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Von der Notwendigkeit, sich zu erinnern

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Gelesen, Gesehen

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Feindbilder überwinden

Von der Notwendigkeit, sich zu erinnern

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Die Erinnerungen an den Krieg“ sind immer auch ein „Krieg der Erinnerungen“, wie es die Historikerin Dr. Ekaterina Makhotina formuliert. „Hamburgs Umgang mit dem NS-Erbe“ hieß 2019 eine eine Podiumsveranstaltung am 27. Januar, zu der die KZ Gedenkstätte Neuengamme eingeladen hatte anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz.

Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 befreit. Ein Jahr davor, nämlich am 27. Januar 1944, war Leningrad durch die Rote Armee von der Blockade der Wehrmacht befreit worden. Die 872 Tage dauernde Belagerung hatte fast 1,3 Millionen Leningrader das Leben gekostet – überwiegend Zivilist*innen. Sie stellte damit eines der größten Kriegsverbrechen der Wehrmacht dar. Die Belagerung der Stadt war Teil des rassenideologischen Weltanschauungskrieges. Von Anfang an war geplant, die Stadt gar nicht einzunehmen, sondern auszuhungern. Doch der 75. Jahrestag des Endes der Blockade findet an diesem Tag keine Erwähnung, obwohl Hamburg seit 1957 Partnerstadt von St. Petersburg, dem ehemaligen Leeningrad, ist. Es gibt keine Kultur des Gedenkens an diesen wichtigen Tag.

Feindbilder vertragen sich nicht mit Erinnerungskultur, denn sie verweigern die Empathie. Feindbilder sind eine unerlässliche Voraussetzung für Aufrüstung und Krieg. Sie haben die zentrale Funktion, Rüstung und Kriege zu rechtfertigen, Herrschaftssysteme zu stabilisieren und das Selbstbild zu erhöhen. So können militärische Aktionen besser legitimiert werden. In der Zeit des Kalten Krieges verlief die Erinnerungsdebatte entlang den jeweiligen politischen und ideologischen Feindbildern und Linien. In der frühen Sowjetunion traten im Gedenken die Leiden der Zivilbevölkerung hinter der Schilderung der „kämpfenden Frontstädte“ und des „großen Vaterländischen Kriegs“ zurück. In der anti-kommunistischen Grundstimmung der jungen Bundesrepublik wurde die historische Verantwortung für den Vernichtungskrieg im Osten schlicht geleugnet. Man sah sich nicht als Täter, sondern als Opfer. Die Blockade Leningrads wurde als eine Militäroperation von vielen dargestellt, unterstützt durch ein starres anti-sowjetisches Feindbild. Erst mit dem allmählichen Auflösen der Ost-West-Konfrontation und dem Abbau von Feindbildern durch die Entspannungspolitik Willy Brandts änderte sich auch auf beiden Seiten die Wahrnehmung der Geschichte. Anfang der 70er Jahre entwickelte Bundeskanzler Willy Brandt zusammen mit Egon Bahr das Konzept des „Wandels durch Annäherung“. Die friedliche Koexistenz wurde der Rivalität der Systeme entgegengesetzt. Das Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“ entstand. Am 9. Juli, 2015, kurz vor seinem Tod fasste Egon Bahr seine Gedanken zusammen: „Wenn es denn richtig war, dass West wie Ost über die atomare Zweitschlagsfähigkeit verfügten, also beide ganz unberechenbar und unannehmbar Schlägen ausgesetzt wären, würde die klassische Hoffnung auf Sieg im Krieg sinnlos werden. Wer zuerst schlägt, stirbt als Zweiter, setzt die verrückte Bereitschaft zum eigenen Ende voraus. Mit anderen Worten: Die Theorie der Abschreckung war eine unverwendbare Theorie geworden. Praktisch bedeutete dies, dass Sicherheit voreinander nur noch stimmte, solange sie nicht erprobt wurde. Die abstrakte Konsequenz hieß dann also: Sicherheit voreinander muss durch Sicherheit miteinander ersetzt werden.“

Im Zuge der Entspannungspolitik und der Wiedervereinigung in den 90er Jahren konnte man den Eindruck gewinnen, die ehemaligen Feinbilder von Ost und West würden der Vergangenheit angehören. Doch wenn man sich das heutige Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ansieht, muss man feststellen, dass dieses nicht von Vertrauen, sondern von äußerstem Misstrauen und einer ausgeprägten Bedrohungswahrnehmung geprägt ist. Die Aufrüstung hat dementsprechend auch wieder bedrohliche Formen angenommen. Wie ist das zu erklären? Haben wir eine einseitige Wahrnehmung? Wurden die russischen Sicherheitsinteressen in Bezug auf die NATO-Osterweiterung im Sinne einer gemeinsamen Sicherheit ausreichend berücksichtigt? Oder schlummerten die alten Ressentiments und Feindbilder vielleicht weiter im Untergrund, da sie nie wirklich aufgearbeitet wurden?

Am 21. Juni 2021 erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer beeindruckenden Rede: „…was am 21. Juni 1941 begann, war die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung. Vom ersten Tage an war der deutsche Feldzug getrieben von Hass: von Antisemitismus und Antibolschewismus, von Rassenwahn gegen die slawischen und asiatischen Völker der Sowjetunion (…) Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mörderische Barbarei. (…) Es werden am Ende 27 Millionen Tote sein, die die Völker der Sowjetunion zu beklagen hatten. 27 Millionen Menschen hat das nationalsozialistische Deutschland getötet, ermordet, erschlagen, verhungern lassen, durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht. 14 Millionen von ihnen waren Zivilist*innen. Niemand hat in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der Sowjetunion. Doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid und unsere Verantwortung es fordern.“

Das gilt auch für das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen. Von den 7,5 Millionen in deutsche Gefangenschaft geratenen Soldaten haben nur ca. die Hälfte die unmenschlichen Verhältnisse überlebt.

LENINGRAD, 1942: AUF DEM WEG ZUM BEGRÄBNIS EINES FAMILIENMITGLIEDS

EINE FRAU ZIEHT EINEN HUNGERNDEN MANN.

Die sowjetischen Kriegsgefangenen galten als „Untermenschen“ und als Agenten der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“, für die sämtliche Kriegskonventionen außer Kraft gesetzt wurden.

Die Wehrmachtsausstellung von 1995 benannte die Verbrechen der Wehrmacht und brach endgültig mit dem Mythos von der „sauberen Wehrmacht“: Sie zeigte schonungslos die Beteiligung am Holocaust, die Plünderung der besetzten Gebiete, die Massenmorde an der Zivilbevölkerung und die Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener. Die überarbeitete zweite Fassung von 2001 legte einen Schwerpunkt auf die Hungerpolitik am Beispiel der Blockade Leningrads. Dennoch ist dieses Verbrechen weiterhin ein weißer Fleck im Bewusstsein der meisten Deutschen.

Mit zunehmenden politischen Spannungen zwischen Russland und der EU versucht die Politik zunehmend, das Geschichtsbild zu instrumentalisieren. Am 19. September 2019 verabschiedete das europäische Parlament auf Antrag von Polen und den baltischen Staaten mit großer Mehrheit eine problematische „Entschließung des europäischen Parlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“. Anlass war der 80. Jahrestag des Beginns des zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Die deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg wird darin relativiert, indem der Hitler-StalinPakt als Ursache des Zweiten Weltkrieges benannt wird. Außerdem werden Nationalsozialismus, Stalinismus und Kommunismus gleichgesetzt. Diese Entschließung des EU-Parlamentes wurde zu Recht von Historiker*innen kritisiert.

Ein Europabild, das nicht vereinfachen und vereinheitlichen will, sondern die besondere Vielfalt Europas betont, zeigt dagegen die Ausstellung europäischer Gegenwartskunst „Diversity United“ im Berliner Flughafen Tempelhof. „In der Zeit der globalen Krise und zunehmenden politischen Sprachlosigkeit fordert die Kunst den gesellschaftlichen Dialog,“ heißt es dort. Schirmherren der Ausstellung sind die Präsidenten Macron, Putin und Steinmeier. Die Ausstellung soll anschließend – so ist es zumindest geplant – in Paris und Moskau gezeigt werden. Auf einem wandgroßen Kunstwerk „Mystical Protest“ des Kollektivs „Slavs and Tatars“ prangt der Schriftzug: „It is of utmost importance

that we repeat our mistakes as a reminder to future generations of the depths of our stupidity.“

Am 8. September 2021 plant die IPPNW ICAN-Gruppe Hamburg an den 80. Jahrestag des Beginns der Blockade von Leningrad zu erinnern. Eingeladen sind die Historikerinnen Dr. Ulrike Jureit, Dr. Ekaterina Makhotina und Dr. Alexandra Köhring. Der Schauspieler Edgar Selge wird aus der Rede vortragen, die der russische Schriftsteller und Blockade-Überlebende Daniil Granin 2014 im Bundestag hielt: „Die Deutschen wussten ganz genau, wie es um die Stadt steht und wie sie unter dem furchtbaren Hunger leidet. Sie wussten es durch ihre Aufklärung und von Überläufern. (...) Im Grunde warteten die deutschen Truppen in aller Ruhe und ohne besondere Anstrengungen darauf, dass der Hunger die Menschen in Leningrad in die Knie zwingt. Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff. Die Deutschen hatten das wichtigste Lebensmittellager der Stadt, die Badajewskije Sklady, und damit alle Vorräte vernichtet“, www.tagesschau.de/rede-granin100.pdf

Um den zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen West und Ost voranzubringen, haben wir den Kontakt zu IPPNW-Kolleg*innen in St. Petersburg wiederaufgenommen und planen sie nach Hamburg einzuladen.

Ute Rippel-Lau ist Mitglied des Vorstandes der IPPWN.

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