Kettenhemd 2

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Vorurteile: Hier möchte ich erst einmal mit allgemeinen Vorurteilen aufräumen, auf die ich bisher immer wieder gestoßen bin: • Laufmaschen: Bei Kettenhemden gibt es _keine_ Laufmaschen! Bei normalem, europäischem Kettengeflecht fasst jeder Ring vier andere ein. Selbst wenn ein oder mehrere Ringe ausfallen sollten, bleibt das Geflecht stabil (bis auf die Tatsache, dass ein kleines Loch vorhanden ist). Das gute an Kettenhemden ist, dass man sie jederzeit an beliebiger Stelle auftrennen und wieder anders zusammensetzen kann, ganz im Gegensatz z.B. beim Nähen - wenn man sich dort einmal in der Größe irrt, hat man den Stoff möglicherweise zerstört. • Gewicht: Ein Kettenhemd, wie man es nach dieser Anleitung erstellt, wiegt typischerweise zwischen 6 und 15 Kg. ersteres wäre z.B. ein hüftlanges, kurzärmeliges Hemd für eine dünne Frau; Letzteres wäre ein Knielanges, langärmeliges, sehr weites Hemd für einen stämmigen Mann. Man kann sich in Kettenhemden weitgehend normal bewegen, man fällt nicht um, wenn man sich bückt, und man bleibt auch nicht zwangsläufig am Boden liegen, wenn man hinfällt. • Tragekomfort: Viele verdrehen die Augen, wenn ihnen das Gewicht eines Kettenhemdes genannt wird, und vermuten, dass man es nicht lange tragen kann. Das Gewicht eines Kettenhemdes verteilt sich allerdings meist recht gut um den Körper, und fühlt sich angezogen nicht mehr so schwer an, wie in der Hand. Es ist wirklich leichter zu tragen! Wenn man sich einmal an das Gewicht gewöhnt hat, kann man es leicht 12 Stunden aushalten. • Schwimmen: In Kettenhemden kann man nicht (oder zumindest nur sehr schlecht) schwimmen. Jemand aus meinem Bekanntenkreis hat es im Nichtschwimmerbecken mit einem ca. 8 Kg schweren Hemd getestet. Zitat: "Nach ein paar Schwimmstößen ging es bergab", man geht quasi sofort unter. • Verbreitung: Ein Kettenhemd hat im frühen Mittelalter -so zumindest die immer wieder auftauchende Information- etwa so viel gekostet wie ein ganzes Dorf. Deswegen konnten sich zunächst nur wenige Reiche ein Kettenhemd leisten. Erst im Spätmittelalter hat sich das Kettenhemd durch die verbesserten Produktionstechniken auch unter Soldaten verbreitet. • Frauen: Viele glauben, dass Kettenhemden nicht von Frauen hergestellt werden können. Dies stimmt definitiv nicht! Sicherlich braucht man für die Arbeitsschritte einiges an Kraft, aber die kommt zumeist nur aus den Händen. Kettenhemden können auch problemlos von Frauen getragen werden, selbst wenn einige (mit der Begründung, dass Frauen "schwächer" seien) das Gegenteil behaupten mögen. • Historische Kettenrüstungen: Das Kettenhemd nach dieser Anleitung ist _nicht_ historisch korrekt! Ich habe noch keinen Beleg für das Schnittmuster gefunden (es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Muster recht ähnlich waren), und historische Kettenhemden waren zudem vernietet. Diese Anleitung bezieht sich auf ein Hemd aus 'offenen' Ringen, es ist somit auch nicht so haltbar wie ein historisches Original. Es ist aber ein guter Mittelweg für die Darstellung, denn ein vernietetes Hemd kann sich auch heute noch kaum jemand leisten... (und "Baumwollhemden" oder ähnliche Imitate halte ich für absolut lächerlich) Der Unterschied in der Haltbarkeit zwischen beiden Varianten ist groß: ein vernietetes Hemd dürfte weitgehend stichsicher sein (ich werde hierzu noch einen Test machen), während ich durch ein unvernietetes Hemd sogar einmal mit einem Löffel durchgedrungen bin.

Schutzwirkung: Es finden sich sehr viele Gerüchte zu der Haltbarkeit und der Schutzwirkung von Kettenhemden. Vor kurzem habe ich die folgende Formulierung gefunden: "[Ein Kettenhemd] schützte vor jeder Waffe". Dies ist definitiv falsch! Kettenhemden schützen nur vor Schnittwunden - Allerdings trifft die Wucht eines Schlages oder Stiches den Träger eines Kettenhemdes mit der vollen Wucht. Zwar wurde unter den Kettenhemden dicke, gepolsterte Kleidung getragen (der sogenannte "Wattierte Waffenrock" oder "Gambeson" ), jedoch konnte auch diese "Wattierung" den Träger nicht ausreichend vor der Wucht eines Schwerthiebes schützen. Ein kräftig geführter Schwerthieb richtet also bei einem Kettenhemdträger keine direkte Schnittwunde an, jedoch dürften Knochenbrüche, Quetschungen, oder gar innere Blutungen (bei Treffern im Torsobereich) die Folge gewesen sein. Der Schutz vor Schnittwunden erscheint in der heutigen Zeit zwar als eher lächerlich, dennoch wird er im Mittelalter aufgrund der mangelnden Hygiene und schlechten medizinischen Versorgung auf den Schlachtfeldern überlebenswichtig gewesen sein: Viele Kämpfer erlagen nicht ihren Wunden, sondern Infektionen. Gegen stumpfe Hiebwaffen wie Keulen, Hämmer o.ä. dürfte die Schutzwirkung eines Kettenhemdes gleich Null sein, auch Lanzen, Speere und andere Stangen- bzw. Zweihandwaffen werden starke Verletzungen verursacht haben. Die Wirkung von Stichen würde ich persönlich auch als nicht


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Kettenhemd 2 by Ingo Webernig - Issuu