Jubiläumsausgabe DER AUSTAUSCH

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− EVELYNE THUNER, PHYSIOTHERAPEUTIN UND INTERTEAM-FACHPERSON IN TANSANIA, 2011 – 2014

— DIE JUBILÄUMSAUSGABE DER AUSTAUSCH ZUM 50 JÄHRIGEN BESTEHEN DER ORGANISATION INTERTEAM KONNTE MIT FREUNDLICHER UNTERSTÜTZUNG FOLGENDER INSTITUTIONEN UND PERSONEN REALISIERT WERDEN:

DER

AUSTAUSCH

JUBILÄUMSAUSGABE

DIE ZEITSCHRIFT VON INTERTEAM

Katholische Kirche im Kanton Zürich Katholische Kirchgemeinde Luzern Brunner Druck und Medien, Kriens Esther Kiner (Gestaltungskonzept) René Regenass (Redaktion) Allen portraitierten Personen Geschäftsstelle INTERTEAM Herausgeber: INTERTEAM (eine Schweizer Organisation der Personellen Entwicklungszusammenarbeit) Bilder: Archiv INTERTEAM

− URSULA INGOLD, SAMBIA, 1967-69

RENÉ REGENASS, REDAKTOR JUBILÄUMSAUSGABE DER AUSTAUSCH Mit viel Freude und Engagement ist der erfahrene Journalist René Regenass in die fünfzigjährige Geschichte von INTERTEAM eingetaucht. In sieben ausgewählten Portraits schildert Regenass faszinierende und packende Erlebnisse ehemaliger Fachleute und vermittelt so ein lebhaftes Bild des Hilfswerks INTERTEAM und der Schweizerischen Personellen Entwicklungszusammenarbeit während den letzten fünfzig Jahren.

Der pensionierte Medienschaffende arbeitete von 1964 bis 1994 als Redaktor und Mitarbeiter in unterschiedlichen Ressorts bei den Luzerner Neusten Nachrichten (LNN). In den 80er-Jahren war Regenass zusätzlich tätig für das Regionaljournal Radio DRS und für die Schweizer Familie. Es folgten weitere Aufträge für Schweizer Medien, so auch für die WoZ oder «Luzern Heute». Auch heute noch ist der kompetente Luzerner Journalist regelmässig für lokale Medienprodukte aktiv.

INTERTEAM Unter-Geissenstein 10/12 CH-6005 Luzern

1 — DER AUSTAUSCH Jubiläumsausgabe

T +41 41 360 67 22 F +41 41 361 05 80 info@interteam.ch

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2 — DER AUSTAUSCH Jubiläumsausgabe


VORWORT

INHALT

— «Nicht ohne Grund kommt Wasser in Bewegung» (aus Afrika) —

5—

MIT DER LAIENHELFERORGANISATION FING ALLES AN

21 —

Rose-Marie Füglistaller (81), Gründerin von LAMIS

1950-60er 9—

Die Wurzeln von INTERTEAM

18 JAHRE AUF ZEHN MISSIONSSTATIONEN IN VIER LÄNDERN

D

ie Beweggründe für einen Einsatz haben sich gewandelt. Doch eines ist gleichgeblieben: Der Antrieb, sich einzulassen. Dies durften 2’500 Schweizer Berufsleute in den vergangenen 50 Jahren bei Einsätzen im Süden für INTERTEAM selber erfahren. 50 Jahre INTERTEAM schlagen den Bogen von der christlichen Mission zur Entwicklungszusammenarbeit. Ledige Laienmissionare schöpften in den Sechzigerjahren aus ihrer Spiritualität Kraft. Der Aufbau einer Schule oder eines Spitals sollte Bildung und Gesundheit bringen. Partner waren lokale Bischöfe und Ordensgemeinschaften. Den Rechenschaftsbericht durfte man mit Bleistift verfassen. Es gab Gegenden, wo es noch keine Coca Cola gab. Die Kolonialgeschichte war greifbar, die weltumspannende Solidarität begründet im christlichen Ideal. Die Befreiungstheologie erschien als weitere bewegende Kraft. Spiritualität wurde revolutionär und ganzheitlich, es ging um Gewächshäuser und Bildungsprogramme für Frauen. Später folgte ein eher «technischer» Ansatz. Man begann umfassend zu planen, zählen, messen und auszuwerten. Die Entwicklungshelfer und -helferinnen plagten sich mit leintuchgrossen Monitoring-Programmen, Computer sei Dank. Selbstkritik wurde schon bald ein integraler Teil der Entwicklungshilfe: Partizipation! Gender! Nachhaltigkeit!

Aus den Helfenden werden Fachleute mit einem 'Logical Framework' in der Hand als Werkzeug. Die Programme der Personellen Entwicklungszusammenarbeit (PEZA) fordern Vermittlung und Austausch von Know-how unter Wissensträgern auf Augenhöhe. Was bewegte die Laienhelferin damals ebenso wie die Fachperson heute? Es ist die empathische und angepasste Intervention. Der Austausch von fachlichem Wissen, mit dem Ziel, die Lebensgrundlagen einer Bevölkerungsgruppe zu verbessern; ein Ansatz, der konstant überzeugt. Ich bin mir nicht sicher, ob INTERTEAM «nur» als Organisation so lange Bestand gehabt hätte. INTERTEAM ist und soll immer auch Bewegung sein. Nicht nur der interessante Job in Tansania oder Bolivien ist es, welcher immer noch unsere Fachleute reizt; es ist auch die Nähe zu den Menschen im Süden, die Herausforderung und die Erfüllung, sich bewegen zu lassen von Schicksalen in einer fremden Kultur. Und gleichzeitig etwas zu einer gerechteren Welt beitragen zu können. Seit 50 Jahren lassen sich INTERTEAM-Fachleute auf diese Bewegung ein – und dafür bin ich dankbar; für jeden und jede in dieser grossen Bewegung Nord-Süd-Nord!

— «Jede Bewegung verläuft in der Zeit und hat ein Ziel» (Aristoteles) —

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1963-1969 13 —

Schweizerisches Katholisches Laienhelferwerk SKLW

EIN LEBEN VOLLER ENGAGEMENT FÜR EINE BESSERE WELT Pia Hollenstein (64), Pflegefachfrau

1970-1979 17 —

Vom Laienhelferwerk zum eigenständigen Hilfswerk

EINE BASISGEMEINDE UND DAS KULTURZENTRUM ALS RESULTAT

Therese und Paul Vettiger-Meister, Bibliothekarin/Theologe

1980-1989

Von der Entwicklungshilfe zur Entwicklungszusammenarbeit

Max Elmiger, Präsident INTERTEAM

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Max Elmiger (57), Theologe, und Präsident INTERTEAM

1990-1999 25 —

Cécile Portmann (78), Krankenschwester

− VRENI PFISTER, PAPUA-NEUGUINEA, 1975-80

«WIR STEHEN HEUTE AN EINEM ANDERN ORT»

Unité / Konzentration

«ICH HABE ALLES GEMACHT IN NAMIBIA: MAKLER, CHAUFFEUR, BUCHHALTER, JOURNALIST» Beni Affolter (59), Lehrer

2000-2009 29 —

Selbstverantwortung und Capacity Development

«MEINE HEUTIGE STELLE HÄTTE ICH OHNE DIE NICARAGUAERFAHRUNG NIE BEKOMMEN.» Yvonne Vásquez (46), Marketingfachfrau

Seit 2010

Vernetzung und strategische Partnerschaften


MIT DER LAIENHELFERORGANISATION FING ALLES AN

− BEI DER KOORDINATION DER LAMIS-AKTION HATTE ROSE-MARIE FÜGLISTALLER ALLE HÄNDE VOLL ZU TUN. NUR BEIM ABENDESSEN MIT KASPAR GÖNNT SIE SICH EINE KLEINE PAUSE.

− Rose-Marie Füglistaller, Gründerin von LAMIS

Hört man Rose-Marie Füglistaller (81) genau zu, wird man mit einem Schlag in die Vergangenheit und die Anfänge von INTERTEAM versetzt. LAMIS, die von Füglistaller gegründete Vorgängerorganisation, hat die Wurzeln von INTERTEAM massgeblich geprägt und der heutigen Organisation in Sachen Solidarität und Unterstützung ihren Stempel aufgedrückt.

V

or dem Gespräch mit RoseMarie Füglistaller entdeckte ich in der Kurzgeschichte von INTERTEAM den Ausdruck «Laie» und «Mission» und kam so dem Begriff LAMIS etwas näher. LAMIS steht für «Arbeitsgemeinschaft der Laien-Missionshelfer der Schweiz» oder auch für «Vereinigung Deutschschweizer Laien-Missionare». So jedenfalls steht es auf einem A4-Blatt aus dem Jahr 1961, das mir Rose-Marie Füglistaller aushändigt.

Diese Vereinigung ging Ende 1959 aus dem Vorbereitungskurs der Caritas-Auslandhilfe in Zürich hervor, aus welchem sich Teilnehmer zu einer aktiven Gruppe zusammenschlossen, woraus die Gruppe Zürich resultierte.

Zweck war einerseits die vertiefte Vorbereitung auf einen Einsatz im Missionsgebiet, andererseits sich bereits in der Schweiz helfend einzusetzen. «Schon bald wurde uns klar», sagt Rose-Marie Füglistaller, «dass es am besten wäre, sich hinter unsere eigenen Leute, die Laienhelfer, zu stellen. Und zwar hinter jene, die schon irgendwo in einem Einsatz standen, wie auch hinter die Zukünftigen und ebenso die Ehemaligen.» So wurden die Adressen von etwa 30 Laienhelfern ausfindig gemacht, die sich bereits

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im Einsatz befanden. Erste Reaktionen ergaben ein grosses Interesse an einer Organisation, die in der Heimat hinter ihnen stehen würde. Dafür gab es verschiedene Gründe: Die Laien wurden nicht überall gut aufgenommen. Ältere Missionare hatten oft Mühe, sich damit abzufinden, dass nun Laien, welche bloss für eine befristete Zeit auf ihre Missionsstation kamen, bei ihnen wirken sollten.

— «Am Anfang waren wir mit 33 sich im Einsatz befindenden Frauen und Männern in Kontakt, Ende 1963 bereits mit 115.» —

«Wenn sie endlich etwas von der Sache verstehen, so gehen sie wieder!», sei oftmals von den Missionaren zu hören gewesen, meint Rose-Marie Füglistaller. Zudem waren die Laien vielfach vom Leben der Missionare ausgeschlossen und fühlten sich einsam. «Am Anfang waren wir mit 33 sich im Einsatz befindenden Frauen und Männern in Kontakt, Ende 1963 bereits mit 115», erläutert Füglistaller. Die Absicht lag somit auf der Hand: Die Laienhelfer sollten zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen. Es musste ein Austausch entstehen und damit die Gewissheit, Sorgen und auch Freuden teilen zu können. Zudem sollte die neue Organisation die Laienhelfer gegenüber den Missionsgesellschaften und der Caritas vertreten.

DIE WICHTIGE BETREUUNG DER RÜCKKEHRER Durch die zusätzlichen Vorbereitungskurse in Basel, Luzern und gelegentlich in Olten und St. Gallen entstanden mehrere Gruppen. Dabei übernahm die Gruppe Basel schon bald die Betreuung der Rückkehrer. «Für die Rückkehrenden

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− LAMIS SENDETE WÄHREND DER GROSSEN WINDEL-AKTION 1962 KLEIDCHEN UND TÜCHER IM GESAMTWERT VON 70'000 FRANKEN NACH ÜBERSEE. ZUERST MUSSTEN DIE GESPENDETEN WAREN ABER FÜR DEN VERSAND ABGEPACKT WERDEN – MITTEN DRIN IM KLEIDERBERG ROSE-MARIE FÜGLISTALLER.

BERGE VON WINDELN UND KINDERKLEIDERN FÜR 70’000 FRANKEN

war es nicht immer leicht, nach ein paar Jahren im Busch sich in der Heimat wieder zurechtzufinden. Hilfe bei Wohnungsund Arbeitssuche waren angesagt. Aber ebenso wichtig war es, sie in unsere Gemeinschaft zu integrieren, damit sie über ihre Eindrücke im Einsatz reden konnten und verständnisvolle Ohren fanden», meint Füglistaller. Künftige Laienhelfer seien dabei froh um alles gewesen, was sie von den bestandenen Frontleuten zu hören bekamen. Gelegentlich waren auch Interventionen bei den Missionsgesellschaften notwendig. Nicht selten wurden Leute, die für einen Einsatz rekrutiert worden waren und deshalb Stelle und Wohnung kündigten, mit dem Bescheid konfrontiert, dass sie erst Monate später ausreisen können. «Das war für diese Leute mehr als unangenehm. Sie hatten plötzlich weder Arbeit noch Unterkunft. Für den Missionar hingegen spielte es keine Rolle. Er konnte im Kloster leben.»

DIE GRÜNDUNG VON LAMIS 1962 Was aus dem Caritas-Ausbildungskurs heraus entstand, war also die Vereinigung der Laienhelfer der Deutschschweiz, oder der Laienmissionare, wie sie später hiessen. Diese junge Organisation, die sich ab Sommer 1961 LAMIS nannte, wurde im September 1962 offiziell gegründet. Sowohl Leitung, Redaktion, wie auch der Kontakt mit den Leuten im Einsatz, blieb von Ende 1959 bis Ende 1963 bei RoseMarie Füglistaller. Das wichtigste Instrument, um die Mitglieder zu einer grossen Familie zusammenwachsen zu lassen, waren die LAMIS-Rundbriefe, die monatlich in der Schweiz und zweimonatlich nach Übersee versandt wurden. Es waren Diskussionsforen mit Informationen über die Situation im Einsatz und über die Bemühungen in der Heimat. LAMIS war also Anlaufstelle für jene Frauen und Männer, die sich in den frühen sechziger Jahren für die Entwicklungshilfe entschieden. In Luzern traf man sich jeden Montag zu Arbeitsabenden im sogenannten Chalet an der Guggistrasse, ein altes Holzhaus, das längst nicht mehr steht. Neben vielem anderem wurden in Basel und Luzern Handwerkerkurse für Frauen, als Vorbereitung für den Missionseinsatz, durchgeführt. In Basel und in Zürich gab es auch Englischkurse.

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Was LAMIS alles zu bewegen vermochte, zeigt exemplarisch das Beispiel einer Windel-Aktion. Das Flugblatt, welches im Januar 1962 von Füglistaller erstellt wurde, enthielt folgende Worte: «Aus Afrika kommt ein SOS-Ruf nach Windeln zu uns. Eine Kindergärtnerin aus dem Kanton Luzern (Theresia Lötscher), die seit zwei Jahren als Missionshelferin in Dar-es-Salaam in Tanganyika (heute Tansania) tätig ist, braucht dringend Bébéartikel für ihre kleinen schwarzen Waisenkinder. …Sag es allen Verwandten und Bekannten weiter. Benötigt werden Windeln, Schlüttli, Strampelhosen und Kleidchen für Kinder bis zu vier Jahren.» Das Echo auf den Aufruf schien überwältigend. Die LAMIS-Leute standen plötzlich in Bergen von Windeln und Kinderkleidern, sortierten und schnürten Pakete für den Versand nach Afrika. «Unsere gesammelten Kindersachen fanden den Weg nach Tanganyika, Süd- und Nordrhodesien, Nyasaland, Rwanda, Burundi, Ghana, Kamerun, Kongo, Indien und Haiti. Wir konnten Kleidchen und Tücher in einem Gesamtwert von 70’000 Franken nach Übersee spedieren», lautet der Hinweis im Infoblatt von Füglistaller. In einem Dankesschreiben von Anna aus Haiti heisst es: «Obwohl ihr unsere Station so reichlich beschenkt habt, bleibt davon schon nicht mehr viel übrig. Es hat eben kein Bleiben in unseren Händen…

− DAS EHEMALIGE CHALET AN DER GUGGISTRASSE IN LUZERN WAR DREH- UND ANGELPUNKT VON LAMIS. NICHT NUR DIE GRÜNDUNGSVERSAMMLUNG WURDE HIER ABGEHALTEN; AUCH HANDWERKERKURSE FÜR ANGEHENDE LAIENHELFER ODER HILFSAKTIONEN WURDEN IN DEN RÄUMLICHKEITEN DURCHGEFÜHRT.

Die Kisten kamen einige Tage nach den Schreckenstagen mit Überschwemmungen und Verwüstungen.»

NÄCHTELANG MIT UMDRUCKMATRIZEN AM WERK Ob LAMIS Bestand gehabt hätte, ohne die immense Arbeit und das selbstlose Engagement von Rose-Marie Füglistaller, ist fraglich. Sie ist heute 81 und erzählt fast anderthalb Stunden pausenlos von ihren Erfahrungen. «Wenn ich einige Nächte lang mit Umdruckmatrizen unseren LAMISRundbrief gedruckt hatte, ging ich vor dem Aufstehen meines Vaters jeweils noch kurz ins Bett, damit dieser nicht merkte, was ich die Nacht über alles tat», erzählt Füglistaller und nennt damit eines von unzähligen Beispielen ihres grossen Einsatzes. In der Zeit von LAMIS lebte sie im Kanton Zug, wo sie auch aufgewachsen ist. Während unserem Gespräch fällt mir immer wieder auf, mit was für einer vielfältigen Frau ich gerade spreche. Nach der kaufmännischen Ausbildung schob sie ein Jahr an der Schauspielschule Zürich dazwischen. Sie schrieb mehrere Schultheater, führte Regie und brachte diese auf die Bühne. Rose-Marie Füglistaller hatte eine gute Stimme. Im Theater Arth sang sie in einer Operette die weibliche Hauptrolle.

KRITIK AM CARITAS-LAIENHELFERKURS Der Impuls zur Idee Laienhilfe in der Mission kam über ein Zeitungsinserat. Die Caritas schrieb 1959 einen Kurs für Leute aus, die als Laien in die Mission gehen wollten. Rose-Marie Füglistaller besuchte darauf einmal im Monat Informationsveranstaltungen in Zürich. «Der Saal war voll», erinnert sie sich. An einem Abend fand sie sich mit drei Männern beim Bier. «Man kritisierte den Kurs und fand, man sollte da selbst etwas anpacken. Aber niemand ergriff die Initiative. Daraufhin verlangte ich bei der Caritas die Teilnehmerliste, schrieb an alle Adressen einen Brief und regte eine Zusammenkunft an. Das war der Start.» Mit wenigen Helfern schuf Rose-Marie Füglistaller für die Laienhelfer so ein Auffangnetz. Aus familiären Gründen war sie selbst jedoch nie in einem Auslandeinsatz. In dieser Zeit arbeitete sie noch halbtags im Büro. Als die Arbeit für die LAMIS immer zeitaufwändiger wird, gibt sie diese Stelle auf. Nach dem Tod ihrer Mutter besorgt sie den Haushalt, schaut zum körperlich behinderten Vater und hilft im Kiosk. Ende Dezember1963 findet das Engagement für die LAMIS aber ein jähes Ende. «Mein behinderter Vater gab seinen Kiosk auf und lebte von der damals sehr bescheidenen AHV-Rente von 75 Franken. Ich nahm deshalb eine Hundertprozentstelle an und machte den Haushalt. Für die LAMIS blieb somit kein Raum mehr», meint Füglistaller mit bedauernder Stimme.

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Zurück zu den Laienhelferkursen der Caritas: In den Vorbereitungssitzungen war das religiöse Element stark vertreten. Zu einer Sitzung im September 1961 wurden 16 Hochwürden und ehrwürdige Schwestern von Menzingen und Ingenbohl eingeladen, dazu kamen 15 andere Personen, doch auch sie meistens mit einem Bezug zu einer katholischen Institution. Bekamen die Kurse dadurch nicht einen zu gewichtigen kirchlichen Hintergrund? Rose-Marie Füglistaller widerspricht: «Viel zu wenig! Man glaubte an diese Ausrichtung. Und gerade die Kursbesucher wünschten eine bessere religiöse Vertiefung, die für sie im Missionsgebiet nötig sein würde.» 1963 wurde das Schweizerische Katholische Laienhelferwerk gegründet und von der Bischofskonferenz im Juli 1964 anerkannt. Erstmals zahlte der Bund im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit einen jährlichen Beitrag für alle Laienhelfer. 1970 wird das Laienhelferwerk dann in INTERTEAM umbenannt.

DER ANSATZ VON INTERTEAM STIMMT IMMER NOCH Wo kommt die Begeisterung her, mit der sich Rose-Marie Füglistaller bereits in der Jugendzeit für den Hilfsgedanken mit religiösem Hintergrund einsetzte? «Ich bin in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen. Wir haben von der Not in den Drittweltländern gesprochen. Direkte Hilfe leisten war damals nur über die Missionsgesellschaften möglich. Diese richteten Schulen und Werkstätten ein. Das Wort ’Entwicklungshilfe’ gab es in den ersten 1960er-Jahren noch nicht.» Wie sieht Rose-Marie Füglistaller mit ihren 81 Jahren heute die Entwicklungshilfe? «Sie ist immer noch richtig. Aber es muss in Zusammenarbeit mit den Menschen geschehen, denen man helfen will.» Der Ansatz von INTERTEAM erscheint ihr immer noch richtig und zeitgemäss.


18 JAHRE AUF ZEHN MISSIONSSTATIONEN IN VIER LÄNDERN − Cécile Portmann, Krankenschwester

− CÉCILE PORTMANN IN BOLIVIEN

Die Begeisterung ist fast greifbar, wenn Cécile Portmann (78) von ihren Erlebnissen auf den Missionsstationen in Bolivien, Angola, im Tschad und in Kamerun erzählt. Das Helfen und der missionarische Gedanke waren immer zentral. 18 Jahre war sie im Ausland im Einsatz. In den Bürgerkriegen in Angola und im Tschad stand sie Soldaten gegenüber, die mit dem Gewehr in der Hand Zugang zum Medikamentenschrank forderten. «Die Position als Krankenschwester hat uns geschützt; sie waren auf uns angewiesen», sagt Cécile Portmann heute.

A

m Ende des Gesprächs sagt Cécile Portmann: «Das Leben auf den Missionsstationen und die Erinnerungen an die Kinder, Frauen und Männer in den fremden Ländern ist mein Reichtum. Das ist viel mehr als Geld. Das kann mir niemand wegnehmen.» Cécile Portmann hat die ersten sieben Lebensjahre im Kloster Baldegg verbracht, wo ihr Vater angestellt war. Nachher lebte die Familie auf dem Hof Oberhuwil bei Hochdorf. «Ech bin es Buuremeitschi», sagt sie. Nach den Schuljahren reiste sie für das Französisch-Jahr nach Antibes in Frankreich. 1956 begann Cécile Portmann die Krankenschwesterschule am Kantonsspital Luzern. Es folgt Baden. Die Arbeit am Kantonsspital führte sie mit den Redemtoristenpatres zusammen. Die Redemtoristen sind ein im 18. Jahrhundert gegründeter männlicher Missionsorden. Ende 1962 weilte ein Bischof

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dieses Ordens aus Bolivien im Priesterhaus bei Baden. Ein Gespräch mit ihm führte bei Cécile Portmann zum Entschluss, als Krankenschwester in die Mission zu gehen. «Das war mein Wunsch», meint Portmann. Wo kam denn dieser Impuls her? «Ich hörte in der Schule Vorträge über die Missionsarbeit. Dann wusste ich, dass ich so etwas machen wollte.» Die Religion hat einen festen Platz im Leben von Cécile Portmann. Eine erste Spur wurde sicher in den Kinderjahren im Kloster Baldegg gelegt.

MIT DEM SCHIFF NACH BUENOS AIRES 1963 kam der grosse Moment: Die Luzernerin reiste mit einem Pater, der auf Heimaturlaub war, mit dem Schiff

von Genua nach Buenos Aires. Die Reise dauerte einen Monat. «Auf der Schifffahrt lehrte mich der Pater die spanische Sprache», erzählt Cécile Portmann. «Die anschliessende Zugfahrt nach La Paz dauerte über eine Woche. Erster Einsatzort war Fatima im Gebiet des Rio Beni, wo Redemtoristenpatres eine Missionsstation führten.» Fatima liegt völlig im Urwald, verfügt aber über einen Flugplatz, wo Flugzeuge landen und starten konnten. Es gab keinen anderen Verkehrsweg. Cécile Portmann betreute dort gemeinsam mit einer anderen Schwester die Krankenstation. Es gab relativ wenig Arbeit, worauf sie von einem Schweizer Pater auf eine andere Missionsstation, nach Corendo, geholt wurde, ebenfalls im Urwald gelegen. Dieser Ort konnte nur auf dem Fluss- und Landweg zu Fuss erreicht werden. «Als wir dort ankamen, veranstalteten die Einheimischen ein grosses Fest», erzählt Cécile Portmann. Es handelte sich um etwa fünfhundert Leute, die wegen Überschwemmungen aus Trinidad abgezogen waren und ’das verheissene Land’ suchten. Sie waren ausnahmslos katholisch.»

ALLEIN SECHS STUNDEN IM URWALD UNTERWEGS Es war für Cécile Portmann eine bewegte Zeit in Bolivien. Nach der Zeit in Fatima ging sie nach Colorado, sechs Stunden zu Fuss durch den Urwald. Die Schweizerin war Krankenschwester, mitunter auch Lehrerin und gleichzeitig Kontaktperson für fast alles. Sie lebte wie die Einheimischen

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in einer Hütte. Ein Erlebnis wirkt heute noch nach. Cécile Portmann lief in diesem Hüttendorf barfuss, wie alle andern. Als sie von einem Kind zu einer Kranken geholt wurde, übersah sie eine Schlange, die einem Baumstrunk ähnlich am Boden lag. Doch die Schlange blieb ruhig. «Überhaupt: In der Erinnerung überstand ich den Einsatz in Bolivien gesund, auch in der kühlen Regenzeit, der man relativ schutzlos ausgeliefert gewesen ist. Ich war allein als weisse Frau in diesem Hüttendorf. Kein Raum war abschliessbar. Die Wände und Dächer bestanden aus Matten von Palmblättern. Angst kannte ich nicht. Erst beim Abschied sagte man mir, dass ständig jemand den Auftrag gehabt habe, mich zu beschützen.» Machte die Ernährung keine Probleme? Cécile Portmann: «Überhaupt nicht. Es gab Bananen, Papaya, Mango und Yuka, ein kartoffelähnliches Wurzelgemüse, aus dem auch Schnaps gebrannt wurde. Viele Feste wurden gefeiert und dabei nicht schlecht getrunken. Des Weiteren gab es Hühner, Eier oder Fische aus dem Fluss. Die Männer gingen auf die Jagd.» In Simai, auf einer weitern Missionsstation, wirkte Cécile Portmann nicht nur als Krankenschwester sondern auch als Lehrerin.

— «Ich habe in Bolivien ein Kind während der Geburt sterben sehen. Das hat mich auf den Gedanken der HebammenAusbildung gebracht.» —


− DIE FOTOS ZEIGEN CÉCILE PORTMANN WÄHREND IHREN UNERMÜDLICHEN EINSÄTZEN IN ANGOLA

zeigten sie, was sie wollten. Ich gab es ihnen.» Ende September – Cécile Portmann war bereits in der nahen Stadt – wurde die Krankenstation geplündert und in Brand gesetzt. Ihr weniges Hab und Gut ging dabei verloren.

ENDLICH ZURÜCK IN DIE SCHWEIZ ? Nun endlich die Rückkehr in die Schweiz, folgere ich aus unserem Gespräch. Cécile Portmann begehrt auf: «Sicher nicht. Ich ging nach Douvangar ins Nachbarland Kamerun. Auch dort wirkten Schwestern auf Missionsstationen, Europäerinnen und Nordamerikanerinnen. Ein Schweizer Pater sagte mir, auf einer Krankenstation fehle eine Krankenschwester. Dort weilte ich rund ein Jahr, ebenfalls im Auftrag von INTERTEAM. Der Aufenthalt in dieser Berglandschaft war für mich einmalig. Häufig war kein Wasser vorhanden. Es musste über einen vierstündigen Fussmarsch hergeholt werden. Bis dann italienische Ingenieure im Auftrag des Staates Wasserquellen fanden. War das ein Fest bei den Menschen in den Dörfern!»

1966 im Herbst folgte die Rückkehr in die Schweiz, wieder nach Baden ans Kantonsspital, aber bereits mit dem Vorsatz, erneut in die Mission zu gehen. Vorher noch absolvierte sie die einjährige Hebammenschule in Luzern, anschliessend gleich noch die Ausbildung in Intensivpflege. «Ich habe in Bolivien ein Kind während der Geburt sterben sehen. Das hat mich auf den Gedanken der Hebammen-Ausbildung gebracht», erzählt Portmann.

EIN INTERTEAM-EINSATZ IN ANGOLA Auf der Hebammenschule lernte Cécile Portmann eine Walliser Arzttochter kennen, Mariebet Briner aus Zermatt. Sie wollte als Hebamme in ein Spital nach Angola, das von einem Pater aus Zermatt gebaut worden ist. So entstand bei Cécile Portmann die Idee nach Angola mitzugehen. Das Spital in Quinjenje wurde von einem Arzt aus Hergiswil bei Willisau übernommen, der hier ein Spitalteam zusammenstellte. Diese Delegation entsprach vollumfänglich einem INTERTEAMProjekt. Das Team reiste per Schiff von Lissabon nach Lobito. Das Spital musste aber schon bald als Folge des Krieges in Angola geschlossen werden. Nach einem kurzen Abstecher zurück in die Schweiz folgte bereits der nächste Einsatz in Angola, diesmal mit den Lasalette-Patres in Gatumbela in der Nähe der Hafenstadt Lobito. Die Luzernerin führte in einem Armenviertel mit etwa 20’000 Einwohnern eine Krankenstation und betreute Geburten, alles mit Hilfe der Einheimischen. Unzählige hungernde Kinder, unterernährt, mager, mit Eiweissmangel, profitierten von ihrer Hilfe. «Wir hatten Medikamente aus der Schweiz, durch Beziehungen der Patres zur Basler Pharmaszene», erklärt Cécile Portmann. Das Portugiesisch, das dort gesprochen wurde, lernte Cécile Portmann auf einem Kurzaufenthalt in Lissabon. In Gatumbela erlebte sie dann den Bürgerkrieg hautnah. «Das war eine Katastrophe. Wir zitterten auf unserem Hügel über der Stadt. Die Soldaten nahmen uns das Fahrzeug weg. Wir mussten aus nächster Nähe mit ansehen, wie die Menschen erschossen wurden. Im hohen Maisfeld richteten sie ein Massengrab ein. Von INTERTEAM sind wir dann zurückbeordert worden», erzählt Cécile Portmann.

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IM KRIEG AUF EINER KRANKENSTATION IM TSCHAD Bereits ein Jahr später, 1977, kam vom Kloster Montorges der Franziskanerinnen bei Fribourg die Anfrage für einen Einsatz im Tschad. Es ging um den Aufbau einer Missionsstation. Diesmal stellte Cécile Portmann jedoch eine Bedingung: Sie wollte den Einsatz zusammen mit ihrer Freundin aus Zermatt leisten. Der Wunsch wird ihr erfüllt. «Wir waren auf einer Krankenstation mit zehn Betten, in Donja, 60 Kilometer von der Stadt entfernt, ohne Arzt wohlgemerkt. Meine Freundin machte die Geburten.» Die Freundin von Cécile Portmann ist heute 92 Jahre alt und lebt im Altersheim in Zermatt.

Cécile Portmann hat sich bei ihren Auslandeinsätzen Gefahren ausgesetzt und ist grosse gesundheitliche Risiken eingegangen. War sie sich dessen bewusst? «Ja, sicher. Aber ich habe nie Angst gehabt. Ich fühlte mich beschützt und getragen von einem grossen Freundeskreis. Und in den Kriegssituationen oder bei Krankheiten hat auch das Gebet geholfen.» Im September 1986 kehrte Cécile Portmann endgültig in die Schweiz zurück. Bis ins Jahr 2000 arbeitete sie nun als Pflegerin im Elisabethenheim in Luzern. «Das war für mich

Nach einem Jahr ging Cécile Portmann auf Heimaturlaub und kehrte dann 1979 in den Tschad zurück. «Damals herrschte eine schlimme Hungersnot. Und dann kam der Krieg dazu. Ich war am Ort die einzige Europäerin, zusammen mit den einheimischen Schwestern. An einem Morgen im September 1984 begann die Schiesserei aus dem Busch in Richtung unserer Station, weil bei uns Armeeangehörige weilten. Es gab Verletzte, Tote. Die afrikanischen Schwestern wurden auf Anordnung des Bischofs in die Stadt gefahren. Ich blieb alleine dort, um die Kranken und Verletzten zu versorgen.» Frage: Sind sie von den Rebellen direkt bedroht worden? «Sicher. Sie standen mit dem Gewehr vor mir und forderten mich auf, den Medikamentenschrank zu öffnen. Dann

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eine gute Lösung, weil ich nach den Jahren der selbständigen Arbeit in Afrika nicht mehr in ein Akutspital hätte wechseln können. Ich habe auf den Krankenstationen alles gemacht und alles selber entschieden, ohne Arzt. Im Elisabethenheim bin ich dann in eine andere Dritte Welt gekommen.»

— EINIGE STATIONEN VON CÉCILE PORTMANN Februar 1963 Aussendung als Missionshelferin durch die Redemtoristen in der Kapelle Mariawil bei Baden.

1963 bis 1966 Fatima in Bolivien.

1968 bis 1972 Quinjenje in Angola im INTERTEAM-Einsatz. Bürgerkrieg.

1974 bis 1976 Wieder in Angola, auf der Krankenstation in Gatumbela.

1977 bis 1984 Tschad. Bürgerkrieg.

1984 bis 1985 Douvangar in Nordkamerun.


EIN LEBEN VOLLER ENGAGEMENT FÜR EINE BESSERE WELT

− IN DEN DÖRFERN WURDE VERSUCHT, BASISWISSEN ÜBER HYGIENE, ENTWICKLUNG DES KINDES, IMPFUNG UND KRANKHEIT ZU VERMITTELN. ALS LEITLINIE DIENTE IMMER DIE PRÄVENTION. VIELE KINDER BENÖTIGTEN BEISPIELSWEISE EINE MALARIATHERAPIE.

− Pia Hollenstein, Pflegefachfrau

Niederlassungen haben. Die Steyler-Missionare in Papua Neuguinea gehörten zu den Ersten, welche den Einsatz von Laien förderten. Schon zehn Jahre vor dem Einsatz von Pia Hollenstein war eine Gruppe von zehn Lehrpersonen aus der Schweiz mit INTERTEAM in Papua Neuguinea.

Verantwortung, Herausforderung, Gelassenheit, Hilfe leisten. Die Worte wiederholen sich im Gespräch. Pia Hollenstein (64) hat ein Leben lang das Sinngebende gesucht. Und auch gefunden. In Papua Neuguinea als Pflegefachfrau bei den Menschen im Busch, in der Intensivpflege am Kantonsspital Luzern, als Berufsschullehrerin in St. Gallen und vor allem auch während 15 Jahren als Nationalrätin der Grünen in Bern. «Mein Leben und meine Lebenshaltung sind geprägt von spannenden Herausforderungen. Es ist ein innerer Antrieb.»

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en INTERTEAM-Einsatz leistete Pia Hollenstein in jungen Jahren, unter Dreissig, von 1976 bis 1979, wo sie auf der Südseeinsel Papua Neuguinea ein Gesundheitszentrum leitete. Wer sich für Politik interessiert, kennt Pia Hollenstein als Nationalrätin der Grünen (von 1991 bis 2006). Auf der Homepage lesen wir von ihrem konsequenten Engagement in sozialer, ökologischer, feministischer und friedenspolitischer Hinsicht. Der Lebenslauf offenbart ein ungewöhnlich breites Feld von beruflichen, nebenberuflichen und gemeinnützigen Tätigkeiten. Seit vier Jahren ist Pia Hollenstein Bildungsverantwortliche im Spital und Pflegeheim in Appenzell. Und könnte dort in diesem Jahr in Pension gehen, wenn sie denn will. Was ist der Sinn hinter diesem engagierten, aufwendigen Leben? Pia Hollenstein erinnert sich an die Jugendzeit: «Sie

war geprägt von den Diskussionen über die Ausbeutung des Südens durch den Norden. In Libingen im Toggenburg, wo ich auf einem Bauernhof mit acht Geschwistern aufgewachsen bin, kamen Missionarinnen und Missionare ins Dorf und berichteten von ihrer Arbeit für die Armen in der Welt. Solche Berichte faszinierten mich. Dazu kamen Fragen zur Werthaltung in den 68er-Jahren.» Sieht Pia Hollenstein lediglich das Nord-SüdUngleichgewicht als Motiv für ihr lebenslanges Pflegen und Umsorgen ihrer Mitmenschen? «Ich bin gerne mit Menschen zusammen, bin schnell bereit zu helfen», erklärt sie, als wäre dies das Natürlichste der Welt.

— «Sie war geprägt von den Diskussionen über die Ausbeutung des Südens durch den Norden.» —

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DAS ANSPRUCHSLOSE LEBEN GESUCHT Als Pflegefachfrau allein bei den Ureinwohnern in Papua Neuguinea – die grösste Herausforderung? «Die Idee für einen Einsatz in einem Land des Südens war schon in der Berufsausbildung da», sagt Pia Hollenstein. «Wir haben versucht, unser Leben einfach zu gestalten und auf die lokalen Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen. Am Abend gab es während drei Stunden Strom vom Generator, ein Holzkochherd genügte. Wir lebten abgeschieden in der fremden Welt. Es gab keine Strasse. Unser Wohnort war nur mit dem Flugzeug erreichbar, etwa zwanzig Minuten Flugzeit von der ProvinzHauptstadt Madang entfernt. Zuerst hatte ich etwas Angst vor dieser Perspektive, vor Ort erlebte ich die Abgeschiedenheit aber als positiv und wertvoll». In der ganzen Provinz Madang waren Missionsstationen der Steyler-Missionare, die auch in Steinhausen im Kanton Zug und im St. Galler Rheintal

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Pia Hollenstein erinnert sich auch, wie ihr medizinisches Wissen willkommen gewesen sei. Trotzdem habe sie versucht, auch die Werte der Einheimischen zu beachten: «Wir liessen zum Beispiel einheimische Zauberer zu, wenn sie zu Kranken gerufen wurden.» Ein besonderes Erlebnis gibt Ausdruck für die Nähe zwischen der Schweizer Pflegefachfrau und der einheimischen Bevölkerung: «Ich musste auf einem dünnen Baumstamm einen grossen Bergbach überqueren und sagte, es wäre dann für meine Angehörigen schon nicht gut, wenn ich hier zu Tode stürzen würde. Worauf ein Einheimischer meinte, ich müsste mich nicht sorgen, sie würden mich schon hier beerdigen. Das war ein deutliches Zeichen für meine Zugehörigkeit.»

UNTERERNÄHRTE KINDER, WEIL SIE NICHT ESSEN WOLLTEN Wie hat die eigentliche pflegerische Arbeit ausgesehen? Pia Hollenstein hat mit ihrem Team von Einheimischen in der Gesundheitsversorgung ein Gebiet entsprechend der Hälfte des Kantons Zürich abgedeckt, und dies alles ohne Arzt. Von der Gesundheitsstation aus – dem «Buschspital» – haben sie auch abgelegene Dörfer besucht. Die Frage nach den medizinischen Schwerpunkten erübrigt sich sozusagen. «Es gab einfach alles, ausser Verkehrsverletzte. Es gab keine Strassen und darum auch keine Unfälle», erzählt Pia Hollenstein. Grosse Bedeutung hatte die ’under five Clinic’, die monatliche Kontrollen aller Kinder bis fünf Jahre in der ganzen Umgebung durchführte. Dabei standen Ernährungsfragen der


Kleinkinder im Vordergrund. «Der Grund lag nicht im Mangel an Nahrungsmitteln, sondern der Haltung. Wenn ein Kind nicht essen wollte, liess man es machen. Die Kinder wurden oft allzu lange nur mit Muttermilch ernährt und so von Monat zu Monat dünner. Wurde eine bestimmte Gewichtsgrenze unterschritten, kamen die Kinder ins Spital. Für die zusätzliche Ernährung stand Milchpulver zur Verfügung, welches beim Health Center in der Stadt bestellt werden konnte. Zum Gesundheitsprogramm gehörten auch die Betreuung und Behandlung von Schwangeren, die Behandlung von Malaria-Erkrankungen, von Durchfall und die Wundmedizin. Dazu gab es eigentliche Präventionsprogramme mit Impfungen», erklärt Pia Hollenstein. Man habe auch Druck ausgeübt, damit in jedem Dorf ein funktionierendes WC eingerichtet wurde. «Wir haben zu den Müttern gesagt, wir kämen erst wieder ins Dorf, wenn ein WC bestehe, respektive Latrinen, weil ja kein fliessendes Wasser zur Verfügung stand.» Ist Pia Hollenstein nie erkrankt während des dreijährigen Einsatzes? «Die Malaria war schon präsent. Wenn ich am Sonntag das Medikament zur Vorbeugung vergass, hatte ich am Mittwoch Malaria», meint Pia Hollenstein schmunzelnd. Die Lücken in der gesundheitlichen Versorgung bestanden in Papua Neuguinea vor rund vierzig Jahren vor allem in den abgelegenen Urwaldgebieten. In den bewohnten Teilen verfügte das Land über gute gesundheitliche Einrichtungen und über genügend Spitäler. Ein kleiner Teil der Spitäler wurde von Missionen geführt, die anderen vom Staat. Notwendige Medikamente waren vorhanden. Sie wurden vorwiegend aus Indien importiert, weil sie dort im Weltmarktvergleich am günstigsten waren. Bestehen heute, nach vierzig Jahren, noch Kontakte ins Einsatzland? «Ich habe noch Verbindung zu einem Steyler-Missionar, ab und zu auch mit einheimischen Klosterfrauen. Und ich

— «INTERTEAM hat die Hilfe zur Selbsthilfe verwirklicht. Das ist immer noch richtig. Es ist wichtig, am Einsatzort zuerst abzuklären, was die Menschen vor Ort brauchen. Wir sind so auf den Einsatz vorbereitet worden.» — lese hie und da in den Online-Zeitungen.» Und die Situation jetzt? «Die wirtschaftliche Lage hat sich verändert. Es gibt Jugendarbeitslosigkeit. Es kommt vor, dass die Regierung die Löhne für das Gesundheitspersonal nicht zahlen kann. Dann geht das Pflegepersonal auf die Strasse. Neu in Papua Neuguinea ist Aids.» Für Entwicklungszusammenarbeit im beschriebenen Sinne bestehe heute in Papua Neuguinea kein Bedarf mehr, ist Pia Hollenstein überzeugt. «Es braucht kein Pflegepersonal und auch keine Landwirte mehr aus Übersee. Doch Berufsleute mit sehr spezialisiertem Fachwissen sind nach wie vor gefragt.»

«PAPUA NEUGUINEA WAR PRÄGEND» «INTERTEAM hat die Hilfe zur Selbsthilfe verwirklicht. Das ist immer noch richtig. Es ist wichtig, am Einsatzort zuerst abzuklären, was die Menschen vor Ort brauchen. Wir sind so auf den Einsatz vorbereitet worden. Der dreijährige Aufenthalt in Papua Neuguinea war für mich prägend. Ich bin seither noch stärker sensibilisiert für die Fragen um reich und arm, um Nord und Süd. Ich kann jetzt auch glaubwürdiger argumentieren. Meine Aussagen sind heute mit Erfahrungen unterlegt. Ausserdem habe ich mit dem Einsatz Verständnis gewonnen für das Andere. Das heisst: Menschen aus anderen Kulturen sind für uns wertvoll, sie sind eine Bereicherung», ist Pia Hollenstein überzeugt. In St. Gallen besteht noch eine INTERTEAM-Ortsgruppe. Diese hatte früher eine grössere Bedeutung, weil sie sich um die Rückkehrer kümmerte. Das im Einsatzland Erlebte konnte so weitererzählt und verarbeitet werden.

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− MIT DEM EINSATZ VON PIA HOLLENSTEIN VERBESSERTE SICH AUCH DIE GESUNDHEIT VON UNZÄHLIGEN KINDERN. DADURCH SANK DIE KINDERSTERBLICHKEIT UND STIEG DAS VERTRAUEN DER BEVÖLKERUNG IN DIE ARBEIT VON INTERTEAM.

Heute sind es vor allem ältere Fachleute, die sich noch treffen. Jüngere Jahrgänge scheinen diesen Austausch nicht mehr so zu brauchen. Ausserdem existiert noch eine Ländergruppe Papua Neuguinea mit rund zwanzig Mitgliedern, die sich regelmässig trifft. Entwicklungszusammenarbeit und Politik, früher und heute? Was hat sich verändert? «Mir scheint, dass Entwicklungshilfe – das ist ja der politisch geläufige Ausdruck – früher aus Unkenntnis der Verhältnisse als nicht so wichtig erachtet wurde. Und heute, wo die Fakten längst bekannt sind, scheut man sich nicht, die eigenen Interessen so hoch zu gewichten, dass Ausbeutung und ungerechte Verhältnisse oder auch Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen werden, so zum Beispiel bei der Waffenausfuhr», meint Pia Hollenstein. Umso mehr ist sie überzeugt, dass der partnerschaftliche Ansatz von INTERTEAM – der Austausch von Wissen auf Augenhöhe – welcher auf Wertschätzung und Respekt basiert, wichtiger sei als je zuvor.

− DÖRFER, DIE OFTMALS TAGELANG WÄHREND DER REGENZEIT ÜBERSCHWEMMT WAREN, KONNTE PIA HOLLENSTEIN UND IHR TEAM NUR MITTELS BOOT ERREICHEN. DIE KONSULTATIONEN WURDEN SO JEWEILS 16 — DER AUSTAUSCH Jubiläumsausgabe VOM KANU AUS GEMACHT.


Sie waren sechs Jahre in Kolumbien. Und haben dort gemeinsam etwas aufgebaut. Therese und Paul Vettiger-Meister sind auch heute, nach 30 Jahren, noch überzeugt: «Es ist sinnvoll in die Ferne aufzubrechen, um mit den Menschen dort gemeinsam an einer Kultur der Menschenwürde und Menschenrechte zu arbeiten.»

E

s ist eine Mischung aus Freude und Dankbarkeit, wenn sie heute davon erzählen. Therese und Paul Vettiger-Meister – in Kolumbien waren sie Pablo und Teresa, was sonst – haben in einem Armenviertel in der Küstenstadt Montería unter Mithilfe der einheimischen Jugendlichen eine Bibliothek aufgebaut. Heute ist daraus ein Kulturzentrum geworden. Da finden Lesungen mit lokalen Autoren, Autorinnen statt, da wird Theater gespielt, Hausaufgaben gemacht, gesungen und getanzt. Es gibt Frauengruppen, die Kurse veranstalten oder Kunsthandwerk verkaufen. «Das Zentrum lebt», sagt Therese Vettiger. Das ist, neben vielen guten Erinnerungen auf beiden Seiten, ein Werk, das geblieben ist.

Paul Vettiger ist in Baden aufgewachsen, hat Theologie und Philosophie in Paris studiert und war als Religionslehrer in verschiedenen Aargauer Kantonsschulen tätig. Die Motivation zur Theologie? Hat es einen Auslöser gegeben? «Ich war am Kollegi in Einsiedeln», erklärt Paul Vettiger. «Und dann kam eine Zeit der Öffnung und des Dialogs, vor allem in Paris, wo ich den Aufbruch mit dem II. Vatikanischen Konzil und der 68er-Generation erlebte.» Befreiungstheologie, Engagement in Solidaritätsgruppen, Diskussionen mit den Schülern und ein stetes Interesse für Südamerika, das waren die Motivationsbausteine. Therese Meister stammt aus Biel und arbeitete in Luzern als Bibliothekarin auf der Zentralbibliothek. «In Zürich habe ich in einer Arbeitsgruppe Dritte Welt mitgemacht. Wir arbeiteten an der Uni an einem Projekt für Peru, wo damals eine linke Militärdiktatur regierte. Diese Arbeit, mit viel Drittweltlektüre verbunden, motivierte mich für einen Einsatz in der Entwicklungszusammenarbeit.»

EIN BISCHOF SUCHTE LEUTE FÜR DEN BASISEINSATZ Die ersten Kontakte von Therese und Paul Vettiger liefen über die Schweizerische Missionsgesellschaft Bethlehem, Immensee (SMB), welche damals mit INTERTEAM zusammenarbeitete. Die Immenseer hatten in Kolumbien Kontakt mit Carlos José Ruiseco, dem Bischof von Montería. Er reiste 1979 nach Europa, suchte Leute für Basiseinsätze in seinem Bistum und lernte Paul und Therese Vettiger und die beiden Kinder Andrea und Michael kennen. «Wir erlebten Carlos Ruiseco als freundlichen, offenen Menschen, aber nicht befreiungstheo-

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EINE BASISGEMEINDE UND DAS KULTURZENTRUM ALS RESULTAT − Therese und Paul Vettiger-Meister, Bibliothekarin/Theologe

logisch orientiert», sagt Paul Vettiger. «Wir hatten ein gutes Gefühl und willigten schnell ein. Mit INTERTEAM bereiteten wir uns dann in einem dreimonatigen Kurs vor.» Im Mai 1980 in Kolumbien angekommen, stand

— «Befreiungstheologie, Engagement in Solidaritätsgruppen, Diskussionen mit den Schülern und ein stetes Interesse für Südamerika, das waren die Motivationsbausteine.» — ein zweimonatiger Sprachkurs in Cali bevor. Dann zog die Familie Vettiger nach Montería, eine Stadt mit rund 500'000 Einwohnern mit einem feuchtwarmen, fast tropischen Klima. Ausserhalb des Zentrums hatte die Stadt einen dörflichen Anstrich. Therese Vettiger: «Wir richteten uns im leer stehenden Jugendhaus des Bistums ein. Der Bischof holte uns am Provinzflugplatz persönlich ab und führte uns gleich zu unserem neuen Zuhause. Es bestand aus einem grossen Zimmer und einem kleinen Bad. Kaum betreten, drehte Paul am Wasserhahn, aber Wasser floss keines. Mit der Zeit gewöhnten wir uns daran, dass es eigentlich nur in der Nachtzeit, aber auch dann nicht immer, Wasser gab.»

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Von der ersten positiven Überraschung berichtet Paul Vettiger: «Im gleichen Gebäude wohnte die Familie der Doña Margarita, die dort als alleinerziehende Mutter mit fünf Kindern lebte. Wir kamen also an mit Koffern, verschwitzt, ungewaschen. Doch Doña Margarita organisierte für uns einen Empfang und brachte Essen und Trinken. Wir erhielten den einzigen Ventilator im Haus. So fühlten wir uns vom ersten Moment an umsorgt und aufgenommen. Der Kontakt mit dieser Familie ist heute noch intensiv.» Und dann? Was haben sie gemacht in Montería? «Das Projekt war nicht so genau definiert. Mit den heute üblichen entwicklungstechnischen Ansätzen wäre es nicht vergleichbar», sagt Paul Vettiger. «Am Rande der Stadt gab es Armenviertel. Da hatten vertriebene Menschen über Nacht unbewohntes Terrain besetzt und ihre Hütten aufgestellt. In einem langen Prozess von 10 bis 15 Jahren sind diese aus Bambus, Brettern und Palmblättern erstellten Behausungen dann verbessert worden. In solchen Quartieren, Barrios sagt man ihnen, hat uns der Bischof eingesetzt, ohne zu sagen, was er erwartete».

«PABLO EL GRINGO» «Wir sind extrem aufgefallen in diesen Barrios», erzählt Therese Vettiger. «Wir waren wie Leute von einem anderen Planeten. Klar, wir litten unter der Hitze, waren mit hochroten Köpfen unterwegs, in Gegenden, wo der Abfall vor sich hin stank.» Kontakte haben sich leicht ergeben, erzählen die beiden. Sie trafen bald eine Frau, eine Art Leadertyp, im


Barrio Santa Fé: Maria Campo. Sie war Präsidentin des Armenviertels. Sie öffnete den Schweizern die ersten Türen. Was Therese Vettiger registrierte: «Viele meinten, wir kämen als Missionare zu ihnen und waren deshalb skeptisch bis distanziert. Dazu beigetragen hat vermutlich auch der Bart von Pablo.» Pablo ergänzt: «Ich sah fast aus wie ein Hippie. Dazu meinten viele, Suiza (Schweiz) liege etwas nördlich von Kolumbien, in der Nähe der USA. Und ‘Gringos’ brauchte man hier nicht.» Gringo ist in Lateinamerika immer noch eine leicht abschätzige Bezeichnung für Yankees. Pablo zeigt mir den Beweis, eine Gasrechnung, ausgestellt auf den Namen ‘Pablo el Gringo’. Das Kennenlernen, das Mitfühlen, das Dabeisein, gehörten zur ersten Etappe im Prozess eines Basiseinsatzes. «Diese Beziehungen auf einer menschlichen Ebene waren eigentlich das Zentrale zu Beginn unseres Auftrages», sagt Paul Vettiger. Dazu trugen auch unsere beiden Kinder bei, zu denen sich 1983 ein drittes, Manuel-José, gesellte. Therese Vettiger versucht den sozialen Rahmen zu beschreiben: «Der Gegensatz zwischen den Besitzlosen vom Land und den Grundbesitzern in der Stadt war rundum spürbar. Die Kirche war sehr konservativ, von Befreiungstheologie keine Spur. Einzig in den Armenvierteln spürte man ab und zu einen politischen Ansatz. In dieser Situation versuchten wir, mit den Menschen einen Schritt in Richtung Gemeinschaft und solidarisches Handeln zu gehen.» «An der Basis, bei Ordensleuten, haben wir Ansätze zum politischen Widerstand gespürt. Es gab auch sehr engagierte Nonnen, die auf einen guten Job am Gymnasium verzichteten und an der Basis in Armenvierteln wirkten», präzisiert Paul Vettiger. Mit der Zeit sei eine lebendige Basisgemeinde entstanden, mit Ansätzen aus der Befreiungstheologie.

SEHEN, URTEILEN, HANDELN Maria Campo hatte einen Sohn, der als Guerillaführer wirkte. Vettigers erlebten auch junge Menschen im Projekt, die sich mit den Guerillas ange-

freundet hatten. «Wir haben das nur erahnt, nie richtig durchschaut. Plötzlich sind Leute verschwunden. Die Befreiungstheologie hat versucht, die Leute zu motivieren, ihr Schicksal, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und für menschenunwürdige Lebensbedingungen zu kämpfen. Sehen, urteilen, handeln, hiess die Devise.» Therese Vettiger ergänzt hier: «Wir haben auf dieser Basis angefangen. Das grosse Jugendhaus bot sich an, im Innenhof grosse Versammlungen abzuhalten. Dort haben wir mit den Leuten ihre Situation reflektiert und verbindliche Abmachungen getroffen. Es wurde aber nicht nur geredet, sondern auch gespielt, musiziert, gesungen und getanzt. Heute gibt es effiziente, wirkungsorientierte Projekte. Davon war damals noch nicht viel zu hören. Wir mussten zuerst die Bedürfnisse klären.» Aus den Begegnungen entstand dann die Frage nach dem Handeln. Was machen wir jetzt? Nochmals Therese Vettiger: «Von den jungen Leuten kam sehr bald die Idee, in den Armenvierteln etwas Kulturelles auf die Beine zu stellen. Zu Hause lief von frühmorgens bis spät am Abend der Fernseher. Das lenkte die Menschen von ihrer Realität ab. Als Gegenkultur spielten wir Strassentheater, das den Leuten ihre Lebensproblematik bewusst machen sollte. Es entstand das Bedürfnis nach einer Bibliothek. Viele Kinder hatten keinen ruhigen Ort in ihren Hütten, um Schulaufgaben zu machen.»

STATT EINER KAPELLE EIN ZENTRUM FÜR ALLE Schon lange forderte die energische Maria Campo: «Wir brauchen eine Kapelle, wir sind niemand, wenn wir keine Kirche haben.» Doch es kamen Zweifel auf wegen den Kosten; und was geschieht mit der leerstehenden Kapelle, wenn kein Gottesdienst ist? Darum konzentrierte man sich auf einen multifunktionalen Raum, geeignet für Versammlungen, Kurse, Kindergarten, Partys und eben Gottesdienste. Dieses Zentrum wurde dann erstellt, bescheiden auf einem Betonboden mit einem Palmdach. Es gab verschiedene Gruppen

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− FRÖHLICHES FAMILIENFOTO MIT PAUL UND THERESE VETTIGER (PAUL VORNE LINKS KNIEND; THERESE DRITTE VON RECHTS STEHEND).

mit bestimmten Aufgaben, zum Beispiel eine Pastoralgruppe oder eine Bibliotheksgruppe. «Es gab auch viele Frauen, die sich treffen wollten», sagt Therese Vettiger. «Sie waren oft alleine für die Familie verantwortlich und wollten ihrem Leben noch einen anderen Sinn geben. Viele Männer verschwanden einfach, gingen zu einer neuen Frau. Das war nichts Aussergewöhnliches. Die Frauen verrichteten derweil in der Stadt schlecht bezahlte Hausarbeiten.» Es sei schwierig gewesen, mit diesen Frauen irgendeine Projektidee zu finden. Schliesslich hätten sich die Frauen auf gesundheitliche Einsätze und Nachbarschaftshilfe konzentriert.

— «Die Revolutionsparole klingt mir immer noch in den Ohren: Un pueblo unido jamás será vencido! (Ein geeintes Volk wird nie besiegt!)» — Wie gross war der Anteil der armen Bevölkerung? «Sicher um die neunzig Prozent», erklärt

Paul Vettiger. Der Reichtum konzentrierte sich auf wenige Grossgrundbesitzer, Juristen, Ärzte, Politiker. «Ein handfester Unterschied manifestierte sich in der Wasserversorgung. Während wir in den Barrios kein Wasser hatten, wurde in den Vierteln der Reichen der Rasen bewässert oder es wurden Autos gewaschen.»

— «Sehen, urteilen, handeln hiess die Devise.» —

Was ist vom Engagement geblieben? Paul Vettiger: «Es entstand eine Basisgemeinde, eingebettet in den grossen Strom engagierter Glaubensgemeinschaften in ganz Lateinamerika. Ähnliches hörten wir auch von anderen Einsatzgruppen, beispielsweise von der SMB oder von den Franziskanern. Die Leader dieser Gruppen trafen sich in regionalen Treffen zum Austausch und zur Weiterbildung. Die Franziskaner hatten manchmal einen radikaleren Ansatz. Die an Treffen miteinander skandierte Revolutionsparole klingt mir immer noch in den Ohren: Un pueblo unido jamás será vencido! (Ein geeintes Volk wird nie besiegt!). Der Wunsch des einfachen Volkes nach Befreiung von menschenunwürdigen Bedingungen war in jenen Jahren in Kolumbien breiter und stärker geworden, wie ganz generell in Südamerika. Wir konnten dazu kleine Impulse geben, Wege aufzeigen. Aber die Veränderung, den sogenannten ’cambio’ realisieren, musste das Volk selber», meint Paul Vettiger. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz haben Paul und Therese Vettiger von 1985 bis 1996 für INTERTEAM gearbeitet. Sie haben die Kursleitung weitergeführt und den neuen Ansprüchen angepasst. «Wir haben begeisterte Leute rekrutiert und sie in einem vierwöchigen Ausreisekurs auf ihren Einsatz vorbereitet.» In der gleichen Zeit wirkten beide als Länderverantwortliche. Therese für Nicaragua und El Salvador, Paul für viele Länder in Lateinamerika und im südlichen Afrika. Für beide war INTERTEAM ein Teil ihres Lebens; und auch heute noch fühlen sie sich der Organisation stark verbunden.

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− MARIA CAMPO, PRÄSIDENTIN DES ARMENVIERTELS BARRIO SANTA FÉ, UNTERSTÜTZE VETTIGERS WÄHREND IHREM EINSATZ UND VERMITTELTE KONTAKTE ZU EINHEIMISCHEN.


«WIR STEHEN HEUTE AN EINEM ANDERN ORT» − Max Elmiger, Theologe, und Präsident INTERTEAM

Das professionelle Umfeld ist spürbar, wenn Max Elmiger (57) über Entwicklungszusammenarbeit spricht. Der Theologe war neun Jahre in Peru, ist heute Direktor der Caritas Zürich und Präsident von INTERTEAM. Wenn er erzählt, ergibt sich ein Bild mit Konturen. Und er bemüht sich deutlich, die Unterschiede von heutiger Entwicklungszusammenarbeit zur einstigen Hilfe mit religiösmissionarischer Ausrichtung zu beschreiben.

I

ch verkörpere eigentlich die Entwicklung von der Missionsgeschichte zur Entwicklungszusammenarbeit. Ich habe 1989 in Peru als Priester missionarische Präsenz geleistet. Es gab einen Doppelvertrag mit der Schweizerischen Missionsgesellschaft Bethlehem (SMB) und mit INTERTEAM. Die Ablösung von der klassischen Missionsarbeit war damals schon voll im Gange.» Der Impuls zur Theologie, wo kam der her? «Ich bin in einem katholischen Haus aufgewachsen, habe in St. Gallen eine katholische Sekundarschule besucht. Und ich wollte den Menschen helfen, hatte eine Vorstellung von Engagement. Dann kam das Studium in Fribourg; die Befreiungstheologie hat mich motiviert. Ich wusste, dass ich nach Peru wollte, wo die Befreiungstheologie ihre Anfänge hatte.» Die ersten fünf Jahre nach dem Studium wirkte Max Elmiger als Priester in Flawil. Dann war für ihn kein Halten mehr. Er reiste nach Peru und erlebte von 1989 bis 1991 aus nächster Nähe Bedrohung und Gewalt durch die Rebellen des ’Sendero Luminoso’. «Die kirchlichen Vertretungen waren die einzigen, die in den roten Zonen geblieben sind. Die Vertreter der Hilfswerke und der NGO’s reisten ab. Wir hatten, auch dank internationalen Verbindungen, einen gewissen Schutz. Und wir bedeuteten auch Schutz für die Bevölkerung. Diese Zeit hat mich sehr geprägt.»

− IN CUSCO KÜMMERTE SICH MAX UND MERCEDES ELMIGER UM DIE LASTENTRÄGER UND ORGANISIERTEN WEITERBILDUNGSANGEBOTE. DABEI LAG DIE GROSSE HERAUSFORDERUNG IN DER SPRACHE; MEHRHEITLICH VERSTÄNDIGTEN SICH DIE LASTENTRÄGER NOCH IMMER MITTELS 'QUECHUA', DER SPRACHE DER INKAS. (AUCH SEITE 26 RECHTS)

EIN GEWISSER RESPEKT VOR DER BEDROHUNG In den ersten drei Jahren leitete Max Elmiger eine Pfarrei. Die administrative und finanzielle Seite seines Einsatzes lief über INTERTEAM, die inhaltliche Ausrichtung bestimmte die SMB. Gab es nie Zweifel angesichts der bedrohlichen Lage? «Eine gewisse Angst, ein Respekt war schon da», sagt Max Elmiger heute. «Aber ich hatte nie den Eindruck, am falschen Ort zu sein. Wir hatten einen anerkannten Auftrag. Ein Weisser, der damals in Peru weilte, war entweder Ingenieur, selten ein Tourist oder beim kirchlichen Personal.» In den INTERTEAM-Aufzeichnungen heisst es: «Max Elmiger mit Frau Mercedes Elmiger-Bernal in Peru». Darum meine Frage: Ein verheirateter Priester im Missionseinsatz? «Ja, das kann man so sehen», sagt Max Elmiger. «Meine Frau

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Mercedes ist Peruanerin. Ich habe sie im RomeroHaus in Luzern kennengelernt. Sie betreute hier die Kinder der Leute im Ausreisekurs und reiste unabhängig von mir ebenfalls nach Peru.» Nach drei Jahren haben die beiden geheiratet und erhielten einen neuen Vertrag. Max Elmiger wurde vom Priesteramt dispensiert.

IM HAUS DER LASTENTRÄGER Max und Mercedes Elmiger-Bernal leiteten von 1991 bis 1994 zusammen das sogenannte Haus der Lastenträger, eine Herberge für ’Kulis’ in Cusco, der alten Inka-Hauptstadt in den Anden von Peru. Ihre Aufgabe war die Organisation von Weiterbildungsangeboten für die Lastenträger, die als Verdienende für die Unterkunft bezahlten. «Der Nachteil der Lastenträger war die Sprache. Sie redeten das ’Quechua’, die Sprache der Inkas, und in der Stadt sprach man spanisch. Ab und zu wurde auch ihr Alkoholkonsum zum Problem, ihre Gesundheit war nicht optimal. Der Altersunterschied unter diesen Leuten war enorm: Es gab alles von den sechsjährigen Buben bis zu den 60jährigen Männern.» Mercedes Bernal hatte ihre Aufgaben: Schulbildung, Aufgabenbetreuung, Weiterbildung, Gesundheitsfragen und etwas Lebenshilfe. «Wir sorgten auch dafür, dass die Kinder in die staatlichen Schulen gingen.» Nach Cusco leistete das Ehepaar bis 1998 einen weiteren Einsatz in Puno am Titicacasee. Das war nach der Gewaltwelle und den Zerstörungen durch die Guerilla. Es galt zuerst, die dörflichen Strukturen wieder aufzubauen. Max Elmiger: «Wir waren als Mitglieder der Pfarrei unverdächtig, um dieses Engagement zu leisten. Wieder wirkte die Befreiungstheologie hinein. Es ging um Gesundheit, Erziehung, Ackerbau, um die Verbesserung der Schafzucht. Mercedes engagierte sich bei Frauengruppen. Das war eine Form des Übergangs von der Mission in die Entwicklungszusammenarbeit.» Max Elmiger skizziert den Unterschied in der Projektarbeit. «Wer im kirchlichen Auftrag pastoral oder im Sinne der Befreiungstheologie tätig war, hatte einen Doppelvertrag mit INTERTEAM und der SMB.» Berufsleute ohne pastorale Aufgaben hingegen hatten für ihren Einsatz lediglich einen INTERTEAM-Vertrag erhalten.


WISSENSTRANSFER STATT FACHARBEIT Während den ersten zwanzig Jahren waren auch für INTERTEAM grossmehrheitlich Ortskirchen die Partnerorganisationen. «Die Schweizerische Missionsgesellschaft Bethlehem war prägend bei der Gründung von INTERTEAM. Es ging um den Einsatz der Laienhelfer, den die SMB als wichtig einstufte: Handwerker, Krankenschwestern, Druckereiarbeiter, Lehrkräfte. Heute stehen wir an einem andern Ort. Die Fachkräfte sind in den Entwicklungsländern grösstenteils vorhanden. Wir können den Wissensaustausch gestalten. Beispielsweise soll heute eine Sozialarbeiterin nicht mehr operativ in der Sozialarbeit wirken, aber sie kann Sozialarbeiterinnen ausbilden. Oder sie macht ein Konzept für ein Frauenhaus; die Fachleute engagieren sich mehr in der Entwicklung der Organisationen», meint Max Elmiger. Wie ist denn heute die Situation im Gesundheitsbereich? Gibt es zum Beispiel genügend Krankenpflegerinnen in einem afrikanischen Entwicklungsland? Max Elmiger: «Ich meine schon. Das Problem ist häufig die Verteilung, weil die meisten in Städten arbeiten wollen. Wir sollten nicht von hier aus solche Lücken schliessen. Die Aufgabe muss auf der politischen Ebene im Land angepackt werden. Das ist Innenpolitik. Wir können höchstens mithelfen, die Arbeitsbedingungen auf dem Land zu verbessern.»

KURSLEITUNG BEI INTERTEAM Wie lief in Ihrer Erinnerung die Zusammenarbeit zwischen der Missionsgesellschaft Bethlehem und INTERTEAM? Max Elmiger: «Für mich war es immer eine Bereicherung, wenn Knowhow aus verschiedenen Erfahrungen zusammen kam.» Elmiger erwähnt das pädagogische und spezialisierte Wissen bei INTERTEAM, die professionelle Vorbereitung der Einsätze. Von 1998 bis 2005 oblag ihm die Rekrutierung und Vorbereitung der Fachleute. «Die Infor-

mationsanlässe, die Auswahl der Fachleute, die Eignungstests, Gespräche und Abklärungen. Dazu kamen die Ausreisekurse. Diese dauerten damals noch zwei Monate. Heute müssen vier Wochen reichen, wobei der Ablauf intensiver, konzentrierter geworden ist. Schliesslich gehörte auch die Begleitung nach der Rückkehr zu meinen Aufgaben.» Max Elmiger bezeichnet diese Zeit im Rückblick als aussergewöhnlich befriedigend. «Es entstanden gute, langjährige Beziehungen. Und es kommen veränderte Menschen zurück, mit Erfahrungen, die sie nicht missen möchten. Es entsteht eine Art Netz, das verbindet.» BMI und INTERTEAM ständen in einer Mutter-Tochter-Beziehung, erklärt Elmiger. Irgendeinmal habe sich INTERTEAM emanzipiert, ein eigenes Produkt geschaffen. «Wir haben den Schritt vom Missionsauftrag zur Entwicklungszusammenarbeit gemacht. Es war eine Ablösung.» Laut Elmiger steckt heute die BMI ebenfalls in einem Prozess der Emanzipation von der Kirche. Viele ihrer heutigen Einsätze glichen dem INTERTEAM-Engagement. Max Elmiger betont, dass INTERTEAM-Fachleute zur Zeit seines Einsatzes in Peru noch kein Fundraising betreiben mussten. Die DEZA finanzierte den Aufwand. «Heute sind diese Beiträge weit geringer. Schon länger ist auch INTERTEAM gezwungen, Fundraising zu betreiben. Irgendwann werden die BMI und INTERTEAM zusammenspannen», glaubt Elmiger. «Es macht wenig Sinn, für die gleichen Aufgaben zwei Buchhalter und zwei Versicherungsspezialisten anzustellen.»

ein paar Jahren kam dann der Wunsch nach einer Veränderung. Seit 2005 ist Max Elmiger Direktor der Caritas Zürich. Und 2008 hat er auf Anfrage das Präsidium von INTERTEAM übernommen. «Drei Jahre nach dem beruflichen Wechsel war es der richtige Zeitpunkt. Es wäre nicht optimal gewesen, von der operativen gleich in die strategische Ebene des Unternehmens zu wechseln. Ich betrachte mich etwas als ’Übergangspapst’, ohne romantisierenden Rückblick. INTERTEAM ist heute gut ausgerichtet. Unsere Motivation für Einsätze ist die Richtige. Und wir können die Leute damit animieren und auf ihren Job vorbereiten. Im Unterschied zu früher ist dies nicht mehr spirituellreligiös begründet, sondern fachspezifisch und entwicklungspolitisch. Das ist weder besser noch schlechter, aber in der heutigen Realität das Richtige.»

— «Es entstanden gute, langjährige Beziehungen. Und es kommen veränderte Menschen zurück, mit Erfahrungen, die sie nicht missen möchten.» —

Wie setzen Sie heute die Gewichte bei INTERTEAM? «Die Finanzierung wird nicht einfacher. Die DEZA-Gelder gehen zurück. Und unser ’Produkt’ wirkt auf dem Markt recht kompliziert. Das Gegenbeispiel ist WorldVision. Es gibt ein armes Kind, ich gebe zehn Franken, das Kind bekommt das Geld. INTERTEAM hingegen sucht eine Fachfrau oder einen Fachmann, die während drei Jahren eine Partnerorganisation unterstützen, die hilfsbedürftigen Menschen einen Fortschritt ermöglicht. Irgendeinmal kommt daraus etwas zurück. Die Vermittlung dieses Ansatzes ist viel schwieriger. Dazu kommt, dass viele lieber direkt für ein Drittweltland spenden als für eine Institution in der Schweiz. Will ich spenden, damit ein Schweizer in einem andern Land etwas aufbauen kann? Das ist die Frage, und unsere Antwort darauf erscheint auf den ersten Blick kompliziert. Dafür ist unsere Arbeit sehr nachhaltig und wird Bestand haben, davon bin ich überzeugt.»

ZURÜCK IN DIE SCHWEIZ Elmigers lebten in Peru auf dem Land. Die Einschulung der beiden Kinder (Gabriela 22, Dominik 19) wäre dort mit Schwierigkeiten verbunden gewesen. «INTERTEAM bot mir die Stelle als Kursleiter an. Das war für mich mit den Peru-Erfahrungen ein Traumjob.» Nach

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− DER ZWEITE EINSATZ VON MAX ELMIGER LEISTETE ER UND SEINE FRAU NACH 24GEWALTWELLE — DER AUSTAUSCH Jubiläumsausgabe DER UND DEN ZERSTÖRUNGEN DURCH DIE GUERILLA IN PUNA AM TITICACASEE. DAS BILD ZEIGT MAX ELMIGER 1997 AUF 4300 M.Ü.M.


Beni Affolter (59), ein Berner, wirkt motivierend. Sein Auftritt, seine Argumente sind überzeugend. Man macht mit, wenn er etwas gut und richtig findet. Der Entwicklungshelfer, wie ich ihn mir vorstelle.

G

ab es beim Entscheid für die Entwicklungshilfe einen besonderen Impuls, frage ich Beni Affolter zu Beginn unseres Gesprächs? «Entwicklungszusammenarbeit war für mich immer ein guter Ansatz. Das begann schon im Studium, als Leute von der DEZA für Referate in die Uni kamen.» Eine andere Erinnerung kommt aus der Jungwachtzeit. «Es gab damals eine Blauring-Scharleiterin, die für die Entwicklungshilfe nach La Réunion ging. Nach ihrer Rückkehr erzählte sie von ihren Erlebnissen. Das machte mir Eindruck.»

Nach dem Studium – Beni Affolter war bereits über 30 – wirkte er während zehn Jahren als Lehrer für Englisch und Geografie am Wirtschaftsgymnasium in Biel. «Ich hatte den Einstieg etwas verpasst. Ich wusste, dass mir in diesem Alter für die Entwicklungshilfe die Erfahrung fehlte.» Über das IKRK fand er dann doch noch den Weg. Als Delegierter macht er seine ersten Erfahrungen in diesem Bereich im Ausland. Aus dem humanitären Einsatz im Süd-Sudan und in Pakistan ging es in die Entwicklungszusammenarbeit. Das alles geschah vor rund 20 Jahren.

DEZA UND INTERTEAM – GROSSE UNTERSCHIEDE Beni Affolter versuchte bei der DEZA eine Funktion im Ausland zu erhalten, was aber nicht gelang. «Schliesslich sah ich die Ausschreibung von INTERTEAM für die Stelle als Koordinator in Namibia, fast ein Zufall irgendwie.» Etwas Überwindung kostete der grosse Unterschied der finanziellen Aussichten bei der DEZA und bei INTERTEAM. Die Gesamtleistungen betragen etwa 5 zu

1. Kostet ein INTERTEAM-Einsatz pro Jahr und Person etwa 50’000 Franken, sind dies bei der DEZA wahrscheinlich mehr als 250’000 Franken. Zehn Jahre Schule, 15 Jahre Entwicklungshilfe, zehn Jahre Schule – das ist der berufliche Weg von Beni Affolter bis heute. Und er möchte ihn rückblickend nicht anders haben. «Bei der DEZA hätte ich heute ohnehin nichts mehr verloren. Was ich da von weither höre, tönt sehr ernüchternd.» Wie muss ich dies verstehen? «Es wird kontrolliert, der konzeptionelle Überbau ist grösser geworden, und die Rechte im Bundesparlament will überall mitreden, sagen, wohin das Geld fliessen soll. Früher war unbestritten, dass es in die ärmsten Regionen der Welt gehört, heute dominieren u.a. die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz.»

EINE «AKADEMISIERUNG» IST SPÜRBAR Auch der personelle Einsatz habe sich gewandelt, meint Affolter: «Früher wirkten unsere Leute an der Basis, beim Volk; heute sind in der Entwicklungszusammenarbeit oft ‘Schreibtischtäter’ am Werk. Von diesem Umbau ist auch INTERTEAM nicht ganz ausgeschlossen. Früher waren mehr Handwerker, Berufsleute am Werk, die mit ihrem Know-how an Ort und Stelle überzeugende Arbeit leisteten. Sie sind heute kaum mehr gefragt, weil INTERTEAM und Partnerorganisationen andere Anforderungen haben. Diese Entwicklung hat ihre Schattenseiten.» Beni Affolter liefert hierzu gleich ein Beispiel: «Wir hatten einen Mechaniker aus der Schweiz im Einsatz, ohne grosse Zusatzausbildung aber mit einer sehr guten Arbeitseinstellung. Sein Partner in

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«ICH HABE ALLES GEMACHT IN NAMIBIA: MAKLER, CHAUFFEUR, BUCHHALTER, JOURNALIST» − Beni Affolter, Lehrer

− DANK BENI AFFOLTER UND SEINEN INTERTEAM-FACHLEUTEN KONNTE IN KATUTURA, EINER VORSTADT VON WINDHOEK, DIE KINDERGARTENBE26 — DER Jubiläumsausgabe TREUUNG MASSIVAUSTAUSCH VERBESSERT WERDEN: DANK SOLARKOCHERN ERHALTEN DIE KINDER NUN WARME MITTAGSSPEISEN.

— «Die Leute von INTERTEAM erbringen mit ihrem Einsatz den Tatbeweis für partnerschaftliche Entwicklungszusammenarbeit.» —


− BENI AFFOLTER BEIM BESUCH DER ’BUNYA COMBINED SCHOOL’ IN DER KAVANGO-REGION IM JAHR 2000.

NEUORIENTIERUNG NACH DER RÜCKKEHR − DAS VERTRAUEN DER SCHWARZEN BEVÖLKERUNG IN DIE ARBEIT VON INTERTEAM IST MIT BENI AFFOLTER ALS KOORDINATOR STARK GESTIEGEN. EXEMPLARISCH HIERFÜR IST DIE CHECKÜBERGABE DER NAMDEB DIAMOND CORPORATION AN DAS SOLARPROJEKT MIT DER FACHPERSON ANNETTE OERTIG.

Namibia hatte eine wesentlich breitere Ausbildung, studierte in England und Kanada, hatte akademische Titel und Erfahrungen bei Auslandeinsätzen. Die Wochenbilanz ihrer Arbeit entsprach jedoch in keiner Weise diesen Voraussetzungen. Der Einheimische erreichte kaum auch nur annähernd so viel wie die Schweizer Fachperson.» Beni Affolter formuliert es so: «Meine fünfjährige Praxis als Koordinator in Namibia hat es gezeigt: Die Leute von INTERTEAM erbringen mit ihrem Einsatz den Tatbeweis für partnerschaftliche Entwicklungszusammenarbeit.» Affolter spricht mit Freude von einer guten Zeit, von eindrücklichen Begegnungen. «Ich hatte Kontakte zum Premierminister bis hinunter zu den Menschen in den Hilfsprojekten, oder zu von Aids betroffenen Frauen. Die Aufgabe war polyvalent. Ich habe alles gemacht. Vom Chauffeur zum Makler, zum Buchhalter, Journalisten und Fotografen, selbst politische Aufgaben nahm ich wahr.»

NAMIBIA WAR SÜDWESTAFRIKA Als Beni Affolter 1998 in Namibia die Arbeit aufnahm, unterhielt INTERTEAM zwischen fünf und sieben Projekte mit rund zwanzig Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Wie hat INTERTEAM in Namibia gewirkt? «Meine Hauptaufgabe bestand darin, ein Landesprogramm zu entwickeln und umzusetzen. Nach relativ kurzer Zeit konzentrierten wir uns auf vier Bereiche: Auf die Weiterbildung von Lehrkräften, die Ausbildung von Handwerkern, die administrative Führung von Gesundheitseinrichtungen wie Spitälern und Kliniken und parallel dazu die Einführung des Computers. Und schliesslich engagierten wir uns in HIV-Informationskampagnen. Als wir 1998 in Namibia ankamen, war das Wort Aids kaum im Sprachgebrauch. Doch die Krankheit war zu diesem Zeitpunkt am Explodieren. Jedes Mal, wenn ich Missionsstationen besuchte, war der Friedhof wieder um unzählige Gräber grösser geworden. Die ’Catholic Aids-Action’, am Anfang bestehend aus drei Personen, war eine hilfreiche Einrichtung. Chefin war eine deutsche Ordensfrau und Ärztin, Projektleiterin eine amerikanische Sozialarbeiterin. Die Kirche konnte dank ihren Strukturen bis in entlegenste Gegenden Informationen und Hilfe bringen.» Fünf Jahre später wirkten um die 300 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im

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2003 beendete Beni Affolter seinen Einsatz in Namibia. «Leider fand ich keine Anstellung mehr in der DEZA, sie wollte mich nicht mehr. Ich kann das eigentlich immer noch nicht verstehen. Meine Erfahrungen wären für die DEZA wichtig gewesen. Der neue Verantwortliche für NGOs z.B. ging damals – einmal positiv ausgedrückt – sehr unbelastet ans Werk.» ganzen Land, mehrheitlich einheimische Fachkräfte. Zu diesen Fachkräften gehörte auch seine Frau Renate Affolter, die während drei Jahren in einem 50%-Einsatz mitwirkte. Renate war froh, ihr Umfeld mit Kindern und Haushalt auf sinnvolle Weise ergänzen zu können. Der Bildungsbereich war wichtig, weil die meisten Lehrer und Lehrerinnen ungenügend ausgebildet waren. Nach dem Schritt in die Unabhängigkeit im Jahre 1990 wurden die Schulen sofort für alle zugänglich gemacht. Doch es gab viel zu wenig ausgebildete einheimische Lehrkräfte. So wurden Maturanden in die Schulklassen gestellt. INTERTEAM machte es sich dann zur Aufgabe, diese jungen Leute berufsbegleitend weiterzubilden, vorwiegend in der Region Kavango im Norden des Landes. «Wir konnten von der Infrastruktur in den von deutschen Priestern aufgebauten Missionsstationen profitieren, was die Arbeit für eine Familie aus der Schweiz etwas vereinfacht hat.» Wie war der Aufenthalt in Namibia, das Leben, der Alltag? Im Sommer 1998, zwei Monate vor dem Stellenantritt als Koordinator in Namibia, wurde Beni Affolter auf einer Dienstreise mit der damaligen Projektverantwortlichen von INTERTEAM in Luzern, von Lilian Studer, in seine künftige Aufgabe eingeführt. Zum Auftrag gehörte dabei auch die Suche nach einem Haus als Wirkungs- und Wohnort für die INTERTEAM-Koordination. Schliesslich wurde ein Haus gekauft. Dort zog die Familie Affolter - Beni, Renate mit den Söhnen Christian und Martin - im Oktober 1998 ein.

AUF DIE MISSIONSSTATIONEN KONZENTRIERT Wie startete die Arbeit im Team, in den Projekten? Beni Affolter: «Wir haben uns am Anfang stark auf die Strukturen der katholischen Kirche, auf die Missionsstationen konzentriert. Ich fand das sinnvoll. Weisse wie Schwarze haben dort begriffen, was INTERTEAM macht. Es gab eine Vertrauensebene. Die Gesprächskultur war gut.» Ergänzend hält Affolter hier fest, dass jeder und jede neue INTERTEAMEinsatzleistende von den Einheimischen genau beobachtet worden sei. «Das war immer eine Herausforderung für beide Seiten.»

Und der Alltag? Was macht ein Koordinator? «Zentral war die Unterstützung der Fachkräfte am Einsatzort, persönlich, am Telefon oder später via Internet.» Zugenommen hätten in diesen Jahren die Monitoringsitzungen mit den Partnerorganisationen, sagt Affolter, weil INTERTEAM ein Gesamtprogramm für das Land vorgegeben habe. Das eigentliche Ziel, den Transfer von Know-how zu den Einheimischen herzustellen, sei nicht immer einfach gewesen.

— «Weisse wie Schwarze haben dort begriffen, was INTERTEAM macht. Es gab eine Vertrauensebene. Die Gesprächskultur war gut.» — Waren auch Frauen in die Projekte eingebunden? «Sicher», sagt Beni Affolter. Entscheidend waren die Verträge mit INTERTEAM. In einer Familie leistete die Frau den Einsatz als Lehrerin, ihr Mann war Hausmann. Mehrere Frauen waren Vertragspartner, oder auch ganze Familien, wenn beide in der Entwicklungszusammenarbeit mitwirkten. Wie lief generell die Entwicklungszusammenarbeit in diesem afrikanischen Land, in einem Kontinent, wo politische Unsicherheit zum Alltag gehört? Beni Affolter erzählt von Unruhen im Jahre 1999, von einer Art Aufstand einer Gruppe im Nordosten des Landes gegen die Zentralregierung von Namibia. Diese Region sei nachher sehr unsicher geworden. «Gleichzeitig gab es Probleme im Nachbarstaat Angola. Die Namibische Regierung erlaubte den Angolanern, auf namibischem Terrain Truppen zu verschieben, weil dort bessere Strassenverhältnisse bestanden. Dies führte zu Übergriffen, Raubzügen von angolanischen Rebellen und schliesslich zum Abzug von sozusagen allen Entwicklungsorganisationen in dieser Gegend bis auf INTERTEAM. INTERTEAM entschied sich zusammen mit den Fachleuten, auf den Missionsstationen in der Region zu bleiben. Noch Jahre später lobte der Regierungschef der Region Kavango dieses Verhalten», meint Beni Affolter stolz.

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So kam Beni Affolter zurück in die Schweiz. Kurze Zeit gab es Gedanken, als Privatperson nach Namibia zurückzukehren, vielleicht dort etwas Eigenes aufzubauen, in Verbindung mit dem Tourismus. «Wer nach Namibia reist, geht meist wegen der Landschaft, wegen den Tieren und Pflanzen. Ich konnte damals kurzfristig eine Studiosus-Reise leiten und führte die Leute auch in unsere Einsatzprojekte. Das hat den Gästen sehr gefallen. Sie sahen einmal etwas Anderes.» Nach fünf Tagen zurück in der Schweiz kam der Anruf eines Prorektors vom Gymnasium, der Beni Affolter anfragte, ob er eine Stellvertretung übernehmen könne. Das war dann der Weg zurück in den Schuldienst.

FÜNF JAHRE SIND GENUG Beni Affolter ist heute überzeugt, dass ein Einsatz von fünf Jahren an der oberen Grenze liegt. Mehr könne schwierig werden. Auch mit Erinnerungen an Einsatzleistende von INTERTEAM. «Sie kamen sehr motiviert an ihren Einsatzort, wollten die Welt verändern. Nach fünf bis sechs Monaten wollten fast alle wieder nach Hause, weil sie genau auf diese Welt gekommen sind. Die Zustände können anders sein, als vorher auf dem Papier beschrieben.» Affolter betont: «Die Funktion des Koordinators ist enorm anspruchsvoll. Du bist im Sandwich zwischen den Einsatzleistenden und den Ansprüchen von INTERTEAM Luzern. Und letztlich geht es fast immer ums Geld. Idealismus allein genügt nicht mehr. Jemand muss sich einen Entwicklungshilfeeinsatz sozusagen leisten können. Trotzdem: der Ansatz von INTERTEAM ist immer noch richtig. In Zusammenarbeit mit einheimischen Menschen übergeben wir Know-how, zum Beispiel auch in der Landwirtschaft. Es ist nicht einfach, eine von einem Weissen aufgegebene Farm einem Schwarzen zu übergeben. Der Schwarze muss zuerst lernen, wie er diesen Betrieb wirtschaftlich führen soll. Doch der notwendige Know-how-Transfer ist keine Einbahnstrasse, denn alle Einsatzleistenden sagen immer wieder, dass sie viel mehr bekommen haben, als sie gegeben hätten!»


«MEINE HEUTIGE STELLE HÄTTE ICH OHNE DIE NICARAGUAERFAHRUNG NIE BEKOMMEN.»

Wenn Yvonne Vàsques (46) überzeugt ist von einem Plan, wird sie alles daran setzen, ihn zu verwirklichen. Diese Einschätzung beruht auf der Art und Weise, wie sie den Einsatz in Nicaragua, ihr persönliches und berufliches Handeln beschreibt. «Das Leben in Nicaragua hat mich verändert, mein Bewusstsein für den Umgang mit dieser Welt geschärft», ist sie überzeugt.

D

as Curriculum mit dem beruflichen Wechsel vom Marketing zum Fairtrade-Engagement brachte mich auf die Frage: Was bestimmt Ihr Wirken? Worin liegt der Sinn des Lebens für Sie? Yvonne Vásquez muss nicht lange überlegen. «Ich möchte zur Gerechtigkeit beitragen, auch im kleinen Umfeld.» Das habe schon im Kindergarten angefangen, wo sie auf ihre Gspänli achtgegeben hat, weiss sie noch. Als weiteren Grund sieht sie die lange Tätigkeit ihrer Grossmutter in Afrika in Hilfsprojekten. «Sie hat auf privater Basis Heime unterstützt. Auch ich wollte mitgehen. Aber man konnte mich dort nicht gebrauchen.» Yvonne Vásquez – damals hiess sie noch Maltry – arbeitete nach der kaufmännischen Lehre im Verkauf und war später

Projektleiterin im Zentrum für Unternehmensführung in Thalwil. In der Entwicklungszusammenarbeit in Nicaragua wirkte sie als Beraterin und Ausbildnerin in der Organisationsentwicklung. Sie hatte einen Doppelvertrag mit INTERTEAM und zwei lokalen Unternehmen für Naturmedizin und für Bio-Kaffee. Heute ist sie Geschäftsleitungsmitglied und Verantwortliche für den Handel mit Schokolade und Kakao in der Pronatec AG in Winterthur («Der Profi in Sachen Bio und Fairtrade», wie sich das Unternehmen selber beschreibt). Die Pronatec liefert Schokolade in die USA, nach Kanada, Japan, ganz Europa und in kleineren Mengen in asiatische Länder.

DIE BERUFLICHE WENDE Ein eher zufälliges Zusammentreffen mit INTERTEAMGeschäftsleiter Erik Keller brachte die Wende vom Marketing zur Entwicklungszusammenarbeit. «Wir sprachen über einen möglichen Einsatz im Ausland. Zusammen mit meinem damaligen Partner bewarben wir uns für Nicaragua. Neben dem Gedanken an Hilfe und Know-how-Vermittlung gab es auch den Wunsch nach einer Horizonterweiterung. Der Aspekt der persönlichen Veränderung war also mit dabei. Und ich wollte weg vom Marketing, von meiner bisherigen Tätigkeit», erzählt Yvonne Vásquez.

− Yvonne Vásquez, Marketingfachfrau

— «Das Leben in Nicaragua hat mich verändert, mein Bewusstsein für den Umgang mit dieser Welt geschärft…» —

− "YVONNE VÁSQUEZ WÄHREND IHREM EINSATZ IN NICARAGUA, 2002 BIS 2008.

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Was war ihr Auftrag in Nicaragua? Yvonne Vásquez: «Ich sollte in Esteli das Marketing von lokalen Organisationen unterstützen, die naturmedizinische Produkte herstellten, zum Beispiel Tee, Hustensäfte, Salben. Weil diese Produkte aber fehlten oder nur in geringen Mengen vorhanden waren, konnte ich anfänglich nicht viel ausrichten. In der Folge verlagerte ich meine Arbeit auf die Organisation der Abläufe, die Beschaffung und den Transport der Produkte. Hinter dem Projekt, das mehrheitlich von Frauen geführt wird, stand eine NGO. Auf einer Finca (Bauernbetrieb) wurden die Pflanzen angebaut, in einem dazugehörigen Labor Tee hergestellt und in der hauseigenen Druckerei ein Magazin für natürliche Heilmittel produziert. Die ganze Organisation mit ausgebildeten Fachkräften funktioniert ohne externe Gelder und steht auf eigenen Beinen, was in Nicaragua sehr selten ist.»


Yvonne Vásquez hat über die ganzen sieben Jahre für verschiedene Unternehmen und Organisationen gearbeitet, alles im Bereich der Bioproduktion. «Meine Unterstützung diente vor allem dem kaufmännischen und organisatorischen Know-how. Das Marketing selbst fand am Ort statt. Die Leute wussten, was ihre Kunden wollten. In den letzten vier Jahren arbeitete ich für eine Kaffee-Kooperative, deren Produktion eher bescheiden gewesen ist. Doch der Absatz war vorhanden: Ein von Frauen hergestelltes Bio-Produkt mit FairtradeEtikett verkauft sich immer gut», schmunzelt Vásquez. Zur Tätigkeit gehörte auch die Schulung der Leute im Bereich Fairtrade.

DAS POLITISCHE UMFELD IST SCHWIERIG ZU BEURTEILEN Stichwort Entwicklung – was braucht Nicaragua heute? Macht der Austausch von Fachwissen, von Know-how noch Sinn? «Das Land erlebte sehr schwierige Zeiten, und ich meine, sie sind nicht vorbei. Die Naturkatastrophen sind immer wieder da. Und ich zweifle auch etwas am politischen Umfeld.» Wer die ganze Befreiungsgeschichte durch die Sandinisten nicht persönlich erlebt habe, könne kaum verstehen, warum heute immer noch so viele Menschen hinter Daniel Ortega stünden, ist Yvonne Vásquez überzeugt. «Als externe Beobachterin frage ich mich, warum das so ist. Aber das ganze familiäre Umfeld, das ich jetzt durch die Heirat in Nicaragua habe, steht voll hinter Ortega.»

DIE PROJEKTE WIRKEN NACHHALTIG Frage: Diese Kooperative, die ganze Bioproduktion – geht das in diesem Sinne weiter? Ist da Nachhaltigkeit erreicht worden? Yvonne Vásquez sieht es auf gutem Wege. «Ich denke schon. ISNAYA, der Betrieb für Naturmedizin, und die ’Fundación entre Mujeres’, die Kaffee-Kooperative, laufen gut. Ich kann das verfolgen, weil ich immer wieder etwa in Nicaragua auf Familienbesuch bin.» Hat es Begegnungen mit Menschen gegeben, die nachklingen? «Mehrere, doch eine hat eine besondere Bedeutung», erzählt Yvonne Vásquez. «Rosamelia Centeno ist eine Kaffeebäuerin. Für mich ist sie der Inbegriff einer starken Frau, die es trotz unzähligen Schwierigkeiten und gesundheitlichen Problemen zur Präsidentin einer Kaffeekooperative geschafft hat. Dank der Arbeit mit der ‘Fundación entre Mujeres’ hat sie Selbstvertrauen gewonnen, nimmt an Kursen und Ausstellungen teil, versteht, wie die Preise gerechnet werden und weiss was Fairtrade oder Bio ist. Sie repräsentiert ihre Gemeinde und ist eine wichtige Ansprechpartnerin in ihrem Dorf, das früher hauptsächlich durch Männer ’bestimmt’ wurde. Sie hat mit dem Kaffeeanbau nun ihr eigenes Einkommen und setzt sich für eine gute Aus- und Weiterbildung ihrer Kinder und Enkel ein.» Wenn es ein Beispiel für Nachhaltigkeit braucht – hier wäre es! Yvonne Vásquez befand sich persönlich in einer guten Position im fremden Land. Sie wohnte mit ihrem Partner Norvis zusammen, einem Nicaraguaner, und hatte nach rund zwei Jahren bereits einen relativ grossen Kreis von Freundinnen und Bekannten. Sie habe sich ganz bewusst unter Einheimischen bewegt. «Ich lernte aussergewöhnliche Frauen kennen, von denen viele heute noch zu meinem Freundeskreis gehören.» Norvis wollte nach dem INTERTEAM-Einsatz seiner Frau den Lebensort in die Schweiz verlegen. «Ich selbst wäre vielleicht immer noch dort», sagt Yvonne Vásquez. Nach der Rückkehr in die Schweiz machte ihr Mann – sie heirateten 2008 – das Masterstudium in Agronomie.

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Noch einmal die Frage: Was brauchen die Menschen dort heute? «Ich weiss es nicht genau», sagt die Nicaragua-Schweizerin. «Was es sicher nicht braucht, sind Gelder für irgendwelche Millionenprojekte. Die INTERTEAMFormel dagegen ist immer noch richtig: Fachwissen vermitteln und auf Nachhaltigkeit achten, damit etwas davon hängen bleibt, wenn wir weg sind.»

Im Rückblick überwiegen die positiven Erlebnisse für Yvonne Vásquez. «Es war eine tolle Zeit mit vielen guten Menschen und Begegnungen.» Und ihr Engagement in Nicaragua hat Auswirkungen auf das Heute. «Ich hätte die leitende Stelle hier bei der Pronatec nie bekommen ohne meine Erfahrungen im Biogeschäft und im Fairtrade in Nicaragua.» Seit Sommer 2012 ist Yvonne Vásquez Vorstandsmitglied bei INTERTEAM. Welche Sicht hat sie auf die fünfzigjährige Organisation? «Für mich ist es eine perfekte Organisation in der Entwicklungszusammenarbeit. INTERTEAM macht es genau so, wie ich mich auch heute wieder in diesem Sektor engagieren möchte. Die Personelle Zusammenarbeit macht mehr Sinn als die Investition von Mitteln in irgendwelche Projekte. Und die Vorteile sind beidseitig. Von den INTERTEAMEinsätzen kommen Menschen zurück, die die Welt etwas anders sehen als vorher. Und die meisten von ihnen werden hier ihr Leben etwas bewusster einrichten und gestalten.»

— «Die Personelle Zusammenarbeit macht mehr Sinn als die Investition von Mitteln in irgendwelche Projekte. » —

− DANK DER UNTERSTÜTZUNG UND BERATUNG DURCH INTERTEAM KÖNNEN BÄUERINNEN IHRE BIOPRODUKTE NUN ERFOLGREICHER AUF DEM LOKALEN MARKT VERKAUFEN.

Das stark von den Medien geprägte NicaraguaBild eines benachteiligten Landes in Armut, mit politischen Querelen und Gewalt, wird von den Fakten, wie sie Yvonne Vásquez erzählt, überholt. Das Land hat offensichtlich verschiedene Gesichter. «Mein INTERTEAM-Einsatz konzentrierte sich ausschliesslich auf den wirtschaftlichen Bereich. Das war neu in Nicaragua. Ich lebte auch in einem guten Umfeld. Esteli, die Stadt im Norden, hat etwa die Grösse von Winterthur. Es gab damals bereits Supermärkte, gute Geschäfte. Am Abend lag ein Ausgang drin. Esteli ist eine relativ sichere Stadt. Ich habe mich immer wohl gefühlt. Wir hatten auch das Glück, in einem schönen Haus wohnen zu können.»

− AUF SPIELERISCHE WEISE VERMITTELT YVONNE VÁSQUEZ IN WORKSHOPS DAS THEMA VERMARKTUNG UND VERNETZUNG DES INTERNATIONALEN MARKTES.

− YVONNE VÁSQUEZ BEI DER ETIKETTIERUNG VON KAFFEEVERPACKUNGEN IM NEU ERSTELLTEN PRODUKTIONSWERK SAN PEDRO.

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