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LITERATUR
Wenn die Nostalgiefalle zuschnappt
Das wird man doch noch träumen dürfen: An diesen Abenden werden Bücher und Talente gefeiert, die Räume für wilde Fantasien erobern.
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Hofft auf den Auszug der Pubertiere: JAN WEILER
Woanders war’s früher auch mal aufregender: In Zeiten, in denen die äußere Welt notgedrungen wieder etwas kleiner wird und alle nicht ganz freiwillig vorweihnachtlich zusammenrücken, tut dieser Ausflug vielleicht ganz gut. Rocko Schamoni, der große Freund der Freaks, hat mit
Leicht verheulter Blick zurück: ROCKO SCHAMONI
„Der Jäger und sein Meister“ nach „Große Freiheit“ seine Hamburg-Kiez-Trilogie fortgesetzt. Es geht wieder wehmütig zurück zu den Originalen der Krawall- und Kreativszene der 1970er Jahre. Wolli Köhler, der Sexarbeiter und spätere Indienfahrer, darf dabei genauso wenig fehlen wie dessen bester Freund, der Schriftsteller Hubert Fichte. Sowie natürlich Fritz Raddatz, Feuilletonchef der Zeit, und Spiegel-Chef Rudolf Augstein. Dreh- und Angelpunkt des nicht selten sündigen Treibens ist allerdings Heino Jaeger, ein schillerndes, heute leider fast komplett vergessenes Naturtalent für Malerei und Wortakrobatik. Sein flamboyantes Auftreten als Schauspieler, Musiker, Autor, Stimmenimitator und Satiriker brachte Jaeger einst den Beinamen „Mozart der Komik“ ein. Schamoni verneigt sich vor ihm. (Volkstheater, 19.12.)
Doch wie nicht nur Nicola Bardola weiß, hatte (und hat natürlich) auch München viel zu bieten. So viel, dass der bedauerlicherweise deutlich zu früh verstorbene Weltstar Freddie Mercury zwischen 1979 und 1985 fast ausschließlich an der Isar lebte. „Mercury in München. Seine besten Jahre“, die Spurensuche des Literatur- und Musikkritikers zeichnet das stille Glück, aber auch die grellen Exzesse von Freddie in der Stadt nach. Mercury nahm in München Alben auf, feierte Partys und erkundete die Halbwelt. Und dass der Austrofred, den seine vielen Fans völlig zurecht als „Champion“ und Freddie-Wiedergänger bewundern und der ebenfalls dieser Tage auf der Bühne feiert (Volkstheater, 14.12., siehe auch „Ortsgespräch“ hinten im Heft), längst auch in München lebt, kann kein Zufall sein. Also: Schnau zer stehen lassen, in die Spandex-Hose und rein ins Vergnügen! (Gasteig Black Box, 2.12.)
Von der Magie der Klänge und dem Sog der Nacht erzählt dann auch Christoph Dallach in seiner popkulturellen Studie „Future Sounds. Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten“. Der Journalist und Musiker hat sich für die Präsentation seines Werks geniale Unterstützung an die Seite geholt: Mit von der Partie ist Andreas
HÖRBUCH
The Quietsch must go on
Hollywood? It's just a Schaukel, man. Wir befinden uns in … something that klings like … Hinterweasleyhardofhearing. Meine Greatonkel vom Mars würde es nennen eine One-Alien-City. Because es gibt dort nur eine Außerirdische. Dafür zwei Kornkreise. Das macht laut Adam Wiese eine Doppelkornkreis. Rätselhafte Symbols und Musters in die Wiesen und Felders. Klar wie die Dingenskirchner Speibsee, dass Hinternwiesenhering nun hat eine Kraftort. Liebe Trinkhörerrinns und Schluckspechthörers, eine Kraftort ist keine AktivPub für diese trendy-spendy hippyhopster tippy-topster Kraftbeer. Mehr so eine magische Schwingungsdingsda, eine Karmawaschsalon, ein Tankstelle für kosmische Energie. Hexe Annegeer, die zu keinem Unkrautsmoothie „nein“ sagen kann, wittert höhere Wesen aus die Sterne und will die Schwimmbad schließen lassen. Das wäre quasi eine Kraftplatzverweis für Kasperl und Seppl. Die beiden Adulthood-Deniers freuen sich auf die Re-Opening von die Freibad nach die lange Pause. Sie vermuten eine irdische Urheber von die Korngreislichkeiten und verfolgen eine Fährte wie die gute alte Sherlock Grashalmes und seine Freund Doctor Whatssepp. Es herrscht wieder eine richtige punkyfunky Tohuwabohu in diese wunderbare Spaßkraftort und Spaßtatort namens Hinterdöblingen. Da steppt der Bärlauch, da beamt die Großmutter. Einige der Songs von die Doc haben eine so attwengernde Reimrhythmuspower, dass meine Greatgreattante von die Venus vorgeschlagen hat, eine extra Soundtrack von die Kasperls gesammelte Abenteuers auszukoppeln. Doch was ist nun die Schnarrativ von die neue Episode aus Döbliwood? Schnarrative sind neuerdings ja noch elementarer als diese Kraftbiers, Kraftradlers, Kraftbuttermilchs und Kraftbierbieseleien. Ist es die kosmische Pingpong? Die Klingshirn-und-Klangshirn-Prinzip von die Haringer Land? Oder die neumystische Weiterso-Triade aus transgalaktische Kraftbierpipeline, vegane Weißwurst-Download und Wildbiesel-App? Das müsst ihr selbst herausfinden. Get your Kasperl. And don't forget to quietsch. JONNY RIEDER
Doctor Döblingers geschmackvolles Kasperltheater: Kasperl und der Kornkreis. Hörspiel von Josef Parzefall und Richard Oehmann, 2021, 1 CD, ca. 70 Min, Special Guest: Gerd Lohmeyer; www.dr-doeblingers-kasperltheater.de
„Fred vom Jupiter“ Dorau. (Volkstheater, 13.12.)
Die Zukunft im Blick hat selbstverständlich auch Jan Weiler, der Bestseller-Autor und frühere „SZ Magazin“Chefredakteur. Als Verfasser der humorvollen „Pubertier“-Saga, die mit „Die Ältern“ jetzt schon beim vierten Band angekommen ist, gibt er die Hoffnung nicht auf, dass doch noch eines fernen Tages alles mal besser wird. Dann nämlich, wenn die Brut endlich flügge ist und auszieht. (Kleines Theater Haar, 2.12.)
Wie Schreibprofi Weiler weiß auch Axel Hacke ganz genau, was sein Publikum von ihm erwartet – und das nicht nur Woche für Woche in den zuletzt wieder immer mitfühlenden, mitreißenden „SZ Magazin“-Kolumnen. Um Schnurren ist der sympathische Kauz nie verlegen. Aktuell stellt er sein Sprachspielbuch „Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus Sprachland“ vor. Es dürfte fast weihnachtlich werden bei ihm. (Lustspielhaus, 20.12.)
Ganz sicher ans Herz geht wie fast schon jedes Jahr die traditionelle Verwandlung der in Würden ergrauten „Tatort“-Darsteller Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl in Weihnachtsgeschichtenmänner. Sie bringen der alten Dickens-Erzählung rund um Griesgram Scrooge und den Einbruch des saisonal schlechten Gewissens als augenzwinkerndes Vorlese-Märchen auf die Bühne. Muss man mal gesehen haben. (Prinzregententheater, 3./11./19. und 21.12.)
Winterlich besinnlich dürfte es bei der „Bergweihnacht“-Lesung von und mit Michael Lerchenberg zugehen. Er trägt Texte von Peter Rosegger, Ludwig Thoma oder Konrad Beikirchner vor. Und Jolana Szczelkun bearbeitet die Quetschkommode dazu. (AllerheiligenHofkirche, 2.12.)
Walter Sittler, bekannt aus Fernsehfilmen und aus der sich einst fast verselbständigten früheren Serienwelten („Girl Friends“, „Nikola“), ist in die Knickerbocker-Skihose gestiegen und lässt sich als „Ein Mann im Schnee“ bewundern. Musikalisch-literarisch führt seine Bergreise in die Welt von Erich Kästner. (Prinzregententheater, 15.12.) rupert sommer
EDWARD ST AUBYN
Dilemma
(Piper) „Definitiv. Brainstorming“, sagte Saul und schniefte eine Line von Reagans Hosenbein – wer jetzt glaubt, Edward St Aubyn hat wieder seine Nase tief ins Koksbriefchen gesteckt, wird von „Dilemma“ enttäuscht sein. Der scharfzüngige Erzähler der zum Teil erschütternden, autobiografisch angehauchten „Melrose“-Saga ist diesmal auf einem ganz anderen Trip. Die Wege der Genetikerin Olivia, ihres Freundes, Biologe Francis, und ihrer besten Freundin Lucy, die Leiterin der Londoner Filiale von Digitas einem Forschungsunternehmen des Milliardärs Hunter, werden auf schicksalhafte Weise nach ihrer gemeinsamen Studienzeit in Oxford wieder miteinander verknüpft. Hunter „sammelt“ Menschen, die zukunftsorientierte Innovationen in den Bereichen Technik, Medizin, Psychologie und Religion entwickeln. Natürlich nicht ganz un eigen - nützig, unterstützt wird er dabei von sei-
nem Manager Saul, der wiederum ganz eigene Ziele verfolgt. Bei einer Party, die der Entrepreneur Hunter zu Ehren von Digitas gibt und auf der auch eine deutsche Band namens Kraftwerk auftritt, treffen die Protagonisten und weitere individuelle Persönlichkeiten aufeinander – was für einige, wie den vom Vatikan entsandten Pater Guido, nicht ohne, zum Teil auch sehr komische, Folgen bleibt. Edward St Aubyn schreibt mit dem Rasiermesser – ein scharfer Chronist und Intellektueller, der diesmal große Themen unserer Zeit verhandelt. Wir verlosen drei Bücher auf www. EDMUND DE WAAL
Camondo
(Zsolnay) Es ist ein Buch, ein wunderschön gemachtes zudem, in dem Artifizielles aus FRANÇOIS GARDE
Der gefangene König
(C.H. Beck) Irgendwie hat es ja so ausgehen müssen. Und dann berührt die schmissig erzählte Mantel- und Degen-Schmonzette also doch. Fast hat man ein wenig Mitleid mit dem ollen Schwerenöter Joachim Murat, der so schneidig aussah, sich so gerne angeberische OperettenUniformen schneidern ließ, Frauenherzen brach und bei Reiter-Attacken kühn voranpreschte. Nun ist es vorbei mit dem Glamour-Treiben. In einer staubigen Arrestzelle im hintersten Kalabrien wartet der einstige König von Neapel, der sich am liebsten als Herrscher über ganz Frankreich sah, auf das Erschießungskommando. Nicht nur Murat selbst hatte den Bogen überspannt, auch all seine wichtigen Unterstützer, allen voran der eitle Korse Napoleon selbst, hatten den Gastwirtssohn aus Savoyen verlassen. Als es noch glatt lief, führte Murat für den kleinen Kaiser die großen Armeen von Sieg zu Sieg. Blutige Geschichte war aber eben auch Seifenoper. Jetzt verrinnt nicht nur das bisschen Rest-Ruhm. Auch Murats ScreenTime läuft ab. François Garde bringt
Geschichtsunterricht und Lebensbeichte so gekonnt zusammen, das die Buchseiten nur so dahinfliegen. Jeder Leser wird gleichzeitig auch zum eigenen Netflix-Serien-Regisseur vor dem inneren Kamerauge. Will was heißen in so verwöhnten Zeiten.
in-muenchen.de RAINER GERMANN
RUMAAN ALAM
Inmitten der Nacht
(btb) Eins vorweg: Wenn Sie wegen der aktuellen Situation eh schon sehr besorgt sind und sich nachts Gedanken um Ihre Zukunft machen, ist dieses Buch eine schlechte Bettlektüre. Ansonsten aber vielleicht wohl einer der besten Romane des Jahres: Amanda und Clay leben in Brooklyn, sind ein glückliches Mittelschichts-Paar im besten Alter und wollen mit ihren beiden Teenager-Kindern eine unbeschwerte Ferienwoche auf Long Island verbringen, in einem luxuriösen, aber einsamen gelegenen Haus. Doch mitten in der Nacht klopft ein älteres, schwarzes Ehepaar an die Tür, das erklärt, die Eigentümer zu sein – sie wären wegen eines Stromausfalls aus New York in ihr Landhaus geflohen. Anscheinend ist die ganze Ostküste betroffen, im Haus gibt es zwar noch Strom, aber weder Internet- noch Handy- und Fernsehempfang. Trotz anfänglicher Skepsis lassen die Feriengäste ihre Vermieter rein und was sich nun entwickelt, ist ein brillanter Gesellschaftsroman und Thriller, der sich vor dem Hintergrund einer sich anbahnenden aber nur in Ansätzen beschriebenen Katastrophe mit wichtigen Themen auseinandersetzt: zwischenmenschliche Beziehung, sozialer Status, Familie, Kapitalismus, Rassismus und einer aus den Fugen geratenen Natur. Kein Wunder, dass Netflix sich die Rechte geholt hat und das meisterhaft geschriebene Buch von dem New York Times-Bestsellerautor mit Julia Roberts und Mahershala Ali verfilmt. Wir verlosen drei Bücher unter www.in-muenchen.de RAINER GERMANN
jedem Detail spricht. Es geht um kostbare Wandteppiche, edles Porzellan, um eine Privatbibliothek aus selbstverständlich in Saffianleder eingeschlagenen Folianten, um elegante, exakt auf Wirkung geschnittene Raumfluchten und nicht zuletzt um einen liebevoll arrangierten Ziergarten. Und dann bewegt sich das Schildern in so etwas kunstfertigen wie sorgsam komponierten Briefen, adressiert an einen Verwandten, der an keiner Stelle antwortet. Es sind Schreiben in eine Vergangenheit. Auch in eine untergegangene Welt, in der große Namen wie Renoir oder Proust ab und an wie alte Bekannte auftauchen. Erzählt wird vom Palais der jüdischen Familie Camondo, die einst aus Konstantinopel stammte, über Wien nach Paris kam und dort zu den führenden Bankiers aufstieg. Alles Äußerliche ist auch das Bemühen darum, in einer Gesellschaft, die sich schon oft verschlossen gab, Aufnahme zu finden. Und dann wurde der Familienpalast in der Rue de Monceau auch zu einem Schrein, zu einem Gedenkmuseum an den viel zu früh gefallenen Sohn. Erst nach und nach wird deutlich, warum die Briefe ins Leere gehen. Es ist die Geschichte einer Auslöschung und des Grauens. Edmund de Waal lässt nicht locker, er erweckte Verdrängtes und Vergessenes zu neuem Leben. Und er erzählt aus engster Fa milie. RUPERT SOMMER
RUPERT SOMMER
ANDREA CAMILLERI
Rendezvous mit Tieren
(Kindler Verlag) Der Zustand einer Kultur lässt sich da ran messen, wie sie ihre Lebensgrundlagen und ihre Mit-Tiere behandelt. Ein Blitzblick genügt, um den Filmkaiserdaumen nach unten zu halten: Die massenhafte Misshandlung und Entwürdigung der Tiere zu Produkten, über die sich beliebig verfügen lässt – als Nahrungsmittel, Pelzlieferant, pharmazeutische Versuchsobjekte, vollhorstige Jagdtriebbefriedigung, durch Züchtung verunstaltetes Dekomaterial und Kol lateralschadensopfer einer giftgeilen Landwirtschaft – stellt der Menschheit ein nachhaltiges Arschlochzeugnis aus. Dabei geht es anders. Der recht alt gewordene Krimi-Autor Andrea Camilleri (1925-2019) verbeugt sich vor seinen Mit-Tieren mit selbst erlebten schrägen bis rührenden Episoden. Da ist ein Hase, der seine Jäger grandios foppt, indem er sich mustergültig tot stellt einschließlich Todessalto, mit dem Hasen sich laut Autor offiziell verabschieden, wenn sie im Sprung von einer Kugel getroffen werden. Eine andere Episode erzählt von einem Beo (ein sehr sprach- und stimmenimitationsbegabter Singvo gel), der mit seinen Captain-Haddockkompatiblen Flüchen ein ganzes Filmteam verscheucht. Freundliche Worte in aggressiven Zeiten. Und lustig illustriert. JONNY RIEDER
HORST BREDEKAMP
Michelangelo
(Wagenbach) „Il divino“, den Göttlichen nannten ihn schon seine Zeitgenossen. Unsereins steht staunend vor dem David, verrenkt sich den Hals in der Sixtinischen Kapelle oder scrollt durch die Bildergalerien im Netz. Horst Bredekamp aber hat sich ein ganzes Forscherleben lang mit Michelangelo beschäftigt. Dieses Buch ist sein grandioses Opus Magnum, dem es gelingt, Michelangelos Genie aus den Werken und den Umständen ihrer Entstehung zu erklären. Einer, der um die beste Lösung ringt, ständig vertragsbrüchig wird, sich sogar mit dem Papst anlegt, („der mich woanders suchen soll“), bis ins hohe Alter (89 wurde er) unerschöpflich produktiv blieb. Ein Getriebener, ein Panempathiker, allem Schönen zugetan. Bredekamp, ein hinreißender Erzähler, lässt uns tief ein tauchen in die Welt der Renaissance, schöpft aus allen, überraschend reichen Quellen, führt uns, mit unzähligen, klug gewählten Fotos an jedes einzelne Werk heran. Bis wir selbst erahnen, was es bedeutet, mit Hammer und Meisel zwei Jahre lang aus einem Marmorblock Gestalten zu erschaffen, im Liegen eine Decke zu bemalen ... Ein Meisterwerk der Buchkunst aus dem Hause Wagenbach, in jeder Hinsicht zum Schwelgen, zum Schmökern – und Verschenken.
HERMANN BARTH