleicht immer noch und leidet. Wir wünschen innigst Besserung und Kräftigung und eine schöne, schöne Erholungszeit au midi. Aix stand heuer auch auf dem Fahrplan, es sollen aber die herrlichen Cézannes noch nach München kommen. Und Rembrandt! Ich freue mich, dass Sie das sehen konnten. Ob der Verlorene Sohn auch da war?

Den möchte ich seit vielen Jahren sehn. Für jetzt sage ich nach einem schweren Tag Gute Nacht, sende die allerbesten Wünsche der Rutarhöfler und bleibe Ihr alter, getreuer Werner Berg

PS. Die kleinere Pariser Ausstellung, vornehmlich eine solche von Holzschnitten, ist auch noch in Schwebe, sie sollte, wie es zuletzt hieß, im November stattfinden. Mir selbst wäre ein späterer Termin lieber. Sie soll im Centre Culturel Autrichien veranstaltet werden, ist natürlich in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzen, hat aber in der Auswirkung doch ihr Gewicht für mich. Wüssten Sie vielleicht wen in Paris, mit dem ich allenfalls dann in Verbindung treten könnte, auch wegen ein bisschen Verdolmetschung beim Eröffnungsempfang? Ich bin halt derlei Dinge gar nicht mehr gewöhnt. Ist Ihr Kunstfreund noch dort, der mit Ihnen herfahren wollte? Wir hoffen immer noch, dass diesmal nur aufgeschoben, nicht aufgehoben werden musste. Dann wollte ich noch kurz anfragen wegen eines Lexikons. Ich selbst bin durch jahrzehntelangen Gebrauch sehr an den Pfohl gewöhnt, den Sie aber meines Erinnerns nicht sonderlich schätzen. Ich fand mich sehr gut darin zurecht, das Farbig-Redensartliche kam nicht zu kurz, das Philologische war nicht zu breit ausgewalzt. Allmählich löst sich nun mein Pfohl auf (ich lese die ganze Simone Weil jetzt auf Französisch), und wie ich den großen Entschluss fasse, einen neuen zu erstehen, höre ich, dass er neuestens ein Bilderlexikon sein soll. Kennen Sie vielleicht ein gutes Wörterbuch ähnlicher Art, nicht zu monströs und nicht zu dürftig?

Für alle Fälle notiere ich noch die Anschrift von LE CENTRE CULTUREL

AUTRICHIEN: 3. RUE ROSSINI, PARIS Ixe. METRO RICHELIEU-DROUOT. Veranstalter ist in erster Linie das Bundesministerium für Unterricht in Wien, wo man mir – sehr im Gegensatz zu etlichen, mächtigen Übelwollern – recht gut gesonnen ist.

Pardon, pardon! Sonderlich wichtig ist das alles nicht. Wichtig ist nur, dass Sie die Freundschaft nicht kündigen Ihrem W. B.

276 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Heinrich Becker, Bielefeld, 21. Sept. 1956

Mein lieber Werner Berg,

dies ist der erste Brief, den ich seit meiner Erkrankung eigenhändig zu schreiben versuche, er gilt Ihnen, Ihrer lieben Frau und den Kindern. Ihr letzter Brief hat uns große Freude gemacht mit allen seinen guten Nachrichten. Er wirkte, als ich fieberkrank im Bett lag, wie wärmende Sonne. Ich fühlte Ihre alte, unverminderte Freundschaft und bin glücklich, unsere Liebe für Sie und Ihre künstlerische Arbeit wohl verwahrt zu wissen. …

An allem, was Sie schreiben, nehmen wir lebhaften Anteil, Ihrem Besuch der Biennale, Ihrem Erfolg beim letzten österreichischen Graphik-Wettbewerb, Ihrer bevorstehenden Ausstellung in Wien und in Paris. Darf ich in jedem Fall auf ein Exemplar des Katalogs, falls gedruckt, rechnen? Sollte demnächst unsere Reise nach Frankreich gelingen, findet sich vielleicht Gelegenheit, dem Centre culturell Autrichien in Paris einen Besuch zu machen und dabei von Ihnen zu sprechen.

Dass Sie sich des Französischen so intensiv annehmen, ist nur ein Zeichen Ihres jugendlich zugreifenden Sinns. Um darin weiterzukommen, rate ich, sobald die nötigsten Vorkenntnisse lexikalischer Art da sind, sich des Nouveau Larousse Illustré zu bedienen. Als Französisch-Deutsches Wörterbuch leistet wohl immer noch Sachs-Villette die besten Dienste, für die Reise das kleinere Wörterbuch von Gaster-Morhenn.

Das Wunderbarste, dem ich in diesem Sommer begegnet bin, ist Rembrandt in Amsterdam und Rotterdam, anschließend Otterlo bei Arnheim mit der Sammlung Kröller-Müller, heute Abteilung des Rijksmuseums. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes war leider nicht da. Ich hatte ihn auch mit rechtem Verlangen herbeigewünscht. Aber es war genug anderes, dass die Reise, zu der ich von Bielefelder Freunden eingeladen war, ganz allein lohnte. Alles unvergesslich, ganz besonders auch die 2 ½ hundert Zeichnungen, von höchstem Rang, eine immer erregender und beseeligender als die andere. Nichts Gleichgültiges darunter, eine Höhe, die die Gemäldeausstellung nicht immer halten konnte.

Für heute genug, mein lieber Freund Werner Berg, den Beschluss überlasse ich meiner Frau. Ihnen immer herzlich verbunden

Ihr Heinrich Becker

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Lieber Freund und Sie alle auf dem Rutarhof, froh bin ich, dass es meinem Mann gelungen ist, den Brief zu schreiben. Ich füge nur Grüße hinzu und den Ausdruck der Freude über die guten Nachrichten. Wenn wir fahren, was wir hoffen, hören Sie von uns besonders von Paris, wo wir nachspüren werden. Ihnen also Glück und Anerkennung – und bald mehr.

Ihre Freundin tres sincere Martha Becker

Rutarhof, den 29. Sept. 56

Geliebte Beckers!

Dank für den rührend schönen Brief, der alle Saiten immer an- und aufklingen ließ. Wie kostbar ist doch dieses Freundeszeichen nach der Krankheit! Von der merkt man freilich der klaren, festen Schrift nichts an, ebensowenig von den Jahren. Ach: die Jahre, Jahre!

In Wien war ich; mit der Eröffnung wird es wohl aus verschiedenen Gründen Anfang November werden. Sonst läuft alles gut. Nur dass die Geschichte gar so offiziell werden soll, liegt mir im Magen. Kannst nix machen. Ich hörte auch, dass man in Paris nun an eine Verbindung meiner Ausstellung mit dem Neujahrsempfang denkt, jedenfalls ist mir der Zeitgewinn nur recht. Wenn ich dann nur einen Menschen zum Parlieren und Sekundieren bei mir hätte!

Diese Kärtchen hätten Ihnen schon von Wien aus zugehen sollen, ich muss doch ein bisschen mit meiner Ausstellungs-Lokalität renommieren. Wenn das der Prinz Eugen geahnt hätte! Haben Sie von Weinheber: „Wien wörtlich“?

Lesen Sie dann den „Blick vom Oberen Belvedere“ – – ach, wie hatten jene Zeiten Kraft Aber auch unsere Zeit ist Lebenszeit, und die vor Ihnen liegt sei eine gute und schöne und reiche! Bon voyage! Stets bei Ihnen Ihr alter W. B. samt allen Rutarhöflern

Martha Becker, Bielefeld, 11. 10. 56

Lieber Freund W. Berg, also wir verreisen nicht – o quel chagrin – um keine Gefahr der Wiederholung zu riskieren und warten lieber auf Frühlingssonne – aber dann ist es möglich, dass wir in Paris sind, wenn Sie ausstellen. Auf jeden Fall wird unser guter Freund auch helfen, wenn wir selber nicht da sind. Es wird schon anders in uns, um uns – Henri hat eine schöne Haltung, ist noch Herr seines Ichs – und arbeitet gern und mit Eifer. Allen viele herzliche Grüße von dem Haus Becker

278 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Heinrich Becker

Lieber W. B., das Plakat, das in diesen Tagen aus Wien hier ankam, wunderbar! Aber es macht mich ganz traurig, dass ich Ihre Arbeiten im Belvedere nicht sehen kann. Es ist zu weit, um an eine Reise zu denken. Und wenn schon, käme ich ja auch zu Ihnen auf den Rutarhof, der mir oft handgreiflich vor Augen steht. Ob es nochmal gelingt? Das Alter schreitet fort. Immerhin vor dem Reisen habe ich noch keine Scheu. Die zuletzt für September-Oktober geplante Reise ist zwar misslungen. Aber die daran schuldige Krankheit ist, meine ich, überwunden. Also hoffe ich weiter. Und wann kommen Sie wieder zu uns? Vielleicht auf dem Weg nach Paris? Zu hoffen, dass die Welt nicht noch wahnsinniger wird.

Herzlichst Ihr H. B.

279 GEWITTER IM KRAINISCHEN, 1957

1957 Wieland Schmied besucht im Winter erstmals den Rutarhof. Anlässlich ihres 80. Geburtstags schreibt Berg eine Würdigung Gabriele Münters und besucht die Künstlerin in ihrem Haus in Murnau. Das Österreichische Kulturinstitut in Paris zeigt Werner Bergs Holzschnitte. Der Bundesminister für Unterricht und Kunst zeichnet Werner Berg durch Verleihung des Professorentitels aus. Die bisher umfassendste Retrospektive Werner Bergs zeigt die Moderna Galerija Ljubljana, deren Direktor Zoran Krzisnik sich sehr für dessen Werk einsetzt: „Am meisten erschüttern uns Bergs Menschen. ... Einen solchen Dolmetsch hatten sie bis jetzt noch nicht: ihre schwerblütige, bedächtige Natur spricht zu uns aus Bergs Werken, ihre Selbstständigkeit, die Eigenart dieser slowenischen Menschen des Grenzgebietes, die durch die Kunst Werner Bergs in die Schatzkammer der kunstliebenden Menschheit der ganzen Welt übergegangen sind. Das ist ein Geschenk, das uns nur ein wirklich großer Mensch und Künstler geben konnte.”

Nach den Anstrengungen dieses großen Ausstellungsjahres macht Werner Berg erstmals, wie in späteren Jahren so häufig, eine Kur in Überlingen am Bodensee. Werner Berg tritt aus dem Kärntner Kunstverein aus: „Aus dem Kunstverein bin ich ausgetreten. War eine Mißehe.”

Unter dem Titel „Daten?” schreibt Werner Berg im Katalog: „Für die Laibacher Ausstellung meiner Arbeiten, der ich mit besonderer Freude und Erwartung entgegensehe, soll ich die autobiographischen Daten zusammenstellen. Das erfüllt mich allemal mit einiger Verlegenheit, – nicht als ob es etwas zu verbergen oder frisieren gälte - und was wäre schon ehrenvoller, als Irrtümer einzugestehen? –, nein, sondern weil ich glaube, dass die Begebenheiten, die sich aufzählen lassen, für die wirkliche Entwicklung eines Künstlers so viel weniger besagen als die mit dem Zeigefinger nicht aufweisbaren. Wenn ich die Preise nenne, die ich erhielt, ... wenn ich die Ausstellungen anführe, wo gekauft wurde und wie viele Bilder in welchen Ministerien hängen, - ja, dann höre ich plötzlich des sterbenden Cezanne fiebernde Frage, ob nicht doch noch der Museumsdirektor seines Provinznestes ihn vor seinem Tode eines Ankaufes würdige, oder ich bedenke, dass Vincent van Gogh ein Bild in seinem Leben verkaufte. Sollte man sich da noch sonderlich großartig vorkommen? Natürlich unternimmt man dies und jenes, um leben und arbeiten zu können, aber ein Künstler, der kein Pfau ist, wird sich nie die Fragwürdigkeit der ‚Erfolge’ verhehlen. Immer dann fällt mir die Stelle von Saint-Exupery ein, wo er von gewissen Erfolgen spricht, deren man sich schämen sollte und von Niederlagen, die uns stolz machen können. ‚Nur spielt man gegen die Menschen ein Spiel, in dem die wahre Bedeutung der Dinge so wenig zählt. Man gewinnt oder verliert nach bloßem Schein: Scheinsiege, deren man sich eher schämt, oder Scheinniederlagen, die einem aber das Weiterwirken unmöglich machen.’ ...Vor einem Jahr war mir eine Ehrung zugedacht, gegen die sich ein Kollegium beamteter Künstler aussprach. Zur gleichen Zeit besuchte mich auf dem Rutarhof der alte Alfred Kubin, der, voll subtiler Aufmerksamkeit meine Arbeit betrachtete und diesen Eindruck als seinen stärksten in der Nachkriegszeit bezeichnete. Eben damals gab Oskar Kokoschka erneut herzlich spontane Zeichen seiner impulsiven Zustimmung. Was wiegt? Was nicht? Zuletzt nur dies: arbeiten.” Später, nach Ende der Ausstellung schreibt Werner Berg: „Im Kriege lehrt man die Völker einander zu vernichten und zu verachten. Nach dem Kriege frühstücken die Diplomaten wieder miteinander,

280 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

und aus ihrem Gepäck wird als Requisit dritter Garnitur die Kunst hervorgeholt als ‚Mittel zur friedlichen Verständigung der Völker’ – und so weiter, und so weiter. Man kennt diesen Schleim und seine beamteten Vertreter zur Genüge. Nein, nein, nein! Kunst ist kein Instrument der Diplomatie, sondern Ursprache der Menschheit. Und wo immer sie verstanden wird, ist für den Künstler Heimatland jenseits aller Grenzen und Ideologien. Das habe ich beglückend in Laibach erfahren, wo ich als Künstler zu Gast, doch gar nicht fremd war.”

Rutarhof, den 11. März 1957

Liebe, verehrte Beckers!

Verzeihen Sie bitte mein Schweigen, das diesmal nicht aus einer Zeit der Arbeitsfülle stammt, sondern aus unaufhörlichen, zerreißenden Beanspruchungen. Dabei habe ich nichts als Sehnsucht nach Stille und Sammlung. Einmal werde ich auch gewiss das Steuer mit der äußersten Kraft herumwerfen, aber zuvor muss noch etliches bestanden werden. Wie tief und stark Sie stets in unserem Bewusstsein und Fühlen leben, das möchte Ihnen der Märzwind unmittelbar zuflüstern, – es kann aber auch der eines jeden anderen Monats sein.

Inzwischen sind meine Arbeiten von der ein Vierteljahr dauernden Ausstellung im Wiener Oberen Belvedere zurück, es war keine geringe Sache. Nach den sehr mächtigen Feinden schaue ich nicht hin, und dann zeigt es sich auf einmal, dass gerade sie durch ihre Umtriebe meine Sache mehr fördern, als ich es durch Ränke und Diplomatie vermöchte. Ich habe genug mit mir selbst zu tun. Kaum geht die Wiener Ausstellung zu Ende, da rühren sich mit Nachdruck die Laibacher und andere. In Ljubljana, das für mich hier von besonderer Bedeutung ist, bereitet man eine umfassende Ausstellung meiner gesamten Arbeit vor, mit großem Katalog und grundsätzlicher Abhandlung. Es gibt dort zwei ausgezeichnete Museumsleute mit Herz und ohne Scheuklappen. Während ich der notwendigen Atem- und Besinnungspause wegen um Aufschub gebeten habe, kommt soeben über das Wiener Kultusministerium die Eilnachricht, dass nun die Ausstellung im Centre Culturel d’Autriche, mit der ich überhaupt nicht mehr gerechnet habe, bald steigen soll.

Dauer: 23. April – 12. Mai, das Material soll in einer Woche zur Kurierbeförderung in Wien sein, biographische Angaben und Charakterisierung der künstlerischen Situation sollen unverzüglich nach Paris gehen. Nun, es handelt sich keineswegs um eine große Sache, ich soll 40-50 Holzschnitte schicken und nur ganz wenige Ölbilder, an deren Hängung mir jedoch sehr liegt.

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Zur Eröffnung möchte ich recht gern einen kleinen Text verfassen und, da ich längst nicht versiert genug bin, übersetzen lassen, aber sprechen möchte ich selbst. Die Reise bekomme ich vom Ministerium gezahlt, und dann heißt es: „Falls Sie in Paris einen Bekannten haben, der Ihre Werke kennt, wäre es gut, wenn er Dr. Cocron bei der endgültigen Wahl anhand der vorhandenen Hängefläche unterstützen würde.“ Natürlich habe ich keinen und es muss auch so gehen, aber wie gut wäre es, wenn mir bei der ersten Führung wer zur Seite stehen könnte! Unausdenkbar schön wäre es, wenn dann wer von Ihnen dort sein könnte, aber das ist ein Wahngedanke, nur ginge es vielleicht einzurichten, dass ich mit Ihrem Freund, der Sie einmal herbringen wollte, zusammenkommen könnte. Kann er vielleicht Deutsch? Mir graust nicht wenig davor, so allein auf weiter Flur zu stehen. Ein lieber Gedanke wäre mir auch, wieder in Ihrem alten, vertrauten Hotel wohnen zu können. Es sind gerade 20 Jahre her, dass Sie mich dorthin empfahlen.

Inständig bitte ich um Verzeihung, dass ich mich – wie sollte es anders sein! – brühwarm mit meinem Gedanken-Wirrwarr an Sie wende. Auf jeden Fall werde und muss ich irgendwie zurechtkommen, aber es tut so gut, mit Ihnen reden zu können. Wenn ein paar Menschen in dem großen Paris und Riesenkunstbetrieb, in dem derlei sonst spurlos untergeht, für meine Sache zu interessieren wären, wäre das von nicht geringer Bedeutung.

Wie mögen Sie diese Zeilen antreffen, Sie, die ich mir im Ernst niemals gealtert vorstellen kann, und denen an Leiden in allen Jahren genug zugemessen war? Wäre dieses Westdeutschland nur nicht immer weiter – fremd entfernt und die Zeit nicht immer knapper, drängender, drohender!

Die Pariser Adresse führe ich am Ende des Briefes an. Ich lege zwei Zeitungsstücke bei, die unlängst erschienen. Den einen Aufsatz habe ich mir recht von Herzen weg geschrieben und bekam sehr schöne Antwort aus Murnau. Das andere ist etwas ungeschickt, doch wohlgemeint, ohne mein Zutun verfasst, auch recht verschoben in den Nuancen und voller Druckfehler. Dennoch ist es nicht schlecht, dass der ungemein eindrucksvolle Kubin-Besuch überhaupt bezeugt wurde.

Mit innigststarken Herzenswünschen und -grüßen von allen Rutarhöflern (es ist ja längst leider nur mehr eine Restbesatzung) bleibe ich, verehrteste Becker-Freunde Ihr alter und getreuer Werner Berg

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Martha Becker, im März 57 Lieber Freund Werner Berg und Familie, welche Freude kam in unser Haus mit Ihrem Brief und der frohen Botschaft, dass Sie nun in Paris ausgestellt werden. Vergessen Sie nicht, dass der Weg nach Paris über Bielefeld geht, bequem von hier in 8 Stunden in Paris anzukommen. Unser Freund Ourtau soll Ihrer werden und das tun für Sie, was wir so gern selber tun würden. Er weiß schon über alles Bescheid und soll nun schreiben, ob er zwischen 23. 4. und 12. 5. in Paris sein wird. Wenn ja – ist alles gut. Ihre Erfolge sprechen auch sehr für die Männer in Wien, die Ihre Werke erkennen. Seien Sie alle, Sie liebe Frau Werner Berg, Sie lieber Freund gegrüsst en toute amitie M. B.

Mein lieber Werner Berg, es ist mir zuweilen gar nicht zu Mute, als sähen wir uns nicht, ich wundere mich dann vielmehr, dass Sie nicht in Person bei uns erscheinen, da Sie uns doch so nahe sind. Vollends nach Ihrem guten Brief, den wir vor wenigen Tagen zu unserer großen Freude erhielten. Freude? – Ja, trotz des mancherlei Beklemmenden, das Ihnen zustößt. Aber wem bliebe das erspart! Es geht dann doch immer wieder weiter und auch mit Erfolg und glücklichen Überraschungen. Auch Ihr Brief bestärkt uns in diesem Glauben. Dass nach der gewiss, trotz aller Quertreibereien, gut und erfolgreich verlaufenen Ausstellung in der Staatsgalerie nun sich die neue Gelegenheit in Paris bietet, sollte uns das nicht freuen, wie es Sie und alle Ihre Freunde freuen muss! Und ist da nicht Hoffnung, uns wiederzusehen, wenn Ihr Weg Sie nach Paris, oder von dort zurückführt in die Heimat? Schade, dass wir Sie nicht begleiten können. Aber helfen können wir vielleicht, wenn Sie bei der Eröffnung einiges in französischer Sprache sagen möchten. Schicken Sie uns Ihren Text, oder Ihre Hauptgedanken, damit wir sie der zu erwartenden Situation anpassen können. Sie dürfen das unbedenklich vorlesen. Niemand erwartet von Ihnen freie Rede, was ohnehin malenden Künstlern nicht geläufig zu sein pflegt. Hauptsache bleibt auch in Paris Ihr Werk, das gewiss in ausreichend sympathischer Atmosphäre dargeboten wird und sich dort wie in Wien behaupten kann. Zudem werden gute Freunde von uns in Ihrer Nähe sein: Herr Eugène Ourtau und Mme Germaine Laureillard. Beide sind heute von meiner Frau auf Ihr Kommen vorbereitet und werden gewiss zur Eröffnung Ihrer Ausstellung anwesend sein, um Ihnen notfalls beizustehen, wenn es ihr Dienst zulässt. Und ebenso werden Sie wie früher, wenn Sie wollen,

Heinrich Becker, Bielefeld, 19. 3. 57
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gastliche Aufnahme bei Mlle Vigny finden im Hotel de la Place de l’Odeon. Nur müssen Sie sich früh genug – ca 8 - 10 Tage vorher – anmelden, da die Zimmer stets beansprucht werden. Schreiben Sie ihr.

Tausendfach Gutes für Sie wünschend und herzlich grüßend

Ihr alter, und immerfort älter werdender Heinrich Becker

Rutarhof, den 1. April 1957

Liebe, verehrte Freunde!

Bei meiner Heimkehr gestern von einer kurzen Reise nach Laibach (Vorbereitung der großen Ausstellung) und München (Ausstellungen Kandinsky-G. Münter und F. Léger) fand ich die Karte mit lauter guten, verheißungsvollen Nachrichten vor – es war alles so im besten Schwung, aber da trat im vorletzten Augenblick zu meiner Verblüffung ein retardierendes Moment ein, von dem ich Ihnen nur mit schwerer Überwindung Mitteilung machen kann. Gerade und vor allem Ihnen und Ihren so großartig bemühten Freunden gegenüber ist mir die Wendung unsagbar peinlich, aber ich bin schuldlos. Die Ausstellung soll also um knapp zwei Monate verschoben werden, und um Sie über den Stand zu informieren, schreibe ich den diesbezüglichen Briefwechsel ab. … Wenn etwas Gutes an der Geschichte ist, so ist es der Umstand, dass ich nicht gerade über Ostern in Paris bin und ganz besonders der, dass ich Sie auf jeden Fall vorher aufsuchen kann und werde, ich denke schon Anfang Mai. Dies nur für heute. …Toujour et bien le vôtre W. B.

Rutarhof, den 16. April 1957

Liebe, verehrteste Freunde!

Ich bitte viel-, vielmals um Verzeihung, wenn ich soviel Mühe verursachte und verursache. Elan und Freude des ersten Nehmens waren natürlich bei mir dahin, aber nun hoffe ich doch auf einen glimpflichen Ausgang. Auch Ihren Freunden in Frankreich danke ich von Herzen und hoffe, dass ihnen das Hin und Her nicht soviel Verdruss bereitet hat, dass sie sich von meiner Sache abwenden. Ein bisschen unheimlich ist mir wohl zumute, dass es nun so offiziell zugehen soll, zumal mein ganzes Leben niemals danach ausgerichtet war und ich hier im Lande mancher verkennenden Feindschaft begegne. Entfernt ist mir in Erinnerung, dass Sie M. Dorival einmal in gutem Gespräch begegnet sind.

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Für Anfang Mai hoffe ich sehr auf ein Wiedersehen und auf die Möglichkeit näheren Besprechens. In Vorstellung und Gedanken sehe ich Sie beide immer noch und nur wie damals in der Detmolder Straße, als so viel Herzenswärme und -offenheit mich fürs Leben Ihnen verband und verpflichtete. Die Jahre, die Jahre, – welche Jahre!

Ein frohes, schönes und gesegnetes Osterfest wünsche ich im Namen meiner Frau und aller Rutarhöfler und bleibe in anhänglichster Verehrung Ihr alter, getreuester Werner Berg

Heinrich Becker an Mauki Berg, Sonntag 12. Mai 57

Welcher Freudentag, Werner Berg hier bei uns zu haben, ihn wiederfinden, zu hören „wie“ er geworden ist. –Wie wir unseren Werner Berg lieben, lieben wir Sie, liebe Frau Berg, Ihre Kinder und alles, was zu Ihnen gehört. Wir sind sehr glücklich miteinander und es ist, als wären wir nie getrennt. In herzlichstem Gedenken Ihr alter Heinrich Becker

Martha Becker, Mardi, 14. Mai 57

Très cher ami! Ces beaux jours du REVOIR – (11-12 Mai) restent gravés dans la pensée et les sentiments. Der Freund Ourtau hält sich noch in Frankfurt auf und wird Mittwoch abends ankommen, er soll bei der Übersetzung, nein beim letzten Schliff helfen. Wir werden an alle Eingeladenen auch persönlich ein paar Worte schreiben, damit sie auch zur Eröffnung kommen. Bitter, dass wir nicht dabei sein sollen – aber wer weiß!

Lieber Werner Berg, unsere inneren Augen sind beständig nach Paris, Place de l’Odeon, Mlle Vigny, gerichtet und suchen Ihren Wegen in den bewegten Straßen und Ihren Zielen zu folgen, immerfort herzliche Wünsche zum Erfolg zwischen den Lippen. So sind wir immer mit Ihnen. Herzlichst Ihr H. B.

Paris, den 14. Mai 57

Geliebte Beckers!

Au cinquième Ihres altgeliebten Hotelchens durchströmt mich noch voll und warm das Glück unseres Wiedersehns. Dass es so schön, so ohne die gelindeste Spur von Fremdheit und Verbogenheit war, ist ein ohnegleichen kostbares Wunder auf dieser Menschenwelt. Ach, Beckers, liebe, treueste, edelste Men-

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schenseelen, für Ihr Dasein und Ihr Nahsein kann ich dem Himmel nie dankbar genug sein, aber Ihnen zu danken erscheint mir fast als Vermessenheit.

Durchaus angemessen aber erscheint es mir, aufs Heftigste mit Ihnen allen zu schimpfen, weil Sie mich geradezu ungeheuerlich verwöhnt haben. Ich kaue eben mit Behagen einen Sésée-Apfel, vor mir steht das herrliche Japanblatt (es wird immer reicher und nobler beim Hineinschauen) und in der Tasche klingen die Fränklein, die Sie mir auch noch zugesteckt haben und mit denen ich mir gleich – die Sonne strahlt auch wieder – tout Paris kaufen werde.

Gestern habe ich noch im Zug und auf der Bahn meiner Frau geschrieben, die Sie so sehr liebt und verehrt, dankerfüllt, dass ich Sie in all den Jahren zur Seite haben durfte. Ja, wer ahnt, was das für einen Umgetriebenen bedeutet! Und nun habe ich Sie wieder ganz nah von Angesicht zu Angesicht sehen dürfen: Mme Becker, die einen point de vue erklommen hat, der hoch über uns allen steht, M. Becker, der der Jahre spottet und jeglicher Lauheit. …

Seien Sie bitte nicht ungehalten, dass ich Ihre Dienste so sehr in Anspruch nehme, sie sind natürlich von unermesslichem Wert. Gestern konnte ich noch nicht viel erledigen; beim Centre culturel Autrichien habe ich angerufen, man war dort recht in Aufregung wegen des Vortrages und Besuches eines Kultur-Oberbonzen und -Höchstwürdenträgers (Holzmeister). Auf Nachmittag bin ich bestellt. Werde den Donnerstag zusetzen. M. Dorival möchte ich mit Ihrem großartigen Brief erst aufsuchen, wenn ich den österreichischen Vertreter gesprochen habe.

Ich konnte auch sonst nirgends ankommen: Crédit Lyonnais war gesperrt, Orangerie desgleichen und wie ich dort und beim Jeu de pomme im Platzregen gelandet war, gab es gerade Umbau und Verlegung. Für den Louvre war es mittlerweile zu spät. Aber la ville lumière habe ich genossen wie nur je. So vertraut wie nur je. Dem Glaser bin ich auch über den Weg gelaufen, er schliff mich in seine Werkstatt, erzählte mir von Quer- und Rückschlägen und konnte sich nicht genug tun im Entschuldigen und Splendidsein. Naja, das Bösesein ist nicht meine Sache, aber auf der Hut bin ich doch. Lernte am Abend auf dem Boulevard sitzend eine Menge Künstlervolk kennen. Nicht uninteressant.

Jetzt muss ich mich aber aufmachen, obschon es mir als das aller Vergnüglichste erscheint, mit Ihnen zu reden. Sie beide, Freunde (wie das Wort doch auf einmal von innen her glockenschwer klingt!), haben mich weit über die mir zugestandene Norm hinaus glücklich gemacht. Liebe, liebe, viel zu gute Beckers, seien Sie umarmt von Ihrem alten Werner Berg.

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Brief Mauki Berg, 16. Mai 1957

Liebe, sehr verehrte Dr. Beckers!

Heute kam Ihre liebe Karte aus Bielefeld und ein begeisterter Brief von meinem Mann aus Paris, in dem er Ihrer aller Lob in den höchsten Tönen singt. … Es gibt so wenig Menschen, die ein Herz haben für den Künstler und die wissen, was ein Künstler braucht an Zuspruch, keine gibt es so wie die „Beckers“. … Ich habe so eine große warme Freude über die vielen guten Nachrichten, dass ich Ihnen das gleich sagen muss. Leider fehlt mir ganz die Zeit und Sammlung für einen längeren Brief, aber mein Mann hat Ihnen sicher viel erzählt, was bei uns los ist, von Schwerem, das wir durchgemacht haben, wie aber auch viel Glück sich ereignet.

Wir zuhause nützen die Zeit, da mein Mann weg ist, für eine kleine Bauerei (Waschküche und Futterküche) und ich stellte nebenbei das Atelier auf den Kopf, weil ich dort sonst nie gründlich Ordnung machen kann. …

Ihnen allen Dank, Dank, Dank! Ihre glückliche Mauki Berg mit allen Rutarhöflern

Martha Becker, Dienstag, 21. 5. 57

Sehr liebe Werner Bergs, beste!

Herr Ourtau war drei Tage hier. Schöne, volle Tage, wo wir oft von Ihnen gesprochen haben und Pläne entworfen haben. Er schlägt Ihnen vor, lieber Werner Berg, ein oder zwei Tage vor der Eröffnung zu kommen und er wird Ihnen dann helfen, den Text gut französisch zu lesen. – Der Text kommt nächste Woche – er muss dem Publikum angepasst werden und kein Artikel sein. Wir nützen alles aus. Sie werden sehen es wird!

Rutarhof, den 27. Mai 57

Liebe, teure Becker-Freunde!

Dank, allerherzlichsten, für Ihre liebe Karte. Dauernd sind Sie in unseren Gesprächen. Mich hat es sehr reich gemacht, Sie wiedergesehen zu haben, und alles dort war unheimlich voll von Erkenntnissen, Einsichten, Aufschlüssen. Nur mit der Übersetzung hätte ich Sie nicht plagen sollen, das tut mir jetzt in der Seele leid. Ich brauchte auch so notwendig schon das französische Konzept. Ihren französischen Freunden lasse ich viel-vielmals danken, nur bange ich ein wenig, dass aus dem persönlichen Duktus von Denken und Sprechen ein zu allgemeiner Speek werden könnte. Ein „Artikel“ ist es gewiss nicht.

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Wie immer: meine Dankbarkeit zu Ihnen kennt keine Grenzen. Die Liste der Einzuladenden soll und möchte ich so bald wie möglich nach Paris an das Kulturinstitut weitergeben. Ich fahre dann ohnehin einige Tage früher zum Hängen hin.

Salut au monde, der Ihrigen! In der herzlichsten Anhänglichkeit und Erkenntlichkeit grüßt Sie wie eh und je, und jetzt inniger-verbunden denn je

Ihr alter W. B. Paris, den 15. Juni 57 Geliebte Beckers!

Ohrfeigen könnte ich mich, weil ich nicht geschrieben habe. Ich war völlig zerrissen durch die einfach nicht zu bewältigende Arbeit, viele Wege und die Wetterunbill. Ich habe mich auch wirklich sehr geschämt, Ihnen die Arbeit aufgehalst zu haben, die ich dann meinerseits wieder ein bisschen aufs Eigene hin formen musste und konnte, was dank der so perfekten (Ihrigen) Grundlage ging. Nun hat noch der Leiter des Kulturinstitutes seine diesbezüglichen Wünsche, die er mir morgen sagen wird. Er – Dr. Fritz Cocron – ist ein feiner Mensch, der sich lieber schlacksig gibt als witzig tut, aber dabei viel mehr in sich hat, als zu vermuten ist. Nur die amtierenden (altadeligen) Damen sind unausstehlich.

Haben Sie die Einladung bekommen? An die Adressen sind sie von hier rechtzeitig geschickt worden, ich selbst bin einfach bis zur Eröffnung so gehetzt, dass ich noch keine Kontakte aufnehmen konnte. Es gab ein Déjeuner vor einigen Tagen, bei dem eine ganze Reihe von Sachverständigen sich sehr gut über meine Sache geäußert haben sollen. Die Malerei wird freilich diesmal nicht ihrem Gewicht entsprechend zur Geltung kommen.

An diesem überheißen Sonntag habe ich – noch nicht fertig, aber doch das „Gesicht“ bestimmend, gehängt und konnte Gott sei Dank allein sein, ohne dauerndes Dreinreden. Jetzt werde ich gleich sehen, was draus wird. Schön ist es nicht für den Maler, so gleichsam als commis voyageur zu reisen. Aber nun muss es sein und dann weiß ich, was ich zu tun habe. Nie war meine Sehnsucht nach Einsamkeit und Arbeit größer. – Zu Hause wird jetzt gemäht. Ich fehle mehr denn je im Jahr.

Für heute nur das Herzlichste und innigsten Dank!

Stets Ihr getreuer Werner Berg

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Martha Becker, Sommer 57 Liebe Freunde Werner Berg!

Am Sonntag 20. 7. ist Familie Eversmeyer nach Genua gefahren und hat am Mittwoch auf der Frankfurt (Hapag) die Fahrt nach Japan angefangen. Sie lassen alle viele herzliche Grüße zurück und sind froh über die kurze Begegnung. … In Essen war Henri mit dem Kunstverein zu Nolde. – Wir werden Ourtau in Paris treffen und Ihnen dann schreiben. …

Rutarhof, den 16. VII. 57

Liebe, verehrte Beckers!

Nun ist bei Ihnen die schwere Entscheidung gefallen und das Haus so viel leerer und stiller. Ich kann mir denken, wie Ihnen zumute ist. – Mit Paris hat es doch recht gut geklappt, ich schicke einmal alles. Grüßen Sie bitte M. Ourtau schön, der so ungemein sympathisch ist. So gern würde ich ihn auf dem Rutarhof begrüßen und von Venedig aus wäre es gar nicht so arg, über Tarvis hierherzukommen. …

Sanatorium am Bodensee Dr med. Otto Buchinger, Überlingen, den 4. Dezember 1957

Liebe, verehrte Beckers!

Seit ich hier bin, will ich Ihnen schreiben und nun geschieht es erst knapp vor der Abreise. Nachdem ein Jahr Ausstellerei vorbei war, habe ich mich auf dringendes Anraten eines kunstsammelnden Arztfreundes entschlossen, hier eine radikale Fastenkur zu machen, die auch ausgezeichnete Wirkung getan hat. Danach sollen Leben und Arbeit auf dem Rutarhof ganz frisch wieder beginnen. Am 8. November vorigen Jahres wurde die Ausstellung im Wiener Belvedere eröffnet, und am 8. November dieses Jahres bin ich mit den Bilderkisten über den Seebergpass von Laibach wieder auf den Rutarhof gefahren. Damit sei ein Schlusspunkt gesetzt für Zeiten, obschon sich mir gerade jetzt etliche Chancen bieten. Ich muss und muss aber wieder stetig arbeiten, sonst verrinnt die kostbarste Lebenszeit ungenutzt.

Den Laibacher Katalog hoffe ich in Ihrem Besitz. Die Reproduktionen hat man aber sehr gut gebracht, finde ich. Die Kunstleute arbeiten dort unten mit erstaunlicher Aktivität und Weltaufgeschlossenheit, da macht man sich leicht sehr falsche Vorstellungen.

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Von Japan durfte ich auch einmal hören und auch von dem so ungemein sympathischen M. Ourtau, dem es aber – leider – nicht möglich war, von Venedig aus den Abstecher auf den Rutarhof zu machen.

Am Freitag fahre ich von hier nach München, wohin mir zu meiner Freude meine Frau mit Annette entgegenkommt. Annetti war noch nie weiter weg vom Hof, es wird also ein Ereignis. Die Nolde-Ausstellung, prächtig und mächtig umfassend, habe ich dreimal angeschaut. Unter vielem Zurückdenken, Wägen und Versenken hatte ich stärkste Eindrücke, nur eben Rausch und Verzauberung wollten sich – verständlicherweise – nicht einstellen wie ehedem. Dann sah ich eine Modersohn-Ausstellung, wie mir in ähnlicher Geschlossenheit und Bedeutung noch keine je zu Augen gekommen ist, und die drang mir tief ins Gemüt und beschäftigt mich nachhaltig. … Erwähnen muss ich noch, dass die Laibacher Ausstellung, in der über 200 Arbeiten hingen, sehr gute und starke Wirkung tat. Sie war recht eigentlich die zentrale Darbietung meines Malerlebens. – Sollten Sie einmal die Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“, die recht verbreitet ist, zu sehen bekommen, so finden Sie im Oktoberheft einen guten Aufsatz von E. Kuby zu meinen Holzschnitten, von denen elf reproduziert sind. Leider besitze ich selbst nur ein Heft. Von Walter Bauer kam bei Desch ein Gedichtband heraus, über den ich viel Freude hatte, weil er nach langer Zeit wieder stark zu sich und seinem Ursprung gefunden hat. Liebe, verehrteste Freunde, leben Sie recht wohl und seien Sie aufs herzlichste gegrüßt von Ihrem alten, getreuen Werner Berg.

Heinrich Becker, Bielefeld, 9. 12. 57

Lieber Werner Berg,

Ihr guter Brief vom Bodensee brachte uns wieder in willkommene Nähe zu Ihnen, dankbar empfangen, nachdem wir uns im letzten Sommer an Ihrem Besuch so herzlich beschenkt gefühlt hatten. Was Sie dabei zurückgelassen haben, sind nicht nur die sehr schönen Bücher und die Holzschnitte, die uns noch viel wertvoller sind, weil sie von Ihren eigenen Händen gemacht wurden; mehr als alles das ist die unverlierbare Existenz Ihrer reichen, von Liebe und Freundschaft zu Menschen und allem Lebendigen erfüllten Persönlichkeit. Sie ist noch immer hier, fühlbar nahe, und wird aus dem Unsichtbaren so leicht ins Sicht- und Hörbare versetzt, wenn so ein Brief kommt, wie der vom Bodensee, oder wenn wir Ihre Bilder anschauen, die keines Wortes bedürfen, um Sie herzuzaubern. Über die Wirkung Ihrer Ausstellung in Laibach habe ich mich sehr gefreut. Viel umfassender als die Pariser Schau, haben Sie

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nun dort weit festeren Boden unter den Füßen. Die Kunst kennt wahrhaftig keine Grenzen, keine nationalen, keine politischen, keine sprachlichen Grenzen. Brüderlichen Sinnes kann sie von allen mit Augen und Herz begabten Menschen empfangen und innerlich realisiert werden. Ich freue mich mit Ihnen und wünschte nur, ich, nein wir könnten das alles leibhaft sehen, was Sie in Ihrem schönen Katalog abbilden konnten. Ich habe mir alles daraus, wie ich konnte, zu eigen gemacht und lebe damit wie mit Wirklichkeiten, als hätte ich sie alle gesehen und bis in die Farbe hinein verstanden. Alles groß und herrlich!

Seien Sie glücklich mit Ihrer großen Familie und freuen sich mit allen Ihrigen auf das Licht in der Weihnacht! Ich grüße Sie und alle anderen herzlich.

Ihr alter Heinrich Becker

Martha Becker, 2. Adventsonntag 57

Liebe vereinte Werner Bergs, wie gut, dass Sie wieder zusammen sind, dass die Wochen am Bodensee nicht durch Krankheit verursacht wurden – und jetzt ist es auch gut, nicht mehr an Ausstellungen zu denken – sondern an neues Schaffen. Das hören wir gern. Kataloge und Erfolg sind für uns Mitfreude gewesen an Ihrem fleißigen Leben, das eigentlich keine Leere kennt, viel aufnimmt und im Schaffen Ihre Linie behält – vielleicht noch tiefer zum Ausdruck gebracht. …

Heinrich Becker

Lieber Werner Berg, die Furche mit den vielen Holzschnitten hat uns große Freude bereitet. Wir hören nicht auf, sie zu lieben. Die meisten sind uns wohlbekannt und erinnern an alte Zeiten. … Das Blatt auf der Titelseite hängt bei mir im Schlafzimmer. Morgens und abends fällt der erste und letzte Blick darauf und entlockt uns Grüße, die hoffentlich bis zum Rutarhof dringen. Eine sehr wertvolle Zeitschrift. Bedeutsam auch, was Wieland Schmied über W. B. schreibt. Über die letzten Absätze habe ich immer wieder nachgedacht, weil wesentliche Fragen künstlerischen Schaffens angerührt werden. Keine Folklore, sondern Kunst! Die aus sich selbst zu leben vermag. Rembrandts Menschen sind für uns keine Holländer, aber echte Kinder Gottes. Warum sollten es nicht auch die windischen Bauern und Bäuerinnen sein?!

Sie wissen das so gut wie ich und sind des rechten Weges sicher. Nur nicht zweifelhaft, nur nicht müde werden! Weiter! …

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1958 „Am gestrigen Dreikönigstag war ich in Eberndorf skizzieren. Mit Dreikönig geht es recht eigentlich erst ins neue Jahr hinein, wir lieben den Feiertag vor allen anderen. Am Abend wird über die Türen C+M+B+ gemalt mit der neuen Jahreszahl, die Frau trägt das Licht, der Pacher das Feuer, Veit das Räucherzeug und eine Stimme sagt mild und mahnend: ‚Der Hausvater’. Dann ist alles zugleich da: Verfehlung und Vergeblichkeit, Hoffnung und Aufschwung; das tiefe Wissen, dass die insecuritas humana der einzige sichere Tragpfeiler der Existenz, des Künstlers zumal, ist, und doch immer wieder das Gefühl, ganz neu vor einem Anfang zu stehen”, schreibt Werner Berg an Maria Schuler. Über sein bisher intensivstes Maljahr, in dem an die sechzig Ölbilder entstehen, schreibt Werner Berg: „Die Arbeit fordert mir allemal die letzte Kraft ab, und nach diesem unvergleichlichen Malwinter geht es nun etwas härter und schwerer weiter. Mehr denn je aber greife ich Sinn und Fruchtbarkeit unserer Lebenssituation und vor allem den Zwang zur Einfachheit und inneren Besinnung. … Das vorige Jahr war für mich ein rechtes Ausstellungsjahr, so wie das heurige ein Arbeitsjahr in ununterbrochener Anspannung und Einsamkeit ist.“

Seine Situation als Landwirt schildert Werner Berg: „ Alles was zur betriebswirtschaftlichen Organisation gehört, obliegt mir selbst, und die meiste schwere Arbeit werden von meinem Sohn und meiner jüngsten Tochter mit dem größten, selbstlosen Fleiß ausgeführt, während meine Frau weder Erholung noch Feierabend kennt. Wir haben uns weder elektrisches Licht leisten können, geschweige denn Fahrzeug, Traktor oder irgendwelchen Luxus.”

Dr. Leopold Zahn, der Herausgeber der Zeitschrift „Das Kunstwerk” plant ein Heft zur Stellung gegenständlicher Kunst. Er fordert Werner Berg auf, grundsätzlich seine Position in dieser Veröffentlichung darzulegen. Werner Berg schreibt ihm darauf: „Von Ihnen nach Jahrzehnten intensivster und einsamer Arbeit vorgestellt zu werden, kann mir in der Tat nicht gleichgültig sein, geht es doch darum aufzuzeigen, dass auch eine solche Arbeit als lebendige Gestaltung im Kraftfeld der Zeit steht und nicht mit epigonalen Verplätschern zu verwechseln ist. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang zwei Bemerkungen machen, die mir zur Charakterisierung des Standortes dienlich erscheinen. Einmal muss die ‚gegenständliche Malerei’ – man hat sich wohl auf die nicht sonderlich glückliche Bezeichnung zu einigen – aus der gesamten Problematik zeitgenössischen Gestaltens hervorgehen, und das Bewusstsein ihres Urhebers darf keinerlei Spannungen und Entscheidungen ausweichen. Adorno: ‚Jedesmal ist der Konflikt auszutragen, und man braucht viel Kraft oder viel Dummheit, um darüber nicht den Mut zu verlieren.’ Von besonderer Bedeutung erscheint mir aber der spezifische Wirklichkeitsbezug eines solchen Malers. Es ist nicht ganz leicht, dies unmissverständlich zu formulieren: zum Vergleich kann ich nur etwa auf die Position Kierkegards, auf die des Erkennenden innerhalb der Existenzphilosophie beziehen, eben auf sein inwendiges Eingeschlossensein darin als Existierender, der sein ‚Entweder-Oder’ nicht nur gemeint und geschrieben, sondern auch durchgestanden hat. Ähnlich, denke ich, muss es bei einer Existenzmalerei bestellt sein, wenn sie die notwendige Kraft haben soll, den ‚Abgrund der Wesenlosigkeit’ zu überwinden.”

292 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Poststempel, 28. 1. 1958

Geliebte Beckers! Eben sitze ich in Völkermarkt, wo ich skizziert habe. … Wir haben heuer keinen gescheiten Winter und viel Unruhe, aber als Maler fühle ich mich ganz wie vor neuem Anfang. …

M artha Becker, Freitag 7. 3. 58

Liebe Freunde, Sie sind sicher ganz im Schnee versteckt? Oder ist Ihnen Flora hold? … Denken Sie ja an die Ausstellung in Tokyo, es wird für Eversmeyers eine große Freude sein. Wir animieren auch den guten Frans Masereel mitzumachen, der so echt sich selber treu bleibt.

293 SCHIESSBUDE, 1958

Rutarhof, den 9. Mai 58

Liebste Becker-Freunde!

Ja, das ist schrecklich mit mir, ich habe einen Horror vorm Schreiben und bin von der Malerei aufgefressen, – so habe ich wohl noch nie in meinem Leben durchgezogen. 33 neue Bilder stehen da, nicht wenig davon gehört zum Besten, was ich machen durfte.

Denken, voller Dankbarkeit und Herzlichkeit, tue ich alle Tage an Sie beide. Ihr wunderschönes Päckchen brachte allen große Freude mit den feinen Süßigkeiten und dem erstaunlich gut herausgegebenen OK-Bändchen. Auch das Schrotbrot war interessant und köstlich, seit einem halben Jahr backen wir selbst auch immer nebenher welches, wobei es wichtig ist, dass zwischen Mahlen (Schroten) und Backen kein größerer Zeitraum verstreicht.

Ganz besonders aber danke ich für den überaus schönen, freundesnahen Brief. Im Einzelnen muss ich ein andermal näher darauf eingehen. Der Weinheber-Brief war mir zugedacht, kam aber in andere Hände. Die ganzen Weinheber-Briefe wurden als V. Band der Gesamtausgabe bei Otto Müller (Salzburg) verlegt – davon 30 Briefe an mich gerichtet. Es ist aber eine reichlich fatale Sache mit dieser Ausgabe, die eher eine Schändung (wider Willen) denn Ehrung des Namens bedeutet. Eben hierüber und anderes wäre viel zu sagen. Die posthumen Machenschaften im Falle Weinheber sind ein übles Kapitel, und die so geschäftstüchtige wie geistig unzulängliche Witwe ist zugleich das, was man in Wien ein „Tschapperl“ und in Paris eine „veuve abusive“ (?) nennt.

Schwamm darüber: Weinheber war ein Dichter aus Geblüt bei aller Schwäche und Anfälligkeit des Menschen. In seiner innersten Figur war Weinheber viel tiefer und stärker wienerisch als etwa Hofmannsthal in seiner müden Gepflegtheit und Noblesse.

Mit dem Ausstellen in Tokio, worauf von drei Seiten gedrängt wurde, war es wieder einmal nichts, weil die kompetente Wiener Stelle alles für mich Förderliche seit Jahren sabotiert. Ich glaube aber, man fördert mich erst recht dadurch: eben erst erschien im Londoner STUDIO ein eindrucksvoll plazierter Aufsatz über meine Arbeit.

Einen schönen Mai wünsche ich, Gesundheit in stillen und frohen, immer reichen Stunden. In herzergebener Freundschaft Ihr alter, dankbar getreuer Werner Berg samt allen Rutarhöflern

294 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Rutarhof, den 14. Juli 58

Sehr liebe und verehrte Becker-Freunde!

Vorige Woche habe ich diese heftige Arbeitszeit kurz unterbrochen, um einen Tag die Biennale in Venedig und den anderen O.K. in Wien anzuschauen. … Nach dem Mähen beginnt bald wieder der Malerei anderer großer Zug. …

Paris, 2. Oct. 58

Lieber Freund Werner Berg, wir kommen von Madrid et sommes chez notre ami, Eugene Ourtau. Wir sprechen von Ihnen, von Ihrem Werk und freuen uns zusammen dasselbe zu empfinden. Bald mehr, Ihnen, Ihrer Frau viel herzliches au revoir Martha Becker

Liebster Werner Berg, wenn Sie wüssten, wie oft wir heute von Ihnen gesprochen haben, und wie viel Gutes und Versprechendes, mit Ihnen verbunden zu bleiben, als wären Sie gar nicht weit. Im Wohnzimmer, das Herr Ourtau mit seiner Mutter in seiner neuen Wohnung teilt, hängt ein Holzschnitt von Ihnen, ausgezeichnet gerahmt, auf heller Wand in liebend-menschlicher Mitte. So sind Sie gegenwärtig und dankbar grüßen wir Sie! Ihr Heinrich Becker

Diese Wohnung, wo Sie schon gegenwärtig sind, müssen Sie besuchen. Vergessen Sie nicht, dass Sie herzlich eingeladen sind. Mit den besten Grüßen Eugene Ourtau

Rutarhof, den 16. Dez. 1958

Liebste, beste Becker Freunde!

Immer noch habe ich für die wunderschöne Grußkarte zu danken, die Sie mit M. Ourtau von Paris aus sandten. Keine größere und reinere Freude gibt es in der Einsamkeit, als an Ihre Freundschaft erinnert zu werden. … Vor ein paar Tagen schrieb ich an Eversmeyer, auch im Zusammenhang mit einer Ausstellung in Tokyo.

Ein Maljahr hatte ich heuer wie noch keines im Leben, aber nun ist das Ende doch so leicht nicht zu überstehn mit mancherlei Sorgen und Entscheidungen. Danach hoffe ich auf einen tiefen Winter voll steter Arbeit.

Von Haus zu Haus das Herzlichste und viele weihnachtliche Freundesgrüße Ihres getreuesten Werner Berg.

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1959 „Ich habe wochenlang tagaus, tagein gemäht und geheut. Es war hier eine recht unruhige Zeit zuletzt mit viel Unwetter und eben erst ist meine Frau, nach einer heiklen Operation wieder heimgekehrt. Bald geht es wieder an die Staffelei. Jetzt war für mich die erste unfreiwillige Pause nach der intensivsten Malzeit meines Lebens, eineinhalb Jahre hindurch ohne Senke oder Unterbrechung. Wie gern würde ich Ihnen das alles einmal zeigen dürfen, denn erst im größeren Zusammenhang erkennt man das Weltbild der Bilder, während beim Routinier oft gerade das Vereinzelte zu verblüffen vermag”, schreibt Berg an Familie Eversmeyer. Berg besucht Alfred Kubin in Zwickledt und zeichnet den greisen Meister vor seinem Tode. Die Gemeinde Wien erwirbt Bergs gesamtes bis dahin entstandenes Holzschnittwerk und beabsichtigt diese Sammlung auch um die jeweils neu entstandenen Holzschnitte zu ergänzen. Der Leiter der Städtischen Galerie München, Hans-Konrad Röthel besucht mit seiner Familie den Rutarhof, um eine Ausstellung für München vorzubereiten: „Alles wirkte zusammen, die Natur, die menschliche Atmosphäre Ihres Hauses und Ihre Arbeiten, um das Ganze zu einem einzigartigen Erlebnis werden zu lassen.“ Für Röthel ergänzt Werner Berg sein „Bekenntnis zum Gegenständlichen” mit einem Postskript: „Wenn ich gefragt werde, warum ich in meiner Malerei an dem Gegenstand festhalte, so muss ich verdattert gestehen, dass dieses Warum niemals für mich bestanden hat. Die wirklichen künstlerischen Entscheidungen stehen jenseits solcher Fragen und Fragwürdigkeiten. Sie wissen, dass ich nun seit 30 Jahren ein Bergbauern-Anwesen mit meiner Familie in der Einschicht bearbeite. Mit Romantizismus hat das nicht das Geringste zu

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tun, und wer solche Lebensform diese Zeit hindurch erprobt und bestanden hat, weiß, dass es keine härtere, unsentimentalere Realität gibt als das Landleben ohne Schaustell-Farce. Diese Distanzierung vermag dennoch Empfinden und Bewusstsein für die geistigen Entscheidungen und Ereignisse der Zeit erst recht zu schärfen.

Der Besitz eines Misthaufens ist nicht Voraussetzung für künstlerisches Schaffen. Dieses vollzieht sich immer und überall nur aus einer geistigen Situation, die zu erarbeiten ist. Nicht gleichgültig aber ist, welche Säfte und Kräfte den Schaffenden nähren. Schlimmer als die ‚Hybris des Lebens’ ist die des Geschwätzes.

Die Gegenstände bilden eine Zange ganz besonderer Art zur Wirklichkeitsbe- und ergreifung. Der Zwang zur Arbeit, der Lebensrhythmus der Jahreszeiten und seine sehr realen Sorgen schienen mir für die künstlerische Gestaltung stets mehr förderlich als hinderlich zu sein, wie man das auch zu Zeiten verfluchen mochte. Jeder Schritt erfüllt den Sehenden mit Anschauung, die Sorge um Wachstum, Gedeihen oder Vernichtung will der Willkür nicht viel Raum geben, den ‚Gegenstand’ zu zerlegen oder aufzulösen, den Gegenstand, der Acker und Wald, Blume und Vieh und immer wieder der Mensch ist.

Dieser unterkärntnerische Landstrich hier ist voll der merkwürdigsten Spannungen, Restmodell jenes Erdteils, der einst Österreich-Ungarn hieß. In seltener Vielfalt der Landschaft ist die slawisch-slowenische Grundsubstanz mit dem Kärntnerischen zusammengewachsen bei unmittelbarer Nachbarschaft des Romanisch-Lateinischen, das Katholische prägt sich in universeller Bildfülle im Volke aus, und aus dem wärmenden Inkreis der Familie kommen die mannigfachen Begegnungen mit der größeren Welt. Noch in der äußersten Verwandlung des Gestaltens erwachsen dem Bilde daraus Schwingung und Arom, aufs Neue stets und unausschöpfbar.

Der Expressionismus gab mir einst Anstoß und Impuls. Vom Explosiven und Beschwörenden, vom Schweifenden, Dräuenden, wolkenhaft Dunklen, all diesen deutschen Gefahren, ging die Tendenz immer mehr zu Beherrschung, Ordnung, Klarheit. Die Möglichkeiten eines Malers, der so dem Gegenständlichen verhaftet bleibt, sind durchaus unbegrenzt. Immer wieder kommt es zuletzt auf Begabung und Begnadung an, auf die Kraft, die Intensität und die Intelligenz des Gestaltenden. Versagen die, so liegt es am Subjekt, dem Maler, und nie am Objekt, – dem Gegenstand.“

Rutarhof, den 7. Jänner 59

Geliebte Beckers!

Tausendmal tausend Dank für Freundesbriefe und Liebesgaben. … Das aller-allerschönste war doch, dass Sie daran dachten, die der Volksbühne beigestellten Essays mitzuschicken. „Essays“ ist da gewiss ein unzulänglicher Ausdruck, andere machen aus solcher Essenz und Substanz eines reicherfüllten und aufrecht durchgestandenen Lebens Kompendien, Manifeste und Predigten. Und doch wird dies alles – der Becker-Geist – nämlich wirken und weiterwirken. „Und keines fällt aus dieser Welt …“

Ich stehe vor der neuen Arbeit, schreibe später. …

297 1959

Rutarhof, den 9. Juni 1959

Geliebtes Becker-Paar!

Vor einem Monat wurde meine Frau operiert (innerer Kropf), es war heikel, ging aber gut dank einem ebenso tüchtigen wie gütigen Chirurgen, nun ist sie in Wien bei den Töchtern, da ihr der Arzt strikt eine Ruhe- und Genesungszeit anbefohlen hat. So hause ich mit Veit und Annette derzeit allein, die Arbeit draußen geht in Wogen, und da die Kinder alles daransetzen, wird die Lage rein äußerlich gut gemeistert, aber die Seele, die Seele von allem fehlt. Mir ist, als hätte ich selbst keine mehr.

Gestern habe ich an Herrn Eversmeyer geschrieben, es war eine so seltsame wie gute Fügung, ihn gerade jetzt in Tokyo zu wissen, wo ich mit ausgestellt habe – für mich war es nicht wenig Beruhigung, und dann ist das im Hinblick auf die hiesige Kunstsituation von unschätzbarem Wert. … Eben schickte Herr Eversmeyer den Katalog der internationalen Ausstellung in Tokio, in dem zu meiner Freude auch ein Bild von mir wiedergegeben war.

Ich hatte eine lange, überaus intensive Zeit künstlerischer Arbeit, aber seit zwei Monaten fast bin ich draußen. Am 10. April war ich auf dringliche Einladung zum 82. Geburtstag bei Kubin, der seit Monaten verdämmernd und verloren daniederliegt, mit einem weißen Vollbart. Er war aufs äußerste bewegt und erregt, als er mich sah, griff immer wieder nach meiner Hand und rief mir in Tränen nach: „O Bruder, unser alter Gemeinschaftsorden“. Auf der Rückreise sah ich die große Chagall-Ausstellung in München, eine kleinere, aber sehr geschlossene von Jawlensky und der Werefkin in der Städtischen Galerie und manches andere. Dr. Röthel, der die Städtische Galerie in München mit Elan seit dem Münterschen Kandinsky-Erbe leitet, plant übrigens eine Ausstellung meiner Arbeiten und war über Pfingsten mit seiner Frau bei uns. Er ist ein Mann voller geistiger Gespanntheit und Zeitgegenwärtigkeit, nur stimmen unsere Weltbilder nicht ganz überein. Letztlich ist es der Gegensatz vom Bildträchtigen des Katholischen (durchaus nicht im eng dogmatischen Theologensinn) und des Bildersturmes des abstrakten Unglaubens. Die Begegnung wird aber, scheint mir, zu etwas Bedeutendem führen, meine Sache ist ja so simpel nicht, und es wäre an der Zeit, sie zu heben.

Für das „Kunstwerk“, das Sie wahrscheinlich kennen, schrieb ich eine längere Abhandlung über „Gegenständliche Malerei – heute“, zu der mich der Herausgeber Dr. Zahn aufforderte. Das wird mit Bildern in einem Weihnachts-Doppelheft erscheinen. Ich möchte zwar auch die letzte Kraft ans Malen setzen und kaum noch schreiben, diesmal jedoch schien es mir geboten, mich zu stellen.

298 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Der Mann meiner ältesten Tochter traf unlängst auf einer Auktion in Bern (o diese Kunstauktionen!) Prof. Fehr, den alten, besten Nolde-Freund, der sich zu meiner Freude sehr lebhaft und voll Wohlwollen meiner erinnerte. Ich möchte ihm gern eine Zeile schreiben, kennen Sie vielleicht seine Adresse? Ich muss zum Mähen hinaus, so gern ich jetzt stundenlang mit Ihnen reden möchte. Unendlich viel kostbarer als der edelste, alte Wein ist doch Freundschaft über die Jahre hinweg. Dass mir die Ihre blieb und mich durch drei Jahrzehnte begleitete, erfüllt mit tiefer Dankbarkeit Ihren alten, getreuen Werner Berg

Martha Becker, Bielefeld 16. Juni 59

Lieber Werner Berg, schon lange sollten Nachrichten hin und her gehen! Jetzt kommt die Botschaft von dem Schweren, dass Ihre Frau durchgemacht hat. Eine ganz schlimme, unangenehme Operation – wir fühlen recht mit, auch Ihr Gefühl der Leere um Sie in der Zeit! – Unsere Geister, Gedanken schwirren viel um Sie! Durch Eversmeyers hörten wir von der Ausstellung im großen Rahmen, die es in Tokyo immer gibt. … Sehr ergriffen hat uns Ihr Besuch bei Kubin. – Wie schade, dass wir so getrennt sind. Für Sie ist es gut – so bleibt die Ansteckungsgefahr aus – alle, alles malt abstrakt. Gut, dass Sie Stellung dazu nehmen. …

Heinrich Becker

Mein lieber Werner Berg, da kam vor wenigen Tagen Ihr schöner Brief, der wie die Sonne einen herrlichen Morgen ins Haus brachte. Wie immer, wenn Sie uns schreiben. Wir selbst sind nun wieder auf dem Absprung nach Frankreich. … Wir nützen diesmal die 2-Monatsdauer der Ferienkarte nicht ganz aus, weil ich in den ersten Tagen des August zurück sein muss, um als Zeuge in einem jüdischen Wiedergutmachungsverfahren beim hiesigen Landgericht zu dienen. Es ist eine tolle Welt. Zuerst bringt man Leute um, den überlebenden Erben muss man das Geraubte erstatten. Aber den wirklichen Opfern ist nicht mehr zu helfen. – Was Sie uns von Ihrem Besuch bei Kubin erzählten, hat uns sehr ergriffen. Kennen wir ihn doch und schätzen ihn seit Jahrzehnten. Nun sind wir, wie er, alt geworden und hören nicht auf, mit seinen vielen Zeichnungen in Büchern und Mappen zu leben, von denen viele durch mich in die Sammlungen des Kunsthauses hier und des Kunstvereins gelangt sind. Manches habe ich auch griffbereit im eigenen Haus. Immer wollte ich es ihm schrei-

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ben, damit er wusste, wie viele ferne Freunde er durch seine Kunst besitzt. Heute Morgen erhielten wir auf Anfrage bei dem Verlag M. Dumont Schauburg in Köln die Anschrift von Prof. Dr. Hans Fehr. Er wohnt in Muri bei Bern (Schweiz). Straßenangabe ist offenbar nicht nötig. Wir haben ihn hier auch einmal gesehen und gesprochen, als er mit Nolde und Frau, Anfang der 30er Jahre zu einem Kaminski Konzert nach Bielefeld kam. Fehr ist Jurist, aber einer der frühesten Bewunderer und Sammler Noldes. Inzwischen ist auch er ein alter Mann geworden. In seinem Buch über Nolde wird viel Erlebtes wieder wach. …

Ihre Erfolge in Japan haben uns sehr erfreut. Mir scheint’s fast kein Zufall, dass Werner Berg mit unseren Kindern und Enkeln im fernen Japan zusammenkommt. Wir sind ja im Inneren Ihnen und Ihrem Lebenskreis immer verbunden. Hoffentlich bessert sich das Befinden Ihrer guten Frau schnell, dass Sie bald wieder mit ihr auf dem Rutarhof vereint sind. …

Rutarhof, den 1. Juli 1959

Liebes Fräulein Christiane, liebes Fräulein Sybille und lieber Vincent! Eben habe ich eine Rolle mit drei Holzschnitten für Sie auf die Post gegeben, denen ich gute Ankunft und Aufnahme wünsche. Diese kleine Sendung habe ich mit ganz besonderer Freude fertiggemacht, erfüllt von Dankbarkeit für Ihre Frau Mutter und Ihren Vater, der sich so sehr für mich bemüht hat, und voller Verehrung für Ihre Großeltern in Bielefeld, die treuesten und edelsten Freunde meiner Kunst und unseres Hauses. Dass ich deren Gesinnung in Ihnen fortwirken wissen darf und dass es ausgerechnet dort, in der fernen Fremde zu einem Kontakt kam, ist seltsam segensreiche Fügung.

Hoffentlich habe ich die Blätter nicht ganz unpassend für Sie ausgewählt. Der „Kl. Garten im Schnee“ ist schon vor langem entstanden und mir immer noch nah. Zu einer Zeit, als das bei uns noch keineswegs Mode war, ging da das Graphisch-Gestalthafte bis an jene Grenze von Abstraktion, in der das für mich unabdingbare Naturerlebnis noch voll mitschwingt. Wegen der „Sänger“ hatte ich erst Bedenken, weil das Blatt nicht so zugänglich sein mag, aber dann musste ich mir sagen, wieviel Ihnen doch vertraut ist von Kindheit an. In den slawisch geprägten Köpfen ist jenes Sichhineinlegen in den Gesang, das die Gesichter gleichsam zu tönenden Masken verwandelt. –„Nackthals und Maskerer“ wurde einmal mit dem Graphikpreis ausgezeichnet. Die ungarischen Nackthälse sind eine eigene Hühnerrasse, nicht eben

300 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

schön, aber ihr flammend roter Hals wirkt wie ein Signal, das höchst sonderbar im ersten scharfen Vorfrühlingslicht mit dem Aufzug der bunten und vermummten Kinder zusammenklingt. Dies nur zur Erläuterung. Zugleich handelt es sich um verschiedene Abarten meines sehr bewusst beschränkten, reinen Schwarz-Weiß. Ich mache stets nur sehr wenige Abzüge mit der Hand (Falzbein). Ränder bitte nicht beschneiden. Zu spät ist mir eingefallen, dass Sie die deutsche Schrift der Widmung nicht lesen können, drum nehme ich jetzt mein altes Klappermaschinchen zur Hand.

Das ist auch darum gut, weil ich wochenlang, tagaus, tagein gemäht und geheut habe und die Hand (keineswegs zum Malen) ungelenk geworden ist. Es war hier eine recht unruhige Zeit zuletzt mit viel aufregendem Unwetter, und eben erst ist meine Frau, die Seele von allem, nach einer heiklen Operation (innerer Kropf) wieder heimgekehrt.

Bald geht es wieder an die Staffelei. Jetzt war für mich die erste unfreiwillige Pause nach der intensivsten Malzeit meines Lebens, eineinhalb Jahre hindurch, ohne Senke und Unterbrechung. Wie gern würde ich Ihnen das alles einmal zeigen dürfen, denn erst im größeren Zusammenhang erkennt man das Weltbild der Bilder, während beim Routinier oft gerade das Vereinzelte zu verblüffen vermag.

Wie mag es bei Ihnen jetzt aussehen? Ich wurde so sehr an Sie erinnert, als ich unlängst Bilder sah vom Trubel der Riesenweltstadt und von der stillerhabenen Weite des Landes.

Von Haus zu Haus viele herzliche Grüße und die schönsten Empfehlungen bitte Ihren sehr verehrten Eltern. Mit den besten Wünschen für Ihrer aller Wohlergehen bleibe ich

Ihr alter und getreuer Werner Berg

Martha Becker, Normandie, le 4. Aout 59

Lieber Werner Berg, der ganze Juli war der Monat der Sonne – wir kennen ihre Kräfte und ihre verzehrenden Einwirkungen – wir waren in Südfrankreich und haben jetzt hier die vollkommene Ruhe und fern von den Menschen die Aufgabe, mit uns allein fertig zu werden. – Man ist aber nie allein, denn was ruht in uns an menschlicher Erfahrung! Jetzt müssen wir an den Rutarhof denken, so weit von uns, und doch kann ich mir vorstellen, wie wir zu Ihnen kämen, was wir bewundern würden und wie Ihre persönliche Wahl des Ausdrucks uns verständlich wäre. Es wird uns hier von Vlaminck erzählt, der nicht mehr „der Künstler V.“ gewesen ist. Sein Ich-Bewusstsein ver -

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loren hat in einer Zeit, wo auf dem Markt hohe Preise, auch von ihm, erzielt wurden. – In Paris, wo wir morgen wieder sein werden, ist das Getue um die Kunst selbstverständlich verzeihlich – alles ist und wird hier Erwerb – übersetzt alles und verständlich gemacht durch das Wort und die suggestive Kraft von geschickten Köpfen. –

Und denken wir an Sie alle, kommt die Frage: was macht Ihre treue Frau, die alles mit Ihnen geteilt hat?? Wird etwas in Tokyo bleiben von den ausgestellten Werken?? Wir wünschen es Ihnen sehr. Über die Weite, den Äther gehen Gedanken zu Ihnen und hoffen Eingang zu finden – und Verständnis.

Überlingen / Bodensee, 24. XI. 59

Sehr liebe und verehrte Beckers!

Inzwischen habe ich wieder in Überlingen am Bodensee (Sanatorium Dr. Buchinger) eine Fastenkur angetreten, die sich vor zwei Jahren so ungemein segensreich ausgewirkt hat. Bis Mitte Dezember bin ich hier. Auf der Herreise habe ich mancherlei erledigt und vor allem sehr schöne Dinge gesehn. Es tut so gut, zuweilen im Innersten von der Kunst ergriffen zu werden, zu einer Zeit, da die Kunstjobberei mehr denn je alles zernichtet.In herzlichster Ergebenheit stets Ihr W. B. Die Xylon-Ausstellung hatte beträchtliches Niveau, wovon dieser – ältere – Prospekt keinen Begriff gibt.

Pour Dr. H. u. M. Becker! Saluts tres fideles (et fidel) –Mit meine beste Grussen Frans Masereel 1959

So geschehen zu Schaffhausen am 21. XI. 59 Ihr getreuester Werner Berg Qu’est ce que vous dites?

Heinrich Becker, Bielefeld 28. 11. 59

Liebster Werner Berg, welch gute Überraschung, Sie in Deutschland zu wissen, und fast erreichbar! Wir möchten zu Ihnen fliegen, um Ihnen zu sagen, wie uns Ihre Xylon-Sendung erfreut hat. Vor ca. 2 Jahren erschien in hiesigen Buchhandlungen ein ganzer Band mit großen Holzschnittwiedergaben der auf dem Prospekt genannten Künstler. Aber mehr noch erfreut uns, was Sie dazu schrieben, für uns willkommenes Zeichen, dass es Ihnen gut und immer besser geht! … Und in Schaffhausen sind Sie Masereel begegnet, an den zu schreiben mir schon seit vielen Wochen am Herzen liegt. Den Juli ist er 70 Jahre alt geworden, was

302 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

ich zu spät erfahren habe. Erzählen Sie bitte in Ihrem nächsten Brief Einzelheiten über Masereel, den wir sehr schätzen! In herzlichem Gedenken lebhaft grüßend Ihre H. u. M. Becker

Mit Kubin beschäftigt, wäre ich dankbar, wenn Sie mir bald das Todesdatum schreiben könnten. August 59? Ich brauche es.

Überlingen, den 5. Dez. 59

Geliebte und verehrte Beckers!

Wie innig habe ich mich gefreut, Ihre Zeilen hier empfangen zu dürfen, die gleich alles Fremde durchwärmten. Ursprünglich wollte ich meinen Zeilen einen Sonderdruck aus der „Kunst“ (Bruckmann) beilegen, aber da die Sendung ewig nicht kommt, will ich Sie nicht länger auf Antwort warten lassen.

Zuerst zu Ihrer Anfrage: Kubin ist – ich glaube mich nicht zu irren – am 20. August d. J. gestorben. Zur Vorsicht habe ich mich an Kubins Vertrauten der letzten Jahre, den Pfarrer von Wernstein am Inn, Geistl. Rat Alois Samhaber, gewandt, dass er Ihnen auf einer Karte das genaue Datum mitteilen möchte. Damals bekam ich ein Telegramm, da ich hätte Kubin auf dem Totenbett zeichnen sollen. Ich hätte das auch als schöne Pflicht und Aufgabe betrachtet, aber wie es dann so weit war, graute mir auf einmal vor dem offiziellen Rummel drumherum. „Dann rufen sie hundsgemein: Er war der Unseren einer.“ Etwas später aber habe ich zur Erinnerung an meinen Besuch bei Kubin an seinem letzten Geburtstag (10. IV. 59), gestützt auf ein paar Skizzen, die ich verstohlen während des seltsamen, so lebhaften wie verlorenen Gespräches gemacht hatte, ein Gedächtnisblatt geschnitten. Sie finden es in dem beiliegenden Katalog, den ich aber leider zurückerbitten muss. Ich bleibe bis zum 15. Dezember hier, habe anschließend noch in München zu tun, wo, wie ich wohl schon schrieb, eine Ausstellung meiner Arbeiten im nächsten Jahr stattfinden soll, ja, und dann soll das Leben, das geliebte, alte, immer neue Rutarhofleben, ganz von vorne wieder beginnen.

Von Masereel kann ich Ihnen so viel nun nicht berichten; er präsidierte sehr würdig mit seiner Gattin, erschien nach außen im Vergleich zu damals, als ich ihn kurz besuchte, von soigniert-distinguierter Bürgerlichkeit, wurde auch nicht recht frei unter den vielen Menschen, doch war er frei von jeglicher Pose oder Phrase. Innerhalb der großen internationalen Ausstellung hatte man ihm durch eine größere Sonder-Kollektion gehuldigt, die sich erstaunlich frisch darbot. Die Räumlichkeiten der Veranstaltung waren einzig in ihrer Art, uraltes Klostergehäuse (1510 schon säkularisiert) und modern

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gepflegtes Museum zugleich. Von daheim habe ich wohl schon dies und das erzählt, von der Operation meiner Frau, den mancherlei Anlagen: Elektrifizierung und Wegebau, Heirat unserer Hilde, und wie es schwer war oft und wie wir durchkamen doch und zuletzt nur dankbar und zufrieden sind. Viel, sehr viel Neues ist in der Werkstatt entstanden, Gepinseltes, Geschnittenes und Skizziertes, immer mehr bin ich von der objektiven Notwendigkeit meines abseitigen Tuns überzeugt, aber auch davon, dass dies geistig sehr schwer in den Griff zu bekommen ist und erst später seine Stunde haben wird. …

Von daheim habe ich gute Nachrichten, Veit ist äußerst fleißig. Annette besucht diesen Winter eine landwirtschaftliche Haushaltungsschule. Hilde wird wohl dieser Tage Mutter werden. Die Wiener Familienfiliale samt den sehr lieben Enkeln gedeiht auch. – Nun weiß ich nicht, ob ich durch die Reise später noch zum Schreiben komme, und drum möchte ich meinen Adventsgrüßen jetzt schon meine allerbesten Wünsche für die Feste und für die Zukunft hinzufügen. Dankbar dem Geschick für unsere gute alte Verbundenheit grüßt Sie beide Liebverehrte Ihr getreuer Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld 8. 12. 59

Mein lieber Werner Berg,

Ihre kleine Postsendung mit dem Katalog der Gesellschaft der Freunde junger Kunst ist prompt angekommen, und ich beeile mich, ihn zurückzuschicken, damit Sie ihn noch in Überlingen erhalten. Erstaunlich, was in dieser Südwestecke sich an Kunstliebe und -kühnheit zusammenfindet. Manches, auch unter den nicht abgebildeten Werken, ist mir geläufig und lieb, anderes, auch unter den abgebildeten Sachen, lockt mich nicht. Aber immer müsste ich die Originale sehen, um zu wissen, woran ich bin.

Am schnellsten reagiere ich auf Ihren Kubin-Holzschnitt, der zu Ihrem gedruckten Werk ein wesentliches Stück hinzufügt. Ich könnte mir denken, dass Ihre Begegnungen mit dem verehrungswürdigen alten Kubin in der letzten Zeit seines Lebens, so wie Sie darüber in einem früheren Brief schrieben, so fest und deutlich Ihrem Inneren eingeprägt sind, dass das Thema Sie noch weiter beschäftigen und zu neuen Werken anregen könnte. Die Nachricht, dass Sie demnächst Gelegenheit zur Ausstellung in München haben, könnte mich locken, die Reise zu wagen, wenn sie nicht so lang, die Tage nicht so kurz und dunkel wären. Auf jeden Fall bitte ich mir zu schreiben, wann die Ausstellung stattfindet und wenn möglich mir den etwa erscheinenden Katalog durch die Ausstellungsleitung gegen Entgelt zugehen zu lassen.

304 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Sind wir doch so lange menschlich und künstlerisch mit Ihnen verbunden, und so nahe, so herzlich nahe, dass wir uns zu den Nächstbeteiligten zählen.

Ihr Brief mit den vielen Nachrichten ist uns eine große Freude gewesen, wie alles, was Sie uns sonst geschrieben haben. Briefe müssen ja das gesprochene Wort ersetzen, das wir viel lieber hätten. Dafür bleibt uns aber auch erhalten, was zwischen uns gesagt und gedacht wird.

Und nun im Augenblick das Allerpersönlichste, die Sorge für Ihre Familie und Häuslichkeit. Die Kinder, die ich alle einmal klein und lebensneugierig gesehen habe – es ist schon 18 Jahre her – sind inzwischen dem vollen Leben zugehörig und müssen es auf ihre Weise meistern. Und wir glauben, dass sie es tun wie ihre Eltern, die nie die Hände wie unbeteiligt in den Schoß legen. Aber wir müssten sie von Zeit zu Zeit wiedersehen, um nicht überrascht zu sein, wenn wir von dem Fortgang ihres Daseins hören. Nun soll aber auch Ihre Hilde glücklich Mutter werden. Da haben wir uns schnell entschlossen, Sie merken zu lassen, dass die Freunde in dem fernen Westfalen nicht gleichgültig beiseite stehen, und fügen zu den guten Wünschen, die wir für das junge Elternpaar hegen, einen Betrag hinzu, den ich Ihnen heute durch die Post geschickt habe. … Für Sie bleibt nur unsere unverminderte Freundschafts-Anhänglichkeit übrig und die herzlichsten Wünsche für eine gute, beglückende Heimkehr zu den Ihrigen. Verleben Sie eine glückliche Weihnachtszeit miteinander und denken zuweilen an Ihre fernen, mit dem Herzen aber sehr nahen Freunde, Ihre Heinrich und Martha Becker

Überlingen, den 12. Dez. 59

Geliebte Beckers!

Ja, gibt es denn so etwas überhaupt noch! So etwas wie Ihren rührend schönen Brief und diese hochherzig-splendide Gabe! Mir verschlägt’s Atem und Worte, aber ich will auch nicht viel Worte machen und Bedenken wälzen, sondern es so nehmen und annehmen, wie es gemeint ist. Ich habe sofort unserer Hilde, deren jetzige Anschrift ich eben erst erfahren hatte, Ihre Briefstelle abgeschrieben und den Betrag an sie gleich weitergeleitet. … Und jetzt dämmert mir erst, dass Sie ja noch gar nicht wissen können, dass Hilde inzwischen einen kräftigen Buben bekommen hat. Wie wird sie sich nun über Sie freuen! Von daheim schicke ich das Kubin-Blatt, ohnehin Ihnen zugedacht, es ist sehr selten und soll es bleiben.

Dank nochmals für die unglaubliche Beckerei, innig starke Wünsche für die Weihnachtszeit und herzergebene Grüße von Ihrem alten Werner Berg

305 1959

1960 Werner Berg ist in der Exhibition of Austrian Art in London vertreten. Wieland Schmied schreibt: „Ich habe Sehnsucht nach dem Rutarhof – in meinem Empfinden ist er zu einer Art Seelenheimat, Ithaka, Tuskulum, Ultima Thule geworden, ein Hort der Wahrhaftigkeit über dem Streit der Zeit. … Gerade jetzt, wo ich mich ein wenig hier in Frankfurt zu akklimatisieren beginne, spüre ich, was mir Ihre Welt – und da lässt sich, Gott sei Dank, die leibhaftige Umwelt, der Rutarhof, Wälder und Äcker und das Flussband der Drau im Rosental und der Hochobir und die Windischen nicht trennen von der geistigen Welt – bedeutet: nämlich den Inbegriff dessen, was mir das Eigentliche, Wesentliche des Lebens überhaupt erscheint, als das, was ich gerne ‚meine’ Welt nennen möchte.”

Heinrich Becker, Bielefeld 12. 1. 60 Lieber Werner Berg, mit gleicher Post schicke ich Ihnen heute als winzigen Dank für das erschütternde Kubin Blatt zwei Hefte der „Volksbühne“, die auch von Kubin handeln. Ich wünschte, dass was ich da schrieb, Ihre Zustimmung findet. ...

306 WEINENDE, 1960

Martha Becker, Bielefeld 16. Mai 60

Lieber Freund Werner Berg, von Zeit zu Zeit möchten wir Sie erreichen, damit Sie und auch Ihre Frau erfahren, dass wir immer noch treu uns bleiben, treu in der Liebe zur Kunst und zum wirklichen Frieden unter Menschen. Es gibt eine Kette von Stunden, Tagen und irgendetwas zeigt uns täglich, dass es noch viel zu tun gibt, um die bessere Welt zu erreichen. Seit Sie meinem Mann das Bild von Kubin geschickt haben, das so voll Charakter ist, sind Wochen und Monate verstrichen. – Denken Sie die Erwartung, in der wir leben. Anfang Juli kommen vier Eversmeyer (Christiane kommt etwas später und bleibt zum Studieren in München) aus Tokyo mit dem Flugzeug und verbringen ihre Ferien mit uns, wenigstens in Europa, denn sie werden viele wiedersehen wollen.

307 WERNER BERG AUF DEM RAD, UM 1960

Sonntag, 15., hat mein Mann das Requiem von Hindemith gesungen – das wirklich ein packendes Werk ist. Erleben wir etwas, so möchten wir’s Ihnen mitteilen – wir werden älter und später müssen Sie mit den zwei Generationen Freundschaft halten. – Hoffentlich kommt nur Gutes als Post! Viele, viele Grüße et tous souvenirs vos vieux amis H. und M. Becker

Heinrich Becker, Bielefeld, 2. Juni 60

Liebster Werner Berg,

seit 2 Wochen liegt der Brief meiner Frau auf meinem Schreibtisch und wartet auf Fortsetzung von meiner Hand – oder besser – von meinem Herzen. Zum Briefschreiben fand ich in der letzten Zeit nicht die nötige Sammlung, da alle Tage neue Forderungen an mich stellten. Oft habe ich am Klavier sitzen müssen, um Hindemiths Requiem „Denn die wir lieben“ zu studieren, insbesondere meine Tenorstimme zu üben; das Werk verlangt viel Hingabe, lohnt sie aber auch mit tiefen, eindringlichen Offenbarungen. Nachdem wir das Werk, das nach beendetem Krieg in New York entstanden ist, in Bielefeld gesungen haben, wurde es vorigen Sonnabend im Rahmen der festlichen Musiktage in Lübeck wiederholt. Ich bin auch dabei gewesen und habe bei der Gelegenheit die schöne alte Stadt wiedergesehen, zum ersten Mal seit 48 Jahren. Vieles wurde im letzten Krieg zerstört, aber inzwischen wiederaufgebaut, Bilder und Skulpturen einstweilen noch im Museum aufbewahrt. Verglichen mit meiner früher ebenso reichen und schönen Heimatstadt Braunschweig, ist Lübeck glimpflich davongekommen. Nun warten wir auf den Besuch meiner Kinder aus Japan, deren Nähe wir drei Jahre lang entbehren mussten. Aber sie kehren im September nach Tokyo zurück. Dann wieder Wartezeit, wer weiß mit welchem Ausgang.

Vor einigen Wochen hatten wir Prof. Jörg Lampe hier zum Vortrag über „Gestaltwandel in Kunst und Weltbild“. Ich habe mit ihm auch über Sie sprechen können und möchte gern wissen, wie Sie zu ihm stehen, und was von seiner Arbeit zu halten ist. Das Heft mit dem Kubin-Aufsatz in der „Volksbühne“, das ich Ihnen schickte, haben Sie hoffentlich erhalten. Hat er trotz der gebotenen Kürze das Wesentliche in Kubins Kunst getroffen? Sie kennen ihn ja viel besser als ich.

In alter herzlicher Verbundenheit grüße ich den ganzen Rutarhof und alle lieben Menschen, die dort hausen und schaffen.

Treulich Ihr Heinrich Becker

308 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Martha Becker, Bielefeld, 30. Juni 60

Lieber Freund Werner Berg, wir waren in Seebüll bei Noldes Garten und Bildern. Es war ein starker Eindruck und mein Mann kann so schön schildern, wie’s bei Ihnen schön und stark auch ist. Hier ruht die Kunst und wartet auf einen neuen Leiter, der das neue Museum baut. …

Rutarhof, den 2. Juli 60

Liebste, verehrteste Beckers! Heute gab ich einen Zeitungsaufsatz an Sie auf, den wir in seiner Formulierung und Gesinnung besonders gut fanden. Unzählige Fragen und inständige Wünsche begleiten ihn, und ich schäme mich, für Ihrer beider beglückende Briefe nicht schon viel früher gedankt zu haben. Sie haben mich die ganze Zeit seither erfüllt und beglückt, in der meine Frau ihres arg lädierten Herzens wegen fort und Kur machen musste. Die hat ihr gutgetan, nur muss sie vorsichtig sein und sollte sich viel mehr schonen. – Das Hindemith-Requiem, das begeisterte Mittun vor allem, muss herrlich sein. Von Wien besucht mich und schreibt mir ein kunstsinniger Pianist öfters (PETERMANDL), der als hervorragender Hindemith-Interpret gilt. Von da habe ich manchen Einblick. Lampe? Na ja, er ist der Übelste nicht, war mir einst sehr zugetan, wurde aber schwach vor den Widerständen und gerät zuweilen ins Faseln. Ihren überaus trefflichen Kubin-Aufsatz hatte ich damals gleich bewundernd bestätigt, diesmal muss wirklich etwas auf der Post passiert sein. Heuer hatten wir schon etlichen Besuch: F. G. Jünger, Dr. Zahn vom „Kunstwerk“, Paul Flora mit seinem Züricher Verleger (Diogenes), Wieland Schmied, der Lektor beim Insel-Verlag wird, u.s.f. …

Martha Becker, Sonnabend, 20. 8. 60 Lieber Werner Berg, am 22. 7. waren unsere Tokyoer angekommen und heute ist meine Tochter mit zwei Kindern nach Paris geflohen und nach Südfrankreich, die Schwester aus Madrid zu treffen. Sie können sich denken, dass auch von Ihnen erzählt wurde und von den schönen Bildern, die Sie den Kindern geschenkt. … Es ist noch kein neuer Direktor für das neue Kunsthaus, das gebaut wird. … Wir haben hier Regen, Regen, Regen. 13 Grad am Nachmittag. Gedanken frieren ein. Ihnen und den Ihrigen wünschen wir Sonne und blauen Himmel.

1960 309

Rutarhof, den 1. Sept. 60

Geliebte und verehrte Beckers!

Noch immer kann ich’s kaum fassen, dass wir Bernd Eversmeyer wirklich und leibhaftig bei uns hatten. War das eine Freude!! Er hat sich den Weg bei arger Hitze steil bergauf sauer genug werden lassen.

Wir sind recht zerzaust von der Unruhe des August. Vorgestern wurde fürs Fernsehen gedreht. Brrr! …

Immer in Treue Ihr alter W. B.

Heinrich Becker, Bielefeld, 20. 12. 60

Liebster Werner Berg, wieder haben wir Ihnen, wie schon so oft, zu danken, und tun es gern und sehr herzlich. Zwei Kalender liegen wieder auf unserem Tisch, der kleine Bauernkalender aus Graz, der mich dank Ihrem guten Gedenken schon oft durch das Jahr begleitet hat, und dazu der Pipersche Kunstkalender. Ich dachte mir gleich, dass etwas Besonderes darin auf uns wartete. Wirklich, in der letzten Novemberwoche taucht, für uns noch neu, Ihr Bild „Nebelsonne“ auf. Wir haben es genau und immer wieder angesehen und transponieren es, so gut es geht, in die Farbenwelt des Originals und in seine wirkliche Größe, die sich an der Größe der geläufigen Signatur ablesen lässt. Dann finden wir den alten, uns vertrauten Werner Berg wieder, und doch auch mehr, so dass wir ganz gut verstehen, warum Wieland Schmied, dessen Aufsatz in der Wiener Zeitschrift „Kunst“, die Sie mir vor einiger Zeit schickten, ich sehr gut finde, überschreibt: Expressionismus Phase II. Sie stehen jetzt auf der Höhe des Lebens und sehen mit anderen Augen in die Welt und doch mit demselben großen, vieles umfassenden Herzen. Alle Bilder, die wir in den neuen Zeitschriften abgebildet finden, möchten wir gern sehen, wie Sie sie gemalt haben, um sie einmal in ihrer volltönenden Fülle und Dichte zu erleben. …

Denn, sehen Sie, jedes Jahr werden wir unter unseren Altersgenossen immer einsamer. So mancher um uns folgt dem Ruf in die Ewigkeit, wie jetzt in diesen Tagen Walther Delius, unser langjähriger Vorsitzender im Kunstverein, den Sie kennen – er hat damals, als viele Bilder von Ihnen, von München kommend, in meiner Wohnung ausgestellt waren, eines davon angekauft. Morgen müssen wir ihn zur letzten Ruh begleiten und sind wieder um einen Freund ärmer. Und doch ist kein Anlass zu klagen, sind wir doch vor vielen begünstigt und nehmen jeden Tag als ein neues Geschenk, das verpflichtet.

So müssen Sie verstehen, warum wir Ihnen vor kurzem eine kleine Summe

310 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Geldes geschickt, das Sie für Ihre Gesundheit und besonders die Ihrer Frau verwenden möchten, damit Sie beide noch lange vereint leben und schaffen können, und nicht denken müssen; ich habe zwar alte Freunde in Bielefeld, aber ihre Liebe ist platonischer Art, und das Leben verlangt doch mehr! Nun habe ich Ihnen noch etwas zu beichten: ich habe, ohne Sie vorher zu fragen, Ihren Holzschnitt „Heimkehr“ für das Januarheft der Bielefelder Volksbühne abbilden lassen, anlässlich einer Neujahrsbetrachtung und einen Text dazu geschrieben, den ich Ihnen erst später, nach der Drucklegung, schicken kann. …

In alter Treue Ihr Heinrich Becker

Rutarhof, 28. Dez. 60

Geliebte Beckers!

Dank noch und noch! So üppig haben Sie uns bedacht mit der splendiden Überweisung, und zutiefst rührte mich Ihr Freundesbrief. Ich bin eben dabei, mich für die Winterarbeit einzustimmen und abzuriegeln, daher die Kargheit. Wir haben schönsten Winter, doch leider hat meine Frau die rechte Hand infolge Unfall eingegipst. Für 61 die innigsten Wünsche vom ganzen Rutarhof.

1961 Die Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, zeigt eine Werner Berg Ausstellung; deren Leiter Hans-Konrad Röthel schreibt im Vorwort zum Katalog: „Werner Berg betrachtet seine Welt mit der Distanz des Fremden und zugleich mit der Intensität des Liebenden. In seinen Arbeiten, in denen stets noch der Impuls des im Augenblick Erlebten spürbar ist, wird die Wirklichkeit verhärtet, vereinfacht, in eine strenge Struktur eingebunden. Das Individuelle wird zum Typischen. Werner Berg geht einen einsamen Weg. Er ist ebenso wenig folkloristischer Heimatmaler wie Vertreter des sogenannten ‚neuen Realismus’. Für jenen fehlen ihm Naivität und Sentimentalität, für diesen jede politische Ambition. Sein Werk ist, glaube ich, aus dem deutschen Expressionismus am ehesten zu verstehen. Hier liegt ein Teil seiner Quellen. Aber auch insofern scheint der Expressionismus ein Agens seines Stils zu sein, als er ihn und gerade ihn überwunden hat.”

Wieland Schmied berichtet aus Frankfurt: „Einige Tage war Thomas Bernhard hier zu Besuch. Er schätzt Sie sehr, und wir sprechen immer von Ihnen.”

Ende des Jahres ist Werner Berg wiederum zum Heilfasten in Überlingen: „Nun also habe ich hier meine Fastenkur angetreten, die ist für mich von ungemein segensreicher Wirkung, und danach wünsche ich mir, so es der Himmel will, ein Arbeitsjahr voller Sammlung und Stetigkeit. Ich habe alle Ausstellungen abgesagt. Auf der Herreise habe ich mit unserem Veit als Umweg eine kleine Kunstfahrt über Innsbruck und die Schweizer Städte gemacht, in denen sich unerhörte Kunstschätze

1961 311

angesammelt haben. Es gab auch sehr eindrucksvolle menschliche Begegnungen und Wiederbegegnungen. Es ist sehr wichtig für mich in meiner Lebenssituation, nach Perioden der Abgeschlossenheit die Zeit und die größere Welt und vor allem den Atem und die Maße großer Kunst unmittelbar zu spüren. Mit umso entschiedenerem Bewusstsein, aber nicht aus enger und blinder Selbstüberschätzung bekenne ich mich dann zum Rutarhof.” Mit Sohn Veit besucht Werner Berg Max Frisch in Zürich, zusammen mit Ingeborg Bachmann sehen sie sich eine Theateraufführung von „Andorra" an. Wie ein schwerer Schatten liegt der sich zusehends verschlechternde Gesundheitszustand von Werner Bergs Frau auf dem Rutarhof-Leben.

Der Rutarhof erhält, nachdem Werner Berg und seine Familie bisher mit Petroleumlicht ausgekommen waren, eine Stromleitung und damit elektrisches Licht. Die Veränderungen in seiner ländlichen Umgebung, die zunehmende Technisierung der Landwirtschaft auch im bisher weitgehend abgeschiedenen Unterkärnten beginnen Spuren in Bergs Werk zu hinterlassen: "Die neue Zeit wird alles verschleifen, doch zwischen hier und Bleiburg hat doch vieles noch den Charakter von Herkunft und Besonderheit. Wie schauerlich ist doch der Anblick eines Bauernobstgartens voll lackierten Blechs?”

312 KIRCHGEHERIN, 1961

Rutarhof, den 13. I. 61

Liebster, verehrtester Dr. Becker!

Vieltausendmal Dank für die wunderschönen Programmhefte, Ihr Beitrag muss mich zutiefst rühren. Nicht zu sagen, was mich da alles durchströmt an lebendigsten Erinnerungen und dankbarsten Gefühlen. Diese Treue, die der Zeit spottet!! …

Genau wie auf dem Foto, das der Wiener Schwiegersohn schickte, sieht es bei uns aus. Links oben das Atelier, rechts unten das Haus. Erkennen Sie wohl noch das „Ställchen“, den Platz unter der Linde, wo Sie mit verzweifelter Mühe unserem Veit auf die ABC-Sprünge halfen?

Ich habe eben mit intensivstem Dabeisein die Klee-Tagebücher gelesen. Ich erkenne und akzeptiere sein Maß und stehe zu seinem Auftrag und Aufruf. … 15. II. 61

Knapp vor der Heimfahrt muss ich noch geschwind einen Gruß und die Nachricht senden, dass meine Ausstellung hier in der Städtischen Galerie am 24. III. eröffnet und bis 1. V. dauern wird. Sehr plötzlich wurde ich von Dr. Röthel hergerufen, nun soll es sein. …

Heinrich Becker, Madrid, 2. 10. 61

Lieber Werner Berg, liebster Freund, auch in den kurzen Worten Ihres Telegramms haben wir Ihre Nähe und die Fülle Ihres Herzens auf uns zukommen gefühlt. Es gab an meinem Geburtstag nichts Schöneres als solches Zeichen unverbrüchlicher Treue und Freundschaft. Sie hat in diesen langen Jahren nichts an Kraft und beglückender Nähe verloren.

Ihnen immer nahe, Ihre H. u. M. Becker

Werner Berg zu Heinrich Beckers 80. Geburtstag, Volksbühne Bielefeld

Gut 30 Jahre ist es her, dass Emil Nolde von Ihnen, dem Freund der Kunst und der Künstler, zu mir sprach, mit einer Wärme, die man nur sehr wenigen Menschen gegenüber bei ihm wahrnahm. Bald darauf wurde ich durch seine Initiative, in welchem Zusammenhang ich auch W. Scholz nicht vergessen will, zur Teilnahme an einer Ausstellung im Städtischen Kunsthaus Bielefeld eingeladen, die Sie, Dr. Becker, als eine Art Heerschau der Jüngeren geplant hatten, und die 29 Maler vereinte. Neben manchen Zeichen erster starker Zustimmung trug mir diese Ausstellung Ihren begeisterten Zuruf ein. Vor mir

313 1961

liegen Ihre ersten Zeilen von September 1932, und eben daher datiert eine Freundschaft, die ihresgleichen sucht an Bewährung. Es wäre mir völlig unmöglich aufzuzählen, was alles und wofür alles ich Ihnen zu danken habe. Immer in den oft so bösen Wechselfällen des Lebens standen Sie dem jüngeren Künstler zur Seite, nie verzagend, nie sich versagend. In Rat und Tat waren Sie die Treue selbst, damals beim notwendigen Bruch mit dem verehrten Meister, beim Tod des Freundes, beim Zerbrechen sämtlicher Bindungen von alther und in der Nacht der Verzweiflung, - bei dem furchtbaren, teuflischen Umbruch der Zeiten, wie beim ersten Wiederaufrichten. ... Sie beide, Dr. Heinrich Becker und Frau Martha Becker, fügen dem geschändeten deutschen Gesicht jenen Zug bei, um dessentwillen die Engel der Vernichtung es dereinst verschonen mögen. Die Marees'sche Wappenparole lautete Ex fide vivo. Zuletzt krönt Sie und Ihr Wirken das Paulus Wort: "Und hättet der Liebe nicht--".

Martha Becker, Bielefeld, 10. November 61

Liebster Freund Werner Berg, Sie sind uns so nahe und wir wollen schon lange schreiben – Ihnen sagen, wie das Heft der Volksbühne uns erfreut und ergriffen hat – so viel Wärme und Aufrichtigkeit wird da ausgedrückt. … Seit wir von der Reise zurück sind, gab es viel Sprechen, viele Geheimnisse bis der Sonntag 5. 11. kam und im Kunsthaus die Feier stattfand, die damit Ausdruck fand, dass Henri das Verdienstkreuz 1. Klasse bekam. – Die Reden waren wertvoll und eindeutig, weil sie das Werk von Henri besprachen und anerkannten. – Ich dachte immer, Sie würden kommen – das wird vielleicht. – Am 1. 1. 62 kommt Dr. Daede, der das Kunsthaus entstehen lassen wird und leiten. – Wir warten sehr darauf und hoffen auf klare Ziele und erreichbare. – Die Jahre, die auf unseren Schultern ruhen, haben viel Schweres gehabt, aber auch viel Schönes, dazu gehört Ihre und Ihrer Familie Freundschaft, die uns weiter begleiten soll, bis zum letzten Tag! Und wir sind auch Ihre Freunde und ich möchte es von Herzen Ihnen heute versichern. Martha Becker

314 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Heinrich Becker

Liebster Werner Berg, keine ruhige Stunde blieb übrig, um Ihnen zu sagen, wie mich Ihr Freundschaftsbekenntnis, das Sie an die Volksbühne schickten, tief berührte und reich beschenkte. Ich habe es erst nach meiner Rückkehr von Spanien und Frankreich hier zu lesen bekommen, es gehört zum Schönsten, Besinnlichsten und Ermutigendsten, was ich im Verlauf dieser Wochen gelesen und gehört habe.

Unser Leben geht unaufhaltsam dahin und lässt nicht viel Zeit ruhiger Besinnung. Aber bei aller äußeren und inneren Bewegtheit Freunde zu haben wie Sie auf dem Rutarhof, der mir mit allem was dort lebt und schafft, Herz und Sinn erfüllt, dafür kann ich gar nicht genug danken. Trotz aller räumlichen Ferne Sie und den Rutarhof in der Welt zu wissen, erhält die Zuversicht, dass wir mit unserem Tun auf rechten Wegen sind. Lassen Sie uns zusammen ausharren bis an ein gutes Ende, immer dankbar, dass wir uns gefunden haben und unsere Freundschaft sich immer neu bestätigt und beglückend wirksam zeigt. … Ihr alter getreuer Heinrich Becker

THOMASNACHT, 1962 315

1962 Das österreichische Kulturinstitut zeigt Ausstellungen von Werner Bergs Holzschnitten in Istanbul, Ankara, Teheran und Kairo. „Um die Holzschnittausstellungen im Vorderen Orient kümmere ich mich nicht viel. ... In Istanbul und Ankara war der Erfolg groß. Sonst habe ich alles abgesagt, das macht mich frei und glücklich”, schreibt Werner Berg: „Wir sind gereist, meine Frau war zu meiner großen Freude und mit erstaunenswerter Spannkraft mit dabei. So waren wir also eineinhalb Tage in Venedig, dreiviertel in Verona und einen Nachmittag in Padua. ... Vor den Bronzetüren von San Zeno gestanden zu sein, gehört zu den stärksten Kunsteindrücken meines Lebens. Dazu ist nun einmal das Sinnlich-Gegenwärtige notwendig, mehr als das bildungsmäßig Mitteilbare. ... Nun sind wir also wieder zu Hause, für mich allemal die größte, neueste Entdeckung: das Hiersein, das ImmerHier-Sein, eine Stätte zu haben, eine Aufgabe und im Begrenzten die Welt.”

Heinrich Becker, Bielefeld, 14. 1. 62

Mein lieber Werner Berg, kein Tag vergeht, ohne dass wir nicht an Sie, Ihre liebe Frau und Ihre Kinder denken, wir sehen Haus und Hof, in dem Sie sinnend und handelnd umhergehen, wir sehen Ihre Arbeit, die der Tag von Ihnen verlangt. Und ahnen den Zuwachs an Werken Ihrer schaffenden Hand. Der Winter hält Sie gewiss länger im Haus fest und lässt Ihnen Zeit, die Welt Ihres Innern, im Bild zu realisieren. Wenn es nicht gar so weit wäre, kämen wir beide ungesäumt, um an Ihrem Schaffen teilzuhaben. Vor einiger Zeit sah ich im neuen Kohlhammer Kalender eines Ihrer Bilder, Bäuerinnen im Regen, farbig abgebildet. Sie können sich denken, wie es mich gefreut hat. Es hilft dort gewiss mit, Ihnen neue Freunde zu gewinnen, die es nicht beim Anschauen der Reproduktion bewenden lassen. Im mahnenden Gedenken an alte Schuld ließ ich Ihnen am 27. 12. 600 Schilling überweisen und hoffe, dass sie bei Ihnen richtig angekommen sind, um sich und Ihrer Frau einen guten Tag machen zu helfen. Ihr guter Freundschaftsbrief, den Sie im Herbst an mich richteten, hat nicht nur uns im Haus, sondern auch vielen unserer Freunde draußen Freude gebracht und klingt lebendig und Dank weckend in mir nach. Ich bin froh, dass es mir gelungen ist, das Original Ihres Briefes, das sich noch in der Druckerei, wenn auch etwas verloren, befand, in Sicherheit zu bringen und meinem alten Briefschatz hinzuzufügen. … Ihnen und den Ihrigen Gesundheit, Frohsinn, Freude an der Arbeit, liebende Mitmenschen und einen dauernden Frieden in dieser so oft bedrohten Welt. Seien Sie alle, wie immer, auf das herzlichste gegrüßt von Ihrem getreuen

Heinrich Becker

316 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Martha Becker, Freitag, 9. 2. 62

Lieber Freund Werner Berg,

Henri ist zum Konzert und ich habe gesagt: „bien, j’écris pendant ce temps à notre ami W.B. – Je suis au lit encore malade mais avec l’espoir de revenir à la sante – neues Leben zur Teilnahme am Leben unserer Freunde.

Wie geht es auf dem Rutarhof? Das möchten wir gern erfahren. Sie sind jetzt so schweigsam, nachdem Sie durch die Volksbühne einen so lieben Brief zu den 80 Jahren gedruckt haben – den jeder gern gelesen hat. Wer ist Werner Berg?? Ein Freund – schon lange – und ein lebendiger Künstler. Das wissen wir zu sagen, jedem, der es hören mag. … Henri 80 – ja – eher so interieur lebendig. Im Geist immer tätig. Wir schicken ein paar Volksbühne-Hefte – wo er so intensiv denkt und lehrt. – Sie werden sehen. –

Aus Japan, aus Madrid kurzes, reges Tauschen – Japan ist ein reges, tätiges Land, das man lieben muss. – Unsere Enkelin gibt in München Japanisch Unterricht und Japan ist eine schöne Erweiterung ihrer Möglichkeiten – aber für uns ist es so weit. … Wir sind eine Erde, eine Welt und stehen vor demselben Rätsel des Todes, solang wir leben sollen. Sie und Ihre Frau erfahren, wie lieb wir Sie haben. – Dies als Andenken von Ihren Freunden Henri u. Martha Becker

L. W. B., meine Frau hat alles, was uns bewegt, gut und schön gesagt. Wenn irgendwo, irgendetwas nicht stimmt, schreiben Sie bald und so gut wie immer. Herzlich bei Ihnen Ihr H. B.

Rutarhof, den 10. Feber 62

Geliebte Beckers!

Zu entschuldigen ist meine Miserabilität längst nicht mehr. In Wahrheit: die Arbeit hält mich in den Klauen, seit einem Monat bin ich wieder – nach vielerlei Kram und Schwierigkeiten – mit Vehemenz dabei, und die Pinselhand sträubt sich vorm Schreiben wie nie zuvor. Dabei sind Sie mir, bin ich Ihnen tagtäglich, stundstündlich nahe, das ist so unerhörtes Geschenk wie selbstverständliche Tatsache.

Geschenk: ich habe mich wohl geschämt, Ihren Hunderter so mir-nichts, dir-nichts einzustecken, aber ich habe mich zuletzt doch nur tief gefreut und wohl gewusst, von welcher Art Herzenswährung dieses Stück Geld ist, für das ich gerührt danke. Es soll einmal für Außerordentliches verwandt werden, am liebsten hätte ich mich gleich damit auf die Bahn gesetzt nach Bielefeld.

1962 317

Ja, damals wäre es mir gar nicht möglich gewesen, es gab da eine seit Monaten anberaumte, für den Hof lebensnotwendige Wege-Kommissionierung. Und dann wäre wohl der offizielle Trara nicht die rechte Atmosphäre für unser Wiedersehn gewesen. Vielleicht aber wird das doch bald werden, und sofern mich nur eben die Arbeit (s. oben) auslässt, denke ich schon daran, in der Woche nach dem 4. März auf einen Tag anzurücken. Will’s nicht verschreien, aber mich doch drauf freuen und im Hinblick auf den Redefluss, den der Tinte stoppen.

Von uns allen viele, viele herzliche Grüße. Wir alle: die Runde ist klein geworden, aber das Leben ist voll und reich und erfüllt uns mit jeglicher Dankbarkeit. Nur packt mich das Grauen, „denk ich an Deutschland – –“ und das furchtbare Konzept der Macht.

Seien Sie beide in der innigsten, treuesten Verehrung gegrüßt von Ihrem alten Werner Berg

Rutarhof, den 24. Feber 1962

Geliebte Beckers!

Verzeihen Sie diesmal bitte die Maschinenschrift, mir wollen die Finger vor lauter Überarbeitung gar nicht recht zum Schreiben taugen. …

Eben war ich in der deutlichsten und lebhaftesten Vorstellung beim Planen der Reise, die in einer guten Woche hätte beginnen sollen. Nun wird doch nichts draus, es geht nicht. Ich kann einfach jetzt – in bestem Zuge und angespannter Sammlung – die Pinsel nicht aus der Hand legen, und mit dem Winterausgang beginnen bald Unruhe und schwierige Arbeiten besonderer Art, da der Kuhstall und Tennboden umgebaut werden. Nun ist unser Veit ja enorm tüchtig und fleißig, aber trotzdem darf ich gerade dann nicht meine Frau mit ihren Herzanfälligkeiten allein lassen.

Wie hatte ich mich auf das Wiedersehen und Aussprechenkönnen gefreut, auch hätte sich dann vieles in gebotener Ausführlichkeit berichten und darstellen lassen. Meine Schulkameraden, von denen zu meinem Erstaunen etliche wiederaufgetaucht sind, und die Schule hatten mich für den 10. März zur 40jährigen Maturafeier eingeladen, ich wollte mich auch aufrappeln dazu, verzichte aber nun doch viel leichter darauf als auf unser Wiederbegegnen. Ich wäre nur mehr ein Fremdling in Elberfeld, und das letzte Band ist noch durch Dr. Seilers merkwürdiges Verhalten mir gegenüber zerstört worden. Ich war so verblüfft, dass ausgerechnet er die Laudatio zu Ihrem Jubelfest hielt. Ich erwarte mir – ohne Ressentiments – nicht das Geringste mehr von solcherart

318 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Leuten und bin im Grunde froh darüber, zumal die Wurzeln längst tief ins Erdreich hier gehen.

Wir hatten (und haben) einen schönen Winter, das ist für uns immer ein Kraftquell fürs ganze Jahr. … Gearbeitet = gepinselt habe ich nicht wenig, und es ist mir oft schmerzlich, dass ich Ihnen das nicht zeigen kann. Nach den Ausstellungen des vorigen Jahres verlangt mich nun sehr nach Hiersein und Konzentration, der Glaube an den Sinn des mir Aufgegebenen erfüllt und durchdringt mich mehr denn je. Zurzeit läuft übrigens eine Ausstellung von 75 Holzschnitten im vorderen Orient, die sowohl in Istanbul wie in Ankara außerordentlich beachtet wurde und später nach Teheran und Kairo geht. Ich scher mich aber nicht viel darum und kann nicht an weite Reisen, zu denen ich immer wieder eingeladen werde, denken. …

Ich bin so schreibuntauglich jetzt – verzeihen Sie! – Diese Nacht musste ich an Cézanne denken, wie er sich in seiner Arbeitsversessenheit nicht leisten konnte, zum Begräbnis seiner Mutter zu gehn.

Rutarhof, 25. X. 62

Beste, verehrteste Becker-Freunde!

Sehr glücklich, froh u. dankbar war ich über Ihre Zeilen. Wir hatten ein so unruhiges, strapazierendes Jahr u. wissen derzeit kaum zurechtzukommen. …

Rutarhof, den 20. Dezember 62

Liebe innigst verehrte Freunde!

den Schweigebann zu durchbrechen ist gar nicht so einfach, doch so groß die Entfernung nach Deutschland geworden ist, so nah sind Sie beide mir immer geblieben. Viel öfter, als Sie ahnen, halte ich mit Ihnen geheim Zwiesprache, in den Entscheidungen des Lebens wie beim Ausschreiten im künstlerischen Tun, und stets fühle ich mich geborgen und gestärkt in Ihrem großen, breiten Verstehn.

Das Jahr verflog, ich weiß nicht wie. Auf dem Hof ist noch die alte Besatzung: meine Frau, Veit und Annette und der alte Wirtschafter. Wir haben heuer nach ziemlich modernen Grundsätzen die Stallungen umgebaut, das war für uns eine eingreifende Angelegenheit, doch ist alles wohlgelungen – bis auf die Wasserversorgung, die für die nächsten beiden Jahre geplant ist. Mit der Verbesserung der Wege haben wir uns auch viel Mühe gegeben, ich muss all diese Dinge im Auge behalten, damit unser fleißiger Veit es später einmal nicht gar so schwer hat in der Wirtschaft.

1962 319

Meiner Frau geht es in Anbetracht ihres Herzleidens, das nie mehr zu beheben sein wird, leidlich, wir haben sogar ein paar kleine Kunst-Abstecher gemacht, die sie erstaunlich gut überstanden hat, so nach Venedig zur Biennale (und nach dem schönen Verona), nach München zur Macke-Ausstellung und nach Wien. Sie ist halt ein Mensch, der trotz aller Überbürdung des Alltags vom geistigen Impuls lebt und frisch bleibt. Unsere Hilde, die im nahen Völkermarkt mit einem Arzt verheiratet ist, hat heuer ihr drittes Kind bekommen, Ursi und Klara sind nach wie vor in Wien, die dortigen Enkelkinder gedeihen und sind sehr begabt. Heimo Kuchling, der Mann, hat ein kunstkritisches Buch geschrieben, das er Ihnen, wie ich ihn bat, wohl gesandt hat. Er ist ein kurioser Fall, mir liegt diese Art von Theoretisieren und Verabsolutieren nicht, und doch unterscheidet er sich im Fiedlerschen Sinn von mancher blühenden Suada.

Gearbeitet habe ich nicht wenig und bin zufrieden. Vor allem fühle ich mich voll Spannkraft zum Beginnen. An Ausstellen möchte ich so wenig wie möglich denken, 75 Holzschnitte sind in diesem Jahr im Orient herumgereist (Istanbul, Ankara, Teheran, jetzt Kairo und noch Alexandria) und haben ganz erstaunliche Erfolge eingebracht. Nach Deutschland ist, wie gesagt, die Entfernung unüberbrückbar weit, Dr. Seiler hat das Seinige getan, mich endgültig auszubürgern. Das sage ich ohne Ressentiment, dankbar glücklich über das Hiersein und meine Aufgabe. Der hiesige deutsche Konsul ist übrigens ein alter Elberfelder, Dr. Abraham Frowein, er besucht mich immer wieder und hat auch F. G. Jünger hergebracht, den ich sehr schätzen gelernt habe. Hier im Lande habe ich mit den Jahren gute, starke Freunde gewonnen, deren jeder ein Original ist.

Ich bleibe Ihr getreuer Werner Berg

1963 „Selbst stecke ich nun wieder tief in der Malerei, die trotz der erheblichen Molesten und Zwischenfälle dieses absonderlichen Winters – wir hatten eben wieder unermessliche Schneefälle –nur gefördert wird. Die Malerei verzehrt mich, ich tauge da zu nichts anderem”, bemerkt Werner Berg im Feber. Er ist verärgert mit seinen Bildern bei der Neugestaltung des Museums des 20. Jahrhunderts in Wien nicht berücksichtigt worden zu sein: „Ob das, was aus diesem Leben an künstlerischem Werk entstanden ist, auch nur im Entferntesten verdient, von einem Dir. Hofman und seinen Mauer-Lemuren ins nichtige Beiseite geschoben zu werden, darüber ein andermal an anderer Stelle”, schreibt er an Adele Kaindl. Die Galerie Kontakt in Linz zeigt eine Berg-Ausstellung.

320 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS
ARME, 1963 321

Rutarhof, den 12. Jänner 63

Liebste, verehrteste Beckers!

Ein scharfer Schneesturm bläst daher, ich selbst stehe – ein bisschen zerzaust und unsicher noch – zwischen Schlachten und Malen vor neuem Aufbruch. Es wird schon werden: ich schaue in den weißen Wald und die Schneeböen und denke an dies Innig-Beharrende und Bewahrende, Ihre Treue.

Da Sie von Seiler schreiben, möchte ich Sie doch um seine Rede und MunchSchrift bitten. Kurios: während der nach Hannover geht, übernimmt ein guter Bekannter, vor dessen Karriere mir jedoch nicht ganz geheuer ist, die Kestner-Gesellschaft, Dr. Wieland Schmied, dessen Namen Sie gewiss aus manchen Kritiken und Veröffentlichungen über mich kennen. …

Rutarhof, 13. I. 63

Geliebte und verehrte Beckers!

Ich stecke wieder einmal – einzig seligmachender Lebenszustand – tief in Winter und Malerei. Ich möchte nur, sonst völlig schreibunfähig, nicht länger säumen, Ihnen aufs herzlichste für die Drucksachensendung danken. Die Munch-Schrift ist ein rechtes Denkmal nach Maß, so würdig für Munch wie Dr. Becker. Dass ich Herrn Dr. Seilers Erguss mit hochgezogenen Brauen gelesen habe, mögen Sie sich denken. …

Rutarhof, den 17. August 63

Geliebte und verehrte Beckers!

Schreibohnmächtig wie ich jetzt bin und auch an Hirn und Seele von der unvorstellbaren Dürre mitgenommen, muss ich doch ohne zuviel Verzug sagen, welcher Strom von Freude und Kraft von Ihrem Brief ausgeht.

Sehr freut mich, dass Ihnen das Bändchen von Helmut Scharf gefallen hat. Er ist ein sehr stiller Mann, Professor an der Klagenfurter Lehrerbildungsanstalt, doch zumeist Poet. Dass er meiner Arbeit mit so viel Aufmerksamkeit zugetan ist, muss mich natürlich sehr berühren. Übrigens wäre es für Scharf eine beträchtliche Freude und auch Hilfe, wenn Sie über das Bändchen eine kleine Besprechung schreiben oder erwirken (könnten), vielleicht auch etwas in der „Volksbühne“ abdrucken könnten, die sich auch in neuem Gewand trefflich präsentiert. Auch dafür vielen Dank, wir bewundern allemal Ihre Beiträge, die bei jeglichem Thema an der Wurzel geistigen Wirkvermögens ansetzen.

322 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Der heurige Sommer setzt uns recht zu, neben Hitze und Ernte mussten wir den Zufahrtsweg ausbauen, der nun recht stattlich ist. Das alles muss ich des überaus fleißigen Veit wegen im Auge haben. Der Autowahn bringt es mit sich, dass gerade zu dieser Zeit allzu viele Leute anrücken, doch sind es zum Glück nicht immer leere Fehlbegegnungen. Die Enkelkinder erfreuen auch unser Herz immer, gestern sind die lieben Wiener angerückt, die mit ihren Eltern noch für einige Tage auf eine dalmatinische Insel fahren, und heute haben wir Besuch der Völkermarkter Enkel, die noch kleiner und äußerst lustig sind. Der Herzknacks meiner Frau, Sie wissen, wird ganz nie mehr vergehen, und während der Künstler mit Ungestüm ausschreiten müsste, heißt es doch zumeist verhaltener zu leben. Immer aber bin ich bei meiner Sache und lasse Ressentiment und Müdigkeit nicht über mich kommen. Kunstbetrieb und -geschwätz sind gar arg heutzutage. …

Rutarhof, den 29. Dezember 63

Sehr verehrte und geliebte Beckers!

Wieder einmal haben Sie mich mit Ihrer Güte überschüttet, ich kann nur tiefgerührt danken. Nach dem erregend schönen Munch-Katalog kam die splendide Überweisung, die ich ganz in Ihrem Sinne verwenden will.

Gut haben meiner Frau, obschon sie das nur als Verbannung betrachten will, die paar Tage Ausspannen schon getan, für mich bedeutet ihre Kräftigung die größte Verheißung. Bald hoffe ich auch wieder fest bei meiner Arbeit zu stehen, zuvor gibt es noch einen Wust von Kram, der alle Jahre ärger wird, aufzuarbeiten. Letztlich kann ich unsere Lebens- und meine Arbeitssituation nur dankbar preisen und hüte mich vor jeglicher Art Vermessenheit. …

1964 Das von Heimo Kuchling herausgegebene Buch „Werner Berg - Holzschnitte” erscheint. Der ORF produziert den Fernsehfilm „Zu Gast bei Werner Berg”. „Dann aber schlug der Blitz ein. Vor drei Wochen erlitt meine Frau einen schlimmen Herzanfall, ich glaubte kaum, dass sie die Fahrt ins Krankenhaus, auf der ich sie im Rettungswagen begleitete, lebend überstehn würde. Selbst wäre ich in der denkbar besten Verfassung und hatte mich ganz darauf gerichtet, gereinigt und jeglichem Betrieb entsagend neu zu beginnen. Nun ist das Gehäuse im Innersten erschüttert”, schreibt Werner Berg – seine Frau erleidet im November einen Herzinfarkt und muss für längere Zeit im Krankenhaus bleiben. Da Werner Berg eigenen Besitz ablehnte, war der Rutarhof seit dem Ankauf 1930 offiziell im Besitz seiner Frau – nun wird der Hof an Werner Bergs Sohn Veit übergeben.

1964 323

Heinrich Becker, Bielefeld, 12. Februar 64

Lieber Werner Berg, liebster Freund,

Sie haben uns allen mit dem herrlichen Buch Heimo Kuchlings, mit der großen Folge Ihrer Holzschnitte ein unschätzbares Werk ins Haus geschickt. Das oft von Hand zu Hand geht und mit Hingabe und Bewunderung betrachtet wird. Wie gut, dass es dieses Buch nun gibt und viele Freunde Ihrer Kunst mit dem reichen graphischen Lebenswerk vertraut machen kann. Es ist schön und uns so wertvoll, dass wir es ungern aus der Hand geben. Aber auch andere unter unseren Freunden sollen es kennen lernen. Können Sie veranlassen, dass mir zwei weitere Exemplare mit beigefügter Rechnung (davon eines für die Bibliothek unseres Kunstvereins, das in die Bibliothek des Städtischen Kunsthauses kommt). Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch Herrn Kuchling bitten da Buch „Kritik der bildenden Kunst des XX. Jahrhunderts“ zu schicken, und wenn möglich, die von ihm herausgegebene Schriftenreihe Kontur zu ergänzen. Ich besitze hier Nr. 7 – 19 und würde gern die Reihe vollständig haben, also Nr. 1 – 6 und was noch nach 18/19 erschienen ist.

RUTARHOF HOFLICHT, 1964 324

Vieles in dem Holzschnittbuch ist mir unbekannt, anderes, was ich kenne und liebe, fehlt. Das kann nicht anders sein. Oder wäre es nicht an der Zeit, das gesamte graphische Œuvre lückenlos zu verzeichnen, mit den erwünschten Entstehungsdaten? Das wäre eine willkommene Ergänzung für alle Ihre Freunde!

Und was soll ich von mir sagen? Ich bin seit Monaten kaum zu mir selbst gekommen – und das ist der Grund, warum ich mit meinem Dank so spät zu Ihnen komme – ein Auftrag reihte sich an den anderen, und keinen konnte ich, mochte ich nicht, abschlagen. Gegenwärtig stehe ich mitten in der Arbeit, die Biographien aller in Bielefeld geborenen oder hier tätigen Künstler zusammenzustellen, was längst hätte geschehen müssen und was ich schon ins Auge gefasst habe, als ich noch das Kunsthaus hier zu leiten hatte. Nun ist es ein richtiger, offizieller Auftrag geworden, sogar honoriert.

Augenblicklich haben wir eine nicht sehr große, aber doch sehenswerte Ausstellung von 50 Holzschnitten Masereels aus den letzten 5 Jahren und eine Reihe der schönen Holzschnittbücher hier im Auslandsinstitut der Stadt. Ob man so etwas nicht auch noch mit Ihren Holzschnitten machen könnte? …

Und nochmals, haben Sie herzlichen Dank für alle Güte und Freundschaft, die uns zuteil wird. So soll es zwischen uns bleiben bis ans Ende.

In Verehrung und wärmster Freundschaft bleibe ich Ihr alter

Heinrich Becker

Wie ist es möglich, dass wir Freunde sind und so wenig von uns geben im Wort – da wir nicht Künstler sind. … Henri ist noch jung, tätig, wahrlich. Ich dagegen älter als er. Müde und müde. Aber treu und liebst M. B.

Lieber, hochverehrter Herr Dr. Becker!

Rutarhof, den 24. November 64

Wo nehme ich nur all die Feierlichkeit her, die notwendig wäre, um Ihnen zu gratulieren und zu huldigen! Diese Ehrung, die ein Leben voll Bewährung krönt, hat noch Sinn und Glanz und Fülle wie keine zweite in dieser Zeit. Ich fühle mich recht mitgetroffen und durchwärmt von diesem Lichtstrahl, da ich Ihnen nun schon so viele Jahre in der innigsten Verehrung verbunden sein darf.

Die Augen meiner Frau haben aufgeleuchtet, wie ich ihr Ihre Einladungskarte brachte. Ja, leider ins Krankenhaus; vor 12 Tagen bekam sie einen

325 1964

furchtbaren Herzanfall, ich glaubte kaum noch, dass sie die Fahrt mit dem Rettungsauto lebend überstehn würde. Inzwischen ist die akute Gefahr behoben, aber für weiterhin sieht der Primarius schwarz.

Ich lebe jetzt mit angehaltenem Atem, die Wirklichkeit – die eines unbeschreiblich leuchtenden Spätherbstes – ist wie ein Jenseits. Es ist ja gar nicht zu sagen, was die Frau auf dem Rutarhof in diesen Jahrzehnten geleistet hat und wie sie die Seele ist vom ganzem Haus-, Hof-, und Kunstwesen.

Ach, verzeihen Sie, dass ich Ihnen in die frohe Feststimmung mit meinem Jammer komme. Nur muss ich hinzufügen, dass ich keinerlei finanzielle Sorgen und in der letzten Zeit recht gut abgeschnitten habe.

Leben Sie und Ihre bewundernswerte Frau Martha recht wohl, Edler Ritter von Becker, wie es einst hierzulande für alle Zeiten geheißen hätte. Kein reineres Leuchten aber als das Ihres puren Namens.

Stets Ihrer beider dankbar getreuester Werner Berg

Rutahof, den 8. Dezember 64

Bester, hochverehrter Herr Dr. Becker!

Was für ein Freudenbringer Sie doch sind in schwerer Zeit! Das war eine Überraschung sondergleichen, für die ich gar nicht genug danken kann. Das Dezember-Heftchen der Volksbühne ist reinweg eine Köstlichkeit, die Bildwiedergaben sitzen prächtig, Ihr hochgestimmter Text macht das Herz warm. Schöneres hätte ich meiner Frau heute nicht ins Krankenhaus bringen können. Sie lässt dankbar gerührt grüßen. Es geht ihr leidlich, doch wird das Herz sich nie mehr festigen. …

18. Dezember 64

Geliebte und verehrte Beckers! Das Geld kam, – das hätte ich wahrlich nicht gewollt. Nun kann ich nur innigst danken und werde für meine Frau davon etwas ganz Besonderes erstehen, was uns täglich erfreuen und an Ihre Herzensgüte erinnern wird. Zum Hl. Abend kommt meine Frau heim, bedarf dann aber für immer äußerster Schonung. Schwer. Den Hof haben wir vorgestern unserem tüchtigen Veit übergeben.

326 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

1965 „Meine Frau, einst die Mitte und die Seele von allem hier, ist nun ganz ausgeschaltet und fügt sich bewundernswert ins Unvermeidliche, einst Undenkbare. Veit, der nun der Rutarbauer ist, und Annette, die zu allem noch die Hausfrau vertreten muss, werkeln fleißig und unverdrossen. Dass es trotz allem auch mit der Malerei noch weitergeht, ist mir wie ein Wunder. Was immer ich noch an Kraft aufbringen kann, muss an die Weiterführung meiner Arbeit gesetzt werden.”

Ende des Jahres unternimmt Berg eine Kunstreise nach Holland und London: „Nächste Woche fahre ich nach erfolgreich beendeter Fastenkur für eine Zeit fort, und zwar auf eine Kunstreise, die nach einem ziemlich bedrückenden Jahr ausschließlich dem Sehen und Aufnehmen gewidmet sein soll. Es tut Not, von Zeit zu Zeit auszuziehen, um das Maß der Größe zu erfahren. Sehen, sehen, nichts als Bilder-Sehen liegt mir jetzt im Sinn.”

Heinrich Becker, Bielefeld, 28. 2. 65

Lieber Werner Berg, nach wochenlangem Schweigen ist jetzt Anlass, zu Ihnen zu kommen, weil das Auslands-Institut der Stadt Bielefeld, „Die Brücke“, meiner Anregung, Sie zu einer kleinen Ausstellung einzuladen, gefolgt ist und der Leiter, Herr Paul Jagenburg, Ihnen in dieser Angelegenheit schreiben wird, oder schon geschrieben hat.

Der zur Verfügung stehende Raum ist nicht sehr groß, aber vor einem Jahr fanden darin die großen Masereel-Holzschnitte in ca. 25 Wechselrahmen, Format 50 x 65 cm, ausreichend Platz. Ich stelle mir eine Auswahl Ihrer Holzschnitte an dieser Stelle als ebenso wirkungsvoll vor und wäre über eine

STILLLEBEN MIT FLORIAN, 1965 327

Wiederbegegnung selbst sehr glücklich. Könnte der Christine-Lavant Holzschnitt auch dabei sein? Auch das Holzschnittbuch von Kuchling müsste bei dieser Gelegenheit gezeigt werden. Haben Sie Erfahrung mit dem gegenwärtigen Versand nach Deutschland? Selbstverständlich würde ich mich an den vorbereitenden Arbeiten gern beteiligen und alles Nötige für Sie tun.

Meine Frau hat zwei Wochen an der Grippe gelitten, ist nun aber wieder genesen. Das Altern macht uns mancherlei zu schaffen, aber noch geht’s. Lassen Sie von sich hören? Seien Sie und Ihre Frau und alle Ihrigen sehr herzlich gegrüßt von Ihren alten Heinrich u. Martha Becker

Rutarhof, den 9. März 65

Lieber, hochverehrter Herr Doktor Becker!

Herzlichst danke ich für Ihren lieben Brief, der eine große Überraschung brachte. …

Selbst wenn ich für die nächste Zeit mich auf keinerlei Ausstellen einlassen wollte, könnte ich ein Anerbieten wie das Ihre unmöglich zurückweisen. Auf solche Weise mit einem Teil meiner Arbeit nach Bielefeld zurückzukehren – unter der Ägide des treuesten, hochherzigsten Kunstfreundes, dem ich im Leben begegnen durfte, muss mich bewegen und beglücken. Wie sich dann der Kreis der Jahre schlösse!

Die näheren Angaben mache ich, sobald ich von Herrn Jagenberg höre. Mit dem Versand hat es keinerlei Schwierigkeit. Ich glaube, es könnte eine schöne Sache werden.

Immer denken wir voll Bewunderung an Sie beide und mit so etwas wie der Wehmut der Alten vor dem Schwung der Jugend. Nur malen kann ich noch, das erscheint mir wie ein Wunder.

Sehr herzlich und dankbar Ihr alter Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 11. 4. 65

Lieber, liebster Werner Berg, wir freuen uns Tag für Tag auf ein Wiedersehen mit Ihnen, wenn es geht; wenn nicht, sind Sie uns in Gedanken nahe und mit der Reihe von Holzschnitten, die Sie in Aussicht stellen, ganz gewiss und greifbar, sichtbar gegenwärtig. Nah oder fern sind ja erdhaft bedingte Vorstellungen. Wie lange wird es dauern, dann müssen wir unsere Liebesgrüße wie von einem weltfer -

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nen Stern schicken. Und auch sie kommen an, bleiben Sie des immer gewiss. Wünsche für die erwarteten Holzschnitte hat Ihnen Herr Jagenburg wahrscheinlich schon ausgesprochen. Mein Rat ist, das Beste aus alter und neuer Zeit auszuwählen, nur Werke aus den letzten Jahren zeigen, wäre nicht richtig, da die Welt ein kurzes Gedächtnis hat und die jungen Menschen von heute überhaupt zu wenig von Ihnen wissen. Das Alte ist ja nicht vergangen oder abgetan, wie verwehte Worte und Gedanken. Was als Kunstwerk lebt und Strahlkraft hat, gehört nicht der Geschichte an, ist und bleibt gegenwärtig, solange es menschliche Augen und Herzenskräfte innerlich aufzubauen und zu beseelen vermögen. Was uns vor 35 Jahren zusammenführte ist nicht verwelkt und verloren, ist so neu und voller Duft wie die Blumen, die uns jeder Frühling wiederschenkt.

Mit herzlichsten Grüßen für Sie und den gesamten Rutarhof, Ihre liebe Frau und alle Kinder und Enkel. Ihre getreuen Heinrich und Martha Becker

Rutarhof, den 24. April 1965

Lieber, hochverehrter Herr Dr. Becker!

Dank, innigsten, für Ihren letzten Brief samt Beilage. Gestern also habe ich die Auswahl der Holzschnitte getroffen und verpackt, wobei es mir nicht leicht wurde, mancherlei wegzulassen, auch wollte ich eine Anzahl von Blättern dazutun, die nicht im Buche abgebildet sind. Obwohl es sich um eine kleinere Veranstaltung handelt, bewegt mich der Gedanke an Sie dabei mit Macht.

Nicht schlecht wäre, wenn im Zusammenhang mit der Ausstellung das Interesse für das Holzschnittbuch geweckt werden könnte, das noch in diesem Jahre neu aufgelegt werden soll und unter „Die schönsten Bücher in Österreich“ offiziell eingereiht wurde. Ob dafür das Auslandsinstitut in Frage kommt, weiß ich nicht, wohl aber der Buchhandel. Eine Karte mit der Auslieferfirma und Angabe des Verkaufspreises lege ich bei, das Buch könnte 10/11 bezogen werden, wie man so sagt, das heißt, bei Bestellung von 10 Exemplaren wird ein elftes gratis mitgeliefert. Gern kreditiere ich den Betrag dafür und würde, wenn es gewünscht wird, die sofortige Absendung von Wien veranlassen, damit die Bücher rechtzeitig zur Stelle sind.

Ursprünglich wollte ich noch das doppelt große Blatt des „Taubstummen“ auch nach Bielefeld senden, habe dann doch in Hinblick auf die knappe Räumlichkeit davon abgesehn. Sicherlich ist es überflüssig, um Vorsicht beim Hängen zu bitten. Falls geklebt werden muss, möge man nur rückwärts dünnstes

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Banknoten- oder Briefmarken-Klebepapier verwenden, kein Tixo. Dass nicht geknickt oder beschnitten werden darf, ist selbstverständlich. Verzeihen Sie bitte, wenn ich mich diesmal auf den zu besprechenden Ausstellungskram beschränke. Möge nur alles gut gehen und Ihr, Ihnen über alle Maßen verpflichteter und verbundener Schützling Sie nicht enttäuschen!

In der größten Herzlichkeit und Verehrung bin ich mit vielen Grüßen von der und den Meinen wie stets Ihrer beider dankbar getreuer Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 29. 42. 65

L. W. B.

Heute nur kurz die Mitteilung, dass die Sendung gut angekommen ist. Montag Beginn. Es war noch keine Gelegenheit, die Blätter anzusehen. Sind sie verkäuflich? Sind Nettopreise angegeben? Wir sind beide ungeduldig, meine Frau ebenso wie ich, auf dieses Wiedersehen, als wären Sie selbst da.

Mit Dank und herzlichen Grüßen

Ihr alter H. B.

Heinrich Becker, Bielefeld, 3. 5. 65

Lieber Werner Berg, guter alter Freund, nun hängen Ihre Holzschnitte, soweit der Platz reicht, da die waagrechten Formate bei weitem überwiegen, (Was ich bei meiner Vorberechnung übersehen habe), bietet nur Platz für 25 Blätter. Aber sie hängen ausgezeichnet in gut passenden, gleichmäßig schmalen Wechselrahmen (aus dem Kunsthaus entliehen) unter Glas. Leichte Knitterfalten am Rande einiger Blätter, die schon beim Herausnehmen aus der Rolle vorhanden waren, fallen nicht auf. Eine historische Folge der Blätter ist nicht versucht, wäre auch kaum möglich gewesen, da keine Aufzeichnungen und Datierungen vorlagen. Ich war nur bedacht auf Lichtverhältnisse, anregenden Wechsel zwischen hellen und dunklen Blättern. Damit Sie sich eine Vorstellung machen können, lege ich eine Raumskizze bei, die beigefügten Ziffern bedeuten die Reihenfolge der Blätter. So können Sie sich den Raum mit Ihren Bildern vorstellen, wie wir ihn heute Nachmittag, meine Frau und ich, als erste Besucher angeschaut haben. Innerlich erfüllt und beglückt haben wir gleich nebenan Kaffee und Kuchen genossen, als wären Sie bei uns gewesen, und sie waren ja auch wirklich dabei ganz gegenwärtig.

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Was noch fehlt, sind Ihre Verkaufspreise. Für die Sammlung des Kunstvereins (die dem Städtischen Kunsthaus als Leihgabe dauernd überlassen wird), in der schon aus alter Zeit einige Drucke vorliegen, aber auch für uns selbst möchten wir etwas hierbehalten, wie z.B. den Lavant-Holzschnitt, den ich auch dem Kunstverein zum Ankauf vorschlagen möchte. Vielleicht auch anderes. So viel für heute. Ich schließe, damit der Brief noch mit der letzten Abendpost abgeht und Ihnen gute Kunde und unseren unaufhörlichen Dank bringt. Grüßen Sie Ihre Frau Mauki, der wir guten Fortgang Ihrer Genesung wünschen, und den ganzen Rutarhof und alle, die da beheimatet sein. Ihnen selbst, wie immer, die sehr herzlichen Grüße meiner Frau und Ihres alten Heinrich Becker Rutarhof, den 9. Mai 1965

Lieber, hochverehrter Herr Dr. Becker!

Wieviel Mühe ich Ihnen gemacht habe, ist kaum zu verantworten, ich kann Ihnen nie genug danken. An Verkaufen dort hatte ich ursprünglich nicht gedacht, Sie wissen, dass ich stets nur wenige Abzüge mit dem Falzbein mache; in Österreich, wo sich meine Sache trotz Feindschaften einer bestimmten Wiener Clique durchgesetzt hat, bin ich mit dem Verkaufen sehr zurückhaltend, habe aber ein paar Sammler und Kunstfreunde, die außerordentlich großzügig sind. Ich bin drum weder reich noch hochmütig, sondern wollte nur sagen, dass ich nicht aufs Verkaufen aus bin.

Für alle Fälle lege ich eine Liste bei: den Lavant-Holzschnitt, der hier äußerst gesucht ist, gibt es schon lange nicht mehr, das letzte Exemplar erwarb das Cabinet des estampes der Pariser Nationalbibliothek. Ich war der festen Meinung, dass das Blatt in Ihrem Besitz sei: So bitte ich Sie, verehrtester Freund und ältester Förderer, das ausgestellte Bildnis Christine Lavant, das eines von zwei mir verbliebenen Exemplare ist, als Geschenk anzunehmen, ebenso alles, was Ihnen zusagt, denn es wäre mir schmerzlich, wenn Sie sich bei der Gelegenheit verausgaben würden. Für Sie wäre auch jedes Blatt da, das auf der beiliegenden Verkaufsliste gestrichen ist.

Heute sind die fünf Enkel da, ich schreibe in Trubel und Opa-Bedrängnis. Von uns allen das Herzlichste in alter, treuer Ergebenheit für Sie beide.

Ihr Werner Berg

Nach Ihrem Plan kann ich mir eine genaue Vorstellung machen, mit welch außerordentlichem Bedacht und Feingefühl Sie gehängt und die Gewichte verteilt haben.

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Heinrich Becker, Bielefeld, 23. 5. 65

Lieber – lieber Werner Berg, morgen fängt die letzte Woche Ihrer Holzschnitt-Ausstellung an, von vielen gesehen, von niemandem so oft und so aufmerksam folgend, so liebend betrachtet, wie von mir und meiner Frau. Für uns ist deshalb der Abschied am schwersten. Sie werden also verstehen, dass wir von Ihrer so oft erwiesenen generösen Güte ermutigt, den Wunsch äußern, etwas für und zu behalten, obwohl wir schon so reich bedacht sind.

Wie ich Ihnen schon schrieb, möchten wir dieser schönen Reihe das Bildnis Christine Lavant hinzufügen, das mir so wesentlich für Sie scheint, das als Geschenk anzunehmen wir zögern, umso mehr als es nur noch in 2 Exemplaren verfügbar ist. Ist denn der Holzstock nicht mehr vorhanden oder druckfähig? Wie gern sähe ich es auch in der Sammlung des Kunstvereins, dessen Besitz dauernde Leihgabe für das städtische Kunsthaus ist. Darin sind, noch aus den ersten 30er Jahren stammend: 1) Pferd vom Baum fressend – 2) Der Bettler. Dieser karge Bestand wäre also sehr ergänzungsbedürftig. Wenn Lavant nicht mehr in Frage kommt, dann vielleicht „Heimkehr“? – Zu welchem Preis? Ehe die Reihe der Holzschnitte zurückgeschickt wird, oder ev. zu einer anderen Ausstellung in Westdeutschland weitergeschickt wird (?), erwarte noch Ihren Auftrag, damit ich mich zuvor selbst entscheiden kann, was ich noch hier zu behalten wünsche.

Mit Interesse lese ich, dass vom Kuchling Holzschnittbuch eine 2. Auflage vorbereitet wird. Mit der gleichen Bildauswahl? Wie gut wäre es, wenn das Gesamtverzeichnis Ihres Holzschnittwerks mit Angaben der Bildgrößen und wenn möglich der Entstehungszeit hinzugefügt werden könnte. Aber auch ohne dies ist das Buch sehr schön und bedeutend; wie alles was ich von Kuchling kenne, ganz besonders die „Kritik der bildenden Kunst des 20. Jh.“, ein Buch, das in der verworrenen Situation unseres Kunstlebens so heilsam sein könnte.

Und nun zum Schluss die erfreuliche Nachricht, dass unsere Kinder Eversmeyer, Vater, Mutter und Sohn (Christiane und Sibylle sind ja schon längst in München) vor kurzem zurückgekehrt sind aus Japan, und nun endgültig hierbleiben, voraussichtlich in Bochum ansässig werden, wo Eversmeyer neben dem üblichen Schuldienst Gelegenheit zur Mitarbeit an der neu gegründeten Universität erwartet. Das gibt Freude, aber auch Unruhe und mancherlei Schwierigkeiten (Wohnungssuche!). Aber das gehört ja zum Leben überhaupt. Hoffentlich lassen Sie bald von sich hören und sagen das Notwendigste für die Beendigung unserer Ausstellung. Mit den herzlichsten Grüßen an Sie,

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Ihre Frau und alle Kinder von meiner Frau und Ihrem treu ergeben Heinrich Becker. Und bitte sagen Sie Herrn Heimo Kuchling als Bezeugung weitgehender Zustimmung und aufrichtigen Danks sehr herzliche Grüße B.

Rutarhof, den 31. Mai 65

Lieber, hochverehrter Herr Dr. Becker!

Noch am gestrigen Sonntag bin ich nicht zu Besinnung und Schreiben gekommen, wie ich mir vorgenommen hatte, es ist eine unruhige Zeit jetzt auf dem Hof, und der Ausfall der Frau macht sich bemerkbar. Nun schreibe ich in einer Warte-Pause auf der Post im benachbarten St. Veit (im Jauntal), wo ich einen Anruf abwarten muss. Von ganzem Herzen danke ich für Ihren letzten Brief und all Ihre Mühe. Weiter möchte ich jetzt nicht in Westdeutschland ausstellen, sondern bitte um Rücksendung der Blätter als eingeschriebene Drucksache. Von Verkäufen möchte ich diesmal absehn, stelle Ihnen persönlich aber, was immer Sie mögen, zur Verfügung. So gern weiß ich das Lavant-Blatt nun bei Ihnen, es ist das seltenste und meistbegehrte meiner Arbeit. Den Druckstock, von dem ich mit ganzer Absicht nur sehr wenige Abzüge machen wollte, habe ich vor Jahren einem Sammler verehrt, der mit unerhörter Großzügigkeit meine Sache gefördert hat. …

Heinrich Becker, Bielefeld, 3. Juni 65

Lieber Werner Berg, liebster Freund, es wäre soviel zu sagen, nachdem wir wieder einmal Ihre große Güte, Ihre hochgesinnte Freundschaft erfahren haben, so selbstlos bestätigt durch die Hergabe Ihrer herrlichen Holzschnitte für eine Ausstellung, die so wenig äußere Wirkung verhieß in einem so tiefgekühlten (künstlerisch gesehen) Weltzustand, die aber doch bei älteren und jüngeren Besuchern in ihrer Eigenart, ihrer herzgenährten Menschlichkeit verstanden, bewundert, ja von einigen geliebt wurde. Unter den Liebenden können Sie gewiss uns wissen, die seit langen Jahren nicht aufgehört haben, Ihrer künstlerischen Weltdeutung zugewandt, Zwiesprache mit Ihnen zu halten. Wir sind wieder einmal wie die Honig suchenden Bienen in dem Sonnenschein Ihrer Gegenwart von Blüte zu Blüte geflogen. Nun fangen diese Wochen an, Erinnerung zu werden. Gestern habe ich, gleich nach Empfang Ihres Briefes aus St. Veit, die Rücksendung der

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Holzschnitte als eingeschriebene Drucksache (Express) in den beiden Rollen wohlverpackt, veranlasst, so dass Sie sie gewiss im Laufe der nächsten Woche erwarten können. Darf ich bitten, mir den guten Empfang in aller Kürze zu bestätigen.

Drei Blätter werden Sie nun in der hergeliehenen Reihe vermissen. Nicht ohne zu zögern, aber doch in der Zuversicht bei Ihnen Verständnis und Zustimmung zu finden, habe ich hier behalten: das Bildnis Christine Lavants, das mir so vieles deutet und bestätigt; die beiden Bäuerinnen auf dem Spaziergang, das schöne Blatt, das ich schon aus der Abbildung in dem Gedichtband von Helmut Scharf kannte und das meine Frau so sehr liebt; und endlich noch einmal die vier heimkehrenden Gestalten im Schnee, die wir selbst schon besitzen und jeden Tag an der Wand vor Augen haben und in diesem 2. Exemplar meiner Tochter, Elise Eversmeyer schenken möchten. …

Was können wir nun tun, angesichts Ihrer edelmütigen Selbstlosigkeit, die uns aus Ihren letzten Briefen entgegenkam? Wir haben an Ihre liebe, gütige und tapfere Frau gedacht, der wir von ganzem Herzen zugetan sind und volle Genesung wünschen, und haben durch Überweisung eines Geldbetrages den Wunsch, Ihrer Frau, die so viel Liebe verdient, mitzuhelfen, dass etwas Gutes, Heilbringendes für sie geschieht. Über alle Ferne hin möchten wir ihr nahe bleiben, wie wir es Ihnen immer sind.

Empfangen Sie beide mit unserem Dank die herzlichsten Freundschaftsgrüße Ihrer getreuen Heinrich und Martha Becker

Rutarhof, den 10. Juni 1965

Lieber, hochverehrter Herr Dr. Becker!

Mit Ihrem Brief kamen die Holzschnitte in bestem Zustand zurück. Dass der Briefträger auch noch eine Überweisung brachte, war des Guten zuviel, denn ich wollte nicht, dass Sie sich obendrein noch in derartige Unkosten stürzten. Ich kann nur wieder und wieder von Herzen danken. …

Heute schreibe ich nur diese Zeile zur Bestätigung und grüße Sie beide in unser aller Namen, dem meiner Frau voran, aufs herzlichste.

Ihr dankbar getreuer Werner Berg

334 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Heinrich Becker, Bielefeld, 19. Juni 65

Mein lieber Werner Berg, guter verehrter Freund, wie soll ich Ihnen danken, nachdem wir die wunderbare Laudatio für Christine Lavant und die erschütternde Folge Ihrer Gemälde und Holzschnitte vor wenigen Tagen erhalten haben. Wort und Bild dieses kostbaren Heftes führen uns weit weg aus den Fängen des Alltags, denen wir, wie alt wir auch sind, beständig ausgesetzt sind.

Tief erschrocken von dem Blick in die erdfernen Räume, in denen Christine Lavants Visionen hausen, in den Pfauenschrei-Gedichten aller Tageserfahrung, aller Ratio bis in das Wort hin entrückt, kehren wir vor Ihren Bildern zu der leiblichen Gestalt zurück, die zum Gefäß von so viel Angst und Grauen geworden ist, mehr als hilfreicher, liebender Beistand ausgleichen kann. Es blutet einem das Herz, wenn man den leidvollen Blick der Augen sieht, hinter denen so viel Unheimlichkeit lauert, der man nicht beikommen kann.

Wenn alle diese Bildnisse schon 1951 entstanden sind, so führen sie sichtbar in die innere Not, die sich in den Gedichten der Bettlerschale doch immerhin gottverbunden weiß. Christine Lavant hat sie mir voriges Jahr, gewiss durch Sie angeregt, als Weihnachtsgruß mit persönlicher Widmung geschickt. Wie von ihrer eigenen Hand berührt, öffne ich das Buch immer mit einer herzlichen Fürbitte, deren sie so sehr bedarf in dem angstvollen Elend, das in den Gedichten des Pfauenschreies mit dem Wort ringt. Was mag in der Zeit zwischen den beiden Gedichtfolgen in ihrem Innern vor sich gegangen sein! Ob davon auch etwas in ihrem Antlitz offenbar wird? Haben Sie ihm beikommen können bei Gelegenheit dieser neuen Ehrung am 4. Juli, von der ich noch nichts wusste? Ist vielleicht der Kopf auf der vorderen Umschlagseite, so wunderbar auf dem blaugrauen Ingres gedruckt, aus dieser neuesten Zeit? Ist es gar ein Druck von dem Holzstock selbst? Alle übrigen Holzschnitte, die in dem Heft verkleinert abgebildet sind, sind gewiss längst vergriffen, wie das große Blatt mit dem in die Hand gestützten Kopf, das ich Ihrer großen Güte verdanke. … In alter Treue Ihre Heinrich u. Martha Becker Rutarhof, den 30. Dez. 65 Liebe, hochverehrte Beckers!

Im Dezember war es über mich gekommen, wozu mir die Meinen heftig zuredeten, eine große „Seh“-Reise anzutreten, deren Hauptziel die reichen Museen Hollands und Londons waren. Es tut so not und gut, zuweilen die Größe

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der Kunst unmittelbar zu spüren und auch die Zeit, denn so sehr ich mir meiner Bestimmung und Gegebenheiten bewusst bin, möchte ich doch nie in spannungsloser Selbstzufriedenheit versacken. Es war eine äußerst ergiebige Fahrt, die für mein Leben Ereignis bleiben wird und bis zuletzt habe ich geglaubt, auf der Heimfahrt an Ihre Tür klopfen zu können, aber dann ging es plötzlich allzu knapp auf Weihnachten und ich hatte auch rechte Scheu, zu dieser Zeit zu stören. Gedacht habe ich dauernd an Sie.

Mit daheim war ich nur zu meiner Beruhigung über den Völkermarkter Arzt-Schwiegersohn gelegentlich in telefonischer Verbindung – es geht meiner Frau zum Glück nicht schlechter und die Art und Haltung, wie sie ihren Zustand hinnimmt, ist bewundernswert. Nach wie vor sind Veit, der Bauer nun, und Annette, die jüngste Tochter, unermüdlich und unverdrossen fleißig und hilfreich. Das Weihnachtsfest haben wir besinnlich gefeiert wie nur je, in winterlichem Behagen und frischer Wiedersehnsfreude.

Nun muss ich einen Wust von Post und Erledigungen hinter mich bringen und möchte so gern bald wieder die Pinsel statt der damischen Schreibfeder in Händen halten. Es bleibt nicht ganz ungestraft, wenn man Weihnachtspost, Weihnachtspost und den Herrgott einen guten Mann sein lässt, derweil man sich in die schönsten Bilder der Welt verschaut.

336 KINDER, 1966

1966 „ Auf dem Hof wird es wohl auch etliche Veränderungen geben, denn Veit und Annetti denken beide ans Heiraten. Für den Künstler aber darf es kein Ausgedinge geben, es sei denn das letzte”, schreibt Werner Berg: „Etliche Male war ich zum Skizzieren fort, wie mir scheinen will, mit besonderem Erfolg. In der letzten Zeit haben es mir die Eisschützen angetan. Jenseits des Themas, der Anekdote, ergibt sich daraus eine beispielhafte Möglichkeit, Figuren und Figurenreihen auf der planen Fläche zu entwickeln, bei großen farbigen Spannungen, vom trüben bis zum klaren Wintertag.” Werner Berg ist in der Internationalen Ausstellung „Friede, Humanität und Freundschaft unter den Nationen” in Slovenj-Gradec prominent vertreten und wird anlässlich dieser Gelegenheit zum Ehrenbürger von Slovenj-Gradec ernannt. Die Berufung als Lehrer an die Internationale Sommerakademie in Salzburg lehnt er ab: „Wenn ich dennoch den Lehrauftrag nicht übernehmen kann, so wollen Sie in meiner Absage bitte keine Spur von Hochmut oder Verkennen erblicken, sondern überzeugt sein, dass meine Haltung tief in meiner Lebenssituation begründet ist. Seit 36 Jahren lebe und arbeite ich in der Einsamkeit des Rutarhofes, außerhalb dessen ich als Künstler den Atem verlöre, wie ein Fisch auf dem Trockenen.”

Heinrich Becker, Bielefeld, 16. 2. 66

Lieber Werner Berg, heute nur die kurze Nachricht, dass mir am 5. Februar der Kulturpreis der Stadt Bielefeld für 1966 verliehen und überreicht worden ist. Es war eine sehr schöne Feier, die in bester Form verlief. Es gab Musik, literarische Rezitationen und Ansprachen vor ein paar hundert geladenen Gästen im großen Saal des Stadttheaters. Beigelegter Text und Bild geben eine Vorstellung von dem Vorgang. Wir sind aber froh, dass alles vorüber ist und wir wieder zur Ruhe kommen. …

Heinrich Becker, Madrid, 27. 6. 66

Lieber Werner Berg, sehr wünschen wir Sie herbei, um mit uns zu staunen und zu bewundern; die großartige Stadtplanung und Architektur des modernen Madrid, das seine alten Stadtgrenzen weit hinter sich lässt, aber auch die unübersehbare Fülle der Kunstwerke in den Museen. …

337 1966

Rutarhof, den 23. September 66

Verehrtester Freund, lieber, lieber Dr. Heinrich Becker!

Das Heftchen der Volksbühne nehme ich zur Hand: ist es möglich, dass fünf Jahre wiederum vergangen sind, dass es nun schon Ihren 85. Geburtstag zu feiern gilt? Ich wünschte mir Engelszungen und Dichterwort und kann doch nur in mich hinein verstummen im Übermaß der Gefühle, die mich mächtig bewegen, sooft ich an Sie denke, der Sie unvergleichlich, unentwegt Beispiel und Beistand blieben über die Zeiten hinweg. …

Viele Heimsuchungen gab es in diesem Jahr für uns, von denen ich jetzt zu schweigen habe, aber auch zwei Hochzeiten, die, an sich erfreuliche Ereignisse, doch einschneidende Veränderung der Lebensverhältnisse bedeuteten. Dass ich trotz allem bei der Arbeit blieb, will mir wie ein Wunder erscheinen.

Heinrich Becker, Bielefeld, 9. Oktober 66 Lieber Werner Berg, bester treuester Freund, wie haben Sie mich und meine Frau beschenkt mit Ihren ganz herrlichen Blumen, so deutlich sprechend, als wären Sie in Person gekommen und lebendig unter uns, zusammen mit den vielen Gratulanten, aber der liebsten einer, dessen Gegenwart mir besonders lieb ist, erst recht an solchem Tage der eigenen Besinnung. Man wird ja nicht 85 ohne rückwärts und nach vorn zu blicken. Das Endstück des Weges liegt nun vor uns, auf dem rückschauend immer wieder Werner Berg vom Rutarhof, mit seiner aufragenden Gestalt auftaucht, seiner herrlichen Malerei, seinen unvergesslichen Holzschnitten, die wir so sehr lieben, und so gern unseren hiesigen Freunden zeigen, den vielen herzerfüllten Briefen, von denen nicht einer verloren gegangen ist. Wie gegenwärtig sind Sie uns samt Kindern und Enkeln. In dieser geistig gehüteten Gestalt werden Sie noch lange, lange fortleben. Dass Sie noch da sind mit uns, nah und lebendig wirkend! Wie es uns so schön bestätigt wurde von meiner Tochter Elise und meinem Schwiegersohn Bernd Eversmeyer, die das Glück hatten, Sie auf dem Rutarhof besuchen zu können. …

18. Dezember 1966

Liebe, innigst verehrte Beckers!

Ich habe eben eine etwas komplizierte Gallenoperation hinter mir und da meine Frau mit ihrem armen Herzen im Sommer das Gleiche zu überstehn

338 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

hatte, haben wir uns entschlossen, hier im bewährten Rogaška Slatina, nicht weit von uns in Slowenien, eine Kur zu machen. So leid es den Kindern tut, dass wir zu dieser Zeit das erste Mal nicht daheim sind, muss es diesmal doch sein, und danach möge alles eine Wendung zum Bessern nehmen. …

Ich bleibe in treuer Ergebenheit und steter Verehrung Ihr alter Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 28. 12. 66

Mein lieber Werner Berg, bester alter Freund, liebe Frau Berg, nach langer Zeit besorgten Wartens, in der wir ohne Nachricht von Ihnen waren, erhielten wir nun in den Weihnachtstagen Ihren guten Brief aus Jugoslawien mit guter und schlimmer Kunde. Schlimm, Sie beide von gefahrvoller Krankheit ergriffen zu wissen – gut, Sie auf dem Weg zur Besserung und Genesung versprechender Kur, ganz weit von Ihrer kraftverzehrenden Arbeit auf dem Rutarhof, zu sehen. Ja, wir sehen Sie wirklich, leibhaft und herzlich vereint, hoffentlich von Regen und Schnee verschont, in milderer Luft, als die Heimat Ihnen zu bieten vermag. Solche Zeit der Rekonvaleszenz kann die sonst oft entbehrte Muse zu innerer Sammlung und auf Wesentliches bedachte Lebensbetrachtung bieten, die ja inmitten des Kräfte verzehrenden Alltags so leicht zu kurz kommt. Jetzt muss es für Sie beide gelten, seelisch stark zu werden und einen gehörigen Vorrat an Selbstvertrauen und geistigem Gleichgewicht für die Rückkehr zum Rutarhof zu sammeln. Sie können dort noch sehr viel Gutes tun, auch ohne täglich und stündlich Hand anzulegen. Dieses Bild der „Wartenden“, das Sie mir mit Ihrem Brief schickten, kann auch die Weisung nahelegen zu Geduld und Bereitschaft zur Innenschau, und damit Wege öffnen zu gesegnetem Erdenleben und gläubiger Gottesschau. Wir haben etwas davon erfahren auf unserem Flug nach Madrid im Juni dieses Jahres, bestärkt auf dem Rückflug, die beide mit 800 Stundenkilometer 10 ½ km hoch über die Erde emportrug, in den unendlichen Himmelsraum weit über den höchsten Wolken, denen wir unerreichbar entrückt waren. Aus der Leben gebenden Erdatmosphäre emporgetragen in den ewigen Raum, wo es keine Wolken mehr gibt, keine Vegetation, nicht Mensch und Tier. Beim Niedergehen auf den Madrider Flughafen erkannten wir die Folgen eines heftigen Gewitters, das kurz vor unserer Ankunft weit unter uns niedergegangen war. Wir waren der Erde zurückgegeben. Wir gehörten, selbst Wartende, zu unseren wartenden Kindern am Ausgang des Flughafens. Es war das große Ereignis dieses Jahres für uns, und unverloren ...

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1967 Die Stadt Bleiburg beschließt auf Anregung des Lebzelters Gottfried ein freigewordenes Haus am Hauptplatz für die Errichtung einer städtischen Werner-Berg-Galerie zur Verfügung zu stellen. Werner Berg trifft dafür eine repräsentative Auswahl aus seinem Lebenswerk. Vorerst wird ein zweijähriger Probebetrieb vereinbart.

Rutarhof, den 19. Jänner 67

Geliebte, verehrte Herr und Frau Dr. Becker!

Ihr Brief ging mir nah wie nur je einer, es war erst recht wie der Auftakt zu neuem Ausschreiten im neuen Jahr, und mit diesem stärkenden Auftrieb habe ich mich bald wieder an die Arbeit gemacht und hoffe so sehr, nicht mehr herausgerissen zu werden und so auch alles Schwere zu überwinden. Leider nur wollen die Schatten nicht weichen, so gut sich auch sonst das Jahr anließ. Die drei Enkelkinder vom Jahrgang 66 gedeihen prächtig, die Kinder bemühen sich mit viel aufmerksamem Fleiß und Bedacht, neue Kunst-

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freunde treten auf und von den alten, von denen Sie für immer die ältesten und besten bleiben, kommen manche schöne Zurufe. Von allem habe ich mir die Anfangs- und Endzeile des Gedichtes, das Walter Bauer fürs neue Jahr aus Kanada schickte, mit großen Lettern ins Herz und ins Hirn geschrieben: „Sich verbieten, unglücklich und bitter zu sein.“ Die gute, scharfe Luft des tiefen Winters, der noch immer meine beste Zeit war und der Anblick des einfachen Volkes, unter dem ich mich bei manchen köstlichen Gelegenheiten eifrig skizzierend herumtreibe, erfrischen mich stets aufs neue und machen sovieles Kunstgescheiteln zunichte.

Herrlich muss Ihr Spanienflug gewesen sein, aus Ihrem Bericht spricht Ihre ganze unverbrauchte Empfänglichkeit und Hingerissenheit. …

Nun geht es wieder an die Staffelei und weiter ins Jahr, mit Gott und mit Ihnen, und der möge es noch lange so fügen!

Stets Ihr Getreuester, Ihr alter Werner Berg

PS. Ich muss doch noch hinzufügen, dass mir die Kur sehr gut getan hat. Ich bin wieder bei fester Gesundheit, es geht auch – besser als geahnt – ohne Fett und ohne Alkohol, und ich spüre einen Vorrat neuer Kraft, den ich sehr brauchen werde und nutzen will. Leider nur wird sich die Anfälligkeit meiner Frau nie mehr recht beheben, in der steten Sorge um Klara schon gar nicht.

Rutarhof, den 19. Dezember 67

Liebe, innigst verehrte Beckers!

Bitte verzeihen Sie mir die Schreibkargheit! Eben komme ich von einer Fahrt ins Burgenland zurück, wo sich meine Frau einer dringlich notwendigen Herzkur unterzieht, von der wir uns eine Festigung ihres Herzzustandes erhoffen. Sie ist sehr mitgenommen, zumal es mit unserer armen Klara noch immer nicht wieder bergauf gehen will. Trotz aller Bedrängnis habe ich gearbeitet und die Enkel wachsen heran und gedeihen, während Veit, der Bauer nun und Hausvater, mit Fleiß und Umsicht wirtschaftet.

Für zwei Sendungen habe ich immer noch von Herzen zu danken, wahrhaft ergreifend ist die Veröffentlichung über Ihren Briefwechsel mit K. Kollwitz, Ihre unentwegte Treue der Kunst und dem Künstler gegenüber mahnt die Heutigen eindringlichst zu ernstester Besinnung. …

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1968 „Inzwischen ist in Bleiburg an der Errichtung der W.B.-Galerie zügig gearbeitet worden, es wird dort etwas recht Besonderes entstehen. Nur bringt es auch viel Unruhe und Zerreißendes mit sich, und das Wagnis ist groß. Leider ruht jetzt meine Arbeit, doch ist immerhin einiges Neues entstanden, das mich hoffen lässt, doch noch einmal etwas Anständiges zuwege bringen zu dürfen. Es klingt so pathetisch und ist doch so: mit der künstlerischen Arbeit ist es ein Kampf um Leben und Tod, tagtäglich.” Am 20. Mai wird die Werner-Berg-Galerie der Stadt Bleiburg durch Landeshauptmann Hans Sima feierlich eröffnet.

Im September zieht sich Berg einen Kreuzbandriss zu und muss vier Wochen ins Krankenhaus. „Vorm Heimkommen fürchte ich mich geradezu, – eben war ich dabei wieder zu gesammelter Arbeit zu kommen. Und alles ist so anders im Rutarhof Leben”, schreibt Werner Berg an Maria Schuler.

DORFRAND IM WINETR, 1968 342

Heinrich Becker, Bielefeld, 28. 5. 68

Lieber Werner Berg, wie gern wären wir unter den vielen Besuchern Ihrer Ausstellung, die auch für uns neben manchem Bekannten viel Neues darbietet. Aber wie sollten wir in unserm fortgeschrittenen Alter die weite Reise überstehen. Ob Sie nicht wie früher noch einmal wieder nach Deutschland kommen und uns besuchen, so dass wir noch einmal in Ihre Augen sehen können, in denen sich ein so weites Stück Welt spiegelt? …

Seien Sie und der ganze Rutarhof sehr herzlich gegrüßt von Ihren alten Heinrich u. Martha Becker

Rutarhof, den 10. Juni 1968

Geliebte Beckers!

Wie sollte ich Ihnen nur je danken können für den gütigschönen Zuruf, mit dem Sie mich beglücken! … Nur liegt so viel Schweres auf den Lebenstagen, dass ich lieber schweige.

Die Galerie in Bleiburg aber, die durchaus als etwas gedacht ist, was mich überdauern soll, ist wirklich eine schöne Sache geworden, Jammer genug, dass ich Ihnen das nicht zeigen kann. Mit einer kaum fassbaren inneren Logik schließt sich da ein Kreis, mir muss das nachgerade schon wie jenseits von mir selber erscheinen. …

Meine Frau, arg mitgenommen, ist zurzeit in Wien bei unserer Ursi, Tochter Klara leider wieder im Krankenhaus.

Rutarhof, den 15. Dezember 68

Geliebte und verehrte Beckers!

Nach einem Jahr voller Unruhe und Bedrängnis, aber auch bedeutendem Erfolg mit der Bleiburger Galerie hatte ich das Pech, mir bei einem denkbar dummen Sturz das linke Kreuzband zu zerreißen. Eine langwierige und schmerzliche Angelegenheit, sie wurde reichlich spät richtig erkannt und operiert. Meine Frau ist derzeit in Bad Tatzmannsdorf im Burgenland zu einer dringend notwendigen Herzkur. Nun hoffe ich einzig, im neuen Jahr neu vor der Staffelei stehen zu dürfen. …

343 1968

1969 „In der Tat habe ich mich wie ein Damischer ans Malen gehalten, und das Ergebnis, an die 20 Bilder, wenn auch meist kleineren und mittleren Formates, will mir gar nicht übel erscheinen. Nur mit den Pinseln in der Hand erliege ich nicht der Verkümmerung, und jetzt, da notwendig eine vorösterliche Pause mit vielen Erledigungen eingetreten ist, komme ich mir fast schon wieder wie ein Fisch auf dem Trockenen vor. ... Die Bleiburger Galerie wird also im Mai wieder eröffnet, fürs zweite vereinbarte Probejahr mit einer ganz neuen Hängung, die ich ursprünglich nicht im Sinn hatte. Ich kann nun, wenn ich alles arrangiert habe, nicht mehr so viel von mir selbst investieren wie im Vorjahre, habe auch nicht mehr die Freude und den Elan dazu und vermisse doch schmerzlich, nachdem alles so über jedes Erwarten gut geklappt hat, die geistige Gegenkraft, die das Ganze hält.” Die Werner Berg Galerie in Bleiburg eröffnet mit einer neuen Hängung und Werner Berg wird Ehrenbürger von Bleiburg. Dennoch beschließt er das Unternehmen aufzugeben: „Die Galerie ist seit dem 5. November geschlossen und aufgegeben. ... So aber war auf die Dauer die Belastung, die Irritierung für mich unerträglich. Jenseits von Ressentiment und Empfindlichkeit, die jedenfalls in mir gründlich überwunden sind, habe ich in Anbetracht der unvorstellbaren Beschwertheit meiner Lebensumstände ökonomisch zu denken, wenn ich noch zu dem kommen will, wozu ich einzig verpflichtet bin: zur Arbeit. ‚Das Soziale’, eine Kategorie, die außerhalb des Künstlerischen liegt, praktiziere ich seit eh und je im Leben wie kaum ein zweiter in solcher Situation. Im Übrigen aber zitiere ich ausnahms- und keineswegs eingeschworenerweise aus den Minima Moralia: ‚Für den Intellektuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzige Gestalt, in der er Solidarität etwa noch zu beweisen vermag.’ Neben allen Erwägungen und Einwänden, die drum nicht unstichhaltig sind, gibt es etwas, das sich kaum in Worten begreiflich machen lässt: die Existenz einer daueretablierten Exhibition neben der notwendigen Abseitigkeit des Rutarhofes würde mit der Zeit einen nicht nur störenden, sondern zerstörenden Inneneingriff bedeuten. ‚Ich bin am Anfang, wo ich immer war.’"

344 WARTENDE, 1969

Rutarhof, den 19. Juni 1969

Lieber, lieber Herr Doktor Becker!

Keine Nachricht hat mich seit Jahren getroffen wie diese: Frau Martha Becker ist nicht mehr unter den Lebenden. Ich bin wie gelähmt und von Sinnen, wie muss erst Ihnen zumute sein!

Sie wissen wie sonst niemand, was der Beistand Ihrer Gattin durch Jahrzehnte der Gefährdung für mich bedeutete, welche Kraft zu jeder Zeit von dieser Frau voll Geistes- und Herzensgegenwart ausging. Flug und Freiheit waren ihr Wesen, ein Kärtchen nur, ein Postskript mit dem wehenden Duktus ihrer Schrift fegte allen Kleinkram von Bürgerfeigheit und Seelenenge hinweg.

Sie hat sehr leiden müssen, und ich wusste nichts, und bitter schmerzt es mich, dass ich sie so lange nicht sehen durfte. Ach, wie wenig wissen wir doch voneinander und wie grausam sind die Jahre, die späten! Oft und in diesem Augenblick mit Überdeutlichkeit denke ich an die erste Begegnung in der Detmolder Straße, seither war mein Leben so viel reicher. Innen wird sie mir immer nahe bleiben, bis zum letzten Atemzug werde ich ihren Zu- und Aufruf hören.

Lieber, verehrtester Herr Doktor Becker, mit den Meinen grüße ich Sie und die Ihren in zutiefst mitfühlender, verehrender Freundschaft und wünsche Ihnen jegliche Kraft des Herzens. In Treue, Verehrung und unaussprechlicher Dankbarkeit bleibe ich

Ihr alter Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 25. 8. 69

Lieber Werner Berg, bester Freund, längst hätte ich auf Ihren guten Brief, den ich wieder und wieder gelesen habe, um mich in meiner Trauer aufzurichten, antworten müssen. Wie weit Sie auch räumlich von uns entfernt sind, Sie haben doch um die stille Größe und den inneren Reichtum dieser mir zugehörigen, wunderbaren Frau gewusst wie wenige. Wie Sie das gesagt haben, hat es mich tief ergriffen und bin Ihnen herzlich dankbar. Mir ist sie am Tage wie in den Träumen der Nacht ganz nahe geblieben. Alles, was ich tun kann und auch zu tun gewillt bin, ist ihr ähnlich zu werden und von ihr innerliche Weisung zu empfangen, was ich in ihrem Sinne zu tun habe.

Der Übergang in die rein geistige Existenz ist unter großen Schmerzen geschehen. Am Tage nach ihrem 80. Geburtstag, am 26. Mai, fanden wir sie krank im Bett liegen, ohne die Ursache Ihrer Schmerzen zu erkennen. Erst

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allmählich stellte sich heraus, dass sie an einer Virus-Darmgrippe litt, die damals hier sehr verbreitet war. Der geschwächte Blutkreislauf hat es nicht vermocht, dem heftigen Angriff Widerstand zu leisten, bis sie nach zwei leidvollen Wochen den letzten Atemzug tat. Ihrem Wunsch gemäß wurde sie eingeäschert und auf dem alten Johannisfriedhof der Stadt beigesetzt, da wo auch ich die letzte Ruhe finden werde.

Zum Geburtstag waren auch Kinder und Enkel gekommen, die dann aber Tag und Nacht am Bett ihrer Mutter wachten und sie bis zuletzt pflegten. Lydia, meine älteste Tochter war aus Madrid gekommen und der Abschied war schwer, wurde aber leichter gemacht durch die Aussicht, mich in Madrid bald wiederzusehen. So habe ich jetzt die Absicht, Mitte September für vier Wochen nach Madrid zu fliegen, um dort noch das jetzt einjährige Urenkelchen zu sehen. In Gedanken aber komme ich auch zu Ihnen, wie so oft zu zweien und nun allein.

Treulich Ihr Heinrich Becker

Badgastein, den 10. Dezember 69

Lieber, verehrtester Herr Dr. Becker!

Nie war mein Denken zu Ihnen hin intensiver als jetzt, nie mein Schweigen fataler. Als ich zu Allerheiligen-Allerseelen am Muttergrab stand, da waren dies Grab und das in Bielefeld für mich der Inbegriff all dessen, was der Mensch an Hoffen und Liebe in die Erde zu verschenken hat. Und dennoch werde ich den schützenden Geist immer über mir spüren.

Ich hatte mich zu einer Kur in Badgastein entschlossen, um mein operiertes Knie auszukurieren und neuen Stand zu gewinnen. Ich bade täglich in dem neuen, prächtigen Thermalfelsenbad, steige viel herum und atme tief die Bergluft. Das alles tut beste Wirkung, – nur kam eben Hiobspost, die mich niederschlägt: meine Frau musste in elendem Zustand ins Krankenhaus. Ich habe mich gleich auf die Bahn gesetzt und war gestern bei ihr in Klagenfurt. Für zwei Tage musste ich noch hierher zurück, noch weiß ich nicht, was werden wird.

Bitte verzeihen Sie die Kürze und Beschwertheit meiner Zeilen. Ich hoffe, die Spanienreise war gut und schön und nicht zu anstrengend für Sie.

In herzlichem Gedenken grüßt Sie zum Jahresausklang mit vielen guten Wünschen für Weihnachten und 1970

Ihr alter, getreuer Werner Berg

346 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Heinrich Becker, Bielefeld, 15. 12. 69

Lieber Werner Berg, guter alter Freund, sechs Monate liegen hinter mir, lang wie Jahre, schwer von Trauer und Sehnsucht, Schmerz, der nicht zu stillen ist. Das muss nun ausgehalten werden, bis auch mein Ende kommt. Aber ich brauchte diese Belehrung, um zu erfahren, was Sterben heißt. Sie ist über mich gekommen, ohne es zu wissen. Bis zu Marthas 80. Geburtstag gingen wir vertrauensvoll nebeneinander den gleichen Weg, ohne zu bemerken, dass er aufhörte und unendlicher Raum sich vor uns auftat. Vielleicht hat sie es früher gesehen, war aber schon zu schwach, um mich zu warnen. Ich lebe seitdem in zwei Räumen, der eine führt weglos in die Ewigkeit, ohne zu wissen, wo Anfang und Ende ist, der andere hält mich hier, irdisch gebunden, fest. In meinen Wohnräumen bin ich wie fremd, da fehlt der lebendige Wiederklang einer durch mehr als sechzig Jahre vertrauten und geliebten Stimme, die war so selbstverständlich und beglückend da wie die blühenden, duftenden Blumen draußen und drinnen. Ich muss nun noch viel lernen, bis ich wieder ins Gleichgewicht komme, wenn das überhaupt möglich ist.

Sie werden überrascht sein, lieber Freund, wenn in nächster Zeit ein dickes, schweres Buch bei Ihnen ankommt. Eigentlich eine Gelegenheitsarbeit, die ich noch zu Marthas Lebzeiten im April dieses Jahr übernahm und dessen Anfänge sie zustimmend begleitete. Denn dieser Peter August Böckstiegel hat uns seit 1919 bis zu seinem vorzeitigen Tod 1951 nahegestanden. Wie Sie aus dem Vorwort sehen, ist es also eine Gelegenheitsarbeit, die ich Ihnen da vorlege, die ungesucht auf mich zukam. Dieser Kurzberg, Seniorchef einer sehr großen graphischen Kunstanstalt hier in Bielefeld, ist ein seltener Fall von Altruismus. Er ist in früherer Zeit Schüler der hiesigen Kunstgewerbeschule gewesen, kannte Böckstiegel noch aus jener Zeit und freute sich an einigen schönen Arbeiten von ihm, die er im eigenen Haus behielt. So kamen wir schnell überein, als ich ihm zum 80. Geburtstag Böckstiegels dieses Buch vorschlug. Er hat nun an dem Ergebnis solche Freude, dass er ermutigt von seinen beiden Junioren Thomas und Kurzberg, den Plan erwägt, mit der Herausgabe von Kunstmonographien, wenn auch kleiner und gedrängter, fortzufahren. Da habe ich unter anderen auch Ihren Namen genannt und will ihn nächstens mit Ihrem Werk vertraut machen, soweit das mit den bei mir vorhandenen Arbeiten möglich ist.

Bei dieser Gelegenheit würde ich gern, wie ich schon früher einmal riet, ein zuverlässiges Verzeichnis aller ihrer graphischen Arbeiten herstellen, das

1969 347

man einem Werner Berg-Buch mitgeben könnte, ähnlich, wie in dem vorliegenden Böckstiegelbuch. Wenn Sie zustimmen, könnte das eine Aufgabe für 1970 oder 1971 werden, falls ich es noch erlebe und bei Kräften bleibe.

Nun kommt Weihnachten, und da soll dieser Brief Sie froh machen, Sie und Ihre liebe gütige Frau erfreuen, die der Himmel noch lange für Sie erhalten möge.

Treulich Ihr sehr alter Heinrich Becker

1970 Am 9. April stirbt Mauki Berg. „Die Herrin und Seele des Rutarhofs, die Kraft und Gegenkraft der künstlerischen Arbeit”. Nach ihrem Tod fühlt Werner Berg sich nicht mehr in der Lage zu malen. Er fährt im Mai erneut nach Überlingen: „Ich musste einfach jetzt weg vom Hof und habe hier eine heilsame Zuflucht fürs erste, ohne daran denken zu können, was werden soll. Oft möchte ich die Kunst verfluchen, die eine unheimliche Lebenskraft und -behauptung abfordert, die ich so viel besser in lauter Güte für die arme Leidende verwandelt hätte.” Heimgekehrt auf den Rutarhof schreibt er: „Mein erster Weg, noch bevor ich zum Hof ging, war zum Grab, dem nie, nie zu begreifenden. Der Empfang hier war dann doch weit besser, als ich befürchtet hatte, die Enkelkinder haben mich nicht lange zu Atem und Nachdenken kommen lassen, und besonders Veit hat mich jenseits aller Wortemacherei davon überzeugt, dass er an meine Loslösung nicht denkt. Noch weiß ich nicht,

348 DREI SCHREITENDE IM WINTER, 1970

was wird. Nur sieht es nun doch so aus, dass ich hierbleibe. Zaghaft und langsam ringt es sich in mir durch, woran ich eben noch überhaupt nicht denken konnte, dass ich im Sinne meiner Frau und der Kinder meine Arbeit nicht aufgeben darf. Es wird noch eine Zeit dauern, und ich hüte mich vor jedem Konzept.

Ich glaube nicht, dass ich noch je in das zurückfinden werde, was sich so ‚Leben’ nennt. Den ganzen Juni habe ich pausenlos beim Heuen und auf dem Acker mitgearbeitet, und das war gut. Wie ich nun aber wieder in meiner Behausung und Werkstatt hier oben bin, will mir das Meinige so sinn- und wesenlos erscheinen. Veit bemüht sich allerdings viel mehr, als ich erwartet hatte, darum, dass ich nicht aufgebe und mich loslöse.”

Rutarhof, 24. April 70

Liebster, bester Dr. Becker!

Immer habe ich Ihre Zeilen bei mir, denke zu jeder Stunde an Sie und bin doch, gelähmt und zerrüttet, zum Denken und Schreiben unfähig: am Morgen des 11. April haben wir meine Frau ins Tal zu Grabe getragen.

Ich bewundere und beneide Sie in Ihrer Güte und Weisheit, in ihrer Gehalten- und Geordnetheit. Wie brennend gern würde ich Ihre Mahnung befolgen und der Dulderin viel, viel mehr Liebes erweisen, als meine karge Armseligkeit hergab!

Mir schaudert vor dem Rest, doch nehme ich mir fest vor, von mir hören zu lassen, bevor es zu spät ist. In treuester Anhänglichkeit, Ihr alter Werner Berg

Klinik Dr. Otto Buchinger, Spezialinstitut für Heilfastenkuren, Überlingen 19. Mai 1970

Lieber, verehrtester Herr Dr. Becker!

Seit Tagen schon will ich Ihnen antworten, danken, und kann es doch nie, wie ich müsste und möchte. Die strenge Kur hier nimmt sehr her, dann wieder sitze ich wie gelähmt und verloren ob des Unfassbaren, und nicht zuletzt machen Schönheit, Güte und Größe Ihres Zuspruchs und Gedenkens es mir überschwer, etwas zu Papier zu bringen, das Ihrer (und ihrer) würdig wäre. Sie werden sich erinnern, dass ich schon in früheren Jahren mit spürbar guten Erfolgen hier war, ich habe dann alle Jahre ausgiebig und leicht daheim gefastet, aber diesmal musste ich unbedingt fort vom Hof, um die erste, böseste Zeit zu überstehen. Da haben mich unsere Kinder mit Nachdruck auf Überlingen verwiesen, und das war gut so, wenn ich auch noch gar nicht weiß, wie es danach weitergehen soll.

349 1970

20. Mai 1970 – (100. Geburtstag meiner Mutter)

Schwer lastet auf mir die Sorge um unsere zweitälteste Tochter Klara, das höchstbegabteste unserer Kinder, deren endogene Depression, oder wie man es nennen will, nie ganz zu heilen sein wird und die eben wieder in Behandlung ist. Auch ist der Geist auf dem Rutarhof bei allem unvorstellbarem Fleiß unseres Sohnes Veit ein anderer als in all den Jahren unseres Mühens und Strebens, das ist eine Verfremdung ganz anderer Art, als die Vokabel sie sonst meint, – ich fürchte mich nicht wenig davor.

Unlängst ist von einer überaus leistungsfähigen Kärntner Druckerei als Sondergabe der Druck eines Blumenbildes erschienen, der schwierig zu reproduzierende Farben ungemein gut wiedergibt. Ich möchte Ihnen den (vielleicht für die guten Eversmeyers, denen ich mich aufs schönste empfehlen lasse) aus bestimmten Gründen schicken. Es soll nämlich zum Jahresende ein Kalender mit 13 Farbabbildungen, ca. 43 cm im Quadrat groß, erscheinen, der schon vor Zeiten gemeinsam durchgesprochen war und zu dem meine Frau noch am vorletzten Tage einen bestimmten Wunsch geäußert hat. In diesen Tagen kam mir der Gedanke, diesen Kalender für alle, denen ich ihn zu Weihnachten zusende, mit einem Gedenkblatt für meine Frau zu verbinden, und zu dem Zwecke möchte ich Sie sehr herzlich bitten, mir im Frühherbst etwa die Zeichnung, von der Sie so schön schreiben, zur Reproduktion zu leihen. Man nähme sie dann wohl am besten aus dem Passepartout heraus und steckte sie in eine weite, starke Rolle, die ich leicht schicken kann.

So sehr bedaure ich auch jetzt, dass ich nie ein Foto von dem Bild bei Delius trotz aller Bitten bekam, es ist schon fast meinem Erinnern entfallen. Es wäre vielleicht auch sehr geeignet, ich würde es so gern nicht ganz entschwinden wissen.

Solches kleine Planen erfordert nun ein wenig Lebenskontinuität, an die ich absolut nicht mehr glauben konnte, aber ich kann mir nicht vorstellen, Leben und Arbeit mit dem notwendigen Atem noch je durchzustehen. Mit dem zerschlagenen Resonanzboden verlieren auch die Saiten ihre Spannung.

Ich mache Kur, strenge Kur, da vergehen die Tage und dämpfen die Erschütterung. So wie ein schwer Lungenkranker flach atmet, so denke ich flach, weil mir sonst der Schädel birst. Bitter wie ein Fluch ist mein Versagen im Mit- und Durchleiden.

Unendlichen Dank für Ihre immerwährende Freundschaft!

Treulich, herzlichst Ihr Werner Berg

350 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Klinik Dr. Otto Buchinger, Spezialinstitut für Heilfastenkuren, Überlingen 3. Juni 1970

Lieber, verehrtester Herr Dr. Becker!

Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihren langen, guten Brief, soviel Schreibmühe hätte ich Ihnen wirklich nicht machen dürfen und wollen, aber jedes Ihrer Worte dringt so wohltuend tief ein und löst diese furchtbare Erstarrung.

Morgen geht die Zeit hier zu Ende, im angestrengten Gleichmaß der Tage habe ich sie gut überstanden. Wie mir vor dieser Rückfahrt zumute ist, können Sie sich denken.

Eine der eindrucksvollsten Wieder-Begegnungen der letzten Zeit war mir übrigens Meyer-Amden, dessen Spuren ich schon immer verfolgte, und der mir neben Hodler oft wie David vor Goliath erscheinen will.

Gott befohlen, teuerster Freund und Helfer!

Immer Ihr dankbarst getreuer Werner Berg

Dank auch noch für die angreifend schöne Kollwitz-Karte! Es gibt menschliche Bezirke, vor denen jeder Ästhetizismus zu verstummen hat.

Rutarhof, 15. Juli 1970

Lieber, verehrtester Herr Dr. Becker!

Die Rolle kam wohlbehalten an, und später erst entdeckte ich, da ich fort gewesen war, Ihren Brief. Ich bin völlig überwältigt von der Größe Ihrer Gabe und Gesinnung und mache mir Vorwürfe, dass ich das durch meine Leih-Bitte verursacht habe.

In den Wochen, die ich wieder hier bin, habe ich zunächst von früh bis spät auf dem Feld mitgearbeitet, und das hat mich etwas über das unfassbar Unerträgliche hinweggebracht. Jetzt, da ich allmählich ins Meinige zurückkehren sollte, spüre ich täglich mehr, wie ich gegen Leere und Dunkel nicht ankomme. Da ist mir gerade diese Ihre Zeichnung ein Beistand sondergleichen. Könnte ich nur je Ihrer Lauterkeit und Ungebrochenheit nacheifern!

Ich ergreife Ihre mir dargebotenen Hände in Ehrfurcht und tiefer, tiefster Dankbarkeit Ihr getreuester Werner Berg

1970 351

Rutarhof, 6. Oktober 70

Lieber, verehrtester Herr Dr. Becker!

Ich bin noch immer wie gelähmt und warte vergeblich auf den Augenblick, der mir wieder ein wenig Lebensbasis gäbe.

Gestern habe ich mich aufgerafft und alles zusammengenommen, um ein Gedenkwort für meine Frau zu schreiben, das zum Jahresende mit einer Reproduktion jener Zeichnung, die Sie mir mit solcher Generosität anvertraut haben, verschickt werden soll, und zwar in Verbindung mit einem großen Kalender, der 13 hervorragend gelungene Farbreproduktionen meiner Bilder bringen wird. Gern würde ich den allen senden, mit denen ich je verbunden war, und wäre Ihnen allenfalls für die Angabe von Anschriften dankbar.

Dies nur für heute. Ich bin und bleibe in Verehrung und Dankbarkeit immer Ihr getreuer Werner Berg

Heinrich Becker, Bielefeld, 4. 12. 70

Lieber Werner Berg,

Ihr Brief vom 6. Oktober liegt seit langen Wochen auf meinem Schreibtisch, immer noch unbeantwortet und unbedankt. Warum? Bis Ende Oktober war ich gehüteter Gast in Madrid, und wenn die Rückflugkarte nicht befristet wäre, wer weiß, wäre ich noch immer Gast meiner geliebten Itta und ihrer Familie, die mich regelrecht verhätschelt hat, so dass ich manchmal noch sehnsuchtsvoll am Himmel nach Südwesten schaue. Ich weiß auch, das Gleiche tun alle Meinigen in umgekehrter Richtung. Bei meiner Heimkehr fand ich einen wahren Berg von Postsendungen vor, mit denen ich Zeit brauchte, ins Reine zu kommen: Ihr Brief blieb lange Zeit mahnend aber auch begütigend vor mir. Eigentlich sind Sie keinen Tag vergessen.

Nun aber kam vor kurzem Ihr Bildkalender hier an, so dass ich nun den Dank nicht länger schuldig bleiben kann. Die farbigen Wiedergaben sind ganz ausgezeichnet, aber sie wecken doch den Wunsch, die Originale selbst zu sehen. Daher gebe ich mir auch Mühe, die Abbildungen in die reale Bildgestaltung zurückzuübersetzen. Und dann sehe ich deutlich, wie schön sie sein müssen und wie sie so vieles, was heute als Kunst gezeigt und angepriesen wird, hinter sich lassen.

Was mich in den letzten Wochen sehr belästigt, sind heftige Beschwerden am linken Fuß, so dass ich vor einigen Tagen zu einem radikalen chirurgischen Eingriff geschritten bin und gezwungen bin, etwas hilflos in der Woh-

352 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

nung herumzuhumpeln und nun darauf warte, wieder anständig auf zwei Beinen zu gehen. Die Sache hält mich sehr auf in einem eingehenden Bericht über die Geschichte unseres Kunsthauses, den in der Tat kein anderer zuverlässig schreiben kann. Und bei meinem Alter bleibt mir nicht viel Zeit übrig, um damit fertig zu werden.

Die Nachricht, dass Sie vorhaben, ein Lebensbild Ihrer geliebten Frau zu schreiben, die auch wir hier in der Ferne geliebt und bewundert haben, ist mir sehr nahe gegangen. Ich habe gleichen Sinnes die französisch geschriebenen Briefe meiner Frau an mich, um sie auch für unsere Nachkommen gut lesbar zu machen, wohlgeordnet ins Reine geschrieben und noch während meines letzten Aufenthalts in Madrid, zwei eingehende Tagebuch-Aufzeichnungen von ihren beiden großen Spanienreisen, die sie ohne mich gemacht hat. Da darin auch manche Stellen in spanischer Sprache, die sie gut konnte, vorkamen, war mir Ittas Hilfe sehr wertvoll, ja durchaus nötig. So haben wir nun für die Nachkommenden ein lebendiges Bild ihres Denkens und Tuns gewonnen.

Sie sollten auch bald mit einem zuverlässigen Werksverzeichnis beginnen, das für die Freunde Ihrer Holzschnitte wertvoll wäre. Das Leben geht ja so schnell dahin, dass man immer in Gefahr ist, etwas Wichtiges zu versäumen.

In alter Treue Ihr Heinrich Becker

1971 Immer wieder plagen Werner Berg Zweifel, ob er überhaupt am Rutarhof weiterarbeiten könne. So schreibt er im Jänner: „Selbst war ich freilich die ganze Zeit in der Rolle eines Vertrieben-Getriebenen, der keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Weniger denn je weiß ich, wie das hier für mich weitergehen soll.”

Für die neuerbaute Moderne Galerie in Slovenj-Gradec stellt er die bisher umfangreichste Retro-. spektive seiner Arbeiten zusammen. Angeregt durch seine Tochter Ursula beginnt Werner Berg im Sommer wieder zu malen.

„Der volle Klang wird nun ewig fehlen, – wenn's nur nicht ganz leer ausginge. Ich hatte eine unsagbar dunkle und bittere Zeit, aber glauben Sie nur nicht, dass es einen Sinn hätte, wenn wir das Letzte, dem wir unerbittlich entgegengehen, vorwegnehmen.“

1971 353

Verehrtester, gütigster Freund!

Rutarhof, den 13. Jänner 71

Über Weihnachten, Neujahr war ich fort vom Hof, auf dem ich kaum noch zu Hause bin, es waren bittere Tage. Gleich nach meiner Rückkehr vorgestern musste ich unsere Klara wieder ins Spital bringen.

Ihr Rat tut mir so not und gut, doch ich komme zu keiner Fassung mehr. An mir selbst liegt mir unbeschreiblich wenig, doch hätte ich noch einiges tun müssen und können.

An eine Neuauflage des Holzschnittbuches ist aus verschiedenen Gründen nicht gedacht, wohl aber will der Verlag auf Grund der Kalender-Reproduktionen, zu denen er vielerlei hinzufügen würde, ein Buch machen. Noch kann ich mich mit dem Gedanken nicht recht befreunden, insbesondere fehlt auch der Schreiber. Leider habe ich von Wieland Schmied nichts gehört und muss annehmen, dass es auch bei ihm mit dem Versand nicht geklappt hat.

Jetzt erst kommen meine Wünsche, die inständigsten, für Ihren armen, wehen Fuß und für Ihr Wohlergehen. „Der Rest bleibt ungesagt“, – wie sollte auch je auszudrücken sein, was an Dankbarkeit, Verehrung, Liebe und Treue erfüllt und durchströmt Ihren alten W. B.

RADFAHRERIN, 1971 354

Heinrich Becker, Bielefeld, 19. 1. 71

Lieber Werner Berg, gestern ist Ihr Gedenkblatt für Ihre auch von uns geliebte und verehrte Frau Mauki Berg, wie sie sich selbst in den Briefen nannte, die wir von ihr erhielten und mit allen Ihrigen Briefen aufbewahren, angekommen. Wir wohnen und wirken so weit voneinander und verdanken doch Ihnen beiden so viel Herzensnähe, die unser, Marthas und mein Leben so reich gemacht hat. Unser Dank hat nie aufgehört und ist nun erst recht groß.

Schade, dass ich nicht auf eine neue Auflage des Holzschnittbuches rechnen kann. Was jetzt noch für alle Zukunft nötig ist, bleibt das von mir wiederholt vorgeschlagene Verzeichnis Ihrer Holzschnitte in der Reihenfolge Ihrer Entstehung, in der Art, wie ich früher die Graphik Sterls und Böckstiegels bearbeitet habe. Das Böckstiegel-Werkverzeichnis schicke ich Ihnen noch einmal. Es lässt sich natürlich auch eingehender machen, wie es für Liebermann, Slevogt, Corinth, Munch, Nolde, Kirchner, Kollwitz und andere geschehen ist. Wenn es Heimo Kuchling machen kann, sehr gut, auf meine Mithilfe könnten Sie immer auch rechnen, soweit sie nötig oder erwünscht ist.

Schreiben Sie mir doch auch, woran Ihre Tochter Klara leidet, die Sie in Ihrem letzten Brief erwähnen. Hoffentlich ist eine gute und anhaltende Genesung zu erwarten. …

Treulich Ihr alter Heinrich Becker

Rutarhof, den 2. Juli 71

Lieber, sehr verehrter Herr Dr. Becker!

Von einer Überlingen Fastenkur komme ich zurück und hoffe nun, noch einmal etwas Stand zu gewinnen. Oft und oft gingen und gehen die Gedanken zu Ihnen, vor mir steht Ihre schöne Karte aus Madrid, das Ihnen so viel reiches Erleben bot. Möge Ihnen diese bewundernswerte Spannkraft nie verloren gehen!

Einen Katalog sandte ich Ihnen, der zuvor nicht in Gegenkorrektur mit mir entstanden ist und dadurch Fehler aufweist, im Ganzen aber doch eine beachtenswerte Leistung der slowenischen Kunstfreunde ist. Die Ausstellung in Slovenj Gradec (einst Windischgraz, die Heimat Hugo Wolfs) ist die größte und geschlossenste, die ich je haben werde oder gehabt habe und wird sehr beachtet und besucht. Jammerschade, dass es so weit weg ist. Dauer bis 20. August.

Ihr alter, treuergebener Werner Berg

1971 355

Heinrich Becker, Bielefeld, 14. 9. 71

Lieber Werner Berg, nach längerer Pause komme ich wieder zu Ihnen, zunächst um zu wissen, wie es Ihnen geht und wie Sie mit Ihrem Kummer fertig werden. Tätigkeit, meine ich, hilft uns am besten weiter, solange es noch geht.

Deshalb komme ich heute mit einer Anfrage zu Ihnen. Unser Kunstverein hat, dem Beispiel anderer Städte folgend, angefangen seinen Mitgliedern hier graphische Blätter als bezahlte Jahresgaben anzubieten. Daher komme ich gern zu Ihnen mit der Frage, ob Sie geneigt sind mit einem Ihrer Holzschnitte mitzuwirken für 1972. Wir übernehmen von den mitwirkenden Künstlern je ein Werk in 50 Exemplaren und bieten für die signierten Drucke 2000 bis 2500 DM. Wenn Sie uns mehrere Blätter zur Wahl vorschlagen würden, die in dem Holzschnittbuch von Heimo Kuchling abgebildet sind, brauchten Sie keine Originale zur Auswahl zu schicken.

Mir scheint es gut und richtig, mit besonders guten Blättern mitzumachen, neben den vorwiegend abstrakt arbeitenden andern Künstlern. Ich denke etwa an folgende Blätter:

Taubstummer, Auf dem Wagen, Davonschreitende, Kleinstadt-Winterabend Dorf - oder an die älteren Blätter, die hier bei mir sind. Falls andere Vorschläge in Frage kommen, müssten Sie Probeexemplare schicken, soweit sie nicht in meinem Besitz sind. Fraglich ist ja, ob Sie über die Stöcke noch verfügen und ob sie weitere Drucke aushalten. Auf jeden Fall würde ich mich freuen, wenn Sie bei uns aufs Neue gut vertreten wären. Schreiben Sie mir bitte offen, wie Sie über meinen Vorschlag denken und ob er überhaupt ausführbar ist.

Von mir kann ich noch hinzufügen, dass ich im Juni von meiner Spanien-Reise mit einer Venenentzündung des rechten Beines zurückgekommen bin, über die ich nach längerer ärztlicher Behandlung anfange, Herr zu werden. Bandscheibenbeschwerden kommen hinzu, sodass ich weniger gut und mühevoll im Gehen geworden bin, alles dem Alter entsprechend. Mit gutem Gedenken und Wünschen komme ich immer wieder gern zu Ihnen und grüße Sie herzlich.

Ihr altergebener Heinrich Becker

356 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS

Hoch und herzlichst verehrter Herr Dr. Becker!

Badgastein, 8. Dezember 71

Ihren gütigen, übergütigen Brief, in dem Sie für meinen Besuch in Bielefeld danken – wo doch ich nur zu danken hätte und wie und nie genug! – habe ich nicht bei mir, wohl aber den Gruß, mit dem Sie das erinnerungsmächtige Foto sandten. Wie mich das alles anrührt und bewegt, mögen Sie ahnen. Diese Aufnahme zu machen war ein sehr guter Gedanke und eine liebe Tat vom Böckstiegel-Sohn, dem ich sehr dankbar dafür bin. Ich kann Sie nicht genug anschauen in Ihrem ganz und gar gegenwärtigen und einzigartigen Wesen, doch mit einigem Grausen sehe ich meine Augen daneben, die sonst nicht so erloschen sind – ich war eben übernächtigt und überwältigt zugleich.

Inzwischen habe ich, was gut und nottat, wieder drei Wochen gefastet, diesmal daheim, anschließend bin ich für 10 Tage hierher nach Badgastein gefahren, das zu dieser Zeit ganz verlassen und in höchstem Maße erholsam ist. Ich gehe täglich in das grandiose Felsenbad, schreite fest aus in der scharfen Bergluft und in den Nächten erledige ich etliche Schreiberei, die sich fürchterlich angesammelt hat. Das Schreiben habe ich verlernt, weil ich immer mehr zum Verstummen verurteilt bin, weil Geist, Klang und Erinnern aus dem Rutarhofleben gewichen sind, das einst so reich und voll steter geistiger Spannung war. Ich muss es lernen, mich auf ein Minimum einzurichten, Fremder fürder im einst Eigensten.

Auch hier sind die Erinnerungen übermächtig! Vor zwei Jahren war ich in Badgastein mit allem Eifer und Erfolg dabei, neue Kraft zu schöpfen und neuen Schritt zu fassen, – während es mit meiner Frau immer ärger bergab ging.

Inzwischen ist immerhin wieder gemalt worden, und im neuen Jahr möchte ich mich, so es mir vergönnt ist, mit aller Intensität an die Arbeit machen. Es ist in ihrem Geist, sie fordert es von mir.

Dank Ihrer Münchner Enkelin habe ich nun Ihrer beider wunderschönes Bild vom achtzigsten Geburtstag in meiner Stube ständig vor Augen als Aufruf und Zuruf und in den dunkelsten Stunden als Erhellung im Gedanken an die Begegnung mit Ihnen beiden, durch die meine Existenz so unermesslich bereichert und gestärkt wurde. „Unaussprechlich“, „unsagbar“, das schreibt man so dahin, aber damals war ich auch keines Schreibewortes fähig, drum musste ich mich auf die Bahn setzen. Dann aber habe ich mich meiner Armseligkeit geschämt, darf aber doch wissen, dass Sie trotz Kargheit und Unzulänglichkeit den Herzschlag gespürt haben. Ich sage meine inständig besten Wünsche für die und für alle kommende Zeit. Usque ad finem Ihr Werner Berg

1971 357

1972 Die Werner Berg Galerie wird nach zwei Jahren der Schließung erweitert und mit der endgültigen Hängung wiedereröffnet. Das Haus selbst ist für diesen Zweck großzügig umgestaltet worden.

Erich Kuby schreibt im Dezember, bestürzt über einen Brief Werner Bergs aus Bad Gastein: „Die Gleichung Rutarhof ist durch viele schwere, auch ökonomisch schwere Jahre nur durch Ihre Frau aufgegangen. Ich glaube nicht, dass diese Feststellung Ihnen unrecht tut. Sozusagen von vorne betrachtet, das Produktive in jederlei Gestalt ist Ihr Werk. Aber es hätte nicht funktioniert ohne Ihre Frau. Und jetzt funktioniert es eben nicht mehr, und ich glaube, das müssen Sie erkennen, ohne jemanden zu beschuldigen. Ich glaube nicht, dass Sie die Dinge lassen dürfen, wie sie sind. Der Hof ist eine Realität, da wo er steht, damit die Existenz Veits und seiner Familie. Der Bewegliche sind Sie, der relativ Bewegliche. ‚Ich kann nicht weg’, sagen Sie, und selbstverständlich können Sie nicht weg. Ganz weg. Aber Sie können ein paar hundert Meter weg ... Von wo sie nicht wegkönnen, das ist doch nicht das Haus sondern der Platz, die Landschaft; die Dinge wie sie sind, treiben auf irgendeine Weise zu einer Katastrophe hin - das sollte jemand wie Sie nicht zulassen. Gerade weil diese, ich möchte sagen raffinierte Verletzbarkeit Ihres künstlerischen Wesens bestimmende Eigenschaft ist, so dass Sie also vom Rheinland aus (!) einerseits diesen wahrhaft königlichen Lebenssitz gefunden haben, wo Ihnen von außen her nichts auf die Pelle rücken konnte, was Ihnen nicht genehm war; wo Sie zudem, in eine unerhörte Landschaft eingegossen als Objekte Ihrer Darstellung die Windischen fanden, perfekte menschliche Chiffren für das schutzlose Ausgeliefert-Sein an dunkle Mächte (obwohl, in Wahrheit, sie alle miteinander im subjektiven Befund nicht halb so verletzbar sind wie Sie – aber das sind eben die großen schöpferischen Tricks künstlerischer Umsetzung!) ... gerade weil nichts von dem stimmt, was Sie auf den ersten Blick zu vermitteln scheinen – dürfen Sie es nicht dabei belassen, dass Sie verheddert bleiben in eine Situation, an der niemand schuld ist.”

Kurz vor seinem 91. Geburtstag, am 26. September 1972, stirbt Heinrich Becker

RUTARHOF-72, 1972 358

Heinrich Becker, Bielefeld, 7. 5. 72

Lieber Werner Berg, bester Freund, wenn ich noch Kräfte hätte wie Sie, säße ich nicht hier einsam an meinem Tisch, sehnsüchtig an den Rutarhof denkend, sondern machte mich, Ihrem Beispiel vom 27. September vorigen Jahres folgend, zur rechten Zeit auf den Weg, um in dieser Stunde mit Ihnen und Ihren Freunden in Bleiburg bei der Neueröffnung der Werner Berg-Galerie vereint zu sein. Ich habe deshalb gestern oder vorgestern an den Bürgermeister Siegfried Kristan in Bleiburg geschrieben, um mich geistig anwesend zu zeigen. Ihnen brauche ich das nicht besonders betont zu sagen. Mit vielen Werken Ihrer Hand sind Sie fortwirkend bei mir und allen Meinigen bis nach Madrid gegenwärtig und werden es bleiben, auch wenn ich in Person nicht mehr dabei bin. Mit dem einen oder anderen Werk Ihrer Hand sind Sie dort schon lange ständiger Gast.

Beim Sterben meiner Frau haben Sie mir so hilfreich bekennend geschrieben wie nur wenige andere, so dass auch sie stiller Gast auf dem Rutarhof bleibt. Von Ihrer lieben Frau habe ich ihr schönes Bild mit dem ersten Kind immer nahe und erinnerungsbereit. Auch die Briefe, die sie uns in Zeiten Ihrer Abwesenheit geschrieben hat, sind mir noch immer schönste Zeugnisse Ihrer beider Freundschaft. Ich bin nur einmal, während des letzten Krieges, auf dem Rutarhof gewesen, es hat aber genügt, um auch sie und alle Ihre Kinder nicht mehr aus dem Gedächtnis zu verlieren.

Das Wichtigste, das Ihren Bleiburger Freunden nunmehr zu schaffen bleibt, ist zunächst das vollständige Verzeichnis der dort verwahrten Werke mit allen sachlich und zeitlich wichtigen Angaben. Das längst notwendige Verzeichnis des gesamten Holzschnittwerkes braucht nun gewiss nicht lange mehr auf sich warten zu lassen. Ich habe noch Erinnerung, in alter Zeit einmal bei Gauss in München, der nun schon verstorben ist, ganz frühe Holzschnitte von Ihnen gesehen zu haben, die mir nie wieder begegnet sind. Die 18 Holzschnitte, die ich dank Ihrer großen Güte hier habe, die wenigen, die ich früher für die graphische Sammlung unseres Städtischen Kunsthauses erwarb, reichen ja nicht aus, um sich den Reichtum dieses Schaffensbereiches zu vergegenwärtigen.

Auch eine erweiterte Auflage des Holzschnittbuches von Heimo Kuchling ist ein alter Wunsch. Notwendig ist jetzt, nicht nur für Bleiburg, alle wichtigen Lebensdaten zusammenzustellen. Ich weiß nicht einmal Ihr genaues Geburtsdatum, mir fehlen auch die wichtigsten Daten für Ihre künstlerische Entwicklung, Begegnungen mit anderen Künstlern. Werner Scholz in Berlin verdanke ich vor 40 Jahren den Hinweis auf Ihre Arbeiten. Nolde, Munch und

1972 359

wer noch begegnete Ihnen auf Ihren Wegen. Wo sind Werke von Ihnen in öffentlichem Besitz? Alle bibliographischen Angaben würden genau verzeichnet werden. Alles, was Sie mir je an Gedrucktem geschickt haben, habe ich sorgfältig aufbewahrt. Auch keiner Ihrer Briefe, die ich je erhielt, ist verloren gegangen. Was jetzt für Bleiburg notwendig wird, ist es längst für alle Liebhaber Ihrer Arbeit. Alles Nötige müssen Sie selbst leisten. Denken Sie auch an Kubin, an Christine Lavant, Helmut Scharf und andere, von denen ich nicht weiß. Sie sind jetzt in dem Alter, wo Bekenntnis sinnvoll wird, warten Sie damit nicht länger! Aber zunächst die wichtigsten Lebens- und Schaffensdaten, darauf warte ich. Wie lange ich das noch kann, ist bei meinem Alter ungewiss – deshalb dies alles – aber auch sehr dringlich. – Mit gleicher Post schicke ich Ihnen noch Fotos von Ihrem Besuch September vorigen Jahres, die Ihnen längst zugedacht sind.

Den ganzen Rutarhof und denen, die ihn inzwischen verlassen haben, gelten meine Grüße, Ihnen selbst aber besonders herzlich wie je!

Treulich Ihr alter Heinrich Becker

Rutarhof, den 11. Mai 72 Lieber, hoch und herzlichst verehrter Herr Dr. Becker!

Eine Riesenfreude haben sie mir mit der Übersendung der Fotos gemacht, mit denen Herr Böckstiegel ein wahres Meisterstück vollbracht hat. Ich werde sie nun immer vor Augen haben zur Erinnerung an unser Begegnen und Wiederbegegnen, das kostbarste Geschenk und Ereignis meines Künstlerlebens.

Auch dafür gilt die Überschrift des beiliegenden Aufsatzes: „Der Kreis schließt sich“. Am vergangenen Sonntag wurde die neu errichtete, vergrößerte W.B.-Galerie der Stadt Bleiburg mit ziemlichem Rummel, der ja nie meine Sache war, eröffnet. Alles präsentiert sich wunderschön und soll nun „für immer“ bleiben. An einer der schönsten Stellen dieser Galerie hängt nun „Ihre“ Zeichnung, unter der auf einem gravierten Messingschildchen auf Ihre generöse Stiftung zum Andenken meiner Frau verwiesen ist.

Übermorgen fahre ich zur Fastenkur nach Überlingen, die mich auch diesmal in neuen Stand versetzen möge. Ich hab’s notwendig nach drei Monaten intensivster Malerei und den darauffolgenden Vorbereitungen für die Galerie.

Für heute nur dies und die innigst ergebenen Grüße

Ihres getreuesten Werner Berg

360 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS
361 WINTERMORGEN, 1973

1973 Kristian Sotriffer veröffentlicht den Werkkatalog der Holzschnitte. Ein umfangreicher Katalog zur Bleiburger Galerie erscheint, eingeleitet von Trude Polley. Werner Berg erhält den Kulturpreis des Landes Kärnten.

Die Aufstellung zweisprachiger Ortstafel im gemischtsprachigen Gebiet Kärntens löst einen Sturm nationalistischer Entrüstung aus, in dessen Folge Landeshauptmann Sima abgelöst wird. Werner Berg stellt sich prononciert auf die Seite der slowenischen Minderheit.

Erich Kuby schreibt über ein neues Bild des Rutarhofes in einer diesigen Winternacht: "Für den leidlich Informierten, als den ich mich ansehen darf in Ihren Dingen, ist die konfliktlose Schönheit des Bildes, das Traumhafte daran, nicht ohne die betrübte Teilnahme an dem Maler zu bewundern, weil darin die Sehnsucht nach einer heilen Welt ohne Hemmung ausgedrückt ist. Warum Traum und Wirklichkeit auseinanderklaffen, hat ohne Zweifel mit Ihrem absoluten Anspruch zu tun, die heile Welt nicht zu finden, sondern zu schaffen – also den Rutarhof, die Familie, die Umwelt als Innenwelt begriffen. Sodass Sie sich selbst wie niemand, den ich sonst kenne, unentwegt begegnen, in Gestalt des Baumes mit dem Tisch, der Blumen hinterm Zaun, der Dachlinie gegen den Himmel. So was könnte nur gut gehen, wenn der Schöpfer dieser Außen-als-Innen-Welt von harmloser Gemütsart wäre, dann aber von sehr harmloser. Just das Gegenteil – da ist es dann so wie es ist."

362 ZWEI FRAUEN UNTERWEGS, 1973

1974 „Ich werde öffentlich ein Zeichen setzen wider den schleichenden umso unheimlicheren Terror, den ich zur Genüge kennengelernt habe”, schreibt Werner Berg an Gottfried Stöckl, mit dem es angesichts unterschiedlicher Meinungen in der Ortstafelfrage zum Bruch kommt.

Eine von Heimo Kuchling herausgegebene Festschrift zum 70. Geburtstag erscheint und Bleiburg zeigt in einer eine Sonderausstellung im sogenannten Pfarrsaal eine Übersicht der neuesten Bilder. Der ORF produziert den Film „Der Maler Werner Berg”

Zu den für Werner Berg immer unüberwindbareren Schwierigkeiten im Zusammenleben mit der Familie seines Sohnes auf dem Hof redet Erich Kuby dem Maler ins Gewissen: „Bei Ihnen, lieber Berg, ist das Wundscheuern an einer ‚stickigen, quälenden Atmosphäre´ doch nicht Tarnung von Schwäche. Zerbrechlichkeit ist nicht Schwäche. Sie dürfen nicht anfangen, sich eine Verkrieche-Haltung zuzulegen. Können Sie auch nicht ganz und gar vom Rutarhof weg, so müsste es Ihnen doch möglich sein, mit Ihren Bildern hinter sich, dieser Lebensleistung, sich ganz frei und nur als Sie selbst, der Maler Werner Berg, der Nicht-Rutar-Welt zuzuwenden und diesen von Ihnen imaginierten Rutarhof nicht wie ein Schneckenhaus überall hin mit sich zu führen und damit nicht zum Atmen zu kommen.“

363 AUTOBUS, 1974

1975 In den neugestalteten zwei ‚Wechselräumen’ in der Bleiburger Galerie zeigt Werner Berg, wie in den folgenden Jahren, Bilder aus der jeweils letzten Schaffensperiode.

Werner Berg tritt mit einem Wahlaufruf bei der Landtagswahl für die slowenische KEL (Kärntner Einheitsliste) ein: „Im Zwiespalt der Meinungen, der nur zu oft ungut aufgerissen oder aus Opportunitätsgründen verdeckt wird, erscheint es mir als die Alternative, bei den kommenden Landtagswahlen die Kärntner Einheitsliste zu wählen. Ich appelliere vor allem an jene Kärntner deutscher Zunge, für die Toleranz keine beschämende Phrase ist, das Recht und die Mitexistenz der slowenischen Minderheit in einem friedlichen Österreich zu sichern.”

Werner Bergs Haltung stößt auf ungeheure Empörung und führt in den kommenden Jahren dazu, dass ihn das offizielle Kärnten zunehmend ignoriert. Nur vereinzelt kommen Stimmen der Zustimmung.

Im September schreibt Werner Berg an Fritz Ogris: „Es ist so eine Sache mit den langen Schatten, – der Jahreszeit, der Lebenszeit. ... Sich über das Schwere hinwegzutrösten ist läppisch, es durchzustehen und zu überwinden jedoch höchster Sinn.”

Walter Bauer, der nach Kanada ausgewanderte Freund, stirbt. Berg reist zu seinem Begräbnis nach Toronto.

STEINBRUCH, 1975 364

1976

Von der Reise zurückgekehrt schreibt Werner Berg Anfang Jänner: „Nun erst komme ich zu Besinnung und hoffentlich bald und gründlich zur Arbeit. Zu der muss ich in einer Weise und Intensität innen Grund fassen, wie es kaum begreiflich zu machen ist.“

Wieland Schmied plant die Veröffentlichung eines Buches über Werner Berg im Verlag Galerie Welz in Salzburg. Er redet Werner Berg auch sehr zu, wieder auszustellen: „Was Ihre Unwilligkeit betrifft, auszustellen, so verstehe ich Sie menschlich nur zu gut. Sie sind die große, bewundernswerte Ausnahme unter den bedeutenden Malern, die ich kenne. Dennoch bedauere ich diese Einstellung, so sehr ich sie verstehe und respektiere. Frei sein von Ehrgeiz ist eine Stufe der Weisheit, die nur wenige zu erreichen vermögen. Nochmals muss ich ein Dennoch hinzufügen. Es gibt, so meine ich, auch eine Verpflichtung dem Werk gegenüber. Es sollte den Zeitgenossen die Gelegenheit gegeben werden – wie sparsam, wie überlegt, wie ausgesucht immer – es zu sehen. Ich will nicht einer hektischen Ausstellungsaktivität das Wort reden. Aber auch das andere Extrem, die vollständige Verweigerung, scheint mir nicht ganz einem letztlich doch auf Kommunikation, auf Mitteilung, auf Bekenntnis zielenden Werk adäquat. ... Thomas Bernhard sprach einmal von ‚Veröffentlichungsqual’. Jedes Buch bringt ‚Veröffentlichungsqual’ mit sich – bis hin zu hämisch-gehässigen Kritiken. Diese Qual ist letztlich als untrennbar mit dem schöpferischen Prozess verbunden zu begreifen und – anzunehmen.”

EISIGER MÄRZ, 1976 365

1977 „Die Galerie hatte noch eine gute Saison, von mancherlei Plänen, die an mich herangetragen wurden, habe ich Abstand genommen. Alles würde Zeit kosten und die Kraft mindern, die ich für die Arbeit brauche. Andiamo, allons, schrieb Walter Bauer allemal am Ende; weitergehen, ausschreiten. Trotz allen und allem. Immer schwerer fällt mir der Tod Walter Bauers aufs Gemüt und ins Bewusstsein. Werk bis zum letzten Atemzug, doch nie genug. … Keine Fremde aber kann so kalt und eisig sein wie die meine im Ureigensten”, schreibt Werner Berg.

FAHRSCHÜLER, 1977 366

1978

„Noch ist bei allem Bildschwund und Maßzerfall das tiefere Geheimnis nicht ganz umzubringen. ... Ich hoffe in wenigen Tagen wieder die Pinsel zu halten. Freilich werde ich aus meiner Bilderwelt nie herauskommen und darf es nicht, – mir selbst erscheint sie nie eng oder verbraucht", schreibt Werner Berg im Mai von seiner Kur in Überlingen am Bodensee: „Mit der Fastenkur hier klappt es wieder großartig, es ist halt für mich die Kraftquelle und der Ort der Erneuerung. An den kurfreien Tagen aber mache ich kleine Kunstreisen, meist in die benachbarte Schweiz, und das sind für mich oft große Ereignisse. Ich war schon in Zürich und in Basel, wo ich herrliche Dinge gesehen habe, aber auch Abstrusitäten. Von jeher habe ich es für notwendig gehalten, mich immer wieder unmittelbar dem Maß der großen Gestaltungen zu stellen, – aber auch dem Schock, dem Affront der Kunst-Terroristen nicht auszuweichen.”

Rainer Zimmermann, der an der Herausgabe eines Buches zur ‚Kunst der verschollenen Generation’ arbeitet, besucht Werner Berg auf dem Rutarhof. Er schreibt danach: „Ich weiß, dass hier in der Distanz zum Kunstbetrieb unseres Jahrhunderts – aber mit sehr feinem Sensorium für die eigentlichen Bedürfnisse unserer Epoche – ein Werk hingestellt wurde, an dem keiner vorbeikommt, der die Malerei unserer Zeit beurteilen will. Ihr großes Thema ‚Unterkärnten’ hat dabei eine stellvertretende Bedeutung (die dokumentarische Seite Ihrer Bilder ist ein dankbar anzunehmender Zusatzwert); hier geht es, wie eben bei jedem Kunstwerk, das seinem Anspruch gerecht wird, um nichts Geringeres als das Mysterium unseres Daseins; und eine jede neue Anschauung des Raumes und der Dinge im Raum und des Lichtes auf den Dingen im Raum ist ja nichts Anderes als ein anschaulich gewordenes Staunen darüber, dass das alles ist und wirklich ist und wirklicher ist als alles Denken und Hoffen.”

WARTENDE, 1978 367

1979 „LA MORTE SI SCONTA VIVENDO” dieses Zitat Giuseppe Ungarettis notiert Werner Berg über die Türe seines Zimmers.

Die Stadt Bleiburg zeigt Werner Bergs neuste Werke in einer Sonderausstellung zum 75. Geburtstag. Wolfgang Lessowsky dreht einen umfassenden Dokumentarfilm über Werner Berg unter dem Titel „Das Ungeheure begreift nie der Sichre”, in dem neben dem Künstler selbst viele Weggefährten zu Wort kommen.

„Je mehr ich mich übrigens mit den Besonderheiten unseres ‚Mitteleuropa’ in seinen Kleinstrukturen beschäftige (ich meine damit die durch Menschenhand gegliederte Landschaft und die mit ihr verbundene Bauweise), desto mehr sehe ich die Bedeutung Ihrer Arbeit als eine auch in die Zukunft wirkende: Sie schildern etwas, das leider immer mehr verschwindet, und dazu gehören auch die Physiognomien der Menschen, die im selben Maß verflachen, wie deren nivellierte Umwelt”, schreibt Kristian Sotriffer, der die Herausgabe einer repräsentativen Werner Berg Monographie für 1980 vorbereitet. Texte von Erich Kuby und Wieland Schmied sollen in diesem Buch die Abbildungen vor allem von Gemälden begleiten. Letztlich erteilt Berg auch diesem Plan eine Absage. Im Dezember schreibt Werner Berg: „Das mein Werk durch ein Schattental muss, weiß ich, glaube aber daran, dass es später erkannt werden wird. Leider sind kaum die Prämissen dazu da, es sei denn in wenigen Ausnahmemenschen, die zu sehen vermögen. In welchem Maße die Grundlagen meiner Existenz erschüttert wurden, lässt sich nicht beschreiben. Die unvorstellbar niedrigen Demütigungen habe ich zu ertragen, habe ich zu verdauen als ein tägliches Brot: die Abeisung von jeglicher Menschenwärme und die Abwürgung alles geistigen Mitteilens. Ich bemitleide mich nicht, immer bedenkend, welche Hekatomben von Leid und Qual in unserer Zeit über die Menschen kommen. Es bleibt aber alles Lebendige einmalig, und in meinem Falle betrauere ich weit über das Subjektive hinaus ein Objektives: die Schändung eines großen Lebenskonzeptes, das, kühn gegründet, in vielen harten Jahren fruchtbringend durchgestanden wurde. Es wäre nie möglich gewesen ohne die opfervoll beharrende Kraft einer einzigartigen Frau, aber auch nicht ohne die unentwegt mitwirkende Bereitschaft aller Kinder, zulängst und zuletzt Annettes. Ich darf aber keines hintanstellen.

Ich will keinen Augenblick meine Unzulänglichkeit und mein Fehlen hinwegreden, aber immer hat mich mit Unbedingheit das Streben durchdrungen, mit allen Sinnen die Welt, die meinige, zu ergreifen und ihre geistige Verwandlung zur Gestalt zu vollbringen. Das Ergebnis sei so oder so: ultra posse nemo tenetur. Bei und trotz allem ahnt niemand, von welch reicher Gemeinsamkeit einst dieses Rutarhof-Leben war. Dieses ‚trotz’ aber beziehe sich auf ein unabdingbar Leidliches, das nahezu schon Gemeinplatz ist: den Egoismus des Künstlers, der in Wahrheit sich selbst verzehrt. Nie bin ich mit Angst in einen Winter gegangen wie diesmal, vielleicht reißt mich die Arbeit dennoch wieder heraus und über den Gram empor. Bevor es so weit ist, stehe ich im Grunde immer in dunkler Bangnis. Jedes Hervorbringen bleibt rätselhaften Ursprungs, und rückwärtsblickend staune ich dankbar, was entstehen durfte. Mein letzter Wunsch ist ohne Hass und Hadern von dieser Welt zu scheiden. Noch aber möchte ich, sooft es mir schon unmöglich schien, nicht aufgeben und habe, lächelnd mich erinnernd, das einstige Kommando vom Barras im Ohr: ‚Weitermachen!’.”

368 WERNER BERG - CHRONOLOGIE EINES KÜNSTLERLEBENS
VOR DEM ENDE, 1979 369

1980 „In diesen Monaten habe ich viel gearbeitet und nur solcherart die gnadenlose Vereisung überwunden”, schreibt Berg im April an Maria Schuler. Erich Kuby schreibt: „Vor ein paar Wochen traf ich in München die ‚Schullerin’, die mir erzählte, dass sie bei Ihnen gewesen ist. Ich fragte aus ihr heraus, dass Sie so ziemlich isoliert in Ihrem Malergehäuse leben, vom Hof abgetrennt, und seinen Bewohnern – bis hin zum Bereiten eigener Mahlzeiten auf einem Kocher. Diese scheußliche Vorstellung geht mir seither nach. Mir ist unvorstellbar, wie ein solcher Zustand währen kann, und natürlich messe ich ihn an den Jahren, als der Hof ein Ganzes war, Last und Tragendes zugleich. ... Nein, mir ist ganz flau wenn ich an Ihr Leben in einem Reich denke, das Sie geschaffen haben, und wenn Sie Ihre Arbeit nicht hätten, diese Arbeit – nun, dann wäre ja auch alles nicht so und Sie hätten sich davon machen können. ... Obwohl keinerlei direkte Parallelen vorliegen und Sie ja auf diese Weise nicht alt sind, wie der alte Hamsun alt war – mir fällt der Mikrokosmos um diesen Mann neuerdings ein, wenn ich an den Mikrokosmos Rutarhof denke, in einem wie im anderen Falle entsteht aus menschlicher Leidenschaft, Kraft, Nicht-Anders-Können im Positiven wie im Negativen, ein Zustand, in dem das Mit- und Gegeneinander der Nächstbeteiligten eine Dimension bekommt, in der die Umstände, sozusagen das Szenische, tatsächlich etwas von Theaterszene bekommt, auf der die Figuren und Ihre Beziehungen untereinander eine beklemmende Größe erreichen.”

Zwei Bilder mit Masken aus dem letzten Maljahr 1980 zeigen höhnisch-grinsend den Einbruch letzten vollständigen Grauens. Das Bild einer aufgebahrten „Toten Bäurin” wirkt wie ein Denkmal für eine untergegangene Welt.

MASKEN, 1980 370

1981

Vom Herbst 1980 bis zum Frühsommer 1981 entstehen unter enormer Anstrengung aller Kräfte nochmals über 100 Holzschnitte – beinahe ein Fünftel seines in über fünf Jahrzehnten entstandenen Holzschnittwerkes. Neben tröstlichen Darstellungen wie den auf äußerst feine Linien beschränkten „Elpis”-Köpfen finden sich auch hier viele Themen von Tod und Abschied – „Gebrochenes Totenkreuz”, „Baumbruch” und das, einen grinsenden Totenkopf darstellende Blatt „Masken 81: Solo”.

Werner Berg erhält das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst, die höchste Auszeichnung der Republik für einen Künstler und Wissenschaftler.

„Wäre nur nicht diese furchtbare Rutarhof-Misere, die mich jetzt ganz verloren sein lässt“, schreibt er seinen nächsten Freunden und sendet diesen „letzte Grüße” mit denen er sich von ihnen verabschiedet. Obwohl er weiterhin robust und bei guter Gesundheit war, hatten kleinere Gebrechen seine Furcht genährt, einmal von Anderen abhängig zu sein.

Am 7. September wird Werner Berg tot in seinem Atelier am Rutarhof aufgefunden.

In seinem Testament vermachte er den reichen Bilderbestand der Werner Berg Galerie der Stadt Bleiburg als Stiftung der Öffentlichkeit.

Werner Berg wird seinem Wunsch gemäß anonym bestattet. Später kann die Familie in Erfahrung bringen, dass dies auf dem anonymen Gräberfeld des Salzburger Kommunalfriedhofes erfolgt war.

WERNER BERG, 1981 371
372 WERNER BERG UND HEINRICH BECKER, BIELEFELD 1971

„Man sagt: Männer machen Geschichte. Dr. Heinrich Becker […] hat in Bielefeld Kunstgeschichte gemacht.“ Dieses Zitat aus der Westfälischen Zeitung vom 6. November 1961 beschreibt sehr treffend die Verdienste von Becker für die Stadt Bielefeld. Mit großem Eifer widmete er sich der modernen Kunst und legte die Grundsteine für das heutige Kunstleben. Trotz Rückschlägen während der Zeit des Nationalsozialismus hat er sein Bemühen nie aufgegeben. Und nicht nur der Bildenden Kunst war er zugetan, auch in anderen Bereichen engagierte er sich und leistete viel.

Am 27. September 1881 wurde Becker in Braunschweig geboren und besuchte dort die Schule. Nach seinem Abschluss am Herzoglichen Realgymnasium 1901 zog es ihn nach Leipzig und Göttingen, um Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Literatur und Kunstgeschichte zu studieren. Vier Jahre später promovierte er über „Die Auffassung der Jungfrau Maria in der altfranzösischen Literatur“ und wurde Doktor der Philosophie. Im selben Jahr legte er auch die Prüfung für das höhere Lehramt ab. Bevor er 1908 in Bielefeld an der Städtischen Oberrealschule (später Helmholtz-Gymnasium) Lehrer wurde, unterrichtete er in Wernigerode, Halle an der Saale, Clermont-Ferrand (Frankreich) und Quedlinburg. Dr. Rudolf Reese (1862-1930), Direktor der Städtischen Oberrealschule schlug, zusammen mit dem Vorstand der Schule, Becker für die Besetzung der freien Stelle vor. Die Rückmeldungen der früheren Schulen Beckers waren positiv. Aus Wernigerode schrieb Dr. A. Jordan: „Als Lehrer ist er entschieden zu empfehlen.“ Und Dr. F. Freuersdorff vom Stadtgymnasium Halle meldete: „Er hat mir nicht übel gefallen, natürlich war er noch unausgebildet, aber es war zu hoffen, dass er ein brauchbarer Lehrer sein würde […] Persönlich war er sehr gut zu leiden, freundlich und sanft in seinem Betragen.“ So wurde Becker in Bielefeld als Lehrer für die Fächer Deutsch, Französisch, Englisch und später auch Kunstgeschichte eingestellt. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer arbeitete er außerdem als Fachleiter für französische und deutsche Kunstgeschichte am Bielefelder Pädagogischen Seminar. Bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand 1947 lehrte Becker am Helmholtz-Gymnasium, danach war er noch zwei weitere Jahre ehrenamtlich dort tätig. Er wurde sowohl von den Kollegen als auch von den Schülern und Eltern sehr geschätzt.

Neben seiner Arbeit als Lehrer engagierte sich Becker intensiv für das Kunstleben, vor allem interessierte ihn die moderne Kunst. Als er 1908 nach Bielefeld kam, steckte die Stadt, was die Kunst betraf, aber noch in den Kinderschuhen. Rückblickend erinnerte Becker sich, dass „Künstler und ernsthafte Kunstfreunde […] selten [waren] und ohne Bedeutung für das kulturelle Leben der Stadt“. Eine Ausnahme stellte der Kunstsalon von Otto Fischer (1879-1927) an der Obernstraße dar. Neben den Ausstellungen, die Fischer organisierte,

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betätigte er sich auch als Kunsthändler. Hier bekam Becker stets neue Anregungen und Impulse. „In Otto Fischer fand ich einen Mann, dem in seiner begeisterten künstlerischen Haltung beizuspringen mir ein unüberhörbarer Auftrag erschien“. Diesen „Auftrag“ erfüllte Becker mit großem Eifer. 1921 wurde die „Pflegschaft der ständigen Kunstausstellung im Städtischen Museum“ gegründet, deren Vorsitzender der Stadtbaurat und Kulturdezernent Friedrich Schultz (1876-1945) war. Die Mitglieder in dieser Pflegschaft waren Mitarbeiter der Stadt sowie Künstler und Kunstinteressierte. Becker übernahm ehrenamtlich die Planung und Durchführung der Ausstellungen, welche zunächst in der alten Kaselowsky-Villa an der Koblenzer Straße 1 (heute Artur-Ladebeck-Straße) stattfanden, wo die Stadt einen Raum zur Verfügung stellte. Nachdem zu Beginn den lokalen Künstlern die Möglichkeit gegeben wurde, ihre Werke auszustellen, folgen auch Auswärtige. Die Bielefelder Bevölkerung bekam so die Möglichkeit, die ganze Vielfalt der modernen Kunst zu erleben. Unter Ihnen waren zum Beispiel Peter August Böckstiegel (1889-1951), Karl Muggly (1884-1957), Käthe Kollwitz (1867-1945) und Emil Nolde (1867-1956). Zu vielen Künstler pflegte Becker einen freundschaftlichen Kontakt, der über seine Aufgabe als Leiter der Kunstausstellungen hinausging.

Ganz neue Möglichkeiten für seine Arbeit bekam Becker 1927, als mit dem Umzug an die Hindenburgstraße (heute Alfred-Bozi-Straße) das „Städtische Kunsthaus in Bielefeld“ geboren wurde. Das ehemalige Haus des Kommerzienrats August Tiemann (1852-1921) bot ausreichend Platz für Ausstellungen, aber auch für die Verwaltung und Lagerung der Werke. Becker wurde ehrenamtlicher Leiter der neuen Einrichtung. Der Raum für größere und anspruchsvollere Ausstellungen war nun vorhanden, allerdings fehlte es der Stadt an dem nötigen Geld, um diese Ausstellungen auch zu verwirklichen. Aus diesem Grund wurde der „Freundeskreis des Bielefelder Kunsthauses“ ins Leben gerufen, zu deren Gründungsmitgliedern Becker gehörte. Er war als Schriftführer tätig und prägte diesen Verein, zusammen mit Fischer, in hohem Maße. Der „Freundeskreis“ hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Ausstellungen finanziell zu unterstützen und Werke für das Kunsthaus zu erstehen. So verdankten es die Bielefelder Bürger dem Verein, Ausstellungen von bekannten Künstlern wie Franz Marc (1880-1916), Edvard Munch (1863-1944) und August Macke (1887-1914) besuchen zu können. Aber auch die lokalen Künstler und der künstlerische Nachwuchs vor allem der Moderne (Rote Erde Bielefeld, „Der Wurf“) bekamen weiterhin Raum für ihre Werke, die gezeigt und angekauft wurden. In den Jahren 1921 bis 1933 organisierte Becker mehr als 80 Ausstellungen. Eine weitere Aufgabe von Becker war es, erstmalig den Kunstbesitz der Stadt zu sichten und zu katalogisieren. Diese Arbeit erforderte Zeit, da sich die Kunstwerke in verschiedenen Büros des Rathauses und auch im Theater „versteckten“.

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GÜNTHER, BIOGRAPHIE DR. HEINRICH BECKER
JUDITH

Der Arbeit von Becker wurde 1933 ein vorläufiges Ende gesetzt. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten galt die moderne Kunst bald als „entartet“ und auch in Bielefeld wird Stimmung gegen die „undeutsche“ Kunst gemacht. Da es gerade diese Kunst war, der Becker sich verschrieben hatte, zwangen ihn die „braunen Kunstignoranten“, wie sie 1965 in der Zeitung genannt werden, seine Stelle als Leiter des Kunsthauses abzugeben. Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie kritisierte Dr. Eduard Schoneweg (1886-1969), zu dieser Zeit Direktor des Städtischen Museums, die Arbeit von Becker. An Bürgermeister Fritz Budde (1895-1956) schrieb er: „Man wollte bewusst jüdische, bolschewistische Kunst pflegen, man wollte nichts wissen von bodengebundener, nationaler Kunst. Der Erfolg ist der, dass mindestens 50% des Bielefelder Kunstbesitzes jener ‚Kunst‘ angehört, die Adolf Hitler in seinem ‚Kampf‘ geradezu glänzend charakterisiert. Wie recht hat der Mann!“ Ebenso machte auch Kreiskulturwart Karl Wilke seinem Unmut Luft und forderte die Entlassung von Becker. Dass die beiden Parteimitglieder der NSDAP Becker in dieser Form angriffen, mag nicht verwundern. Doch als die Schließung des Kunsthauses zur Debatte stand, wendeten sich auch manche gegen Becker, die vorher noch ohne Probleme mit ihm zusammengearbeitet hatten. Herman Freudenau (1881-1966), Vorsitzender der Ortsgruppe Bielefelds des Reichsverbandes bildender Künstler Deutschlands, fiel Becker in einem offenen Brief in der Westfälischen Zeitung am 22. Mai 1933 in den Rücken: „ist es besonders notwendig, sie [die Kunst] recht pfleglich zu behandeln. Die Art und Weise, in der das bisher geschehen ist, hatte nur sehr bedingt unsere Billigung.“ In der Vergangenheit hatte Freudenau mehrfach im Kunsthaus seine Werke ausgestellt, hielt es unter den gegebenen Umständen aber wohl für klüger, sich von Becker zu distanzieren. Zuspruch erfuhr Becker von Käthe Kollwitz, die bald ebenfalls verfemt wurde. Ende August 1933 schrieb sie an Becker: „Also Ihre Arbeit am Städt. Kunsthaus in Bielefeld ist beendet. Das bedauere ich sehr, denn ich weiß, wie Sie der Sache dienten und mit welcher Liebe Sie sich ihr hingaben. Es ist ein Verlust. Aber diese Zeit muss erst mal vorübergezogen sein und wann wird das sein?“

Beckers Nachfolger wurde Prof. Arnold Rickert (1889-1974), der ein Jahr später von Georg Hengstenberg (1879-1959) abgelöst wurde. Dass Beckers Engagement für die Kunst aber auch zu dieser Zeit durchaus hoch geschätzt wurde, zeigt ein Brief von Schultz, mit dem Becker zusammen in der „Pflegschaft der ständigen Kunstausstellung im Städtischen Museum“ war: „Sie haben in vorbildlicher Art Ihre ganze Kraft in den Dienst der gemeinnützigen Arbeit gestellt und haben dem Kulturleben der Stadt Bielefeld damit einen außerordentlich starken Antrieb in den verflossenen Jahren gegeben. Dafür und auch für die stetige Opferbereitschaft danke ich Ihnen von ganzem Herzen“, schrieb er an Becker. Ein

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Jahr später trat er für Becker ein, als Hengstenberg eine Schreibkraft verwehrt wurde mit dem Hinweis, dass Becker auch keine benötigt hatte. Hengstenbergs Behauptung, Becker hätte die Ausstellungen nur eingekauft und deswegen keine Arbeit gehabt, weist Schultz vehement zurück. Becker habe viel Zeit investiert – im Jahr circa 1.000 Stunden –, um die Ausstellungen u organisieren, bei denen er sich oft um Werke aus Privatbesitz bemühte. Er erledigte ein hohes Maß an Schreibarbeit, benötigte aber keine Schreibkraft, da er „außerordentlich schnell [arbeitete], weil er sehr gut eingearbeitet war.“ Trotz seiner Entlassung blieb Becker weiterhin Schriftführer des „Freundeskreis des Bielefelder Kunsthauses“. Dieser musste 1933 seinen Namen in „Bielefelder Kunstverein“ ändern und verlor in der folgenden Zeit nicht nur Mitglieder, sondern auch seine Bedeutung in der Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus.

Die Entlassung 1933 sollte aber nicht das Ende von Beckers Arbeit für das Kunsthaus bedeuten. Am 24. Mai 1945 schrieb Oberbürgermeister Josef Niestroj (1903-1957) Becker einen Brief mit der Bitte, wieder die Leitung des Kunsthauses zu übernehmen. Dabei waren die Bedingungen denkbar schlecht. Die Kunstsammlung, die Becker bis 1933 aufgebaut hatte, existierte nicht mehr. 1937 war ein Teil von der „Reichskammer der bildenden Künste“ als „entartet“ eingestuft und beschlagnahmt worden. Darunter befanden sich elf Ölgemälde, 23 Aquarelle und Zeichnungen und mehrere Holzschnitte, Radierungen und Lithographien im Wert von ca. 20.000 Reichsmark. Die Werke wurden nach Berlin gebracht, wo sie verkauft oder verbrannt wurden. Einiges kam auch zur Versteigerung auf eine Auktion in Luzern. Nur zwei Werke kamen später nach Bielefeld zurück, der Rest ist verschollen. Die „nach der Gewalttat von 1937 übriggebliebenen Gemälde und plastischen Werke“ wurden auf Grund des Krieges ausgelagert. Dies erwies sich als großes Glück, da das Kunsthaus bei dem Bombenangriff am 11. Januar 1944 komplett zerstört wurde. Zeichnungen, Aquarelle und Graphiken befanden sich allerdings noch dort. Nur ein Schrank mit graphischen Blättern konnte nach dem Angriff geborgen werden. Als besonders schmerzlich beschrieb Becker den Verlust der Bronzestatue „Najade“ von Georg Kolbe, „der bedeutendsten Plastik, die das Kunsthaus überhaupt besessen hat.“ In diesem Fall gab es aber noch eine glückliche Wendung. Becker hat nach der Zerstörung des Kunsthauses immer wieder im Schutt gegraben, um die „Najade“ doch noch zu finden, allerdings ohne Erfolg. Erst 1949, als die Trümmer beseitigt wurden, fand ein Bauarbeiter die Plastik. Bis auf wenige Kratzer war sie ohne Schaden.

Trotz der schwierigen Umstände – weder Raum noch Mobiliar für Ausstellungen und eine sehr kleine Auswahl an Kunstwerken – übernahm Becker die Leitung des Kunsthauses

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gerne. Er stellte aber drei Bedingungen: Zum einen sollten das Kunsthaus und das geschichtliche Museum nicht unter einer Leitung zusammengeführt werden, da er fürchtete, dass das Kunsthaus „wie bisher von der Direktion des Heimatmuseums usurpiert“ werde. Damit zusammen hing auch seine zweite Forderung. Er lehnte eine Zusammenarbeit mit Schoneweg unter allen Umständen ab. Als Gründe nannte er Konflikte zwischen ihm und Schoneweg in der Vergangenheit, sowie dessen Rolle in der NS-Zeit, unter der das Kunstleben in Bielefeld gelitten hatte. Als drittes wünschte Becker sich die Unterstützung der Stadt, um diese wieder zum „künstlerischen Mittelpunkt Ostwestfalens“ zu machen. Diese Bedingungen wurden erfüllt und Becker konnte – erneut – an dem Aufbau des Kunsthauses arbeiten. Als erstes machte Becker sich daran, die verbliebenen Kunstwerke zu sichten und neu zu katalogisieren. Dabei fertigte er auch eine Übersicht der Werke an, die die NS-Zeit nicht überstanden hatten. Da dem Kunsthaus keine eigenen Räume zur Verfügung standen, fanden die ersten Ausstellungen in der Rudolf-Oetker-Halle statt. Fünf Jahre währte dieses Provisorium, bis das Kunsthaus 1950 in das Velhagenhaus an der Wertherstraße 3 zog. Neben dem Kunsthaus aktivierte Becker auch den Kunstverein neu. Dieser begann erneut eng mit der Stadt zusammen zu arbeiten und war von Beginn an wieder stark an den Ausstellungen beteiligt. In den vier weiteren Jahren als Leiter kuratierte Becker viele Ausstellungen, die von dem Publikum gut angenommen wurden. Da die Schulen freien Eintritt hatten, nutzen gerade diese die Möglichkeit, ihren Schülern und Schülerinnen die moderne Kunst näher zu bringen. 1953 kamen rund 9.000 Besucher in das Kunsthaus, darunter etwa 4.000 Schüler. Aus Altersgründen verabschiedete Becker sich 1954 als Leiter und übergab sein Amt an Dr. Gustav Vriesen (1912-1960). Weiterhin arbeitete er im Kunstverein, der ihn zum Ehrenmitglied ernannte.

Im Ruhestand wurde Becker nicht müde, sich mit der Kunst zu beschäftigen. 1964, also im Alter von 82 Jahren, begann Becker die Arbeit an einer umfassenden und einzigartigen Zusammenstellung über die Biografien aller Künstler, die in Bielefeld gelebt und gewirkt hatten. Rund 200 Fragebögen verschickte er zu diesem Zweck an die Künstler selbst oder an deren Hinterbliebenen. Nach einem guten Jahr war sein Werk fertig. Beckers Wunsch, den er im Vorwort äußert, nämlich der „fortlaufend ergänzenden Arbeit“ ist bislang niemand nachgekommen. Seine Verdienste um das Kunstleben machten ihn zu einer geschätzten Persönlichkeit in Bielefeld und darüber hinaus. Anlässlich seines 75. Geburtstags schrieb die Westfälische Zeitung 1956: „Durch seine aufopferungsvolle und segensreiche Arbeit hat er sich ein bleibendes Denkmal gesetzt.“ Seine Arbeit erfuhr außerdem Anerkennung, als ihm am 5. November 1961 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen wurde und fünf Jahre später, am 5. Februar 1966, der Kulturpreis der Stadt Bielefeld. Dies hatte der

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Rat im Dezember 1965 einstimmig beschlossen. Vorgeschlagen hatten ihn unter anderem Museumsdirektor Dr. Joachim Wolfgang von Moltke (1909-2002) und der Vorsitzende des Kunstvereins, Karl Otto Lorentz (1918-1992). Als einen Grund führte Lorentz an: „Ohne nach Lohn und Anerkennung zu fragen, waren es allein profunde Kenntnis und Liebe zur Sache und zu den Mitmenschen, die ihn befähigten, diese Arbeit zu beginnen und unermüdlich fortzuführen.“ Becker habe die „Keime“ gelegt, aus der sich das Kunstleben entwickelt hatte. Oberbürgermeister Herbert Hinnendahl (1914-1993) überreichte Becker unter großem Beifall die Auszeichnung im Theater am Alten Markt und stellte anerkennend fest, dass Becker „die künstlerischen Zusammenhänge aus persönlicher Sicht besser als irgendjemand in unserer Stadt“ kennen würde. Anlässlich der Verleihung trug Becker sich außerdem in das Goldene Buch der Stadt Bielefeld ein.

Auch wenn Becker hauptsächlich mit seiner Arbeit für die bildende Kunst in Verbindung gebracht wird, so hat er sich darüber hinaus auch an anderen Stellen engagiert. Er war Mitglied bei der Volksbühne und schrieb für deren Programmhefte viele Beiträge, als Sänger unterstützte er den Musikverein. Stets hegte er eine große Liebe zu Frankreich und der französischen Kultur, unternahm viele Reisen in das Nachbarland und arbeitete auch einige Zeit dort. Seine Frau Martha geb. Preuß, die er 1910 heiratete, hatte er in Clermont-Ferrand kennengelernt. So war es ihm ein Anliegen, die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich zu vertiefen. Die Deutsch-Französische-Gesellschaft, die er mitgründete und deren Vorsitzender er war, verfolgte eben dieses Ziel. Durch jenen Einsatz und auch wegen seiner Bemühungen um die französischen Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs wurde er am 17. November 1964 zum „Chevalier de l’ordre des Palmes Académiques“ (Ritter des akademischen Palmenordens) ernannt. Diese Würdigung war „Zeugnis der tiefen Dankbarkeit der französischen Regierung“, sagte Jean Herly (1920-1998), Französischer Generalkonsul, der die Verleihung vornahm.

Über 60 Jahre hatte Becker in Bielefeld gelebt und gewirkt, hatte der modernen Kunst ein Fundament bereitet und sie gepflegt. Bis zum Schluss nahm er regen Anteil am Leben. Kurz vor seinem 91. Geburtstag, am 26. September 1972, starb Becker und wurde auf dem Johannisfriedhof beigesetzt. Eine Ausstellung zu seinen Ehren wurde zum 100. Jahrestag seiner Geburt veranstaltet. In seiner Ansprache sagte der Leiter der Kunsthalle, Ulrich Weisner (1936-1994): „Becker war noch geprägt von der Leidenschaft des Pioniers, der sich zum Ziel gesetzt hatte, mit einer kleinen Schar Gleichgesinnter den Funken der lebendigen jungen Kunst in seine Heimatstadt hineinzutragen.“ Dies war Dr. Heinrich Becker ohne Zweifel gelungen.

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Erstveröffentlichung: 1. September 2016

Hinweis zur Zitation:

Günther, Judith, 27. September 1881: Der Leiter des Kunsthauses Dr. Heinrich Karl Wilhelm Becker wird geboren, Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld, https:// historischer-rueckklick-bielefeld.com/2016/09/01/01092016, Bielefeld 2016

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WERNER BERG UND HEINRICH BECKER, BIELEFELD

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit versucht dieses Register, unter Verwendung bzw. Zitation von Informationen aus Wikipedia, Kurzbiografien der in den Briefen erwähnten Persönlichkeiten dem Leser zur orientierenden Information zur Verfügung zu stellen. Die Länge der Beiträge versucht vor allem der jeweiligen Bedeutung für Werner Bergs Künstlerleben gerecht zu werden, aber nicht zuletzt auch den zeitbedingt oft wechselhaften Lebensläufen der Dargestellten, die eine zu oberflächliche Verknappung zu verbieten scheinen. Bei geweckter Neugierde bieten weitere Recherchen im Internet dem heutigen Leser die ständige Möglichkeit zu einer Fülle weiterer Informationen.

WALTER BAUER (* 4. November 1904 in Merseburg; † 23. Dezember 1976 in Toronto) war der Sohn eines Fuhrmanns. Nach dem Besuch einer Volksschule absolvierte er von 1919 bis 1925 eine Lehrerausbildung an einem Lehrerseminar in Merseburg. Anschließend unternahm er 1925 mit einem Freund eine Wanderung, die ihn durch Deutschland, Österreich, Italien und die Schweiz führte. Von 1926 bis 1928 übte Bauer Gelegenheitsarbeiten aus und studierte einige Semester Germanistik an der Universität Halle. Von 1928 bis 1930 war er als Hauslehrer in Leuna und als Lehrer in Stangerode (Harz) tätig. Nach seiner Heirat im Jahre 1930 übersiedelte er nach Halle (Saale). Ab Ende der 1920er Jahre erschienen Bauers erste literarische Arbeiten, die ihn bereits als kritischen Humanisten ohne Parteibindung auswiesen. Eine Förderung erhielt Bauer durch Max Tau, Cheflektor des Verlages Bruno Cassirer in Berlin. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 erhielt Bauer zeitweise ein Schreibverbot. Seine vor 1933 erschienenen Bücher galten als unerwünscht und wurden nicht mehr gedruckt; allerdings war es Bauer während des Dritten Reiches möglich, neue Werke zu publizieren. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er zur Wehrmacht eingezogen und als Soldat in Frankreich, der Sowjetunion, Griechenland und Italien eingesetzt. In Italien geriet er in Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 nach München entlassen wurde. Er lebte bis 1948 in Wolfratshausen bei München als freier Schriftsteller und erfuhr besondere Förderung durch den vor Kriegsausbruch nach Norwegen emigrierten Verlagslektor Max Tau, der Bauer 1965 in einem Interview noch als eine seiner wichtigsten Entdeckungen bezeichnete. 1949 heiratete er zum zweitenmal und zog nach Stuttgart. Bauers Ehe wurde 1952 geschieden. In der Folge beschloss er, angesichts seiner tiefen Enttäuschung über die gesellschaftliche Entwicklung der jungen Bundesrepublik, Deutschland zu verlassen. Im September 1952 wanderte er nach Kanada aus. In Kanada übte Bauer von 1952 bis 1954 Hilfstätigkeiten aus, unter anderem als Fabrikarbeiter und Tellerwäscher. 1954 begann er ein Studium der Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Toronto, das er mit dem Bachelor-Grad sowie, nach Absolvierung eines Aufbaustudiums, 1959 mit dem Magistergrad abschloss. In Kanada schrieb Bauer weiter in deutscher Sprache; seine Werke erschienen in westdeutschen Verlagen. Von 1959 bis 1976 war er Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Toronto, ab 1967 als Associate Professor. Walter Bauers Werk umfasst Romane, Erzählungen, Biografien, Kinderbücher, Essays, Lyrik und Hörspiele.

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PETER AUGUST BÖCKSTIEGEL (* 7. April 1889 in Arrode (heute Werther (Westfalen)); † 22. März 1951 ebenda) war ein deutscher Maler, Grafiker und Bildhauer. Er gilt als Vertreter des Westfälischen Expressionismus.

ERNST BUCHNER (* 20. März 1892 in München; † 3. Juni 1962 ebenda) war ein deutscher Kunsthistoriker und Museumsdirektor. Nach dem Abitur am Theresiengymnasium studierte Buchner ab 1912 Kunstgeschichte an der Universität München. Er wurde 1921 bei Heinrich Wölfflin promoviert. Ab 1928 war der Sechsunddreißigjährige Direktor des Wallraf-Richartz-Museums in Köln. 1932 wurde Buchner zum Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen berufen. Buchner, der dem Kampfbund für Deutsche Kultur angehörte, trat im Mai 1933 der NSDAP bei. Buchner war seit 1940 Honorarprofessor der Kunstgeschichte an der Universität München. 1941 nahm ihn die Bayerische Akademie der Wissenschaften als ordentliches Mitglied auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Buchner aus dem Amt des Generaldirektors entlassen. Bei der Entnazifizierung wurde Buchner als Mitläufer eingestuft. Nach der Pensionierung des Generaldirektors Eberhard Hanfstaengl am 1. April 1953 wurde Buchner wieder als Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen eingesetzt.

WALTHER DELIUS war Spinnereidirektor der „Ravensburger Spinnerei“. Das zweiflüglige schlossartige Hauptgebäude der Ravensberger Spinnerei entstand in den Jahren 1855 –1860. Der „Turm“ der Ravensberger Spinnerei – eigentlich der Schornstein des Kesselhauses – gibt bis heute dem ganzen Spinnereiviertel seinen städtebaulichen Akzent.

VIKTOR DIRKSEN (* 1887 in Berlin; † 5. November 1955) war ein deutscher Kunsthistoriker. Er war über 33 Jahre Direktor des Städtischen Museums Wuppertal

GEORGES DUHAMEL (* 3 0. Juni 1884 in Paris; † 13. April 1966 in Valmondois nahe Paris) war ein französischer Schriftsteller. Sein umfangreiches Werk lässt kaum eine Gattung aus. Am bekanntesten wurde er mit seinem zwischen 1933 und 1945 veröffentlichten zehnbändigen Romanzyklus Chronik der Pasquiers, der ihn eher als Moralisten denn als Chronisten der Epoche ausweist. In einigen Abhandlungen griff er auch die Fortschrittsund Technikgläubigkeit seiner Zeitgenossen an. Er selbst blieb religiös gestimmt.

GEORG K. GLASER (* 3 0. Mai 1910 in Guntersblum; † 18. Januar 1995 in Paris) war ein deutschsprachiger Schriftsteller mit zunächst deutscher, dann französischer Staatsbürgerschaft. Glaser war der Sohn eines Handwerkers, der nach dem Ersten Weltkrieg zum Postbeamten aufstieg. Seine Jugend war geprägt von der autoritären Erziehung und den körperlichen Misshandlungen durch seinen Vater. Glaser galt früh als Rebell und durchlebte Zeiten in Erziehungsanstalten. Er suchte Anschluss an anarchistische und kommunistische Jugendorganisationen. Im Jahre 1929 wurde er wegen Landfriedensbruchs verhaftet. Zu

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Beginn der 1930er Jahre entstanden erste schriftstellerische Arbeiten. Zeitweise war Glaser Gerichtsreporter für die KPD und publizierte in angesehenen Zeitungen, u. a. der Frankfurter Zeitung; er war aber auch als Fabrikarbeiter in verschiedenen Industriebetrieben tätig. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933 agierte Glaser im antifaschistischen Widerstand, der vom damals noch von Frankreich verwalteten Saargebiet ausging. 1935 wurde er erneut verhaftet, konnte jedoch nach Frankreich entkommen. Dort lebte er bis 1939 in der Normandie und war bei den Französischen Staatsbahnen angestellt. Da er inzwischen – nach seiner Ausbürgerung aus Deutschland – durch Heirat französischer Staatsbürger geworden war, wurde er 1939 zum Kriegsdienst in der französischen Armee eingezogen. Er geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging Glaser zurück nach Frankreich. Er arbeitete am Fließband in den Renault-Werken sowie in einer Zuckerfabrik und engagierte sich in der französischen Arbeiterbewegung. Glaser ist Verfasser von stark autobiografisch geprägten Prosawerken. Anfang der 1930er Jahre galt er als Vertreter der KPD-treuen proletarisch-revolutionären Literatur. Glaser ging im Laufe seines Vorkriegsexils allerdings mehr und mehr auf Distanz zur Ideologie des Kommunismus und besann sich auf seine persönlichen anarchistischen Anfänge. Sein Hauptwerk Geheimnis und Gewalt konnte zunächst nur in französischer Übersetzung erscheinen, da deutsche Verlage eine Publikation ablehnten. Obwohl es in Frankreich wie in Deutschland höchstes Kritikerlob erntete, war ihm – u. a. wegen der chaotischen Publikationsgeschichte mit mehreren, teilweise gekürzten und sehr fehlerhaften Ausgaben – kein großer Erfolg beschieden.

EBERHARD HANFSTAENGL (* 10. Februar 1886 in Saargemünd, †10. Januar 1973 in München) war seit 1925 war er Direktor der Münchener Städtischen Galerie im Lenbachhaus. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten wurde er im November 1933, als Nachfolger des entlassenen Ludwig Justi und des nach diesem nur kurzzeitig amtierenden Alois Schardt, zunächst kommissarisch und ab 1. Januar 1934 offiziell zum Direktor der Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel und zum Professor ernannt. In dieser Eigenschaft unterzeichnete er nach dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg im August 1934 den Aufruf der Kulturschaffenden zur „Volksabstimmung“ über die Vereinigung des Reichspräsidenten- und Reichskanzleramts. 1937 wurde er wegen mangelnder Kooperation und „zu gemäßigter“ kunstpolitischer Auffassungen seines Amtes enthoben, insbesondere weil er sich weigerte, Werke aus der Neuen Abteilung für die NS-Diffamierungs-, Verkaufsund Vernichtungsaktion „Entartete Kunst“ zu entfernen. Seine Entlassung hatte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels betrieben. In sein Tagebuch hatte dieser am 24. Juli 1937 eingetragen: „Hanfstängel (sic!) muss weg.“ Sogar die New York Times berichtete über seine Entlassung. Von 1945 bis 1953 war Hanfstaengl Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Die amerikanischen Besatzungsbehörden betrauten ihn 1948 mit der Rückführung von Kunstobjekten, die Adolf Hitler und Hermann Göring für ihre Kunstsammlungen hatten beschlagnahmen lassen, an die ursprünglichen Besitzer, darun -

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ter viele Museen. In seinem Amt war er allerdings auch maßgeblich daran beteiligt, dass NS-Raubkunst aus den Sammlungen im Besitz von Familien ranghoher NS-Führer bleiben konnte, u. a. der Familie Görings.

HEINRICH KAMINSKI (* 4. Juli 1886 in Tiengen am Hochrhein; † 21. Juni 1946 in Ried in Oberbayern) war ein deutscher Komponist. Nach dem Abitur studierte ab dem Sommersemester 1907 Musiktheorie und evangelische Kirchenmusik. 1914 nahm er seine Tätigkeit als Klavierlehrer in Benediktbeuern auf. Zeitgenossen und Freunde in dieser Periode waren unter anderem der Maler Franz Marc, sowie dessen Frau. 1921 lernte er im Haus von Maria Marc Ada und Emil Nolde kennen, woraus sich eine Freundschaft entwickelte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin Leiter einer Meisterklasse für Komposition. 1930 wurde Kaminski Musikdirektor der Stadt Bielefeld. Obwohl die Stadt den Posten 1931 aus finanziellen Gründen einsparen musste, blieb Kaminiski als Gastdirigent in Bielefeld und wurde auch Leiter des Musikvereins. Wegen der immer stärker werdenden Einflussnahme der Nationalsozialisten auf den Kulturbetrieb zog er sich 1933 aus der Leitung der Symphoniekonzerte in Bielefeld zurück, 1934 gab er auch das Amt des Musikvereinsleiters ab. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten erschütterte Kaminski und veranlasste ihn zur Komposition einer „Messe deutsch“ nach eigenem Text, welcher die „Wirre Welt“ beklagt.

FRANZ KIESSLING (* 10. Januar 1918 in Znaim, Österreich-Ungarn; † 20. Februar 1979 in Korneuburg) war ein österreichischer Lyriker. Er war der Sohn eines Bahnbeamten. Nach dem Besuch der Schule in Wien wurde er 1938 Finanzbeamter. Wegen eines Lungenleidens musste er keinen Kriegsdienst leisten. Von 1945 bis 1946 arbeitete er in der literarischen Abteilung von Radio Wien. 1951 wurde er Beamter im Unterrichtsministerium. 1948 erschien sein erster, von der Kritik enthusiastisch begrüßter Gedichtband. Man rühmte die formale Strenge seiner Gedichte und handelte den Autor bereits als jungen Klassiker. In den folgenden Jahren fand seine Lyrik dann allerdings zunehmend weniger Widerhall, so dass sein relativ schmales Werk von etwa 150 Gedichten zunehmender Vergessenheit anheimfiel. Kießling war Vorstandsmitglied des österreichischen P.E.N.-Zentrums und Mitglied des österreichischen Schriftstellerverbandes.

HEIMO KUCHLING (* 25. September 1917 in Kapfenberg, Steiermark; † 23. September 2013 in Wien) war ein österreichischer Kunsttheoretiker. Er gründete das Fach Morphologie der Bildenden Kunst an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und lehrte es später auch an der Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz. Neben seiner publizistischen Tätigkeit fungierte er als Ankäufer für Sammlungen und als Kurator und künstlerischer Berater für Galerien. 1917 gegen Ende des Ersten Weltkriegs geboren, wuchs er in Klagenfurt auf. 1935–1939 Ausbildung zum Keramiker an der Wiener Kunstgewerbeschule bei Robert Obsieger. Teilnahme an Vorlesungen und Übungen der philosophischen

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und medizinischen Fakultät der Universität Wien. Nach der Studienzeit freier Kunstschriftsteller in Wien, ab 1941 Schriftleiter bei der Zeitschrift Kunst dem Volk. 1946 lernte er den Maler Werner Berg kennen, dessen Tochter Ursula er 1951 heiratete. Ab 1950 Lehrauftrag an der Akademie der Bildenden Künste Wien, vermittelt durch Fritz Wotruba. Ab 1973 fächerübergreifende Vorlesungen an der Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz. Von 1960 bis 1973 Herausgeber und Autor der Zeitschrift für Kunsttheorie KONTUR. Bis zu seinem Tod arbeitete er intensiv und ohne Unterbrechung an kunsttheoretischen Problemen und der Akzentuierung bisheriger Erkenntnisse.

ALFRED KUBIN (* 10. April 1877 in Leitmeritz, Böhmen; † 20. August 1959 in Zwickledt, Gemeinde Wernstein am Inn) war ein österreichischer Grafiker, Schriftsteller und Buchillustrator. Kubin besuchte ab 1887 ein Gymnasium in Salzburg, ab 1892 ging er in Klagenfurt bei einem Photographen in die Lehre. Ab 1898 lebte er in München, wo er zunächst die private Malschule von Ludwig Schmid-Reutte besuchte. Am 2. Mai 1899 immatrikulierte er sich an der Königlichen Akademie für das Fach Malerei bei Nikolaus Gysis. Dieses Studium brach er bald wieder ab. Nach mehreren Studienreisen im Jahr 1905 wurde er 1906 bei Wernstein am Inn auf dem alten Herrensitz Schloss Zwickledt ansässig. Hier lebte er bis an sein Lebensende: zunächst zusammen mit seiner Frau Hedwig (1874–1948), nach deren Tod „in fast völliger Klausur“. 1909 gründete er zusammen mit u. a. Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky, Adolf Erbslöh, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin und Karl Hofer die Neue Künstlervereinigung München (N.K.V.M.). Aus der N.K.V.M. ging 1911 die Redaktion des Blauen Reiters hervor, an deren zweiter Ausstellung, die nur grafische Arbeiten umfassten, er sich 1912 beteiligte. Er illustrierte etwa 60 Bücher, veröffentlichte druckgrafische Mappenwerke und hinterließ tausende Federzeichnungen. Kubins Werk wird durch die Darstellung phantastischer Traumvisionen geprägt.

CHRISTINE LAVANT (eigentlich Christine Habernig, geb. Thonhauser; * 4. Juli 1915 in Großedling bei St. Stefan im Lavanttal; † 7. Juni 1973 in Wolfsberg) war eine österreichische Schriftstellerin. Christine Lavant wurde als neuntes Kind des Bergarbeiters Georg Thonhauser und seiner Frau Anna (geb. Hans), einer Flickschneiderin, geboren. Fünf Wochen nach der Geburt bekam das Kind Skrofeln auf Brust, Hals und im Gesicht und erblindete beinahe. Mit drei Jahren (1918) kam eine erste Lungenentzündung hinzu, die später beinahe jedes Jahr wiederkehren sollte. 1927 verschlechterte sich ihre Gesundheit erneut und zusammen mit einer Lungentuberkulose trat nun auch die Skrofulose wieder auf. Nach einer als risikoreich angesehenen Röntgenbestrahlung verschwanden aber beide Krankheiten, so dass Lavant 1929 die Volksschule beenden konnte. Der Besuch der Hauptschule musste aber abgebrochen werden, da der Fußweg für das schwächelnde Kind zu lang schien. Eine 1930 übersehene Mittelohrentzündung führte dann zu einer fast vollständigen Ertaubung eines Ohres. Nach schweren Depressionen begab sich Christine Lavant 1935 auf eigenen Wunsch in eine Nervenheilanstalt in Klagenfurt. 1937 lernte Christine Lavant

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ihren späteren Mann, den Kunstmaler Josef Habernig, kennen. Sie versuchte sich ihren Unterhalt durch Strickarbeiten zu verdienen. 1939 heiratete sie den um 30 Jahre älteren Josef Habernig. 1948 erschien unter dem erstmals verwendeten Namen ‚Christine Lavant’ im Brentano Verlag in Stuttgart ein Bürstenabzug der Gedichte Die Nacht an den Tag. 1949 erschienen die Erzählung Das Krüglein und der Gedichtband Die unvollendete Liebe. 1950 führte eine Dichterlesung bei den St. Veiter Kulturtagen zu der Begegnung mit dem Maler Werner Berg, aus der sich eine für beide Künstler schicksalshafte Liebesbeziehung entwickelte. 1952 erschienen die Erzählungen Baruscha in Graz bei Leykam. 1956 wurden Die Bettlerschale (Gedichte) bei Otto Müller in Salzburg veröffentlicht. Der Brentano-Verlag gab die Erzählung Die Rosenkugel heraus. Es folgte 1959 Spindel im Mond (Gedichte) bei Otto Müller, und 1960 Sonnenvogel (Gedichte) bei Horst Heiderhoff in Wülfrath. 1962 folgte Der Pfauenschrei (Gedichte) bei Otto Müller Im Jahr 1963 erlitt Josef Habernig einen Schlaganfall, der auch Christine Lavant zusammenbrechen ließ. 1970 bekam die Dichterin den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur

FRANS MASEREEL (* 3 0. Juli 1889 in Blankenberge; † 3. Januar 1972 in Avignon) war ein bedeutender belgischer Grafiker, Zeichner und Maler sowie Pazifist. Masereel verbrachte seine Kindheit in seiner Geburtsstadt an der belgischen Küste. Von 1907 bis 1908 besuchte er die Kunstakademie in Gent. 1910 siedelte er mit Pauline Imhoff, seiner späteren Ehefrau, nach Paris über, 1915 in die Schweiz. Dort trat er dem Internationalen Roten Kreuz in Genf bei und schloss sich dem Kreis der Pazifisten um Henri Guilbeaux und Romain Rolland an. Masereel erlangte Bedeutung für die französischen und deutschen pazifistischen Publikationen während des Ersten Weltkriegs und danach. Ab 1917 entstanden die ersten Linol- und Holzschnittfolgen und Bildromane – eine völlig neue Ausdrucksform – sowie Illustrationen für Bücher. Seine Bildgeschichten, etwa Mein Stundenbuch und Die Sonne, fanden mit Auflagen von 100 -150.000 eine weite Verbreitung in Deutschland. So wurde Masereel in der Zwischenkriegszeit einer der berühmtesten Holzschneider und Zeichner. Nachdem sich Masereel ab 1922 wieder in Paris niedergelassen hatte, wandte er sich verstärkt der Malerei zu. Die erste Retrospektive in der Kunsthalle Mannheim 1929 mit 200 Werken bedeutete für Masereel den Höhepunkt seiner künstlerischen Karriere. 1940 floh Masereel aus Paris in den Süden Frankreichs, 1949 wurde er in Nizza sesshaft. Ein Jahr später erhielt Masereel den großen Preis für Grafik der Biennale di Venezia. Auch in den kommunistischen Staaten war er sehr populär. Masereel vertrat in seiner Kunst einen konsequenten Humanismus. 1953 wurde auf Anregung Masereels die Gründung der Internationalen Vereinigung der Holzschneider XYLON beschlossen und Masereel war ihr erster Präsident.

EMIL NOLDE (* 7. August 1867 als Hans Emil Hansen in Nolde, Kreis Tondern der Provinz Schleswig-Holstein; † 13. April 1956 in Seebüll) war einer der führenden Maler des Expressionismus. Er ist einer der großen Aquarellisten in der Kunst des 20. Jahrhunderts

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und bekannt für seine ausdrucksstarke Farbwahl. Obwohl als „entarteter Künstler“ verfemt, war er Rassist, Antisemit und überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus. 1867 als Sohn eines Bauern geboren, absolviert er eine Lehre als Schnitzer und Möbelzeichner in Flensburg. 1888 arbeitet er in verschiedenen Möbelwerkstätten in München und Karlsruhe, wo er auch Abendkurse an der Kunstgewerbeschule besucht. 1892 wird er Lehrer für ornamentales Zeichnen und Modellieren an der Kunstgewerbeschule in St. Gallen (Schweiz). Es entstehen erste Landschaftsaquarelle und Zeichnungen personifizierter Berge, von denen einige in der Zeitschrift „Jugend” veröffentlicht werden. Dieser Erfolg ermöglicht es ihm, als freischaffender Maler zu leben. 1898 Besuch privater Malschulen in München und Dessau, nachdem Franz von Stuck seine Aufnahme in die Münchener Akademie abgelehnt hat. 1899 Besuch der Académie Julian in Paris. 1901 zieht er nach Berlin und wird Mitglied der dortigen „Secession”. 1902 heiratet er die Schauspielerin Ada Vilstrup. Ab 1903 verbringt Nolde die Sommer auf der Insel Alsen. Hier wird die Farbgebung seiner Bilder heller und intensiver. 1906 Ausstellung in der Galerie Arnold in Dresden. Dabei lernt Nolde die Künstler der „Brücke” kennen und schließt sich ihnen auf Bestreben Karl Schmidt-Rottluffs für ein Jahr an. Unter Verwendung expressiver Farben wird sein Malstil einfacher, flächiger und formbetonter. Farbe wird zu seinem eigentlichen Ausdrucksmittel. 1909 zieht er sich nach Ruttebüll (Schleswig) zurück, wo eine Reihe von Bildern religiösen Inhalts entsteht. 1911 weist die Berliner „Secession” Noldes Bilder ab. Aufgrund der daraus resultierenden Kontroverse mit Max Liebermann wird Nolde aus der „Secession” ausgeschlossen und tritt der „Neuen Secession“ bei. 1913/14 nimmt Nolde an einer Expedition des Reichskolonialamts nach Neu-Guinea teil. Er ist auf der Suche nach menschlichen Urzuständen und hält die Reise und seine Erfahrungen in vielen Aquarellen fest. 1926 erfolgt seine Übersiedlung nach Seebüll (Nordfriesland). 1931 wird er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Noldes erste autobiographische Schrift „Das eigene Leben” erscheint. 1934 wird Nolde als dänischer Staatsbürger Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig (NSAN), die im folgenden Jahr mit der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) „gleichgeschaltet” wird. Nolde war früh der Überzeugung, die „germanische Kunst“ sei allen anderen weit überlegen. Im August 1934 bezeugte er mit seiner Unterschrift unter den Aufruf der Kulturschaffenden, dass er zu des Führers Gefolgschaft gehöre. Nolde war auch antisemitisch eingestellt, wie aus vielen Dokumenten hervorgeht. Zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus schätzten einige hochrangige Funktionäre des NS-Regimes seine Kunst und seine kunstpolitische Einstellung. 1937 jedoch werden trotz Noldes Mitgliedschaft in der NSDAP seine Arbeiten als "entartete Kunst" diffamiert. Finanziell jedoch gehörte Nolde zu den erfolgreichsten deutschen Künstlern der 1930er und 1940er Jahre. 1937 und 1939 und 1941 verzeichnete er seine höchsten Jahreseinkommen. Seine gute wirtschaftliche Lage brachte Nolde Neider aus der Künstlerschaft ein und verdeutlichte den Kulturfunktionären zudem, dass sie ihre Politik auf dem Kunstmarkt nicht hatten durchsetzen können. Am 23. August 1941 erhielt Nolde das Schreiben Adolf Zieglers, in dem er wegen „mangelnder Zuverlässigkeit“ aus der Reichskammer der bildenden

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Künste ausgeschlossen wurde. Dieser Ausschluss bedeutete jedoch kein „Malverbot“, wie es insbesondere nach Ende des Zweiten Weltkriegs kolportiert wurde, sondern lediglich das Verbot des Erwerbs von sämtlichen Künstlerbedarfsartikeln wie Ölfarben, Leinwand, Pinseln und von Verkäufen, Ausstellungen und Reproduktionen seiner Werke. 1946 Tod seiner Frau. 1948 Heirat mit Jolanthe Erdmann. 1952 Berufung in die Friedensklasse des Ordens „Pour le Mérite”. Am 13. April 1956 stirbt Emil Nolde.

FRITZ NOVOTNY (* 10. Februar 1903 in Wien; † 16. April 1983 ebenda) war ein österreichischer Kunsthistoriker. Novotny studierte Kunstgeschichte an der Universität Wien. 1937 habilitierte er sich mit der Studie Cézanne und das Ende der wissenschaftlichen Perspektive, die zu einem Standardwerk der Cézanne-Forschung wurde und Novotnys Ruhm als eines international anerkannten Experten für die Kunst Paul Cézannes begründete. Trotz seiner kompromisslos antifaschistischen Einstellung erhielt er 1939 eine Anstellung an der Österreichischen Galerie im Schloss Belvedere, deren interimistische Leitung ihm unmittelbar nach Kriegsende 1945 für zwei Jahre übertragen wurde. Von 1960 bis 1968 war er definitiv Direktor dieses Museums und brachte in einer Reihe vielbeachteter Ausstellungen der Wiener Bevölkerung die großen Meister der klassischen Moderne näher. Seit 1948 unterrichtete Novotny als Extraordinarius an der Universität, wurde aber erst anlässlich seiner Pensionierung 1978 mit dem Titel eines ordentlichen Professors geehrt.

HANS KONRAD RÖTHEL (auch Roethel, * 12. Juli 1909 in Hamburg; † 17. Februar 1982 in Princeton (New Jersey)) war ein deutscher Kunsthistoriker. Von 1956 bis 1971 war er Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhauses in München. Röthel studierte Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. 1936 wurde er bei Gustav Pauli in Hamburg promoviert. Nach dem Krieg wechselte er nach München und war bis 1949 Hauptkonservator am Central Collecting Point und anschließend Konservator an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. 1946 war er Initiator und Mitbegründer des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München. 1960 und 1962 war Röthel Kommissar für den deutschen Pavillon auf der Biennale von Venedig. Röthel wurde 1956, als Nachfolger von Arthur Rümann, zum Direktor der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München berufen. Er konnte 1957 mit der Gabriele-Münter-Stiftung die umfangreichste und bedeutendste Sammlung von Werken von Wassily Kandinsky für das Haus erwerben. Er starb 1982, nachdem er das Manuskript zum Katalog der Ölgemälde Kandinskys abgeschlossen hatte.

WILHELM RÜDIGER (* 29. Februar 1908 in Mülsen St. Jacob; † A nfang der 1990er-Jahre) war ein deutscher Kunsthistoriker und Vordenker der nationalsozialistischen Aktion Entartete Kunst. Rüdiger wurde 1930 Mitglied der NSDAP und veröffentlichte elf Tage nach der Machtergreifung zwei programmatische Artikel im Völkischen Beobachter unter dem Titel „Die Bilanz eines Jahrzehnts: Kulturpolitisches Schreckenskabinett“. Darin beschimpfte Rüdiger Künstler des rund sechs Wochen später aufgelösten Bauhauses und zahlreiche

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weitere Exponenten der Moderne als Juden, Kommunisten, Ausländer und Geisteskranke. Rüdigers Schlussfolgerungen in Bezug auf die Museen nahm die späteren Beschlagnahmungsaktionen von 1937 bereits vorweg. 1933 wurde Rüdiger mit lediglich 25 Jahren als kommissarischer Leiter des Städtischen Kunstmuseums und der Kunsthütte in Chemnitz eingesetzt. Vom 14. Mai bis in den Juni 1933, nur zwei Wochen nach Amtsantritt, organisierte Rüdiger eine Femeschau unter dem Titel „Kunst die nicht aus unserer Seele kam“, die das Konzept der späteren Ausstellung „Entartete Kunst“ vorwegnahm. 1943 organisierte Rüdiger im Auftrag von Baldur von Schirach in Wien die Ausstellung Junge Kunst im Deutschen Reich. Diese Ausstellung wurde auf Anordnung von oberster Ebene vorzeitig geschlossen. Rüdiger erhielt vom Präsidenten der Reichskulturkammer Adolf Ziegler lebenslängliches Berufsverbot. 1945 wurde Rüdiger von den Alliierten zunächst in die Gruppe der Hauptbelasteten eingestuft und später aufgrund der Ereignisse um die Ausstellung Junge Kunst im Deutschen Reich entlastet.

WILHELM PINDER (* 25. Juni 1878 in Kassel; †13. Mai 1947 in Berlin) war Hochschullehrer in Darmstadt, Straßburg, Breslau, Leipzig, München und Berlin. Seine Lehrtätigkeit und Forschungsarbeit galt besonders der deutschen Kunst und Architektur und ihrer Stellung in der europäischen Kunstentwicklung. In der Zeit des Nationalsozialismus vertrat er antisemitische und andere ideologische Standpunkte des Regimes, die seiner schon davor vertretenen nationalistisch gefärbten Kunstgeschichtsschreibung entgegenkamen. Das beeinträchtigte sein durch zahlreiche Kunst-Bücher auch beim großen Publikum gefestigtes Ansehen als Kunsthistoriker in der Bundesrepublik auch nach dem Krieg aber lange kaum.

HELMUT SCHARF (* 28. November 1915 in Villach, † 2001) war Lehrer und Schriftsteller. Scharf absolvierte die Lehrerbildungsanstalt und legte die Befähigungsprüfungen für die Volks- und Hauptschule ab. Zwischen 1936 und 1938 war er im Schuldienst an Kärntner Landschulen tätig, wurde anschließend von den Nationalsozialisten seines Amts enthoben und leistete Dienst als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Von 1945 bis 1968 wirkte er an der Bundes-Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt und unterrichtete anschließend bis 1975 an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Klagenfurt. Scharf, Gründungsund Vorstandsmitglied der Josef-Friedrich-Perkonig-Gesellschaft, veröffentlichte die Gedichtbände Als Toter leben (1956), Saumpfad (1963), Über Grenzen und Jahre (1971) und Lebenszeichen. Gedicht aus 45 Jahren (1980), die Romane Der Mittelmäßige. Er wurde mit dem Literaturförderungspreis des Landeshauptstadt Klagenfurt für Lyrik (1954), dem Silbernen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik, dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1994) sowie dem Kulturpreis des Landes Kärnten (1995) ausgezeichnet.

WIELAND SCHMIED (* 5. Februar 1929 in Frankfurt am Main; † 22. April 2014 in Vorchdorf, Oberösterreich) war ein österreichischer Kunsthistoriker und -kritiker, Ausstel -

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lungsmacher, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Nach seiner Promotion arbeitete Schmied in der Redaktion der Zeitschrift Die Furche. Von 1960 bis 1962 war er Lektor beim Insel Verlag und Kunstkritiker bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Von 1963 bis 1973 war er Direktor der Kestner-Gesellschaft Hannover, danach bis 1975 Hauptkustos der Nationalgalerie Berlin, von 1978 bis 1986 war er Direktor des DAAD in Berlin und Leiter des Berliner Künstlerprogramms als Nachfolger von Karl Ruhrberg und von 1980 bis 1999 Präsident der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg. Von 1986 bis 1994 war er Professor für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste München. Dieser Akademie stand er von 1988 bis 1993 als Rektor vor. Von 1988 bis 2004 war er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dort von 1992 bis 1995 Direktor der „Abteilung Bildende Kunst“, von 1995 bis 2004 Präsident der Akademie. 2006 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Nationalen und Kapodistrias-Universität Athen. Als Direktor der Kestner-Gesellschaft Hannover veranstaltete Wieland Schmied insgesamt 99 Ausstellungen, für deren Kataloge er zahlreiche Vorworte und andere Beiträge schrieb. Von Berlin aus kuratierte er viele bedeutende internationale Ausstellungen im In- und Ausland zur Kunst des 20. Jahrhunderts.

WERNER SCHOLZ (* 23. Oktober 1898 in Berlin; † 5. September 1982 in Schwaz, Tirol) war ein deutsch-österreichischer Maler. Er war ein Vertreter der zweiten Generation des deutschen Expressionismus. Als Zeitgenosse von George Grosz und Otto Dix stellte er das Großstadtleben in Berlin dar. Seine mit kräftigem Gestus gemalten Bilder zeigen den Menschen in seiner existentiellen Einsamkeit und Not. Nach seiner Verfemung als „entarteter Künstler“ durch die Nationalsozialisten zog er sich im Jahr 1939 in das Tiroler Bergdorf Alpbach zurück, wo er bis zu seinem Tod lebte.

HARALD SEILER (* 16. Juli 1910 in Bielefeld; † 19. Februar 1976 in Palma) war ein deutscher Kunsthistoriker und Museumsleiter. Harald Seiler studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Geschichte in Leipzig, München, Wien und Münster. Im Jahr 1937 wurde er an der Universität Münster mit der Arbeit Die Anfänge der Kunstpflege in Westfalen promoviert. 1952 übernahm er die Leitung des Städtischen Museums in Wuppertal. Von 1962 bis zu seiner Pensionierung im August 1975 war Harald Seiler Direktor des Niedersächsischen Landesmuseums in Hannover. Unter seiner Leitung wurde die von Ferdinand Stuttmann begonnene Abteilung für moderne Kunst ausgebaut.

ROBERT HERMANN STERL (* 23. Juni 1867 in Großdobritz; † 10. Januar 1932 in Naundorf, Amtshauptmannschaft Pirna) war ein deutscher Maler und Grafiker. 1904 wurde er zunächst als Lehrer, 1906 als Professor an die Königliche Akademie der bildenden Künste in Dresden berufen, wo er bis 1931 lehrte. Am Ersten Weltkrieg nahm er als Kriegsmaler teil. Außerdem setzte sich Sterl für den Studentenrat an der Kunstakademie Dresden ein. Er engagierte sich bei Ankäufen und Ausstellungen für die Moderne und für junge Künstler.

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JOSEF WEINHEBER , (* 9. März 1892 in Wien-Ottakring; † 8 . April 1945 in Kirchstetten, Niederösterreich) war ein österreichischer Lyriker und Erzähler. Weinhebers Werk polarisiert seit jeher Anhänger und Gegner und ist bis heute Gegenstand ästhetischer, weltanschaulicher und politischer Kontroversen. Er wird als gemütvoller Wiener Heimatdichter geschätzt, wurde als Dichterfürst verehrt, war einer der meistgelesenen Lyriker seiner Zeit, gilt aber auch als prononcierter NS-Poet. Weinheber kam als Sohn eines Fleischhauers und einer Weißnäherin in der Niederösterreichische Landesgebäranstalt im 9. Wiener Gemeindebezirk zur Welt. Seine ersten Kindheitsjahre verbrachte er in Purkersdorf. Nach der Trennung der Eltern kam er als Sechsjähriger in das Hyrtl’sche Waisenhaus in Mödling. Mit 12 Jahren wurde er Vollwaise, er besuchte die Maturaschule Freies Lyzeum, schloss sie aber nicht ab. Er verdingte sich als Gelegenheitsarbeiter, arbeitete als Brauknecht, Fleischhauergehilfe, Kutscher und Hauslehrer. Von 1911 bis 1932 war er Postbediensteter. Anschließend lebte er als freier Schriftsteller. In erster Ehe war er mit Emma Fröhlich verheiratet (1919), in zweiter Ehe mit Hedwig Krebs (1927). 1945 nahm er sich im eigenen Haus in Kirchstetten das Leben. Weinheber, auf Grund seiner Deklassierungsgefühle ein antipolitischer Einzelkämpfer, geriet in den beginnenden 1930er Jahren in den Bann des Nationalsozialismus. 1931-1933 war er NSDAP-Mitglied und gläubiger Hitler-Anhänger. Unter den Nationalsozialisten stieg er zum Paradedichter auf und wurde staatlich stark gefördert und mit Auszeichnungen überhäuft (z. B. 1936 Mozartpreis, 1941 Grillparzerpreis). Er wurde zudem in die „Gottbegnadeten”-Liste der wichtigsten Schriftsteller des NS-Staates aufgenommen. Wie seine Privataufzeichnungen und nicht veröffentlichen Schriften zeigten, ging er Ende der 1930er Jahre zunehmend auf Distanz zum NS-Regime und fand sich in einer politisch schizophrenen Haltung gefangen. Im Nachlass gibt es sehr selbstkritische Gedichte zu seiner Rolle im NS-System.

FRIEDRICH WELZ (* 2. November 1903 in Salzburg; † 5. Februar 1980 ebenda) war ein österreichischer Kunsthändler und Verleger. Während der nationalsozialistischen Ära, im April 1938, übernahm Welz die Wiener Galerie Würthle (nach der Arisierung dieser am 3. April 1938) von der ehemaligen Eigentümerin Lea Bondi-Jaray und führte sie bis zur Restitution im Jahr 1949 als „Galerie Welz“. Er entwickelte sich, gestützt durch die Gau- und Reichsleitung vom Leiter einer privaten Galerie zum Chef der Salzburger Landesgalerie und zu einem der führendsten Kunsthändler des Naziregimes. All diese Aktivitäten brachten ihm im später wieder erstandenen Österreich zwar schwere Vorwürfe ein, konnten seine weitere Karriere aber nicht gefährden. Ein Verfahren nach dem Kriegsverbrechergesetz wurde 1950 eingestellt und seine Verbindungen zu nationalsozialistischen Persönlichkeiten sowie seine Verquickungen zu Arisierungen jüdischen Vermögens für lange Zeit nicht weiter hinterfragt. Eine besondere Position nahm er hingegen mit seinem damals gewagten Eintreten für zeitgenössische und so genannte „Entartete Kunst” ein, als er sich z. B. 1941 vehement für die Ausstellung von Künstlern des Nötscher Kreises im Rahmen der „Kärntner Kunstschau“ einsetzte. Nach dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen wurde Welz

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von diesen vorübergehend im Internierungslager Glasenbach festgehalten, konnte seine Rolle während der nationalsozialistischen Ära gegenüber den amerikanischen Beamten jedoch derart herunterspielen, dass er nach wenigen Wochen wieder auf freiem Fuß stand. Nach seiner Freilassung konzentrierte sich Friedrich Welz wieder auf seine Ausstellungstätigkeit und trug mit seinen Präsentationen zu Toulouse-Lautrec über Steinhart, Kolig und Thöny bis zu Chagall und Manzù, der künstlerisch mit Salzburg besonders verbunden war, zur Neubelebung der Kunstszene in Salzburg und in ganz Österreich bei. Im selben Jahr gründete er seinen eigenen Verlag („Galerie Welz“), als dessen bedeutendste Leistungen die Werksverzeichnisse von Kokoschka (seit 1956) und Klimt (seit 1967) gelten. Auf seine bereits 1943 ventilierte Idee hin wurde 1953 die „Schule des Sehens“ gegründet, die als „Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst“ unter der künstlerischen Leitung von Oskar Kokoschka realisiert und von Welz selbst bis 1963 organisatorisch geleitet wurde. 1976 vermachte Welz einen Großteil seiner privaten Sammlung, darunter das vollständige druckgraphische Werk Oskar Kokoschkas, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, dem Land Salzburg.

IGNACIO ZULOAGA Y ZABALETA (* 26. Juli 1870 in Éibar; † 31. Oktober 1945 in Madrid) war ein spanischer Maler, des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, dessen Frühwerke teilweise Züge des sozialen Realismus, teilweise des Impressionismus aufweisen, während sein Hauptwerk der Tradition der spanischen Klassik folgt und der Ässthetik der España Negra zuzurechnen ist.

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Umschlag vorne: Werner Berg, Selbst vor Orange, 1936

Umschlag hinten: Werner Berg, Nächtliches Spiegelbild, 1946

Frontispiz: Werner Berg, Junge Mutter, 1934

Herausgeber: Harald Scheicher

Lektorat: Natascha Ivad / dt., Sybelinde Schally / fr.

Fotos: Archiv Werner Berg

Projektmanagement Hirmer: Jürgen Kleidt

Gestaltung: Gerhard Messner

Papier: Munken Print White, 150g/qm

Schrift: Zapf Elliptical, Frutiger

Druck und Bindung: free agent dba/Klagenfurt, Medienfabrik/Graz

Printed in Austria

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind Im Internet über http://www.dnb.de abrufbar

© Hirmer Verlag GmbH, München, 2022

© Abbildungen Werner Berg: Bildrecht Wien © Texte: bei den Autoren

www.wernerberg.com www.wernerberg.museum

ISBN: 978-3-7774-4038-5 www.hirmerverlag.de

392 IMPRESUM

Authentischer als es jeder retrospektiven Schilderung möglich wäre, bietet der Briefwechsel mit Dr. Heinrich Becker (1881–1972) und dessen Frau Martha (1889–1969) Gelegenheit, Werner Berg durch alle Wechselfälle der Zeit in seinem Denken, seiner Entwicklung und seinen Unternehmungen zu begleiten. Ergänzend schildern Selbstzeugnisse und Werke aus 50 Schaffensjahren die Chronologie eines außergewöhnlichen Lebens.

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